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8. September 2008

"Mission irrational", oder: Was man nicht im Kopf hat ...

Mit 70 Sachen flitze ich kurz vor Mittag den Bergen entgegen. Doch, doch, ich flitze! Auf leichtem Roller gelten dem Autofahrer 70 km/h als entfesselter Galopp. Außerdem friere ich leicht im Fahrtwind, was diesen Eindruck noch unterstreicht und mich meine Unüberlegtheit ein kleines bisschen bereuen lässt. Eigentlich ideales Wetter für dergleichen Vorhaben: Wolken und Sonne lösen sich ab, klare, kühle Luft nach gestrigem Regen. Unter winddichter, aber dünner Jacke und Trainingshose trage ich Läuferkluft: Kurztight und das Rennsteig Finishershirt. Zu dünn die "Häute" auf luftiger Sitzbank. So klettere ich nach 100 km Fahrt stocksteif vom Bock und reiße mir flugs die obere Schicht vom Leib, um von der gerade scheinenden Sonne zu tanken.

Wo ich bin und was ich hier überhaupt will? - Ich hab den Roller auf einem Parkplatz unterhalb des Tegelberges bei Füssen abgestellt. Der seit geraumer Zeit schon gehegte Wunsch mal wieder einen harten Berglauf ins Training einzubauen scheiterte mehrmals an schlechtem Wetter oder anderen Hindernissen. Heute spielt zwar der Himmel mit, dafür sind die körperlichen Voraussetzungen bescheiden: Vorgestern eine Bergtour und gestern lief ich mir 17 Kilometer weit in strömendem Regen eine fette Blutblase an der Ferse. Mit Blasen hab ich sonst nie Probleme. Wieso dann ausgerechnet gestern? Egal. Also bin ich müde und angeschlagen. Klar würdest DU unter diesen Umständen keinen anstrengenden Berglauf planen. Ja, stimmt, das klingt schon ein bisschen verrückt. Nur steckt hinter dieser Idee weder Heldenmut noch unverzeihliche Dummheit. Es ist einfach so, dass ich da hoch MUSS und zwar so bald wie möglich.

Mit umgeschnalltem Hüfttäschchen, Forerunner am Handgelenk und Kamera in der Hand trabe ich los. Erstes Zwischenziel das etwa drei Kilometer entfernte Schloss Neuschwanstein. Ich wünschte mir diese Strecke flach, zum Einlaufen, bevor es dann vermutlich brachial steil nach oben geht. Nächste Auswirkung meiner unpräzisen Vorbereitung: Was auf der Karte flach aussah, entpuppt sich als zunächst sanft, dann heftig ansteigendes Sträßchen. Doch, doch, ich beherrsche das Kartenlesen, ganz passabel sogar, aber dazu muss man einfach genauer hingucken ... Auf den ersten fast hundert Höhenmetern kommt mein Puls rascher in Wallung als beabsichtigt. Ein Wäldchen querend, anschließend durch offene Wiesenlandschaft wieder hinab. Der Anblick ist atemberaubend! Linkerhand die schroff aufragende Felswelt der Ammergauer Alpen, vor mir eine grüne Senke, hinter der sich die markanten Gipfel der Tannheimer Berge aufbauen und rechts eine liebliche Feuchtwiesenlandschaft hinter der als schmaler, silbergrauer Streifen die große Wasserfläche des Forggensees lockt. Vor den etwas düster wirkenden Schroffen und Einschnitten der Ammergauer Berge beeindruckt dann noch ein Stück Stein gewordenes Märchen, das alljährlich abertausende Touristen aller Hautfarben nach Südbayern lockt: Schloss "Neuschwanstein". Ich gebe die erarbeiteten Höhenmeter wieder auf und strebe dem Schloss entgegen. Herrlich intensiver Heuduft zieht durch die Nase. Welche Rolle spielt angesichts solcher Sinneseindrücke läuferisches Ungemach? Richtig: Gar keine! Die inzwischen "aufgetauten" Beine fühlen sich verkatert an, einfach müde. Und das Täschchen hüpft wild klappernd an Hüfte und Bauch herum. Normalerweise hätte ich das dämliche Ding nicht mitgenommen, aber heute werde ich es brauchen - nach hoffentlich erfüllter Mission.

