Ich habe es mir schlimmer vorgestellt

Laufbericht eines Nichtläufers zum 10 km-Lauf im Spreewald

„Hast du nicht Lust im Spreewald zu laufen?“ Ines’ Frage setzte den Spreewald Marathon auf meine diesjährige Laufliste. Ihr ging es nicht zuletzt um einen Kurzurlaub in reizvoller Landschaft, an die sie sich aus Kindheitstagen erinnerte. Und den zeitgleich mit dem Marathon stattfindenden 10 km-Lauf wollte sie sich trotz Trainingsrückstands nicht entgehen lassen. Gemeinsam den Lauf beginnen. So hatten wir’s im Sinn, aber es kam anders: Verletzung und sechs Wochen Laufverbot machten einen fetten Strich durch meine Saisonplanung. Kurz erwog ich Ines auf der kürzeren Distanz zu begleiten. Wenigstens das. Letztlich siegte die Vernunft und verurteilte mich zur Höchststrafe für engagierte Läufer: Zuschauen.

Sechs Kilometer beträgt unser Anmarschweg von der Pension bis zum Start in Burg. Keine Last, im Gegenteil: Pure Lust! Ein tiefblauer, von keinem Wölkchen getrübter Himmel spannt sich über den üppig grünen Spreewald. Endlich Laufwetter von dem ich wochenlang träumte, nach dem ich sogar in Italien vergeblich suchte. Gut gelaunt, Hand in Hand, schlendern wir durch eine unglaublich attraktive Kulturlandschaft. Ich krame im Gedächtnis, dennoch will mir nichts vergleichbar Brettflaches einfallen, von dem ein solcher Reiz ausginge.

Als wir den Festplatz in Burg erreichen, fehlt noch eine halbe Stunde bis zum Start. Läuferinnen und Läufer wimmeln durcheinander. Wir treffen Beate aus dem Forum: Auch sie wird die 10 km laufen. Lange Schlangen vor der Startnummernausgabe und den Toiletten. Lautsprecher schnarren das Übliche. Wie gut ich das kenne. Nun sollte eigentlich ein schmerzhaftes Ziehen im ganzen Körper einsetzen: Bald rennen sie mit Startnummer um Zeiten … diesmal ohne mich. Doch einstweilen packt mich nur die Vorstarthektik des Betreuers. Noch immer ist der angekündigte, verwandtschaftliche Fanclub nicht eingetroffen. Die Zeit wird knapp. Acht Minuten bis zum Start und eine der wichtigsten Vorbereitungen steht noch aus. Für mich wär’s eine Sache von Sekunden. Irgendwo, irgendwie. Ines zwingt’s ans Ende einer Reihe ungeduldig trippelnder Füße. „Das schaffst du nicht mehr!“ prophezeie ich angesichts der vielköpfigen Warteschlange vor dem Toilettenwagen.

Noch fünf, dann vier Minuten … Bei exponentiell steigender Herzfrequenz irrlichtern meine Blicke über den sich langsam leerenden Platz, suchen Familie. Alles drängt zum Start … fast alles. Ines wartet noch immer. Noch drei Minuten, zwei … endlich ist sie drin und wieder draußen. Bin zu sehr Wettkampftier, auch wenn ich gar nicht selber laufe. Rasch jetzt! Ein Start, ohne dass Ines in der Menge stünde? Das geht gar nicht, da sträubt sich alles in mir. Auf halbem Weg zur Straße laufen wir den Schwiegereltern, verstärkt von Ines' Schwester und Neffen, in die Arme. Schnelle Begrüßung, unangenehm flüchtig. Ans Ende der wartenden Läuferschar vordringen. Geschafft!

