Marathondouble - Vers eins: Dreiburgenland Marathon, Thurmansbang

Von der Lust zu leben und zu leiden

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Vielen Läufern wird undenkbar, unbotmäßig oder einfach ungesund vorkommen, was mein Trainingsplan an diesem Wochenende vorgibt: Zwei Marathonläufe, heute, Samstag, im Bayerischen Wald und morgen im Frankenland. „Ein Ding aus einer anderen Welt“ hätte ich noch vor zwei Jahren selbst über derlei Vorhaben geurteilt. Was hat sich seitdem geändert? Der Zauberformel heißt „Anpassung durch erfolgreiches Training“. Mein Körper hat sich auf der Basis vieler tausend Laufkilometer an solche Belastungen gewöhnt. Man staunt immer nur beim Blick auf fremde, überlegene Leistungen. Die eigene Entwicklung empfindet man als „normal“ und geradezu zwangsläufig. Mein Ausdauerniveau gestattet mir nun jederzeit, quasi aus dem Stand, einen Marathon in einer Zeit um die 3:30h zu absolvieren. Diese Schlussfolgerung bombardierte ich wochenlang mit Zweifeln, suchte sie zu erschüttern. Neue läuferische Träume setzten jedoch einen anhaltenden Reifeprozess voraus, wobei es nicht genügt, durch Trainingseinheiten körperliche Fortschritte zu erzielen. Man muss die neuen, mühsam erarbeiteten Möglichkeiten auch akzeptieren. Also gut: Ich kann jederzeit einen Marathon laufen, aber auch zwei hintereinander und wozu?

Gerade auf den Ultrastrecken - im Juni will ich 100 km laufen - existieren sehr unterschiedliche Trainingskonzepte. Lange Läufe sind zwar unumstritten notwendig, jedoch wie viele insgesamt und pro Woche, sowie deren Distanzen - da gehen die Meinungen auseinander. Meine (bisher einmalige) Erfahrung lässt mich auf grundsätzlich zwei lange Läufe pro Woche vertrauen, wobei mich der längere von beiden regelmäßig über die Marathondistanz schickt. Daneben berücksichtigt mein Trainingsplan ein paar spezielle Trainingsformen. Eine davon: Zwei Langdistanzen an zwei aufeinander folgenden Tagen. Eigentlich sollten sich die beiden Einheiten zur angepeilten Wettkampfdistanz addieren. Da ich jedoch offizielle Wettkämpfe nutzen wollte, gab es nur die Möglichkeit zwei Marathons zu laufen. Glücklicherweise fand ich zum fast idealen Zeitpunkt und in relativer Nähe zwei passende Läufe. Was hinter die ganze Unternehmung ein fettes Fragezeichen setzt, sind die anspruchsvollen Profile beider Veranstaltungen: Samstag 900 Höhenmeter und Sonntag noch einmal 700.

Die ganze Woche über hatte ich ohne Übertreibung „die Hosen gestrichen voll“. Dazu trug nicht zuletzt der zwar erfolgreiche, im Zustandekommen allerdings recht „unrunde“ Linz Marathon am letzten Wochenende bei. Insgesamt drei Ruhetage (Montag, Donnerstag, Freitag) und „nur“ zwei schnellere Einheiten über je 17 Kilometer komplettierten die Trainingswoche. Dennoch waren die Bedenken massiv und bestimmten die Absicht beide Läufe mit etwa 3:50h bis 3:55h abzuschließen.

Seltsame Wettersorgen plagen Langstreckler im Frühjahr des Jahres 2007: Mitten im April fahre ich in den Bayerischen Wald und hoffe, dass es heute nicht zu warm wird. Über hellgrün gefleckte Höhen spannt sich ein makellos blauer Himmel. Weitere Boten des auch in dieser Höhe schon fortgeschrittenen Frühlings sind saftig grüne Wiesen und üppig blühende Obstbäume. Ich bin überwältigt. Um Thurmansbang, den Austragungsort des 6. Dreiburgenland Marathons zu finden, muss man schon ziemlich tief in diese herrliche Landschaft vorstoßen: Autobahn A3, Richtung Passau, Ausfahrt Garham / Vilshofen und dann rein in den „Wald“. Kalt ist es hier, kurz vor dem Start (10 Uhr) steht das Quecksilber erst bei 8°C. Recht so! Wenigstens auf der ersten von zwei zu laufenden Runden sind also laufgerechte Temperaturen zu erwarten.

