Aus rein sportlicher Sicht erwartet mich heute nichts "Erbauliches". Das neue Jahr ist zwei Wochen alt. Zwei Wochen, in denen ich mein Laufpensum drastisch herauf schraubte, um mich auf die harten Aufgaben der Saison vorzubereiten. 86 Kilometer kamen vorige Woche zusammen und auf über 90 wird sich das Pensum in dieser summiert haben, wenn der lange Lauf nachher in meinen Beinen steckt. Außerdem absolviere ich heute das sechste Training ohne Pause. Schon vorgestern, am Tag nach dem Intervalltraining, war der Erholungsrückstand nicht mehr zu leugnen. Mit anderen Worten: Ich
war hundemüde. Exakt diese Empfindung erwarte ich auch nun beim geplanten langen Lauf über ungefähr 30 km. Also langsam, sehr langsam beginnen und wahrscheinlich noch langsamer ankommen.
"Hundemüde" - ich kenne kaum ein Eigenschaftswort, das mehr in die Irre führt. Blättere ich in Roxis "Lauftagebuch", dann finde ich dort alle meine Läufe der vergangenen Wochen verzeichnet, zuzüglich diverser Ausflüge in seitliche Schonungen, mittellange Sprints nach Schnüffelpausen und anderen Kraft raubenden hündischen Aktivitäten. Doch müde bin nur ich. Roxi liegt auf ihrer Decke und erwartet mit Spannung den Abschluss meiner Vorbereitungen. Ohne Handschuhe dafür mit Digicam breche ich in eines meiner landschaftlich spektakulärsten Laufreviere auf. Die tief am azurblauen Himmel stehende Januarsonne verspricht Bilder in schönen Farben und handverträgliche Plusgrade.
Hundert Meter nach der Haustür erzwingt Roxi den ersten Stopp. An dieser Gruppe Radfahrer kommen wir ohne freudiges Gebell und wilde Luftsprünge nicht vorbei: Gute Bekannte, bei denen Roxi schon mehrmals Asyl fand, wenn ihr Rudel wieder einmal länger ausblieb. Dann weiter, über die Umgehungsstraße, Richtung Süden. Schon auf dem Radweg neben diesem schmalen Sträßchen haben wir wochentags unsere Ruhe. Am Sonntagnachmittag
bei Kaiserwetter ist das anders. Dramatisch anders. Massen von Spaziergängern und Radfahrern zwingen zum Slalom. Auto um Auto rauscht in Richtung "Naherholung" vorbei, denn mehrere Reiterhöfe und ein Golfplatz liegen am Weg. Außerdem bietet das Sträßchen einen kurzen Anfahrtsweg Richtung Lech, unserem eigentlichen Ziel.
Vier Kilometer dauert der Anmarsch, die Roxi überwiegend am "Fuß" verbringt. Bereits hier umgeben uns Naturschönheiten, von denen niemand etwas ahnt, der auf der autobahnähnlich ausgebauten B 17 von Nord nach Süd, von Augsburg nach Landsberg, durch die eintönig flache Landschaft rast. Abgesehen von der Bergkette weit im Süden, hat die Gegend mit typisch bayrischen Postkarten-Ansichten überhaupt nichts gemein. Doch nur ein paar Fahrminuten abseits der "Rennbahn" B 17 locken idyllische Natur und Ruhe. So zum Beispiel dieser Fischweiher, der mir den ersten Fotostopp abnötigt.
Schließlich erreichen wir den Lech und erkennen ... zunächst nichts als den mehrere Meter hohen Damm einer der vielen Staustufen. Den zu "erklimmen" verursacht die erste kleine Spitze in meiner Herzfrequenzkurve und definitiv auch in der von Roxi, die nun endlich nach Herzenslust
rennen darf. Von der Staumauer schweift der Blick nach Norden über den Abfluss des Lechs. Am jenseitigen Ufer wende ich mich in südliche Richtung. Ab jetzt bis zur Wende, am dann schon vierten Stausee, haben wir den Lech immer zur Rechten.
