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04. November 2012

Sonntagmorgen im Centralpark  -
Gedanken und Szenen rund um einen abgesagten Marathon

Ungewöhnlichkeiten häufen sich zur Zeit in unserem Läuferleben. Wir brachen in die neue Welt auf, um meinen 100. Marathon zu feiern. Und das auf eine Weise, die mir in vielen Tagträumen seit mehr als zwei Jahren vorschwebt: Mit dem New York Marathon wollte ich mein Zählwerk auf die magische "100" setzen. Einhundert mal Marathon oder weiter. Unbedingt New York sollte es sein, also nicht irgendein Marathon, sondern der größte und wohl spektakulärste Stadtmarathon weltweit. Nicht genug damit: Ines an meiner Seite, auf ihrem zweiten Marathon, das wäre die Krönung schlechthin. Viele laufen Marathon, doch wenige schaffen hundert, noch weniger können den Hundersten in N.Y feiern und sicher fast niemand "side by side" mit dem wichtigsten Menschen in seinem Leben.

Es geht ungewöhnlich, wenn nicht gar dramatisch weiter: Ein in dieser Stärke nie dagewesener Wirbelsturm fegt über Amerikas Ostküste, tötet Menschen, zerstört Existenzen, raubt Besitz, zerfetzt einen Teil des ohnehin maroden US-amerikanischen Stromnetzes. Hurrican Sandy ersäuft große Teile New Yorks unter einer vier Meter hohen Flutwelle - unter anderem das südliche Manhattan mit dem stolzen "Financial District" - und lässt den öffentlichen Nahverkehr zusammenbrechen. Das geschieht drei Tage vor unserem Flugtermin. Alles aus?

Mitnichten. Inmitten des Chaos' nach dem Sturm haben der New Yorker Bürgermeister und die Rennleitung des New York Marathons nichts Eiligeres zu tun, als an der Durchführung des Marathons trotzig festzuhalten. Motto: "9/11 konnte uns nicht aufhalten, da schafft das so ein Wirbelsturm erst recht nicht!" Derweil verfolgen wir gebannt von zu Hause aus die Berichte aus New York. Dramatische Bilder von Leid, Verlust und Zerstörung lösen sich ab. Wie kann man in dieser zugespitzten Situation einen Marathon veranstalten? Die Medien richten Kameras sicher nicht auf den überwiegend intakten Rest, eben ausschließlich auf "damaged areas" - so mein Gedanke. "Yes we can!" verlautbaren die New Yorker und entheben uns jeglicher Bedenken. Die können eben beides, sage ich mir, die Sturmfolgen managen UND einen Marathon durchführen.

Die Stunden bis zum Abflug am Donnerstag verlaufen in Bangen und Hoffen. Gelaufen wird in New York, nur ob wir dabei sind, ob überhaupt Ausländer werden teilnehmen können (immerhin sind das die Hälfte aller 47.000 Läufer im letzten Jahr gewesen), steht in den Sternen. Wir planen, packen, checken Infos im Internet, telefonieren mittwochs mit United Airlines. Ergebnis: Der Flug findet statt (was uns allerdings nicht beruhigt - nichts einfacher als einen Flug zu streichen). Der Newark International Airport nimmt am Dienstag seinen Flugbetrieb wieder auf, aber nur eingeschränkt, wie wir nachträglich erfahren, weil die meisten Angestellten nicht zur Arbeit kommen können. Noch am Mittwoch fertigen nur 2 (!!!) Beamte der Einwanderungsbehörde Einreisende ab. Wir hörten von der unvorstellbaren Situation dreier, etwa zeitgleich ankommender Jumbos mit insgesamt etwa 1.200 Passagieren, die von diesen beiden Beamten abgefertigt wurden. Wenn man weiß, dass der Einreisevorgang - Prüfen der Papiere, Stellen einiger Fangfragen, elektronisches Abnehmen von Fingerabdrücken beider Hände und Scannen der Iris pro Nase - pardon -, pro Auge etwa 3 Minuten in Anspruch nimmt, dann kann man sich vorstellen, wie lange die Wartezeit war ...