Was für ein Aufwand! Diese Formel kommt mir immer wieder in den Sinn. Summiert man alle Finalisten, dann platzieren sich in den verschiedenen Bewerben (M / HM / 12,45km / plus dieselben Distanzen per Nordic Walking) gerade mal 163 Teilnehmer. Wie viel Idealismus muss man aufbringen, um bei dieser Beteiligung eine so perfekte Organisation auf die Beine zu stellen? ‚Spaß an der Freud’ ist in den Gesichtern aller Helfer zu beobachten. Ein schnuckelig, kleines Läufchen, dessen geradezu „intime“ Atmosphäre niemanden unberührt lässt. Kurz vor dem Start treffe ich noch Günther aus dem Läuferforum, der heute über die Marathonstrecke walken wird. Nach ein paar Sätzen muss ich ihn leider „stehen lassen“. In fünf Minuten geht’s los und ich habe noch ein bisschen Übergewicht an Bord.

Von der Lust zu leben

Ein beinahe verlorenes Häufchen von kaum mehr als dreißig Marathonis wartet gleich mir unter dem prall aufgeblasenen Portal auf den Startschuss. Kaum dreihundert Meter weiter liegt der kleine Ort schon hinter uns und der erste, zugleich härteste Anstieg beginnt. Nach zwei Tagen „Lauffrei“ fühle ich mich ausgeruht, halte mich dennoch zurück. Die asphaltierte Straße wird immer steiler und verschwindet alsbald in dichtem Wald. Ständig ändert sich die Steigung, mein Tempo passt sich an. Wie soll ich auf einem solchen Kurs meinen Laufrhythmus finden und gleichmäßige Splits laufen? Durchschnittlich 5:30 min/km müsste ich ins Ziel bringen, um die Wunschzeit 3:52h zu treffen. Mir fehlt Erfahrung auf Strecken mit relevantem Profil und Wettkampfpraxis bei langsameren Tempi. Wird wohl schwierig werden. Der erste Kilometer unterstreicht mein Stirnrunzeln: 5:50 Minuten liegen deutlich über dem Schnitt - einerseits. Andererseits kam die Zeit in teilweise steilem Anstieg zustande und damit bin ich eigentlich zu schnell. Oder nicht? Kurze Zeit später gabelt sich die Strecke. Nach rechts geht es auf ein im unteren Teil reichlich abschüssiges Asphaltsträßchen. Wurzeln haben dem Belag übel mitgespielt und ein paar gefährliche Stolperfallen aufgeworfen. Sie sind allesamt mit grellgelber Farbe markiert. Vorbildlich! Mit kurzem Grimm kommt mir die überfüllte und an Gefahrstellen ungesicherte Strecke von Freiburg in den Sinn. Dann wird die Asphaltbahn auf einem Waldweg verlassen. Auf sandigem, meist festem Untergrund ist der gut zu laufen. Verschiedentlich gibt es Spuren, die auf Planierungen, Befestigungen und Freiräumen hindeuten. Die Sorgfalt des Organisationsteams setzt sich fort. Was für ein Aufwand!!!

Im unsteten Wechsel des Auf und Ab, zwischendurch auch mal kurz eben laufend, befreit sich mein Denken vom läuferischen Ballast. Dafür lasse ich diesen wunderbaren, lichtdurchfluteten Wald auf mich wirken. Du bist ein Glückskind Udo! Alles passt in diesem Jahr: Der Frühling ist vier Wochen weiter als üblich und besseres Wetter für einen „langen Lauf“ kann man sich kaum vorstellen. Wechselndes Licht lässt das junge Blätterkleid in allen Grüntönen leuchten. Mein Gott ist das schön! Ich laufe, mal langsamer, im Anstieg, mal schneller, wenn der Weg sich senkt. Noch kann ich dem Blick auf die Uhr nicht widerstehen. So zeichnet sich tendenziell zu hohes Tempo ab, weil ich relativ schnell die geplanten Splits unterbiete. Abwarten. Das Laufen strengt nicht im mindesten an. Nichts - oder wenigstens fast nichts - könnte mich jetzt mehr erfreuen, als hier mit ein paar Gleichgesinnten durch den Bayerischen Wald zu rennen. Die Gleichgesinnten: Mehr als vier, fünf Läufer habe ich schon nicht mehr in Sicht- und hinter mir in Hörweite. Dabei ändern sich die Positionen ständig: Manche überholen mich in ansteigendem Terrain, beschleunigen dann abwärts nicht im selben Maße und fallen wieder zurück. Welcher Taktik folgen sie? Weitgehend konstante Geschwindigkeit? Ich halte das für einen Nachteil: Nur wenn das Tempo sich dem Gelände anpasst, kann man die Belastung einigermaßen gleichmäßig halten, um „ökonomisch“ mit den Kraftreserven hauszuhalten.

