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Freitag, 2. November 2012

Erstens kommt es anders, ...

Wir lassen die Hoteltür, dann ein paar Treppenstufen hinter uns und fallen in langsamen Trab; ein paar Schritte entlang der 10. Avenue, alsbald rechts ums Eck, übers schmucklose Trottoir der 49. Straße West, New York. Ziel ist der Uferweg am Hudson River, unsere Absicht ein halbstündiges Läufchen zur Gewöhnung an die New Yorker Luft. Ein bisschen "Beinevertreten", nicht fordernd, ein letztes Training vorm Marathon am Sonntag.

Eigentlich sind wir "gut drauf", Ines und ich, allerdings mehr im Kopf, als in den Beinen. Zumindest auf mich trifft diese für einen baldigen Marathonläufer merkwürdige Divergenz von Seele und Körper zu. Sorgen mache ich mir deswegen keine. Allzu oft spielte mein Ausdauerempfinden kurz vor Marathon- oder Ultraläufen Katz und Maus mit mir. Irgendwann hörst du auf das ernst zu nehmen. Außerdem haben wir die sechs Stunden Zeitverschiebung nach nur einer Nacht im "Big Apple" erst halbwegs verdaut.

Ein ums andere Mal möchte ich mir die Augen reiben, vermag kaum zu glauben, was ich sehe. Wir sind wirklich in New York! Seit ich dem heimischen Sandkasten entwuchs, irrlichtert dieser Inbegriff einer Weltstadt durch meinen Geist; eine von gigantischen Wolkenkratzern, unermesslichem Reichtum und Millionen Menschen belebte Fiktion. Mit den Jahren differenzierte meine Fantasie, ergänzte Televisionäres, Cineastisches und Nachrichtenschnipsel. Einst verschlang ich Folge um Folge der legendären Krimiserie "Einsatz in Manhattan", mit dem Lolli lutschenden Lieutenant Theo Kojak, alias Telly Savalas, in der Hauptrolle. Die aus heutiger Sicht kaum mit Anglizismen verseuchte Jugendsprache der 1970er Jahre kannte "cool" noch nicht als gängiges Adjektiv. Ich will mir aber vorstellen, dass es für den "Police Officer" mit der polierten Glatze spontan erfunden wurde. So wie Kojak und sein Team, wie "Stavros", "Crocker", "Rizzo" und "McNeil", so mussten die New Yorker sein ...

Und nun - endlich! - bin ich selbst hier, mit Ines. In einer Weltmetropole, die mich wie keine andere angezogen hat. Weder war ich bisher in Paris, noch in London. Vielleicht irgendwann, kann sein. Und wenn nicht, wird mir nichts fehlen. Gerne genieße ich kulturelle Höhenflüge in urbaner Zivilisation, allerdings ist mir Natur pur immer schon wichtiger gewesen. New York nicht zu erleben hätte ich allerdings als Defizit empfunden. Meine ungewohnt heftige (niemandem mitgeteilte, innere) Reaktion angesichts der "9/11-Katastrophe" hat mich selbst überrascht. Da war mehr als Entsetzen über mehrere tausend Tote, mehr als ohnmächtige Wut angesichts der auf plakativste Weise demonstrierten Unmenschlichkeit. Da war noch was anderes: Die Skyline New Yorks entstand nicht als Ergebnis kluger, vorausschauender Planung. Sie wuchs unter anderem auf dem Nährboden irrwitziger Grundstückspreise mangels Fläche. Und plötzlich fehlen ihr zwei Türme, wie ausgestanzt, wegradiert. Zwei Türme, die zu meinem Entwurf von New York ganz selbstverständlich dazu gehören. Ein bisschen vergleichbar einem prächtig gewachsenen, uralten Wald - und ich liebe Wald! -, in dem jemand die schönsten und höchsten Bäume fällt ...

New York! New York! Nun bin ich nach so vielen Jahrzehnten deinem Ruf gefolgt, darf mir deine City in Teilen sogar erlaufen. Erste Wahl für unser freitägliches Abschlusstraining war der Central Park. Doch der ist vier Tage nach dem Monstersturm Sandy noch immer gesperrt - wegen umgestürzter Bäume heißt es. In einem Land, wo Bedienungsanleitungen von Mikrowellen davor warnen die Geräte zum Trocknen nasser Katzen zu verwenden, einzig, um nicht von Besitzern gegrillter Haustiere auf Entschädigung verklagt zu werden, unterstelle ich einfach mal Übervorsicht*. Immerhin könnte ein Jogger über einen Ast fallen, sich eine Gräte brechen und anschließend die Stadtverwaltung vor den Kadi zerren ... So what? Manhattan verfügt über viele Kilometer Uferwege und von unserem Hotel bis zum Hudson River geht/joggt/rennt man gerade mal 400 Meter.

