„Trainingslager Westerwald“: Die 50 Kilometer von Rengsdorf

Jede Serie im Sport geht irgendwann zu Ende. Dieser Gedanke drängt sich mir während der ersten, verregneten Laufkilometer auf. Nach acht Marathonläufen in der Sonne hat mich das Schlechtwetter doch noch gefunden. Und hat man erst mal angefangen über ungute Zeichen und Statistiken zu grübeln, setzt der Mahner aus dem Unbewussten gleich noch eins drauf. ‚Wenn das mal nicht deine einzige Serie ist, die heute zu Ende geht! Sei froh, wenn du’s überhaupt bis ins Ziel schaffst!’ Schon auf den ersten fünf Kilometern mit vielleicht 150 Metern Anstieg habe ich mit ungewöhnlich müden Beinen zu kämpfen. Weder lohnt es sich Ursachenforschung zu betreiben, noch bilden sich darob Sorgenfalten auf meiner Stirn. Ersteres ist sinnlos, weil alle Spekulation mangels Beweises Spekulation bleiben muss: Zu wenig geschlafen? Der Hitzemarathon vor vier Tagen? Das heftige, letzte Training? Ein Tief im Biozyklus? Oder, oder, oder? Das Zweifeln ist mir über viele ähnlich schwerfällig begonnene und dann doch durchgestandene Wettkämpfe und Trainingsläufe einfach abhanden gekommen. Wenn du nie aufgeben musstest, nicht mal nach wirklich missratenem Einstieg, dann entwickelt sich Vertrauen in die eigene Physis zum unverrückbaren Faktum (bis zum Beweis des Gegenteils natürlich nur). Also werte ich das Wort des „Mahners aus dem Unbewussten“ höchstens als „Fußnote“.

Witzigerweise diskutierte ich dieses Thema gestern Abend bei leckerer Pasta mit einem allseits bekannten und gut gelittenen Mitglied des Läuferforums. Jenes „Mitglied“ - ich anonymisiere das mal, weil nun ein gewisses Outing folgt - kämpft mit dem genauen Gegenteil des „Vertrauens in die eigene Leistungsfähigkeit“. Der Impuls „Das schaffst du nicht!“ blockiert manchmal Laufwünsche in Training und Wettkampf. Antriebs- und Mutlosigkeit folgen. Wie findet man da raus, wenn sich solches Negativdenken auf den ein oder anderen tatsächlichen Misserfolg berufen kann? Ich konnte keinen Rat geben. Nichts ist schwieriger, als sich in die (Läufer-) Psyche eines anderen Menschen einzufühlen …

Was mache ich hier eigentlich? Ich habe mir einen Ultramarathon über 50 Kilometer, mit sage und schreibe 1400 Metern An- und Abstieg, als Trainingseinheit zur weiteren Vorbereitung auf Biel ausgesucht. Start war um acht Uhr - mitten in der Nacht! Und das mir, der doch früh morgens nur im äußersten Notfall die Laufschuhe schnürt. Um zwanzig nach Sieben fand ich mich ein, bezahlte meine nur 9 Euro (!) Startgebühr und starrte danach noch über eine halbe Stunde missmutig in den Regen. Und gefroren hab ich auch. Vor allem nachdem ich lauffertig (Kurztight, langes Shirt, kurzes Unterhemd) vor dem Startband wartete und der Einweisung eines Offiziellen lauschte. „Achtet auf die kleinen Schilder“ - dabei hielt er ein Muster in den regenschwangeren Himmel - „und auf gekalkte Pfeile am Boden.“ Mit ironischem Unterton hängte er seiner Rede noch einen Halbsatz an: „ … wenn sie noch da sind!?“ Damit wurden wir „entlassen“ und jeder verpasste sich selbst den Startschuss, eine offizielle Zeitmessung ist nicht vorgesehen. Ein bisschen seltsam war mir da schon zu Mute, aber was soll’s. Wer betrügt, betrügt nur sich selbst. Blieb im Vorfeld für Udo das „Problem“ des nötigen Nachweises, die Strecke überhaupt geschafft zu haben. Denn da ist der Typ eigen: Wenn er schon über die Marathondistanz rennt, oder gar weiter, und sei es „nur“ zu Trainingszwecken, will er das mit „Brief und Siegel“ dokumentiert haben. Sonst wär’ der Kerl hier wahrscheinlich gar nicht angetreten. Letztlich kriegt er was er will: Nach Auswertung einer mitgeführten Kontrollkarte bestätigt der Veranstalter mit rotem Eintrag auf schwarz-grünem Urkundenvordruck seinen zweiten Ultra, insgesamt Marathon Nummer Siebenundzwanzig … Und die liebe Seele hat ihre Ruh’.