Recht flott vergingen die letzten Minuten, die Strecke hatte meist Gefälle. An einer Biegung schneidet der Weg tief in den Hang. Talseitig fällt grelles Sonnenlicht auf ein kleines, von ungelenker Hand gemaltes Schild: „Schuttabladen hier verboten.“ Gibt’s das? Wer fährt hier rein und schmeißt seinen Unrat mitten ins Paradies? Muss aber passiert sein, was sonst rechtfertigt diese Verbotstafel? - Noch ein Schild, aber ein willkommenes: Gleich gibt’s was zu trinken. Kleines Läuferbuffet mitten im Wald. Udo ist im Training, entsagt spartanisch jeglichem Nährwert und trinkt einen großen Becher Wasser. Obwohl es da unten vernehmlich drückt, meine ich der kommenden Wärme diese Flüssigkeitsmenge entgegen setzen zu müssen. Der letzte Tropfen ist noch nicht im Magen angekommen, als eine querstehende Bierbank den Weg versperrt. Über einen extrem steilen Abhang „entartet“ der Marathon für dreißig Meter zum Crosslauf. Vorsicht! Kontrolliert hinab, um nicht zu stolpern und vor allem um sich nichts „einzufangen“. Ich kenne die Anfälligkeit meines Lendenwirbelbereiches, vor allem bei niedrigen Temperaturen. Vor Jahren haben mir solche Bedingungen schon mal einen Bandscheibeneinriss zugefügt. Und nach einem scharf in ähnlichem Gelände absolvierten Halbmarathon im Vorjahr, hatte ich wochenlang mit Rückenschmerzen zu kämpfen. Nach wenigen Sekunden nimmt mich wieder ein gepflegter Weg in Empfang. Am Waldsaum, mit Blick auf eine saftig grüne Wiese, entschließe ich mich, das Laufvergnügen zu steigern und den Druck in der unteren Etage abzulassen. Der Weg leitet in eine weite, wellige Wiesenlandschaft. Herrlich, fantastisch, großartig, wunderschön - immer wieder schießen mir solche Prädikate durch den Kopf. Ich versuche das nicht zu beschreiben, kein Satz aus meiner Feder könnte diesen Anblick in deiner Vorstellung zum Leben erwecken ...

Gut fünf Kilometer sind gelaufen. Wiesen formen eine kleine Senke, an deren tiefstem Punkt ich mich nach links, dem nicht allzu fernen Wald zuwende. Junge Bäume, mit noch kleiner Krone säumen den sandigen, maßvollen Anstieg zur Allee. Dann tauche ich wieder im kühlen Wald unter und sehe ihn vor mir, den „Beißer“. So drückte es ein Offizieller anlässlich seiner kurzen Einweisung vor dem Start aus. Ein-, zweihundert Meter „beißen“ sind nun angesagt. Am Scheitelpunkt gönne ich dem Pulsmesser einen Blick: 141 (81%). Nicht dramatisch, auch wenn ich eine Weile brauche, um das heftige Ziehen in den Oberschenkeln zu kompensieren. Dann geht es wieder, geradezu spielerisch leicht. Es ist eine Lust hier zu laufen!

Wieder ist der Wald zu Ende und es geht auf den Ort Altfaltern zu. Ein paar neuere Einfamilienhäuser sowie bäuerliche Anwesen links und rechts des jetzt wieder asphaltierten Kurses. Kaum Menschen zu sehen. Einer lehnt an der straßenseitigen Einfriedung des Nachbarn, spricht mit zwei Frauen. „Ihr lauft Marathon, zwei Runden?“ will er von uns wissen. Mein „Ja!“ kommt eine Sekunde zu spät, der Läufer ein paar Meter vor mir war schneller. Aus der Tiefe eines Hofes, meinen Blicken entzogen, kündet eine Kreissäge mit scharf schneidendem Geräusch von samstäglicher Arbeit. Keine zwei Minuten, dann liegt die Ortschaft hinter mir. Rechter Hand und in dieser Umgebung unpassend hässlich, ein kleiner Betrieb. Dann schau ich eben zur anderen Seite! Und hier bietet sich eines der atemberaubendsten Panoramen dieses Tages. Gelbblühender Löwenzahn sprenkelt eine sattgrüne Frühlingswiese. Dahinter grüne, feuchte Mulden und in der Tiefe gestaffelte, mit dichtem Wald besetzte Hügel unter klarem, azurblauem Himmel. An dieser Stelle entscheide ich, nach dem Lauf noch einmal hierher zu fahren und ein paar Fotos mitzunehmen. Das muss Ines sehen, wenn ich wieder zu Hause bin!