Ich hab's exakt so erwartet und trotzdem trifft es mich hart. Unterhalb des Schlosses trabe ich durch gnadenlosen Massentourismus: Prall gefüllte Parkplätze, Heerscharen durcheinander wimmelnder Menschen, Imbissbuden, Andenkenläden voller Nippes und Tand, Hotels und Restaurants, zumeist mit "brauchtümelnder", kitschiger Ornamentik überladen. In Schlangenlinien geht's durch die nicht abreißen wollende Kette gelinde überrascht bis dümmlich dreinschauender Besucher. Penetrant umwölkt von Essensgerüchen aus zig Restaurantküchen tippele ich in mäßiger Steigung bergwärts. Nach einer Kurve umfängt mich kühler Wald und wenig später glaube ich den Massen entrinnen zu können. Ein Wegweiser zeigt vom Asphaltband nach rechts. "Bleckenau" steht unter anderem drauf und dort muss ich vorbei. Keine Minute später bereue ich die Straße verlassen zu haben. Erstens fängt sie mich weiter oben wieder ein, zweitens kommen mir auch hier Myriaden von Neuschwanstein-Besichtigern entgegen und drittens hätte mich die Straße auf längerem, dafür festem und flacherem Untergrund nach oben geleitet. Mein Puls erreicht binnen Sekunden die höchsten Tageswerte, der Atem geht tief und zeitweise berühren die Fersen den Boden nicht mehr. Aus Traben wird Steppen. Wasser schießt aus allen Poren und hart kämpfend muss ich allerlei munter schwatzendem Volk ausweichen. Wellen von Teenagern sind es jetzt, die in kurzen Intervallen den Hang herunter schwappen. "Hut ab!" Die weibliche Stimme galt mir. Ob das Mädel Udos Bergwärtskeuchen nach Ludwigs Märchenschloss als zweite Attraktion des Tages wertet?

Etwa 200 Höhenmeter überwinde ich auf lächerlich kleiner Distanz. Dann stehe ich wieder auf der Straße, kurve noch kurz um Urlauber und hab die Touristenzone hinter mir. Das Bergsträßchen wird schmaler, senkt sich für ein, zwei Laufminuten, Gelegenheit zum Verschnaufen. Es folgen Kilometer sanften Anstieges, auf denen ab und zu Wanderer Zeuge meines Laufes werden. Dichter Bergmischwald erstreckt sich beidseits, zuweilen durchschnitten von felsigem, mäßig Wasser führendem Bachbett. 'So könnte das von mir aus bleiben bis ich mein Ziel erreicht hab!' denke ich mehrmals, wohl wissend, dass es noch gewaltig an Höhe fehlt. Und wieder die schlampige Vorbereitung: Weder weiß ich wie viele Höhenmeter mir tatsächlich bevorstehen, noch ahne ich die zu überbrückende Distanz. Diese scheinbare Leichtfertigkeit nährt sich schlicht aus meinem Trainingszustand, der derzeit auf 80 bis 100 Laufkilometern pro Woche baut. Im Bewusstsein jederzeit zum Beispiel einen Marathon laufen zu können, überlasse ich die Unternehmung halt ein wenig dem Zufall.

Es wird wieder steiler, aber längst nicht so fordernd wie vorhin. Ein Kleinbus kommt entgegen, eines der wenigen hier zugelassen Fahrzeuge: Im Shuttledienst befördert er Menschen zwischen "Höllenzone Tourismus" und Bergwelt in der so genannten "Bleckenau". Die erreiche ich dann auch, nachdem ich die Begegnung mit zwei ausgewachsenen Kipplastern überlebte, die, um ihre alles zermalmende Stärke wissend, keinen Millimeter auswichen. Krach und Dieselabgase vergällen mir die Ankunft auf dem herrlichen Hochplateau "Bleckenau". Bergwegebau heißt die Ursache. Flache bis hüfthohe, zarte bis riesenblättrige, alpine Pflanzengemeinschaften bedecken den Boden des von steilen Felsen eingerahmten Kessels. Markante Baumgestalten, Ahorn vor allem, ragen aus dem Grün und lassen an dicken, knorrig schrundigen Stämmen die Jahrhunderte ahnen. Das Wummern der Baumaschine wird schnell leiser, ich hab die Bergwelt auf festem Kiesweg wieder für mich allein.