Schließlich fliegen wir, von Stuttgart, donnerstags, starten und landen pünktlich, als wäre jenseits des Atlantiks alles wie immer. Wir können es eigentlich lange nicht fassen, aber die Skyline zig Meilen jenseits des Hudson Rivers ist real. Wir sind in New York. Um genau zu sein im Staat New Jersey und die Fahrt nach Manhattan dauert dann noch elende zwei und eine halbe Stunde. (Fast) nichts geht mehr in Richtung City. Alle sind aufs Auto angewiesen und deshalb brauchen wir eine gefühlte Ewigkeit bis unser Shuttle - Meter um Zentimeter vorrückend - endlich den Tunnel unterm Hudson River erreicht. Tags zuvor wars schlimmer. Also erließ der New Yorker Bürgermeiser eilig eine Notregelung derzufolge nur Autos in die City fahren dürfen, in denen mindestens drei Personen sitzen. Die Zeit im Bus nutzt unsere deutschstämmige Begleiterin, um den Hurrikan aus persönlichem Erleben zu schildern, samt der Folgen: Auf Tage hinaus kein Strom. Wo kein Strom, da auch kein Wasser und keine Heizung ... Sie hat nach dem verheerenden Schneesturm des letzten Winters mit ebensolchen Stromausfällen allerdings gelernt und sich für 7.000 Dollar ein Notstromaggregat gekauft, das nun mehrere Stunden am Tag vor sich hintuckert ...

Wir genießen New York am Donnerstagabend und im Verlauf des Freitags, unter anderem mit einer Stadtrundfahrt. Letzte Bedenken in Sachen "Katastrophentourismus" fielen flugs von uns ab. Wo es Strom gibt - und den haben alle Einwohner Manhattans mit Ausnahme der Südspitze der Insel - da tobt das Leben. Sicher nicht ganz so turbulent wie ehedem, was wir aber mangels Vorerfahrung nicht beurteilen können. Einiges ist allerdings auch für Unkundige als "out of order" einzuordnen: Überall in den Straßen stapelt sich der Müll, vor Tankstellen bilden sich mehrere hundert Meter lange Schlangen, in einer Schule kann man Einquartierte beobachten und überall, wo es öffentlich zugängliche Steckdosen und "free wifi" gibt, frönt man dem Massensport des Internetsurfens ...

Dann kommt der Freitagnachmittag und mit ihm das Aus für den Marathon. Der Boxhieb sitzt. Alle, die etwas mit dem Marathon zu tun haben, "liegen ausgeknockt am Boden". Unterschiedlich lange allerdings. Wie wir mit der Situation umgehen, was wir daraus machen, schreibe ich in einem Kurzbericht und stelle ihn noch am Sonntagabend im Läuferforum online:

Hallo aus N.Y., um genau zu sein aus Macy's, dem größten Kaufhaus der Welt.

Ich sitze in einem Starbucks, in den Räumlichkeiten von Macy's, schlürfe Cappu und surfe. Ines ist eben zum Shoppen aufgebrochen. Zunächst nur die Schuhabteilung, dann holt sie mich wieder ab. Keine Bange, die Kreditkarte habe ich. ;-)

Doch eigentlich wollte ich von unserem Trainingslauf heute Morgen erzählen: Um 8:30 Uhr waren wir im Central Park, der mehr oder weniger erstmals wieder freigegeben war. Damit wich die Stadtverwaltung aber nur dem Druck der Läufer. Die Agenturchefs hatten sich tags zuvor bei der Racedirektorin des NYM getroffen, wo es nichts Neues gab. Sie verabredeten, dass sich - wer will - am Marathontag zu eben dieser Zeit 8:30 Uhr zu einem Trainingslauf treffen soll. Natürlich hatten wir keine Vorstellung, wie viele Frustrierte sich dazu durchringen würden. Ein paar hundert vielleicht? Was dann geschah sprengt alle Vorstellungen. Rund um den Central Park, aber schon richtig drin, führt eine Asphaltstraße, so breit wie eine gut ausgebaute Bundesstraße. Um halb neun war sie schon gut besucht. Eine Stunde später war sie brechend voll und zwar ringsum, was immerhin etwa 8 bis 10 Kilometer sein dürften. Mehrere tausend LäuferInnen aus aller Herren Länder, manche in Regimentsstärke als Nationen zusammen laufend, drehten ihre Runden. Unglaublich. Die Stimmung war gut, immer wieder waren auch - na ja, ich nenn es beim Namen - Lustschreie zu hören. Lust am Laufen, Lust über die Tatsache eben doch gekommen zu sein und Lust vor allem am gigantischen Wetter. Strahlend blauer Himmel und etwa 5, 6, 7°C. Indian Summer in den Bäumen, dahinter die Kulisse der Wolkenkratzer, Eichhörnchen bei der Futtersuche und lachende Gesichter, die uns scharenweise entgegen kamen oder überholten.