Laute Anfeuerungsrufe lenken mich ab. Die Begleitung eines der Läufer hat sich hier postiert und versucht mit „hopp, hopp, hopp!“ und lautem Klatschen ein bisschen zu helfen. Nett aber noch nicht nötig. Knapp neun Kilometer sind bewältigt, keinerlei Anzeichen von Ermüdung. Die Straße mündet in eine für mich namenlose andere. Gesprächsfetzen aus einem Funkgerät ließen schon auf den von der Feuerwehr eingerichteten Versorgungsstand schließen, bevor ich ihn sah. Wieder labe ich mich aus einem Becher. Die Straße führt hinab zum tiefsten Punkt des Rundkurses, wie ich später auf dem Streckenprofil entdecke. Langsamer, weil wieder Höhe gewinnend, passiere ich den nächsten Weiler: „Schadham“ steht auf dem schmalen grünen, gelb umrandeten Schild. Keine Menschenseele belebt meine Erinnerung. Eines der Häuser wirbt mit verschwenderischem Einsatz des Baustoffes Granit um Extrablicke und bekommt sie. Vor allem die von massiven Steinsäulen begrenzte Einfahrt will beeindrucken. Wem’s gefällt: Ein auf die Spitze gestellter Würfel krönt die Säulen und präsentiert mir im Vorbeilaufen seine Augen.

10 km: Hier erfasst mein Blick erstmalig einen der Namensgeber dieses Laufes. Das Schloss Englburg thront malerisch auf einem der zahllosen Hügel. Das Sträßchen folgt dem Waldrand in einem ausnahmsweise mal von frisch bestellten Feldern geprägten Tal. Autos fahren hier so gut wie keine. Ab und zu weicht mir ein Traktor aus, ansonsten bleiben wir ungestört. Das „Wir“, komplettieren zwei Läufer, die in ziemlichem Abstand vor mir laufen. Aufwärts geht es wieder und beim Erreichen der nächsten Kuppe habe ich dann zwei Schlösser im Blickfeld. Die aus der Entfernung wesentlich imposantere und größere Anlage Fürstenstein ist hinzu gekommen. Vor der nächsten Ortschaft Kollnberg kündigt eines der inzwischen bekannten gelben Täfelchen den nächsten Verpflegungspunkt an. Läuferautomatik: Becher greifen, kurz stehen bleiben, schütten, mit großen Schlucken trinken, Becher entsorgen. Heute ist dreierlei anders als sonst. An jeder Station habe ich den Eindruck, mit meinen Wohltätern alleine zu sein und fühle mich schon deshalb zu einem freundlichen „Grüß Gott“ oder „Hallo“ ermuntert. Außerdem nehme ich mir die Zeit, den Becher ins aufgestellte Behältnis zu schmeißen, die sollen mir nicht auch noch hinterher räumen müssen. Und drittens verlangt meine Blase kurz nach diesem Trunk einen zweiten „Boxenstopp“. Das habe ich ja noch nie erlebt! Ich überschätzte die Temperaturen und füllte einfach zu viel Wasser vor und während des Laufes „ein“. Wahrscheinlich ist der Wasserhaushalt auch wegen des mäßigen Tempos reduziert. Erleichterung im Schatten eines Transformatorenhäuschens, gleichzeitig werde ich von einem der seltenen Exemplare „Mitläufer“ überholt.

Mit Doppelburgenblick zur Rechten und idyllischer Wiesenlandschaft zur Linken renne ich wieder los und nehme in starkem Gefälle schnelle Fahrt auf. Unten angekommen, zieht eine irgendwie bekannt vorkommende Anordnung von kleinen Teichen den Blick auf sich. Mit schneller Kopfwendung lese ich auf einer großen Hinweistafel etwas von „Schilfkläranlage“. Solche Einrichtungen kenne ich sonst nur von Berghütten, wo sie manchmal die einzige Möglichkeit darstellen, die behördlichen Auflagen der Abwasserentsorgung zu erfüllen.

