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16. Juni 2008

Von der ach so erträglichen Leichtigkeit des Seins

Wie viele wissen, schinde ich mich seit Monaten für ein großes Ziel. Oft waren das Training hart und meine Beine weich, manchmal quälte ich mich wahrhaftig. Heute schien wieder so ein "Schinderhannes" in Form eines langen Laufes über 30 Kilometer auf mich zu warten. Deutlich wird diese Einschätzung nur im Kontext des bisherigen Trainings, den folgende Eckdaten erhellen: Gestern Marathon in Fürth, damit 150 Gesamtkilometer in der Vorwoche, letzter Ruhetag vor über einer Woche ...

Dem zweiten langen Lauf innerhalb von 24 Stunden liegt dieselbe Absicht zu Grunde wie den beiden Wochenenden Ende März und Ende Mai, an denen ich Samstag und Sonntag je einen Marathon lief: Ökonomisierung des Fettsäurestoffwechsels zur Verbesserung der Langzeitausdauer jenseits der Marathondistanz ... Kurz: Ultralanges Laufen üben.

Und dann renne ich vorhin los. Seltsamerweise sind meine Beine leicht und keine der gestern auf dem zweiten Halbmarathon in Fürth so jaulenden Fasern mosert rum. Ich unterdrücke meine Euphorie erst einmal, denn Läufers Erfahrung kennt Einbrüche jedweder Art, in allen Phasen eines (Trainings-) Laufes.

Erst mal unschön auf Radwegen entlang einer Hauptverkehrsstraße geradewegs nach Westen und dann besichtige ich eine Baustelle: An der Verbindungsstraße zum Nachbarort Bobingen wird gebaut, daher ist die gesperrt und ich hab meine Ruhe. Bis auf einen Bagger, der an der Verfüllung der Bankette arbeitet. Durch den Ort und dahinter bis zum Fluss "Wertach". Sieben Kilometer sind um, und noch immer könnte ich problem- und schmerzfrei Rock'n Roll tanzen. Ich laufe aber lieber und wende mich entlang des Flusses Richtung Augsburg. Um mich herum sattes Grün und in meinen Ohren vielstimmiges Vogelgezwitscher. Ein Teil von mir genießt den Jogg in vollen Zügen, der andere wartet auf das Fiasko - das nicht kommen will, aber doch irgendwann kommen muss.

Arme "Wertach"! Was wir "Zivilisation" nennen, hat dir gar übel mitgespielt. Rein gar nichts ist von deiner Ursprünglichkeit mehr übrig. Schnurgerade fließt du in kanalartigem Bett, ergießt dich dann und wann in eine Staustufe, um ein paar mickrige Megawatt Strom zu garantieren, bist als Fluss fast tot. Klar leben in dir noch Fische, bist auch nicht dreckig und an deinen Gestaden grünt oder blüht üppige, teilweise seltene Botanik. Fast könnte man vergessen, dass Stauseen und Begradigungen mehr zerstörten als schufen.

Aber heute laufe ich der Hoffnung, der Zukunft, entgegen. Die beginnt ein paar Stromkilometer vor Augsburg. Dort hat man die "Flussleiche" auf diversen Abschnitten wiederbelebt. Man nennt das "Renaturierung". Verbreitern, Ufer umgestalten, künstliche Inseln schaffen, flache Kieszonen einbringen ... Ein Mordsprojekt. Und den Rest überlässt man jetzt Mutter Natur, die ihre Pflanzenwelt nach und nach zur Besiedelung der nackten Kiesflächen in Marsch setzt ... Kilometer 14 und 15 weit betrachte ich das mit Wohlgefallen. Dazu wäre es allerdings nicht so bald gekommen, hätte der Fluss nicht vor ein paar Jahren sein ihm zugedachtes Bett verlassen und einige Straßenzüge Augsburgs unter Wasser gesetzt. Dabei musste sogar ein Mensch sein Leben lassen, weil er glaubte sein Auto noch aus der binnen Minuten voll laufenden Tiefgarage fahren zu können ... Nach Sturm und Hochwasser verkeilten sich Baumstämme an einem Wehr, stauten gewaltige Wassermassen und als dieses Hindernis brach löste eine vorher nicht für möglich gehaltene Flutwelle die Katastrophe aus. Jetzt hat der Fluss zumindest in diesem Bereich viel Platz, verkeilen kann sich da nix mehr. Die Dämme hat man auch erhöht, verbreitert und damit für uns Läufer paradiesische Zustände geschaffen.

Nach 16 Kilometern nutze ich eine Brücke zur anderen Flussseite, Zeit zum Umkehren. Meine Hälften haben sich vereinigt, von einem Fiasko will ich nichts mehr wissen, genieße die Bewegung in vollen Zügen. Freue mich an der Lernfähigkeit des Menschen, die endlich die Signale des Planeten zu verstehen beginnt. Freue mich am geradezu frenetischen Gezwitscher einer heute hyperaktiven Vogelwelt, freue mich am Frühlingsgrün und daran, dass es entgegen der Vorhersagen der Wetterfrösche ausgerechnet in meinen drei Laufstunden nicht regnet. Freue mir fast ein Loch in den Bauch, als nach 32 Kilometern meine Knochen noch immer nicht wirklich rebellieren und mein Körper Kraft für weit über Marathondistanz hinaus anbietet. Aber die Vernunft sagt "Aufhören!" Immerhin hab ich mir zwei Kilometer mehr gegönnt als vorgesehen. Den Mahner konnte ich mit der Brücke beruhigen, die eben nicht früher den Rückweg ermöglichte (Hab ihm verheimlicht, dass ich ja hätte umkehren können und eine Brücke vorher ...).

Nach 32 Kilometern stehe ich vor der Haustür und bin glücklich. Keine Schinderei heute und wenn ich müsste ... aber ich darf ja nicht. Morgen sollst du wieder Leistung bringen - sagt mein Trainer - was nur klappt, wenn du dich nicht voll verausgabst. Mein Trainer hat recht und da der Kerl mich keine Minute aus den Augen lässt, ist es furchtbar schwer seine Ratschläge zu missachten ...

Was für ein wundervoller Montag. Wie könnte ich den Genuss fortsetzen? Logo: Duschen und dann diverse Cappuccini und ein herrliches Stück Kuchen ...


Hinweis: Die Fotos entstanden nachträglich, Anfang August 2008.






Irgendwie malerisch, dennoch eine Flussleiche. Die Wertach in Höhe Bobingen.



Natur pur? Irrtum! Menschenhand schuf den Wertachstausee, um unseren Hunger nach Energie zu stillen ...





An der Wertach entlang Richtung Norden, Richtung Augsburg. Nach 2 km stößt man auf die jüngste der Renaturierungszonen. Hier liegen die künstlich geschaffenen Kiesbänke und Ufer noch fast blank ...





Kurz vor Augsburg hat sich Mutter Natur die Flussufer bereits zurück erobert. Niedriges Weidengebüsch und genügsame Stauden übernehmen die Erstbesiedelung. Und Farbe bringen sie auch ins Spiel ...



 

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