Inzwischen bin ich nass, friere aber wenigstens nicht mehr. Die ersten Anstiege heizten tüchtig ein. Das kleine Feld von vielleicht fünfzig, sechzig Teilnehmern zog sich schnell auseinander. Sicht- oder Hörverbindung gestattet dichter Westerwald meist nur zu ein, zwei anderen Läufern. Überlegungen zur Strecke hatte ich nicht angestellt, dachte mir den Kurs aber automatisch auf mehr oder weniger breiten Wald- und Feldwegen. Die Realität präsentiert sich reizvoll, allerdings nicht unproblematisch. Alles, was des Menschen Fuß begehen kann, wird mir auf den kommenden fünf Stunden auch zum Laufen angeboten: Straße, Feld- und Waldwege, Pfade, Steige, kurze Treppen. Ich ermahne mich: ‚Denk an dein Knie und an dein Kreuz! Immer kontrolliert laufen, vor allem abwärts! Die Zeit spielt absolut keine Rolle! Kein Ehrgeiz! Pass auf, dass du nicht stolperst! Rutsch nicht aus, alles ist nass und schlüpfrig! Kein Ehrgeiz, kein Tempo, egal was die anderen machen!!!’ Zumindest was das Tempo angeht, fällt die Belehrung auf fruchtbaren Boden. Müde Beine und eine gewisse Unlust halten mich zurück. Hättest du Lust unter diesen Bedingungen zu laufen?

Anfangs klappt die Orientierung gut, den kleinen Schildern und gestreuten Pfeilen zu folgen fällt leicht. Nach drei Kilometern treffe ich auf ein kurzes Stück Straße und habe plötzlich Blickverbindung zu zwei, drei anderen Läufern. Zweihundert Meter weiter biegen sie in den Wald ab. Erst will ich ihrem Beispiel folgen, werde aber sogleich stutzig. Kein Zeichen weist dorthin! Ich zögere, bleibe stehen, zwei andere laufen zu mir auf. Wir sind uns einig, dass da was nicht stimmen kann und bleiben auf der Straße. Tatsächlich schickt uns ein paar Meter weiter eines der Täfelchen auf den richtigen Weg. „Die haben sich jetzt verlaufen!“ bemerkt einer meiner Begleiter in rheinischem Dialekt. Ich antworte nichts, hoffe aber, dass sie ihren Irrtum bald bemerken und umkehren.

Zum Trupp der Irregeleiteten gehörte auch „Er“ oder „Sie“. Verflixt, welches ist der richtige Terminus, ein „Transsexueller“ oder müsste ich richtiger Weise sagen eine „Transsexuelle“? Jedenfalls kam er als Mann auf die Welt, was die harten Gesichtszüge erzählen und sie will nun als Frau ein zufriedeneres Leben führen. Ich bin ein toleranter Mensch - glaub ich jedenfalls. Aber auch ein ehrlicher: Man hat einfach zu selten Kontakt mit jemandem wie ihr, um sie nicht immer wieder mit neugierigen Blicken zu bedenken. Und in einer kleinen Schar Läufer fällt sie natürlich besonders auf. Körperbau und Beine eines Mannes kontrastieren zum Brustansatz unter dem Laufshirt, lange, blonde, lockige Haare umrahmen ein männlich, markantes Gesicht. Und das frag ich mich erst jetzt: Welche Dusche nutzte sie anschließend? Darf sie schon unter die Damendusche oder muss er noch …? Jenen schenke ich Glauben, die den Weg zu einem anderen, als dem angeborenen Geschlecht, als ungemein mutigen und schwierigen Übergang begreifen. Jeder Schritt in der Gemeinschaft wird von aufmerksamen, erstaunten Augen begleitet und wirft Probleme auf …