Wer flott runter gelaufen ist, trabt in dieser Landschaft wenig später unter Garantie recht langsam wieder aufwärts. Noch ein Buckel, noch einer, weitere Kurven, wieder rauf und wieder runter. Überaus kurzweilig ist dieser Lauf. Ständig neue Eindrücke, Aussichten, Tempowechsel, die Anforderungen erträglich, so klickt der Kilometerzähler in ungewohnt schneller Folge. Kurz vor Kilometer 13 mündet die 12,45 km-Strecke ein. Einige Nordic Walker nähern sich von links. Steil geht es danach hinauf zum Dörfchen Loderhof, vorbei an diesem oder jenem Walker. Kaum oben, tendiert die Straße wieder zum Gefälle, wird steiler und steiler. Ein bisschen Slalom um zwei Walkerpaare, vorbei an einem kleinen Teich mit Wasserrad. So richtig hab ich es noch nicht an mich rangelassen, aber dieses Profil fordert Füße, Achillessehnen und Knie gewaltig. Inzwischen schmerzt die „Orthopädie“, vor allem wenn es steiler bergab geht. Das sind meine Hax’n in diesem Umfang nicht gewohnt, entsprechend der Protest. Noch zwei gut gelaunt schwatzende Walkerinnen sind zu überholen, dann hab ich wieder freie Fahrt. Schon vorbei, schallt es hinter mir her: „Alles Gute!“ Wieder eine neue Erfahrung. Walker und Läufer ignorieren sich eher. Gibt es unterwegs Kontakte, dann - aus Läufersicht - negativ geprägte, nach Behinderungen durch breitgefächert maschierende „Stöckler“. Jedenfalls gebe ich den netten Zuruf gerne zurück: „Gleichfalls!“

Ich kann mich nicht satt sehen. Am liebsten würde ich jedes Bild auf ewig speichern und mit nach Hause tragen. Ein munter dahin plätschernder Wiesenbach hat’s mir gerade angetan. Links der Brücke staut er sich ein wenig und so spiegelt sich grünes Erlengebüsch in seinen Wassern. Schade vorbei, aber ich komm’ ja noch mal wieder. Nicht zum ersten Mal bin ich wirklich froh, diesen Rundkurs zweimal laufen zu dürfen. So viele Naturschönheiten - ich will sie alle noch einmal betrachten.

Keine Zeit gedanklich zu verweilen: Voraus schieben sich uralte, aus Holz errichtete Bauernhäuser ins Blickfeld. Das muss ein Teil des in der Streckenskizze eingezeichneten „Museumsdorfes Bayerischer Wald“ sein. Davor links weg und - logo! - wieder aufwärts, vorbei am Ausweichparkplatz, rechts rum, ziemlich abschüssig, dann schaue ich genau in den Bereich des Haupteingangs. Besucher kann ich keine entdecken. Ich muss auch auf den Weg achten, denn die gelben und blauen Orientierungspfeile schicken mich jetzt in leichtem Zickzack auf eine Straßenunterführung zu. Bevor ich in der Röhre verschwinde, registriere ich gerade noch das 15km-Schild. Die Röhre endet vor einer Treppe, die im „Sturm“ genommen wird. Die Knochen schmerzen ein wenig, aber sonst läuft’s einfach „Klasse“. Um die Ecke und schon wieder ein Höhepunkt dieser unbeschreiblich attraktiven Strecke: Vor mir liegt der „Dreiburgensee“. Die nächsten Minuten schrumpfen zu Sekunden. Schuld ist dieser in lieblicher Landschaft eingebettete See, den ich zur Hälfte umrunde. Ständig bieten sich neue, scheinbar noch idyllischere Aussichten. Über ein hölzernes Brücklein überwinde ich den aus einem Moor einmündenden Zufluss und muss mich einstweilen vom Wasser verabschieden.