Der nächste Steilabsatz fährt mir ins Gebein. Langsam, langsam, stetig aufwärts, nur selten zwingt's mich zum "Spitzentanz". Immer wieder der Blick auf die Kilometeranzeige: Bald zehn Kilometer um und noch kein Ende abzusehen. Im Gegenteil. "Jägerhütte 1¼ h" steht auf dem Wegweiser und zu eben jener "Jägerhütte" will ... nein ... muss ich. Aus der auf gemächliches Bergwanderertempo gemünzten Zeitangabe errechne ich verbleibende vier Kilometer. 'Udo, du Depp!' schüttele ich in Gedanken den selbstkritischen Kopf. Denn nun ist klar, mein Bergtraining wird sich zum heftigen "langen Lauf" auswachsen.

Am Ende eines beinahe flachen Wegabschnitts erwartet mich ein asphaltierter, nach oben unter Bäumen verborgener Anstieg. Da stöhne ich innerlich schon ein bisschen, weiß ich doch nur zu genau, wieso hier inmitten schierer Bergwelt ein Weg plötzlich wieder zur Straße erhoben wird. Weil er brutal steil ist, der Weg. Weil Regengüsse immer wieder tiefe Rinnen auswuschen, bis die Nutzer ihn asphaltieren ließen, um auf diese Weise der ewigen Wegpflege ein Ende zu bereiten. Es gibt diesen Spruch "Der Weg ist das Ziel". Ein Weg kann vieles sein. Mir ist er jetzt Gegner, der mich besiegen will. Elf Kilometer und etliche Höhenmeter stecken schon in meinen Beinen, aber er schafft mich nicht. Ich muss kämpfen, sehr sogar, wieder phasenweise nur noch Luft unter den Fersen, aber ich bezwinge auch dieses Stück laufend. Was wohl in den Köpfen der zahlreicher werdenden Wanderer vorgeht? In den Köpfen des treuherzig glotzenden Jungviehs, das jetzt entlang der Route auftaucht, sicher wenig. Dennoch sind mir die Rindviecher willkommener, weil sie das Nahen der "Jägerhütte" ankündigen. Die "Jägerhütte" ist in Wirklichkeit eine Alphütte, deren Besitzer ursprünglich nur wegen des über den Sommer hier oben weidenden Viehs anwesend waren. Später erst besserten sie ihre Ertragslage auf, indem sie bei gutem Wetter Scharen von Bergwanderern mit Speis und Trank bewirteten.

Noch ein paar Wendungen des Weges, noch mal rauf, und rauf, und rauf, dann sehe ich sie schließlich vor mir, die "Jägerhütte". 13,5 Kilometer meldet Kamerad Forerunner. Na toll und das alles wieder zurück. Meine Spannung steigt. Gleich wird es sich erweisen, ob ich die Mission mit Erfolg krönen und den jüngsten Fehltritt meiner Dusseligkeit sühnen kann. Die letzten Besucher verlassen eben die Bänke vor der Hütte und ich wende mich an die "Dame des Hauses": "Entschuldigung! Ich war vorgestern bei einer Wanderung hier heroben bei euch und hab wahrscheinlich meine Brille liegen lassen!? Habt ihr die gefunden?" Mein Herz pocht heftiger, obwohl ich gar nicht mehr laufe. In Wahrheit bin ich recht unsicher, ob die Brille tatsächlich bei der Brotzeit liegen blieb. Eigentlich hätte sie Ines oder mir auf dem abgeräumten Tisch auffallen müssen.