Der Pfad mündet an einer Dorfeinfahrt wieder in die Straße. Wo geht’s weiter? Meine beiden Begleiter sind so unschlüssig wie ich. Erst laufen wir ein paar Meter Richtung Dorf, dann sehe ich doch noch die Tafel auf der anderen Straßenseite, etwas unterhalb und daher zunächst verborgen. Gleichzeitig fährt ein Jeep der Organisatoren vorbei und bestätigt uns noch einmal die korrekte Richtung. „Ich glaub wir werden uns heute noch öfter verlaufen!“ mutmaßt es auf rheinische Art. Mit dem mittelgroßen, sehr schlanken Kerl laufe ich nun ein Stück gemeinsam. Hundertprozentig „normal“ kann eigentlich keiner sein, der an dieser Veranstaltung teilnimmt, was mir durch das nun folgende „Mein-Auto-meine-Villa-meine-Yacht-Gespräch“ alsbald bestätigt wird. Die Erfahrung von über fünfzig Marathons läuft neben mir her. Zur Zeit läuft es bei ihm schlecht und deshalb hat er sich dieses Jahr noch an keinen „richtigen“ Marathon ran getraut. Aber hier, sozusagen „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“, könne er es ja mal versuchen. Sagt’s und grinst über’s ganze Gesicht. „Du meinst, hier im Wald sieht dich keiner, oder?“ gebe ich belustigt zurück. Dann stellt sich heraus, dass wir uns am Sonntag, beim Windhagen Marathon, eine halbe Autostunde von hier, wieder sehen werden.

Eine Bierbank steht quer auf dem Feldweg, darauf ein Blatt Papier mit „K1 V1“. Will heißen: „Kontrollstelle eins, Verpflegungspunkt 1“. Vom nahen Waldrand, aus einem Unterstand, den wir völlig übersehen hätten, werden wir zu Kontrolle und Labung „befohlen“. Ich nestele die mit einer Plastikhülle gegen Nässe geschützte Kontrollkarte aus der Reißverschlusstasche meiner Laufhose und bekomme derweil den erbetenen Becher Wasser serviert. Stempel auf Karte, eine „1“ mit Rand drum, Karte einpacken, einstecken, trinken. Dann stelle ich mich ein paar Meter abseits, weil es sein muss und verliere einstweilen meinen Laufpartner.

Nach dem Feld schlüpfe ich erneut in dichten, vor Nässe nur so triefenden Laubwald und es geht abwärts, immer weiter runter. Minute um Minute, Kilometer für Kilometer. Ich fürchte um mein rechtes Knie und versuche jeden Schritt auf dem teilweise holprigen Geläuf beherrscht zu setzen. ‚Wie soll ich so die im Anstieg verlorene Zeit wieder aufholen?’ jammert der Wettkämpfer in mir. Wie knebelt man diesen Nörgler? ‚Verdammt, das ist doch sch…egal, das ist ein Trainingslauf!’ rufe ich ihn nach jedem ähnlichen Gedanken zur Ordnung. - Ich biege auf ein ebenes Stück Waldweg ab. Meine Freude währt jedoch nur Sekunden, bis knöcheltiefer Morast zu wilden „Veitstänzen“ zwingt. Stellenweise misslingt das Ausweichen oder ist einfach nicht möglich. Ich beglückwünsche mich zu meinem Näschen, das mich die Cross-Treter meines Laufschuh-Arsenals auswählen ließ. Zwar bin ich nicht sicher, in ihnen das Ultraabenteuer blasenfrei zu überstehen, hab sie noch nie auf ähnlich langer Strecke getestet, behalte aber zumindest trockene Füße.