Den Lech - was er war und was er ist - muss man erläutern: Er entspringt im Herzen des Alpenhauptkamms, bewahrt bis zur deutsch-österreichischen Grenze bei Füssen noch viel von seiner Ursprünglichkeit, um dann auf 70 Stromkilometern von mehr als 20 Staustufen geknebelt zu werden. Seine wahre Natur, ein breites, von Kiesbänken durchsetztes und nach jeder Schneeschmelze neu gestaltetes Bett, widerstrebte menschlichen Interessen. Der Mensch musste sich gegen Hochwasser schützen und wollte Landwirtschaft auch in Flussnähe betreiben. Des Widerspenstigen Zähmung gelang mit breiten, betonierten Wehren, nach und nach durch Staubecken zur Stromerzeugung ersetzt. So grub sich der Lech streckenweise tief in die Landschaft und bietet alle paar Kilometer den beschaulichen Anblick eines ruhenden Gewässers. Auch wenn Schönes zu lesen und auf weiteren Bildern zu sehen sein wird, was der Lech einst war existiert nicht mehr. Aus vielen, auch jedem Naturschützer einsehbaren Gründen bleibt eine Renaturierung bis zum jüngsten Tag ausgeschlossen. Um sich am Ist-Zustand zu erfreuen, muss man verdrängen, wie sich die Natur selbst schuf und den Blick auf die fortgeschrittene Rückeroberung des Terrains durch Flora und Fauna richten.
Ich bin müde, wie erwartet. Aber es stört mich nicht. Packen werd' ich's, leiden gegen Ende ohnehin und so lange ich in die Sonne blinzele ist mir der Rest ziemlich egal. Adrenalinstoß für Roxi: Vier Artgenossen kommen auf sonntäglichem Gassi entgegen. Ich setze meinen Weg unbeirrt fort, weiß ich doch was gleich passieren wird. Und richtig: Nach Abschluss
der 5-fach-Beschnüffelorgie rast Roxi im Fluchttempo hinter mir her, überholt und stürmt gleich hundert Meter voraus. Rennen! Nichts außer Fressen und Schlafen betreibt sie mit solcher Hingabe. Je weiter ich mich von der Staumauer entferne, umso einsamer und stiller wird es. Auf der Fläche des Sees tauchen erste Inseln auf, zwischen denen sich wildlebende Schwäne, Enten und Gänse ein Stelldichein geben.
Dann, im Auwald, verliere ich den Fluss für ein paar Minuten aus den Augen. Dünne Stämme durchwegs kleinwüchsiger Bäume, überwuchert von filzigem Gestrüpp, wachsen beidseits des alten Hochwasserdamms. Sonnenstrahlen fangen sich in Wattebäuschen, den welken Fruchtständen
einer hier weit verbreiteten Ranke und verleihen dem Ort etwas feenhaft Mystisches. Nach enger S-Kurve schmiegt sich der Weg wieder ans Ufer. Nur ein dünner Saum Uferbewuchs trennt mich noch vom Fluss, der ab jetzt aussieht wie ein Fluss. Wo möglich, unternimmt Roxi die üblichen Blitzvisiten Richtung Wasser. In solchen Phasen vermeide ich jegliches Kommando, gönne ihren Instinkten - Laufen und Schnüffeln - nicht nur sprichwörtlich "freien Lauf". Seit Roxi sicher auf Kommandos reagiert, mag ich ihre Begleitung nicht mehr missen. Schon oft habe ich erlebt, wie quirlige Lauffreude auf vier Pfoten stumpfen Trainingstrott in ein schönes Lauferlebnis und Missmut in Lachen umschlagen ließ.
Fließend Wasser rechts und nun auch stehend links: Sumpfgelände. Im Sommer hinter dichter Blätterwand verborgen, vermag ich das naturbelassene Durcheinander aus trüben Untiefen, schilfigen Inselchen und Bäumen in allen Lebens- und Sterbensphasen jetzt gut zu überblicken. Deswegen ist auch das Werk des emsigen Holzfällers nicht zu übersehen: Umgestürzte Bäume
jeden Kalibers und spitz zulaufende Stümpfe säumen den Weg. Wer es zum ersten Mal sieht, kann kaum fassen wozu der possierlich aussehende Nager
fähig ist. Kein Baum ist dem Biber zu dick, um Baumaterial für seine Burg herbei zu schaffen. Die Burg kann ich zwar nirgendwo entdecken, dafür aber etliche gefällte und angenagte Bäume. Eigentlich bin ich zum Laufen hier, gönne mir aber zwei Minuten Pause, zum Staunen und Fotografieren. Biber
waren in Bayern - wie beinahe überall in Deutschland - ausgestorben, wanderten jedoch in den letzten dreißig Jahren wieder ein. Dank wirksamen Artenschutzes sind sie nun überall entlang der Donau und ihrer Nebenflüsse wieder heimisch. Auf meinen Läufen zwischen Lech und Wertach "stolpere" ich oft über ihre Spuren. Gesehen habe ich den nachtaktiven Gesellen allerdings nur selten.