Wir bleiben auf Wald- und Feldwegen, einmal auch parallel zu einer Straße. Die zöge ich jetzt, angesichts des holprigen Laufweges, wirklich vor. Die Füße spüren inzwischen jeden Stein, durch die auf solchem Untergrund viel zu dünnen Laufschuhe. Kurz vor der letzten Verpflegungsstelle ist das aber schon wieder vergessen. Und nun trinke ich nicht! Vorhin, und das hätte ich bis heute für schlichtweg unmöglich gehalten, musste ich mich zum dritten Mal entleeren. Die Temperatur empfinde ich immer noch als relativ kühl und mein Tempo lässt mich auch kaum schwitzen. Also lehne ich das nette Trinkangebot dankend ab. Jetzt geht es tatsächlich mal ein ziemliches Stück nahezu flach dahin. Kilometer 18 und 19 sind geschafft, als der Feldweg wieder in eine Steigung übergeht. Wo er in ein asphaltiertes Sträßchen mündet, steht wieder dieser Typ mit seiner Videokamera. Der hat mich schon mehrmals unterwegs gefilmt und so frage ich mich, für wen oder was er diese Aufzeichnung vornimmt. Eine Kontrollmaßnahme kann es kaum sein, weil die Startnummern an verschiedenen Verpflegungspunkten ohnehin notiert wurden. Auch bin ich kein Modellathlet, dessen ungemein leichtfüßigen, gazellengleichen Laufstil man sich an langweiligen Winterabenden immer wieder per Video reinziehen müsste. Also was tut der da?

Dann wird’s noch einmal für einen guten halben Kilometer heftig: Sonne von oben, da merk ich sie dann doch, und ein steileres Stück unter den Füßen. Aber es bereitet mir keine Schwierigkeiten und das wird es 21 Kilometer später hoffentlich auch nicht tun. Noch ein Kilometer und die ersten Häuser von Thurmansbang sehen schon meinen Rücken. Ein bisschen lerne ich jetzt die Straßen des Ortes kennen, darf auch noch mal runter, weil’s so schön war, erhasche zweieinhalb Szenen eines laufenden Fußballspieles und bekomme - juchhu! - vor dem Zieldurchlauf einen letzten Buckel geschenkt. Der Streckenposten schickt mich ein zweites mal durch’s Startportal, das ich mit etwa 1:54h hinter mir lasse. Den Verpflegungspunkt übersehe ich, bis eine eilfertige Helferin mir hinterher rennt und lauthals auf sich aufmerksam macht. Erst will ich, werde kurz langsamer, schließlich blitzen die drei Zwangspausen durchs „Oberstübchen“. Also lehne ich dankend ab und nehme wieder Fahrt auf. Unter dem als heftig empfundenen Applaus von ein paar Zuschauern freue ich mich ehrlich auf die zweite Runde.

Von der Lust zu leiden

Das gibt’s doch nicht! Hat mir da beim Starttor jemand Gewichte an die Füße gehängt? Thurmansbang liegt Minuten hinter mir, der Wald ist noch immer mein Freund, aber dieser erste harte Anstieg jetzt mein Gegner. Vorbei die Leichtigkeit des Seins, genussvolles Betrachten verdrängt von Kampf und schmerzvollem Ziehen in den Oberschenkeln. Der Himmel ist jetzt dunkler, das Grün der Bäume leuchtet weniger und das vorhin noch faszinierende Vogelgezwitscher klingt schon ein wenig amüsiert. Da vorne hat augenscheinlich noch einer seine Frische eingebüßt. Immer wieder bleibt er kurz stehen, geht ein Stück, läuft wieder an. Kurz hinter der Streckengabelung überhole ich ihn und brauche nicht dumm sterben: Per Digitalkamera in Handygröße sammelt er seine visuellen Eindrücke.

Eben war’s nur hart, jetzt wird’s schlimmer. Irgendwie ist dieser asphaltbedeckte Abhang samt Wurzelstolperfallen in den letzten beiden Stunden steiler geworden. Jeder Schritt lässt meine Gehwerkzeuge wehklagen. Ich denke an morgen und ziehe sofort die Handbremse an. Aneinander gereiht ergeben die bereits im Gefälle gelaufenen Abschnitte sicher ein paar Kilometer. Verheerend fühlt es sich an, was sie in Fuß, Knie und Achillessehne angerichtet haben. Das ist wieder so eine Stelle in meinen Erzählungen, wo ich fürchte, man nimmt mir die „Dramatik“, hier die sprunghafte Veränderung von „hui“ auf „pfui“, nicht ab. Aber genau so war’s. Dankbar rette ich mich in den Sandweg, fühle Erleichterung in der unteren Etage. Leichter wird’s dennoch nicht. Aber es geht und so lange ich laufen kann, klage ich nicht. Weiter. „Schuttabladen hier verboten!“ Das ist doch nicht mein Problem. Vorbei. Versorgungspunkt 1: Ein halber Becher, mehr nicht, ansetzen, kippen, schlucken, weiter. Oh weh, jetzt kommt der schikanöse Abhang. Wo die Bierbank Läufer in den Abgrund schickt, sammeln zwei Kinder leere Trinkbecher auf. Runter, laaangsam, denk an dein Kreuz! Brauch mich nicht ermahnen, jeder Schritt schmerzt schon reichlich an sehr viel tieferer Stelle als dem Rückgrat.