Runter, runter, immer tiefer, hunderte von Höhenmetern, fast sechs Kilometer weit. Ich zähle nicht mit, obwohl jeder Kilometer markiert ist, entnehme das später Karte und Profil. Mein unbeschäftigter Kreislauf wärmt nicht so recht. Zunehmend friere ich an den Händen. Sch…kälte! Kilometer 10: Zum ersten Mal riskiere ich einen Blick auf die Uhr: Etwas über 56 Minuten sind vorbei. ‚Also könnte ich deutlich unter fünf Stunden im Ziel sein!?’ Ei, ei, welch’ kindlich naive Vorstellung. Gell Udo, hast noch nicht viele Ultras mit so vielen Höhenmeterchen auf’m Konto? Puh, was wird denn das? Über eine mit Geländer gesicherte Passage angelegter Stufen gelange ich auf einen schmalen Steig. An verschiedenen Stellen glatt und nur einige Zentimeter breit, würde ich dergleichen sonst nur in Bergschuhen betreten. Jetzt laufe ich drauf, so gut es eben geht, steige über einen quer liegenden Baum und hoffe auf Überleben. Wenig später hab ich’s in der Tat überlebt und durchquere den Ort Altwied. Das Dörfchen duckt sich malerisch in die Talsohle. Wär’s Wetter besser, prägten sich hier bestimmt eine Menge unvergesslicher Eindrücke ins Gedächtnis. Der breite Bach, die Bögen eines steinernen, alten Brückleins und ein hübsches Fachwerkhaus verschwimmen stattdessen im allgemeinen „Düsterfeuchtgrau“ meiner Erinnerung.

Jenseits der Talsohle kommt, was kommen muss, der nächste Anstieg. Der hat es gewaltig in sich, beträgt im Schnitt etwa acht Prozent. Vorsatz: Selbstverständlich werde ich nicht gehen! Egal was kommt, gleichgültig wie steil es wird, da mögen meine Oberschenkel noch so betteln. - Da vorne gehen zwei. Der eine hat mich vorhin im Abwärtstrudeln flott überholt. Der andere gehört zu den Wanderern. Während wir um acht auf die Strecke geschickt wurden, brachen die Wanderer zwischen fünf und sieben Uhr früh auf. Schnelles Gehen ist nicht um so viel langsamer, als mein angestrengtes Traben. Es dauert Minuten, bis ich die beiden einhole. Wiesen säumen inzwischen den Weg, Weideland für Schafe, was man sehen, hören und ... riechen kann. Sicher eine herrliche Gegend bei schönem Wetter. Einzeln stehende Bäume und den Blick begrenzende Buschgruppen lockern das Bild auf. Gibt mir alles nix heute. Es fehlen ein wenig Kraft und Lauflust.

Bin mal wieder irgendwo und irgendwie oben, ein paar hundert Meter Weg sind ausnahmsweise geradeaus einsehbar. Langsam nähere ich mich weiteren bunten Tupfern - Wanderer. Ich laufe durch eine alte Kastanienallee. Links davon erstrecken sich Felder, rechts junger Nadelwald, der sicher erst Jahrzehnte nach den Alleebäumen gepflanzt wurde. Ende der Allee. Über die Felder auf der linken Seite könnte man bis ins Rheintal schauen, wenn nicht alles hinter diesem tief hängenden, nassen Vorhang verschwände. Wieder im Wald und wieder draußen, eine Art Lichtung öffnet sich.

Ah, der nächste Kontroll- und Verpflegungspunkt. Rasch hab ich meinen Stempel auf dem gelben Kärtchen und einen weiteren Becher Wasser im Bauch. Ein paar Mountainbikes liegen abseits im Gras. Das registriere ich nicht mal richtig und denke mir schon gar nichts dabei. „Da bist du ja wieder“ meint der rheinische Dialekt (oder klingt das nur so ähnlich …?). Er hat sich für die Pause mehr Zeit gelassen, also können wir gemeinsam aufbrechen. An scharfem Abzweig, begünstigt durch etwas Fahrtüberschuss, rutscht er kurz weg, strauchelt, fängt sich zum Glück aber wieder. Vielleicht hat er auch nur zu intensiv das Gebäude oberhalb am Hang fixiert, das er lapidar mit dem Wort „Eiszeitmuseum“ bedenkt. Damit kann ich im Moment nichts anfangen und zum Nachfragen bin ich schon längst zu mundfaul - fünfzehn Kilometer sind gelaufen. Im Internet identifiziere ich es später als „Eiszeitmuseum im Palais Monrepos“, wo man die Archäologie der Eis- und Altsteinzeit ausstellt.