Bibers Reich liegt zwei, eine weitere Staumauer einen Kilometer zurück und der Kilometerzähler zeigt endlich zweistellige Werte. Eigentlich müsste ich das Traben "ätzend" finden, so müde wie sich meine Beine anfühlen. Aber an manchen Tagen gehen Psyche und Körper verschiedene Wege und deshalb geht es mir gut - um nicht zu sagen "saugut!" Wesentlichen
Anteil haben Sonne und blauer Himmel. Was da sonst noch alles reinspielt, will ich gar nicht wissen. Augen auf! tief einatmen! und in vollen Zügen
genießen! Wieder geht die freie Wasserfläche in ein Gewirr von Inselchen und Kanälen über und wieder verschwindet der Weg im Dickicht des Auwaldes.
Nur eine schmale Pfadspur bleibt zuletzt, windet sich hin und her, auch
mal auf und ab, stellt dem Läufer kleine, kurzweilige Aufgaben. Flackerndes Licht zwischen dünnen Stämmchen macht den Kopf ganz kirre. Sechs Minuten, sieben, acht ... dann mündet die Spur in einen Kiesweg und die nächste Staumauer liegt vor mir.
Im Bereich der Staumauer gleichen sich diese Staustufen wie ein Ei dem anderen. Ich überwinde die vielleicht zehn Höhenmeter und stoße auf eine Besonderheit: Ein "Kunstwerk". Schon seit Jahrzehnten rätsele ich, wie
diese bizarre Skulptur auf der Dammkrone entstanden sein könnte. Zwei zentimeterdicke Stahlprofile, wie man sie in den Boden rammt, um Dämme oder Hafenbecken zu befestigen. Hatte der Dampfhammer damals zu viel
Wucht? Handelt es sich um Ausschuss, der als bizarre Skulptur, als eine Art "Inkarnation des Versagens", hier aufgerichtet wurde? Ich verstehe nichts von Kunst. Vielleicht gelingt es mir deshalb nicht diesen Schrott
als bewusst kreativen Schöpfungsakt menschlichen Geistes zu akzeptieren. Für mich verkörpern die demolierten Eisenträger etwas anderes. Ihrer einstigen Gestalt ähnlich, zum ursprünglichen Zweck jedoch nicht mehr zu gebrauchen, spielen sie nun eine neue, tragikomische Rolle als Schauobjekt. Ein Sinnbild des Lechs und seiner ganzen Umgebung ...
Hundert Meter weiter, der Dammkrone folgend, heischt die nächste Attraktion um Aufmerksamkeit. Ich kann mich nicht erinnern je eine
größere Ansammlung wilder Schwäne gesehen zu haben. Nach vorsichtiger Schätzung mehr als hundert Tiere. Mein Bild beschränkt sich auf einen Ausschnitt, um die vielen menschlichen Zaungäste auszublenden.
Inzwischen begegne ich wieder mehr Menschen, die das schöne Wetter zum Spaziergang nutzen. Das nächste Dorf ist nur einen halben Kilometer entfernt. Roxi und ich bleiben am Fluss, überwinden drei weitere Kilometer; passieren dabei einen verlassenen Badestrand, setzen auf Holzbohlen über einen plätschernden Bach und tauchen in alter, dichter Uferbewaldung unter. Hund mit Frauchen, ansonsten bleiben wir auf dem feuchten Pfad alleine. Umso erstaunlicher, weil keinen Kilometer entfernt, am einzigen befahrbaren Lechübergang weit und breit, eine Ausflugsgaststätte Besucher anlockt. Deren Parkplatz ist dann auch vollkommen zugeparkt. Und die befürchtete "Prozession" zur unweit gelegenen nächsten Staumauer findet auch statt. Roxi umkurvt zahllose Menschenbeine wie Slalomstangen und ich folge ihr. Der Kollision mit einem stürmischen Halbwüchsigen kann ich gerade noch ausweichen. Unterhalb der Staumauer wechseln wir zum anderen Ufer - der Forerunner meldet 17 Kilometer - und haben auch gleich wieder unsere Ruhe.