Der Wald tritt zurück, die erste traumhaft schöne Wiesenmulde will durchlaufen werden. Ok, wenn ich ehrlich bin, sie macht mich jetzt deutlich weniger an, als beim ersten Mal. Aber so sind Menschen. Wie wir uns fühlen, bestimmt, wie wir Eindrücke empfinden. Ein bisschen „Westentaschenphilosophie“. Dass mir keiner auf den Gedanken kommt, ich dächte dergleichen mit Laufschuhen an den Füßen und heftig gegen innere, wie äußere Widerstände kämpfend. Ja, kämpfen, jetzt kommt der „Beißer“. Durch ein Tor aus Grün schlüpfe ich wieder in den kühlen Wald und dann will er mich nieder ringen. Der Puls steigt, hab es nötig tiefer zu atmen, brauche mehr Sauerstoff, aber ich laufe, laufe, laufe … Du bist steil, wirst mich aber nicht zum Gehen zwingen! So weit bin ich noch lange nicht! Natürlich tut das jetzt weh, die Anstrengung. Gleich vorbei, keine Steigung ist endlos. Bin oben, geschafft! Ein flüchtiger Blick auf den Puls: 142, kaum mehr als 81%. Lächerlich wenig eigentlich und der Wert passt so überhaupt nicht zum Gefühl des abklingenden Schmerzes in den Oberschenkeln. Wenn der Puls so moderat reagiert, warum empfinde ich dann so eine Steigung als extreme Belastung? Hängt es damit zusammen, dass meine Beine an dergleichen nicht gewöhnt sind?

Altfaltern, Kilometer 29: Keine Menschen, keine Autos, die Säge schweigt, ein Mann hängt eine Schaukel auf. War’s an einem starken Ast, oder stand da ein spezielles Gestell. Ich erinnere mich nicht. Die Blockade minder wichtiger Geistesregungen wie Neugier, die dergleichen sicher in Erfahrung bringen will, ist schon zu weit fortgeschritten. Hinter Altfaltern lohnt die Aussicht noch immer das ständige Drehen des Kopfes. Nur kannst du das nicht mehr genießen, wenn sich ein beständig wachsender Teil deiner selbst in Widerstehen und Ertragen erschöpft. Aber es könnte viel härter sein, das kennst du doch, bleib objektiv!

Kurz vor Kilometer 30: Gleich kommt der Feuerwehrposten, das Gequäke aus dem Funkgerät höre ich schon. Die jungen Leute haben es sich auf dem Bordstein bequem gemacht und schauen mir relativ desinteressiert entgegen. Ich kann sie gut verstehen. Es muss ziemlich langweilig sein, alle paar Minuten eine verschwitzte Gestalt zu empfangen. Mundfaul bin ich nun auch schon und wäre von dieser Bühne wortlos nach links talwärts abgegangen. Unachtsam schnappe ich mein Trinkgefäß und stoße dabei einen weiteren Becher um. Und obwohl das in etwa so viel Bedeutung hat wie ein Sandkorn in der Sahara, schließt unterbewusste Automatik einen der Schaltkreise guter Erziehung: „Oh! Entschuldigung!“ Der weibliche Anteil der Besatzung verfügt über gleichermaßen gut trainierte Reflexe und entlässt mich mit einem nachsichtig netten „Macht doch nix!“.

Schadham: Vor beinahe Zweistundenfrist war keine Menschenseele zu sehen. Bis hinter dem Haus mit den granitenen Spielereien bleibt das auch diesmal so. Vor dem nächsten Haus dann aber zwei kleine Mädchen. In Spiel und Gespräch mit der im Inneren unsichtbaren Mutter vertieft, nehmen sie mich nicht einmal wahr. Weiter. Die erste Burg kommt wieder in Sicht. Die Landschaft wirkt generell anders als vor zwei Stunden, was nichts mit meiner veränderten Wahrnehmung zu tun hat. Es ist das Licht! Die Sonne steht höher, also kleinere Schatten und weniger kräftige Farben.