Die nächsten zehn Kilometer führen fast ausschließlich durch dichten, undurchdringlichen westerwälder „Dschungel“, selten unterbrochen von ein paar Wiesen, Feldern oder einsamen Gehöften. Meine Erinnerungen daran sind extrem lückenhaft. Aber wie soll man sich auch an Einzelheiten eines schier unendlichen Waldgebietes erinnern? Es tropft unentwegt, Licht gelangt nur spärlich zu uns herunter, die Wegstrecken sind mal ganz brauchbar, dann wieder geröllig und allzu oft matschig. „Bin ich froh, dass ich heute diese Schuhe angezogen hab!“ raune ich nach einer recht schlammigen, mit Pfützen durchsetzen Passage meinem Laufpartner zu. Mit kurzem Seitenblick würdigt er meine Goretex-Schlappen, die mir bisher trockene Füße garantierten. „Ich hab leider nur Straßenschuhe an!“ meint er darauf. Kurz und mitleidig starre ich auf seine vor Dreck starrenden Treter, die vor zwei Stunden sicher noch wie Laufschuhe aussahen.

Pulsmesser und Uhr schenke ich kaum Aufmerksamkeit. Wozu auch? Stetes Auf und Ab lässt ohnehin kein auf den Puls ausgerichtetes Laufen zu. Da muss ich mich völlig auf mein Gefühl verlassen, das mich hoffentlich nicht trügt. Und was soll ich mit der Uhrzeit? Bei Kilometer Zwanzig liegen wir noch knapp unter zwei Stunden (1:58h). Welche Bedeutung hat dieser Wert, womit könnte ich ihn vergleichen?

Von Zeit zu Zeit mokiert sich mein rechtes Knie, vor allem über stark abschüssige und mit groben Steinen hergerichtete Pfade. Auch im Bereich der Lendenwirbelsäule spüre ich die Belastung vehement. Die Formel ‚Wenn ich nach diesem Lauf keine Probleme mit Knie und Kreuz bekomme, dann weiß ich auch nicht …’ geistert als eine Art Fürbitte an den Allmächtigen mehrmals durch mein Oberstübchen. Grüppchen von Wanderern überholen wir auf diesem Wegstück und plötzlich schließt ein weiterer Läufer zu uns auf. Fortan kämpfen wir zu dritt. Mehrfach überholt uns eine Gruppe von etwa zehn Mountainbikern, weil sie immer wieder Pausen einlegen. Jedes Mal fürchte ich, einer der ‚Raser’ könnte die Kontrolle über sein Sportgerät verlieren oder uns einfach übersehen und damit meinem Biel-Traum ein unrühmliches Ende setzen. Jedenfalls bin ich auf der Hut, wenn die „Kavalkade“ wieder einmal von hinten naht …

25 Kilometer vorbei, Halbzeit: Seit Minuten staucht es mich wieder mächtig zusammen, runter, runter, runter, runter … Voll konzentriert versuche ich meine Füße bei jedem Schritt auf sicherem, ebenem Untergrund zu platzieren, was mir nicht immer gelingt. Auch keiner meiner Begleiter wagt beherzter zu laufen, um Boden gut zu machen. Unvermittelt meint einer der beiden, wir müssten jetzt ganz in der Nähe des Rheins sein. Nach ein paar weiteren Wegbiegungen sehe ich ihn da unten liegen: Dunkelgrün, eine lang gezogene Insel teilt den Strom, gegenüber ziehen sich Wälder die steilen Hänge hinauf, ein Schiff hält geraden Kurs. Trotz des düsteren Wetters beeindruckend und ein schöner Anblick. Den kann ich dann auch genießen, weil wir endlich „unten“ angekommen sind und auf brauchbaren Wegen durch Weinberge laufen. Kontrollpunkt Nummer drei unterbricht den Lauf. Ein schwieriger Akt mit meinen immer noch klammen Händen die Stempelkarte aus der Gesäßtasche zu fischen. Aus der Plastikumhüllung krieg ich sie nicht raus und lege sie einfach so hin. Die machen das schon! Zum obligatorischen Becher Wasser muss ich mich zwingen. Durst habe ich keinen. Ich trinke, weil die Vernunft es vorschreibt. Auch wenn's mir ein blödes Gefühl vermittelt: Ich muss mich setzen und den linken Schuh ausziehen. Einiges an Dreck und Steinchen hat sich unter der Fußsohle gesammelt. Sch…kälte! Nur mit Mühe kann ich die Finger krümmen, um den Sicherungsknoten der Schnürsenkel zu lösen. Als ich mich schließlich wieder in Bewegung setze, bin ich einigermaßen ausgekühlt und brauche Minuten, um in Schwung zu kommen.