Im Zielbereich war fast kein Durchkommen mehr und dort beobachtete Ines auch LäuferInnen, die sich schluchzend in den Armen lagen. Es gibt wirklich viele, die jahrelang auf dieses Event hin gespart haben, um sich diesen Traum zu erfüllen. Ich hörte in unserem Hotel von einer Frau, die am Wochenende einen Zweitjob ausübt, um sich den NYM alle zwei Jahre leisten zu können ... Eine andere versprach sich selbst den NYM, wenn nach zwei Chemos eine dritte nicht mehr nötig sein sollte ... Als sie hörte, dass der Marathon ausfällt, brach sie in der Hotellobby weinend zusammen. Ein dritter war von seinem Team auserkoren worden die deutsche Fahne bei der Eröffnungfeier zu tragen. Sein Kommentar: "Ich hab noch ein Sixpack auf'm Zimmer, das wird jetzt dran glauben müssen". Das ist alles nichts, rein gar nichts, gegen das Leid der Geschädigten, dass allgegenwärtig über die amerikanischen Sender verbreitet wird. Noch immer sind Abertausende ohne Strom und Wasser, viele verloren alles auf Dauer. Und der nächste Sturm mit viel Regen und Schnee wird schon erwartet, am Mittwoch ...

Doch zurück zu unserem Lauf: Mein Ding ist die Morgenlauferei ohne Frühstück und Anlaufzeit nicht. Auch der rasch bei Starbucks inkorporierte Cappu konnte daran nichts ändern. Aber das Wetter, die Kulisse, die gefühlte Verbundenheit mit vielen Tausend aus aller Herren Länder und Seite an Seite mit Ines hat mich dann von Meter zu Meter mehr motiviert. Rein körperlich war's nicht so toll und vom Trainingswert her sicher auch deutlich "suboptimal". Aber immerhin haben wir - die Strecke vom Hotel und zurück eingerechnet - 20,5 Kilometer gesammelt. Das brauchen wir auch, um die Form bis nächsten Samstag in Santa Barbara wenigstens einigermaßen zu konservieren.

Der Central Park ist wirklich ein wunderschöner Ort - bei Tag (nachts lebensgefährlich), im Herbst und im Sonnenschein. Ich bin jetzt froh, dass wir nicht laufen durften. Das klingt komisch, ist aber so. Laufen sollte mit Lebensfreude, mit positiven Gefühlen verbunden sein. Laufen sollte verbinden, nicht teilen. Marathonlaufen sollte ein Fest bleiben, für jene, die ihn laufen, aber auch für jene die draußen stehen und mitfühlen, klatschen, anfeuern. All das wäre ein NYM im Jahr 2012 nicht gewesen. Natürlich ist nun fraglich, ob ich je in N.Y. Marathon laufen werde und das seit zwei Jahren vorbereitete Fest zum 100. Marathon ist auch perdu. Aber das spielt keine Rolle.

Die eigentliche Schuld, was den ganzen Ärger rund um den Marathon angeht, liegt eindeutig beim Bürgermeister von N.Y. und dem Veranstalter, die trotz eindeutiger Faktenlage an der Durchführung festhielten, sich aber schließlich dem Druck der Öffentlichkeit beugen mussten. Als Läufer bekam man das eigentliche Ausmaß der Katastrophe nicht mit. Im Big Apple tobt das Leben wie eh und je (soweit wir das beim ersten Besuch beurteilen können). Und beim Blick vom Empire State Building wirkt die Stadt voll intakt und aufgeräumt. was sie aber in diversen Randbezirken absolut und immer noch nicht ist. Wir haben uns auf eine nassforsche Stadtverwaltung in Kumpanei mit der Rennleitung verlassen, die mit ihrem sofort nach dem Sturm geäußerten "Yes we can und we'll do!" suggerierte, dass man beides packt: Die Sturmfolgen, also die Hilfe für die Betroffenen und die Organisation/Durchführung eines Marathons. Aber schauen wir vorwärts.

Hier in Macy's wird übrigens konsumiert und gelebt in vollen Zügen. Vor allem auch von den New Yorkern. Alles andere wäre genau so wenig menschlich, wie über das Leid ohne Notiz und Kommentar hinweg zu gehen.

Schluss damit. Ich muss mich wohl mal nach Ines umsehen - die kommt einfach nicht zurück ...

Später erfahren wir von unserem Tourguide, dass über den Tag verteilt geschätzte 15.000 Läufer den Central Park bevölkerten. Ein deutliches Zeichen. Kein Zeichen des Protests, weil es einfach unsinnig wäre gegen schicksalhafte Entwicklungen zu protestieren. Für Läufer gibt es eine Pille, die gegen vieles hilft, gegen Enttäuschung aber ganz sicher: Laufen. Also liefen wir. Manche sogar so lange, bis sie ihren Marathon auf dem Kilometerzähler hatten.

Dienstag, der 6. November: Diese Zeilen schreibe ich in einigen tausend Fuß Höhe über der langsam vorbei ziehenden Landschaft des mittleren, amerikanischen Westens, auf dem Flug von New York nach San Francisco. Mit Spannung erwarten wir die nächsten Tage und ob wenigstens einer meiner Herzenswünsche, den hundersten Marathon betreffend, doch noch in Erfüllung geht: Gemeinsam mit Ines finishen!

 

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