Laufen, laufen, laufen, ... alles ist wie immer. Da kannste so langsam traben, wie du willst, mit genügend Strecke in den Beinen wird jeder Marathon zur Schinderei. Hier sind’s die Gefällestücke. Runterwärts kann ich einfach nicht mehr so laufen, wie es Kraft und Taktik noch immer wollen. Das tut zu weh. Und das ungewollte Bremsen zwingt mich zu Schrittweiten, die nicht meinem natürlichen Rhythmus entsprechen. Vermutlich setzt mir das noch mehr zu. Burgen, Schilfkläranlage, Bachidyll, Museumsdorf, ich kämpfe mich vorwärts. Rebellierende Körperteile und Belastung sollten mir die zweite Runde länger vorkommen lassen. Tun sie aber nicht. Ist dieser Kampf, der Sieg des Willens über aufflammende Qualen, vielleicht eine andere Form von „Genuss“? So lange ich es spüre, würde ich diese Frage ohne Zögern und entschieden mit einem „Nein!“ beantworten. Was ich fühle ist ganz und gar UNANGENEHM. Aber warum geb’ ich mir das dann immer wieder, sogar im Wochentakt? Leben Läufer langer Strecken notwendigerweise gewisse masochistische Tendenzen aus? Oder nehmen wir die Pein des Schlussteils nur hin, weil uns der Lauf insgesamt bereichert und eine besondere, allerdings flüchtige Form von Zufriedenheit schenkt?

Die zweite Seerunde ist beendet. Womit ich bei diesem dünnen Teilnehmerfeld nicht mehr rechnete, geschieht dann doch noch ein paar Mal. Von jenen, die sich überschätzten, überhole ich alle paar Kilometer einen. Den einsetzenden „Jagdinstinkt“ unterdrücke ich nicht. Er hilft mir auf den letzten Kilometern. Der letzte Verpflegungspunkt, noch drei Kilometer. Wie immer kurz vor dem Ziel trinke ich nichts mehr. Bis mein Körper diese Flüssigkeit verwertet hätte, stünde ich schon unter der Dusche. Mein Vordermann denkt anders darüber und schon hab ich wieder einen Platz gut gemacht. Noch zwei Kilometer, zwei weitere Läufer sehe ich in beachtlicher Entfernung vor mir. Ich laufe konstant und hole auf, dennoch wird das nicht mehr reichen. Eine Bank, drauf sitzen drei ältere Herren. Ich erwarte keine Reaktion, sind sicher aus anderen Gründen hier. Trotzdem klatschen sie und geben mir noch ein paar aufmunternde Worte mit auf den Weg. Es wird noch einmal steil, wieder auf Asphalt. Die Uhr war mir auf der zweiten Runde ziemlich egal, jetzt schaue ich doch mal drauf. Das könnte sogar noch unter 3:50h klappen! Solche reflexhaften Gedanken sind in meiner Situation eher ein bisschen dämlich. Weiß ich doch nur zu gut, dass sie mich zu einer Schlussoffensive anspornen. Grober Unfug ist das heute, du willst doch morgen wieder ... Warum lasse ich es zu? Hin und her gerissen von Wollen und Sollen gebe ich mehr als vernünftig ist, aber eben auch nicht wirklich alles. Trassenbänder zwingen den „Hasen“ noch ein paar Haken zu schlagen. Eine zu großzügige Geste des Zieleinweisers verwirrt und schickt mich an der finalen Gasse vorbei. Ich schlüpfe unter der Absperrung durch und reiße mein imaginäres Zielband: 3:50:11

Sieht man davon ab, dass viel zu wenige Läufer dieses fantastische Angebot nutzten, dann lassen sich nur Lobeshymen auf Organisation, Strecke, Natur und den Erlebniswert des 6. Dreiburgenland Marathon singen. Die Sportkameraden in Thurmansbang verdienen ohne Zweifel ein deutlich größeres Teilnehmerfeld. In einer Hinsicht muss ich meine Empfehlung relativieren: Nach härteren Wintern wirst du noch nicht das vorfinden, was ich erleben durfte - Frühling im bayerischen Wald.

Ps: Dass mir aber nicht zu viele von euch dort hin fahren, ist nämlich ein echter Geheimtipp ... :-)