Kilometer 28, 29 noch immer oberhalb des Flusses: Das ist eindeutig der schönste Teil des Weges, mit ständig freiem Blick zum Rhein. Züge rauschen alle paar Minuten auf unserer und der anderen Rheinseite vorbei. Wir sind nur noch zu zweit. Mein behinderter Mitläufer wartete am Verpflegungspunkt, bis ich den Westerwald aus meinem Schuh gekippt hatte. Ja, behindert! Den linken, unbeweglichen Arm hat er mit Manschette und Gürtel an der Hüfte fixiert. Bewundernswert diese Leistung! Versuch einfach mal ein paar Meter zu laufen und drücke dabei den Arm an die Hüfte...! - Seite an Seite bewegen wir uns auf nahezu ebenen, asphaltierten Wirtschaftswegen zwischen Rebstöcken. Er grübelt darüber nach, wie der Ort unter uns heißt, kommt aber zu keinem Ergebnis. Dann ist schlagartig Schluss mit lustig! Stufen, große Trittsteine, steile Hänge, schmale bis schmälste Pfade, an einigen Stellen sogar ein wenig verwachsen, ergänzen sich zum überaus harten Parcours. Häufig zwingt mich der Hang auf Zehenspitzen und zu minimalstem Tempo. Gehen mit großen Schritten wäre sicher schneller und effektiver als dieses angestrengte „Steppen“ auf dem Vorfuß. Aber ich will nicht gehen!!! Ich bin Läufer, ich will laufen!!! Alle Kraft - physisch und mental -muss ich mobilisieren, um diesen kleinkindhaften Trotz auszuleben. Ich „blase“ wie ein Wal, bin auch so schwerfällig wie ein Wal, will es schaffen, will da hoch, hoch, hoch … Sehnsucht nach dem Ende dieser Tortur brennt in den Oberschenkeln, unendliche Müdigkeit durchzieht jede Muskelfaser. Durchhalten, durchhalten! Mein Laufkamerad tut sich leichter, ist offensichtlich frischer. Ein letztes, brachial steiles Stückchen Hang noch. Da oben stehen wieder mal die rastenden Biker und glotzen mir entgegen. Ich keuche vorbei, bin auf einem flacheren Stück, langsam, ganz langsam lassen Schmerz und Not in allen Körperregionen nach. Nur langsam, ganz langsam erhole ich mich, nehme wieder Fahrt auf.

Am Ende eines durch Bewuchs undurchsichtigen Grundstückes müssen wir nach links. Der Blick um die Ecke lässt mich innerlich aufstöhnen. Noch ein steiler Abschnitt und das auch noch über weichen Wiesenboden. Sofort reduziere ich mein Tempo auf „Geht-grad-noch-als-Laufen-durch“. Er ist zehn Meter voraus, hat anscheinend bemerkt, wie mich diese Passage fertig macht: „Sollen wir gehen?“ - Ein entschlossenes „Nein!“ bringe ich noch raus. Weiter, weiter, will da hoch, Sch…hang! Die Frage, wie lange ich das wohl noch durchhalte, muss zum Glück nicht beantwortet werden. Die Steigung nimmt ab, ein paar ebene Stücke auf Feldwegen bringen mich schließlich wieder „ins Spiel“. Atem und Energiefluss normalisieren sich. Dennoch hat mein Begleiter inzwischen fünfzig Meter Vorsprung und ich nicht den Nerv die wieder aufzuholen. Muss ich auch nicht. Kurz vor Kilometer 32 gibt’s was zu trinken und er verlängert einfach sein Päuschen um ein paar Sekunden. „Sch…strecke!“ haut er der Besatzung des Verpflegungspunktes unser Leiden verbal um die Ohren. „Das Schlimmste habt ihr hinter euch, ab jetzt wird’s besser!“ gibt uns der weibliche Teil der beiden mit auf den Weg. Ich sage gar nichts, beschränke mich auf „Aushalten“. Ein paar Minuten beschäftigt mich die Frage, in welcher Weise sich die versprochene Besserung auswirken wird: Weniger Steigung oder besser belaufbare Wege?