Im Grunde sagt sie gar nix, jedenfalls bestätigt sie den Fund nicht ausdrücklich. Aber das wissende Aufleuchten in ihrem Gesicht (das ich auch ohne Brille erkennen kann) und die sofort eingeleitete, hektische Durchsuchung der Hütte vermitteln auch so, dass Brille und Träger gleich wieder vereint sein werden ... Nach minutenlanger Suche, als ich mich innerlich drauf vorbereitete demnächst noch mal hier rauf zu rennen, entdeckt sie meinen "Restlichtverstärker" schließlich auf hölzernem Absatz über der Eingangstür. Hüfttasche auf, Brillenetui raus, Brille ins Etui, Etui verstauen - hab das lästige Ding also nicht umsonst den Berg hoch geschleppt. Am Brunnen der Hütte, wo ich mich nach schweißtreibender Wanderung erfrischte, blieb die Brille zurück. "Na klar! Am Brunnen! An den hatte ich gar nicht mehr gedacht!" - Zum Abschied erbitte ich mir ein Glas Wasser, denn selbstverständlich hat Udo auch nix zum Trinken mitgenommen. - Wird doch nur'n kleiner Bergjogg, da brauch ich doch nix zum Trinken!? - Ich flöße mir den Viertelliter Wasser ein, bedanke mich herzlich und trete den Rückweg an.

Runter, immer weiter runter. Dabei spüre ich die Müdigkeit ganz deutlich. Denselben Weg noch einmal, nur die Kulisse vor mir, das schroffe Felsenpanorama ist jetzt ein anderes. Der Weg ist fest, kaum Unebenheiten. Zum Glück, denn immer wieder schweift mein Blick über die Schönheit dieser Bergwelt. Aufwärts musste ich zu sehr kämpfen, um das zu genießen. An der "Bleckenau" hat man die Bauarbeiten eingestellt, dafür muss ich mich an einem Tieflader vorbei quetschen, auf dem man gerade die Baumaschine verzurrt. Runter, immer weiter runter. Meine Füße "mosern" gewaltig und ich fühle mich ausgelaugt. Aber das macht nichts. Zufriedenheit und Wohlgefühl erfüllen mich. Selbst die bevorstehende Begegnung mit dem Moloch Tourismus lässt mich kalt.

Durch einen Einschnitt im Wald wird der Blick zur berühmten Pöllatschlucht frei. Darüber spannt sich die ebenso bekannte "Marienbrücke", hinter der, hellgrau und Ludwig-schwanger, Neuschwanstein aufragt. Dicht an dicht steht Volk auf der Brücke, genießt die einmalige Aussicht. Soll ich, oder soll ich nicht? Noch kurz rechts abzweigen und selbst zur Brücke laufen? Der Besucherhorror schreckt, die Aussicht lockt. 'Ach komm, wenn du schon mal hier bist!' Im Slalom durch die Massen und eine Minute später stehe selbst auf der "Marienbrücke". Die Aussicht ist wirklich grandios, sucht ihresgleichen. Unter mir die gähnende Schlucht, voraus, auf einem Felsen kühn errichtet, das Märchenschloss, dahinter tiefblaue Seen, eingebettet in herrlich grüne Voralpenlandschaft. Felswände rechts und links bilden eine Art natürlichen Bilderrahmen. Nur Sekunden, dann nehme ich das Gemälde mit mir - in der Kamera und im Kopf ...

Runter, steil runter und zum Abschluss noch ein paar Kilometer müdes Schlappen durch Hain und Wiesenflur. Noch einmal der intensiv, würzige Duft von Heu. Ich bin fix und fertig, zufrieden, glücklich, fühle mich ganz großartig! - Am Roller angekommen wechsele ich meine Klamotten. Wieder einmal wird mir bewusst, welche Privilegien ich genieße: Ich laufe gern, habe genug Zeit mich dieser Leidenschaft hinzugeben und manchmal in den schönsten Landschaften, die man sich vorstellen kann ...

 

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