*) Ob das mit der Bedienungsanleitung wirklich stimmt oder nur von übertreibenden Zeitgenossen kolportiert wird, konnte ich nie überprüfen. Fakt ist jedoch die stete Suche nach dem Stein des Anstoßes gefolgt von einer Flut an Zivilklagen, eine Art Volkssport in den USA.

Zwei Ampeln in Höhe "11th and 12th Ave" halten uns noch auf, fortan nichts mehr, weil für Radler, Läufer und Geher Spuren entlang der Piers angelegt wurden. Die meisten Exemplare der nicht gerade seltenen Spezies Läufer nutzen allerdings den Radweg, weil er absatzfreies Fortkommen sichert. Ganz selbstverständlich schlagen wir den Weg Richtung Manhattan Süd ein. Dorthin also, wo Sandys vier Meter hohe Flutwelle verheerende Schäden anrichtete. Was erwarte ich zu sehen? Verwüstung? Fette, halb eingetrocknete Schlammschichten? Nichts dergleichen, der Sturm und seine Folgen kommen mir nicht mal in den Sinn. In "unserem" Teil der Stadt kann man leicht vergessen, was hier vor wenigen Tagen geschah. Es gibt so gut wie keine Sturmschäden und die Menschen leben ihren Alltag. Weder bin ich, noch fühle ich mich als Katastrophentourist. Die Südrichtung verspricht einfach mehr "Highlights" und "Thrill".

Von wegen Spannung: Die ersten zweihundert Meter langweilen mit Rückansichten irgendwelcher Piers, mit hohen, unansehnlichen Hallen. Doch dann traben wir um eine Ecke und völlig unerwartet schiebt sich der gigantische, hellgraue Bug eines Flugzeugträgers ins Blickfeld. Die "USS Intrepid" - ein Veteran des Zweiten Weltkrieges und späterer Bergungsträger bei NASA-Weltraummissionen - ging 1986 endgültig in New York vor Anker und beherbergt seitdem das "Intrepid Sea-Air-Space Museum". An Deck drängen sich verschiedenste, ausrangierte Flugzeugmuster und sogar der gedrungene Leib eines Space Shuttles ist zu erkennen.

Kaum habe ich Ines nach der Intrepid-Fotosession eingeholt, da steuern wir auf die nächste "Begegnung" zu. Eine Menschenmenge, fünfzig bis hundert Münder stark, skandiert Parolen. Zwei Einpeitscher geben per Megaphon den Wortlaut vor, die Menge wiederholt oder antwortet unisono. Tatsächlich eine Demo. Deren Teilnehmer halten Flaggen in die Höhe, die mir seltsam bekannt vorkommen. Asiatische Gesichter mit leicht mongolischem Einschlag und als ich auf dem Haupttransparent die Zeile "TIBET IS NOT A PART OF CHINA" lese, bleiben nur noch zwei Fragen offen: Warum heute und jetzt? Warum hier, wo kaum eine New Yorker Nase sich blicken lässt, wo Öffentlichkeit höchstens per Bildbericht in den Medien hergestellt werden kann. Die United Nations, wohl am ehesten für das berechtigte Anliegen der Exil-Tibeter zuständig, logieren einige Meilen querab, auf der anderen Seite der Halbinsel Manhattan, am Ufer des East River.

Drei Minuten weiter der nächste Blickfang: Zwischen Radweg und Straße, mit grobgliedriger Kette "auf ewig" an einem Laternenpfahl fixiert, buhlt ein seltsam anmutendes Fahrrad um Aufmerksamkeit. Über alle Einzelteile, selbst die Reifen, weiß lackiert, auf dem Gepäckträger ein herbstlich bunter Blumenstrauß, übermittelt es eindeutig eine Botschaft. Nur welche? Die kleine Gedenktafel am Laternenpfahl darüber fällt mir erst nachträglich, beim Betrachten der Bilder auf. Dort steht: "Dr. Carl Henry Nacht, 56 Years Old, Killed By Truck, June 22, 2006, Rest In Peace".