Meinem Begleiter geht es ausgezeichnet: „Ich bin gut drauf heute, kann es kaum glauben!“ Keine Ahnung warum, aber ich bringe es inmitten eigener Schwäche fertig mich für ihn zu freuen. Ein bisschen, nicht lange, weil kein Gefühl jenseits dieser Anstrengung Bestand haben kann. Um mich mache ich mir keine Sorgen. Zu oft hat mich mein Vorbereitungsprogramm in den letzten Wochen Grenzen spüren lassen. Tags drauf war das oft vergessen und ich erhob mich wie „Phoenix aus der Asche“.

Minuten später verschluckt uns einmal mehr das grüne Maul des Westerwaldes. Kilometer 33. Getöse schallt von rechts heran. Ich kann mir keinen Reim auf die Lärmquelle machen und beschließe, dass es mir sch…egal ist. Doch, doch, genau so eine Rührung habe ich gerade jetzt, genau an dieser Stelle. Allerdings verweist uns eins der Täfelchen Sekunden später im spitzen Winkel nach rechts abwärts, dem dumpf dröhnenden „Toff, toff, toff“ entgegen. Als der zig Jahrzehnte alte Traktor mit Hänger im abschüssigen Hohlweg um eine Biegung rumpelt, darf ich ihn nicht mehr ignorieren! Soweit irgend möglich weiche ich vor dem Ungetüm an den rechten Wegrand aus. „Toff, toff, toff!“ feuert der Oldtimer fette Auspuffwolken senkrecht in Richtung Blätterdach. Toff, toff, toff!“ Die Zugmaschine wirkt frisch lackiert und gut in Schuss. Toff, toff, toff!“ Nur im Augenwinkel und schemenhaft in der Dunkelheit des Waldes mache ich eine Handvoll Leute auf den Sitzbänken des Anhängers aus. Toff, toff, toff!“ ist das Ding dann endlich vorbei … und unglaublich schnell fällt der Lärmpegel wieder ab. „Die machen es richtig!“ amüsiert sich einer zu meiner Rechten und meint den Vatertagsausflug auf der Ladefläche des Anhängers. Obwohl ich anderer Meinung bin, habe ich nicht die mindeste Lust zu widersprechen. Der Reiz, sich bei diesem Mistwetter per Anhänger auf einen Berg ziehen zu lassen und dabei die bekannten Mannbarkeitsriten per Bierflasche zu vollziehen, hält sich doch sehr in Grenzen. Da renne ich lieber bis zur Selbstaufgabe durch die Gegend und malträtiere den Körper auf aktive Weise - auch reichlich fragwürdig, ich weiß. Abrupt enden diese Überlegungen im einzigen, deswegen aber nicht minder mystischen Moment des Laufes! Stell dir vor: Hoher Buchenwald in einer flachen, mehrere hundert Meter breiten Senke. Kaum Licht von oben, dafür jetzt schräg von hinten einfallend. Ein zauberhafter Schimmer überzieht den weichen Teppich aus zartem, nur wenige Zentimeter hohem Grün am Boden. Ein riesiger Dom gestützt von tausend dunkelgrauen, hölzernen Säulen. „Zauberwald!“ Mehrmals geht mir dieses Wort durch den Sinn: „Zauberwald!“ - Dann lese ich „Km 34“ und bin wieder im nasskalten Diesseits angekommen.