Der Rückweg - Generalrichtung Norden - ist um einiges kürzer. Muss er auch. Inzwischen fühle ich mich ziemlich "ausgelutscht" und zwischen die Bäume dringt keine Sonne mehr. Schon jetzt bedauere ich auf die Handschuhe verzichtet zu haben. Rechts der Lech, wie gehabt, und links "Militärischer Sicherheitsbereich". Alle paar Schritte steht die bekannte Tafel und verwehrt Normalsterblichen den Zugang zum Truppenübungsplatz. Ab und zu
schneiden das Schnattern einer Ente oder der behäbige Flügelschlag einer vorbei fliegenden Wildgans in die Stille. Kaum mehr Spaziergänger, keine Fahrgeräusche. Zuweilen scheine ich dem Lamentieren meiner Beine - "Aufhören! Wir sind müde!" - nachzukommen. Enttäuscht registrieren sie nach Sekunden, dass es doch wieder nur um ein Foto ging. Knapp über den Horizont lugend taucht die Sonne nun alles in warmes Licht.
Abschied vom Lech: Ein letzter Blick über die spiegelnde Wasserfläche, auf der die Enten, beschäftigungslos dümpelnd, das Ende des Tages zu erwarten scheinen. Kahle Birkenäste auf dem nahen Inselchen spiegeln sich im See. Am jenseitigen Ufer entzündet der hereinbrechende Abend sein gelb-rotes Feuer. Herrliche Bilder! Sie versöhnen mit allem, sogar mit der Unwiederbringlichkeit des Lech-Urzustands. Und die Schwäche in meinen Beinen verliert völlig an Bedeutung.
Ich verlasse den Damm und laufe weg vom Fluss. 25 Kilometer liegen hinter mir, sechs bleiben noch. Auf dem nächsten trabe ich quer durch das militärische Sperrgebiet. Eine "lässliche Sünde", denn sogar wochentags trifft man hier höchst selten auf "menschliches Leben". Vom Waldrand reicht mein Blick weit nach Westen übers Lechfeld. Hat sie auf diesen Brachwiesen getobt, die "Schlacht auf dem Lechfeld"? Am 10. August 955 schlug Otto der Große südlich von Augsburg die Ungarn in die Flucht ...
Zuletzt durchquere ich den so genannten Handtuchwald, jetzt in nördlicher Richtung. Wie der Name sagt, handelt es sich um ein handtuchförmiges Waldstück, etwa zwei Kilometer lang und 300 Meter tief. Vornehmlich Nadelgehölze, Kiefern und Fichten, wurden hier im 19. Jahrhundert angepflanzt. Sie dienten einzig dem Zweck den Geschützlärm zu
dämpfen, dem die Gemeinden südlich von Augsburg ausgesetzt waren. Königlich Bayerische Truppen nutzten schon damals die Gegend zur Ausbildung.
Noch drei Kilometer. Vielleicht gelingt mir noch ein beeindruckender Schnappschuss vom Sonnenuntergang über dem Handtuchwald. Just als ich den Auslöser drücke, vernehme ich wilden Hufschlag und angestrengtes Schnauben. Nein! Es sind nicht die angreifenden Heerscharen der Magyaren! Ich banne die forsch vorbei galoppierende Reiterin ungewollt mit in meinen Kameraspeicher. Die letzten Meter fallen mir schwer. Roxi tippelt dafür unbeschwert vor mir her. Ich bin wirklich fix und fertig von 31 Kilometern, aber zufrieden und erfüllt wie selten. Mehr kann man in knapp drei Laufstunden kaum sehen, erleben und genießen. Sicher drückt mein Gesicht nur Erschöpfung aus, doch innerlich lache ich mit jeder Faser.