10:30 Uhr: Alle Aufregung war überflüssig. Wir sind pünktlich, der Veranstalter nicht. Niklas, fast dreijährig, sitzt inzwischen auf Tante Ines’ Arm. Die beiden stehen erst vor, dann hinter der Absperrung, mitten im Läufervolk. Die eine strahlt, der andere guckt etwas verschüchtert, mustert die ihm so fremde Läuferwelt. Welchen Grund hat die Verspätung? Straßensperren noch nicht komplett? Probleme mit der Zeitnahme? 10:40 Uhr, anscheinend geht’s gleich los. Ich bringe mich dreißig Meter weiter vorne in Fotoposition. Countdown, Jubel und Klatschen … etwa 1.700 Läufer gehen auf die Strecken zwischen 10 und 42,195 Kilometer. Ines achtet auf dicht vor ihr schwingende Läuferbeine, nimmt mich nicht wahr. Im stotternden Aufgalopp gelingt mir kein brauchbares Laufporträt.

Dann liegt der Startbereich verlassen und ich überschlage kurz wann Ines zurück sein wird. Sie hat heute keine Zielzeit, freut sich nur auf Landschaft, Sonne und Erlebnis. Mit dem wenigen Training der letzten Wochen, in keinem Fall weiter als neuen Kilometer, erwartet sie von ihren Beinen keine Fabelzeit, rechnet mit etwa 70 Minuten.

Nur eine halbe Stunde später stehe ich bereits wieder in Zielnähe an der Strecke. Einige der schnellsten 10 km-Läufer fange ich mit der Kamera ein. Dann auch – auf der Straße kniend – Läuferbeine von der Seite. Stilstudien. Bilder, die irgendwann unsere Laufseite illustrieren könnten. Auf diese Weise ertrage ich es ganz gut heute nicht aktiv dabei zu sein. Natürlich empfinde ich Bedauern in strahlender Sonntagmorgensonne nur an der Strecke herumzulungern, statt zu laufen. Male ich mir allerdings die Alternative aus, auch diesen Marathon noch unter Bangen und sicheren Schmerzen durchzustehen, so versöhnt mich das mit der Passivrolle. Es muss Ruhe sein … und Geduld … und Heilung …

Seit dem Start sind 50 Minuten vergangen. Für freies Kameraschussfeld postiere ich mich weit vor dem Ziel. Ich nehme die finale Parade der 10 km-LäuferInnen ab. Manche wirken ausgeruht, lassen kaum Anzeichen von Ermüdung erkennen. Bei anderen nutzt Erschöpfung viele Ausdrucksformen: Fleckige oder hochrote, vielfach leidende Gesichter, schlaff hängende bis wild rudernde Arme, schwere, notdürftig koordinierte Bewegungen, stampfende Beine, Keuchen, stoßweises Atmen – man möchte pausenlos applaudieren und rufen: „Halt durch! Gleich geschafft!“

Erst Überraschung, dann Freude: Etwa 200 Meter voraus erkenne ich Ines und der Start liegt gerade mal 60 Minuten zurück. Wir winken uns zu. Die unerwartet gute Zeit und ein lachendes Gesicht nehmen ihr späteres Resümee vorweg: „Gutes Laufgefühl, bei herrlichem Wetter in einer unvergleichlich schönen Landschaft! Laufspaß pur!“

Sie ist vorbei und ich eile hinterdrein. So bekomme ich die Szene aus einiger Distanz gerade noch mit: Kurz vor dem Ziel schnappt sich Ines ihren Neffen und legt die letzten Meter mit ihm auf dem Arm zurück.

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Die folgenden Stunden füllten wir mit Essen, Trinken, gemeinsamer Kahnfahrt und moralischer Unterstützung beim Bezwingen der Hüpfburg (frühes Koordinationstraining eines Marathonfinishers 2030?). Den familiären Fanclub haben wir vorhin verabschiedet. Ines und ich spazieren durch den Zielbereich. Der Marathon geht dem Ende entgegen; nur noch vereinzelt kann der Sprecher Finisher für das Erreichte mit Worten auszeichnen. Sichtlich erschöpfte, mit Medaille dekorierte LäuferInnen kreuzen unseren Weg. Da geschieht es dann doch noch. Wehmut schneidet durch meine Eingeweide und ich hadere mit dem Läuferschicksal. Es ist Marathon, hier und heute, und ich bin nicht dabei … Dennoch: Nur zuzuschauen habe ich mir schlimmer vorgestellt.

 

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