Eine dicke, bauschige Wolkenschicht lastet über New Yorks Skyline und ein kalter Wind bewegt die unruhigen Wasser des Hudson Rivers. Aber wenigstens regnet es nicht und für die kommenden Tage - insbesondere den Marathonsonntag - wurde uns viel Sonne versprochen. Heute Morgen, während der Stadtrundfahrt und am frühen Nachmittag beim Besuch der Marathonmesse, lugte häufiger die Sonne durch die Wolken. Trotzdem wirkte es ein bisschen gespenstisch, als der Bus jene ungewollte Grenzlinie überfuhr, die das südliche Manhattan derzeit vom Rest der City trennt: Eben noch Menschen auf den Straßen, bunte Leuchtreklamen, Ampelrot, -gelb, -grün und dann, nur eine Kreuzung weiter, kein Strom, kein Licht, verlassene, wie tot wirkende Straßen, zuweilen Polizeistreifen zu Fuß, um Plünderungen vorzubeugen. Ist es denn wirklich vertretbar dieser waidwunden Stadt einen Marathon aufzupropfen? Eine Stunde später, auf der vor Menschen - genauer: Läufer! - berstenden Marathonmesse, inmitten eines Ozeans aus Lärm - Musik, Rhythmus, Stimmen, Lachen - käme ich mir doof vor, wollte ich an meinen Zweifeln festhalten ...

Ines trabt unbekümmert vorwärts, überlässt mir die Zeitnahme. Eigentlich drängt es mich noch ein paar Kilometer dran zu hängen, um mehr Überraschendes oder gar Spektakuläres zu entdecken. Sicher bräuchten wir nicht weit zu laufen ... Aber ich will meine Frau nicht überfordern und gebe deshalb nach einer guten Viertelstunde das Signal zur Kehrtwende.

Ab jetzt "Film rückwärts" könnte man meinen. Grundsätzlich richtig, doch ein paar Attraktionen bekommen wir zusätzlich geboten. Etwa die beiden Kunstobjekte zum Sitzen und Verweilen, auf denen eine blendend aufgelegte Ines sofort für meine Kamera posiert. Ich spüre ein kurzes Aufwallen, einen winzigen Moment des Unwillens, als sie sich hinsetzt. Mitten im Trainingslauf! Etwas Unerhörtes, das der ewige Wettkämpfer und leistungsorientierte Antreiber in mir so gar nicht gutheißen kann. Bis ihm klar wird, dass sein Typ in nächster Zeit absolut nicht gefragt ist. Wir sind hier um Spaß zu haben. Natürlich werden 42 Laufkilometer auch grenzwertig belasten (Ines vor allem), doch in erster Linie wollen wir entspannen und unser ganz privates Lauffest zelebrieren. Als sich Ines ins zweite, auf dem Fundament mehrerer Stühle errichtete Kunstobjekt "einfügt" flattert ein Hubschrauber dramaturgisch geschickt durchs Bild und setzt einen Steinwurf weiter zur Landung an. Schon auf dem Herweg konnten wir das Aufsetzen eines Airtaxis beobachten und eine wartende, dunkle Luxuslimousine, um die VIP-Fluggäste in die City zu bringen.

Ines beendet unseren Jogg ein paar Meter vor dem Hotel. Von hier aus hat man einen schönen Blick auf die Hochhäuser an der 8. Avenue. In diesem Teil Manhattans, der "Midtown West", kratzen die Türme nicht an den Wolken. Dennoch beeindrucken die Gebäude durch die schiere Anzahl, mehr noch in ihrer architektonischer Vielgestaltigkeit. Ein paar Sekunden lassen wir den Anblick wirken, bis Wind und Kälte durch die feuchten Klamotten dringen und uns ins Hotel unter die warme Dusche jagen ...

... zweitens als man denkt!

Frisch geduscht und bestens gelaunt steigen wir eine halbe Stunde später die zwei Stockwerke in die Hotelhalle hinab. Wir wollen Richtung Innenstadt, um einen Happen zu essen. Eine Tür, die man nur dank des rund um die Uhr erleuchteten Hinweises "EXIT" findet, rohe Wände und Stiegen, primitive metallene Handläufe, alles im gleichen hässlich, dunkelgrauen Farbton lackiert, gelbe Sicherheitsstreifen auf erster und letzter Stufe, sowie reichlich Utensilien zur Feuerbekämpfung, augenfällig auf jedem Treppenabsatz montiert, lassen keinen Zweifel: Niemand geht davon aus, dass Hotelgäste dieses Treppenhaus benutzen, es sei denn im Notfall. Fußflinke LäuferInnen, die Aufzüge als ruchlosen Anschlag auf ihre Fitness begreifen, sie deshalb meiden, wie der Teufel das Weihwasser, nächtigen eben nur am ersten Novemberwochenende in New Yorker Hotels. In der Lobby angekommen steuern wir auf eine Gruppe unseres Laufreiseveranstalters zu, die leise diskutierend beieinander steht. Wir hören eine Weile zu und gut eine Minute vergeht, bis mir ein eisiger Schrecken durch alle Glieder fährt; eine ganze blöde Minute bis ich kapiere worüber sie reden ... Aus! Der New York Marathon wurde vor wenigen Stunden abgesagt!

 

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