Wiesen und Felder, das Gelände senkt sich leicht vor uns, der Blick reicht weit hinaus auf das vom Rhein durchflossene Becken zwischen Koblenz und Neuwied. „Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich! Da der Kühlturm!“ mit ausgestreckten Arm deutet er auf die Anlage. Von hinten rasen wieder einmal die Biker heran und wir machen ihnen eine Gasse frei. Gefahr besteht hier kaum, die Strecke führt über mehr als einen Kilometer nahezu geradeaus und Büsche, die uns verdecken könnten, gibt es auch keine. Kontrollpunkt 4 machen wir deshalb bereits mehrere hundert Meter vorher aus. Wasser runterwürgen, Stempel abholen, Karte einstecken und los - wieder bleiben die Biker zurück: „Wir können euch nicht abhängen!“ meint einer von ihnen lachend.

Wald, Felder, Wald, Wiesen, Wald, mal rauf, mal runter, Kilometer 37, 38 - ich werde immer müder und mein „Fahrgestell“ fühlt sich mittlerweile ziemlich zerschlagen an. 39, 40 - noch zehn Kilometer. An meinen Beinen hängen tonnenschwere Gewichte. Hat es bisher Spaß gemacht? Weiß nicht, phasenweise bestimmt, aber nun definitiv nicht mehr. Die Sehnsucht anzukommen wächst exponentiell zwischen meinen Schritten. - Wo läuft er denn jetzt hin? Obwohl kein Pfeil in diese Richtung weist, biegt mein Laufkamerad vom Waldrand ab und steuert zielstrebig auf eine Blockhütte zu. Ich folge verwirrt, ein gerade eben überholter Läufer lässt sich gleichermaßen in den Wald locken. Als wir umkehren müssen, fängt der an zu schimpfen, weil er sich vorhin schon verlief und zwei Extrakilometer sammelte. Jetzt fehle ihm einfach die Motivation. ‚Motivation wofür?’ Das ist doch kein Wettkampf, hier geht’s nur um’s Ankommen. Und meine Motivation anzukommen wäre noch gewaltiger, hätte ich mich verlaufen. Oder nicht?

Viel bekomme ich von meiner Umgebung nicht mehr mit, bin zu sehr damit beschäftigt die Erschöpfung zu bekämpfen. Zum ach wievielten Mal zischen Radler von hinten heran. Immer wieder auch vorbei an Wanderern: Schmutzstarrende Wanderschuhe, nasse mit Dreck bespritzte Hosenbeine, knirschende Schritte - alles in Bodennähe nehme ich eher wahr. Typisch! Mein Kopf hat das Gewicht eines Mammutschädels und hängt fast auf der Brust. Ich straffe mich noch einmal, Müdigkeit ist kein Grund sich zum jämmerlichen Fragezeichen zu krümmen. Aufrecht läuft es sich besser, reiß dich zusammen! 41, 42, unsere Laufpartnerschaft auf Zeit geht unwiderruflich zu Ende. Er „riecht“ schon das Ziel und wird schneller oder, mit höherer Wahrscheinlichkeit, ich werde langsamer. 43, 44, unser Abstand vergrößert sich zusehends, beträgt bald hundert Meter.

Kilometer 45: Am letzten Verpflegungs- und Kontrollpunkt treffen wir uns schließlich doch wieder, laufen auch gemeinsam los. „Dann schaffen wir das noch unter fünf Stunden?“ spekuliert er. Ach ja, die Uhr, die hatte ich vollkommen vergessen: „Das glaub’ ich kaum, 4:32h sind schon um!“ Außerdem müssen wir noch etliche Höhenmeter „klettern“, um das Niveau von Rengsdorf zu erreichen. Aber das füge ich nicht mehr hinzu, will’s eigentlich selbst nicht wissen. Die „5 Stunden“ scheint er ernsthaft unterbieten zu wollen, zieht auf und davon. Ich stolpere und stakse einen weiteren Kilometer bergab. Autolärm dringt herunter. Hoch über mir, getragen von gewaltigen Betonpfeilern, spannt sich die Brücke der vierspurigen B 256 über das tief eingeschnittene Tal. Eine Weile verläuft die Strecke unweit des Bauwerks, dann ist die Talsohle erreicht. Ich verschwinde im Wald. Stille und eine angenehme Form von Alleinsein umfängt mich. Der Weg hat wieder Steigung, stetig, gut auszuhalten. Ein bisschen schneller könnte ich schon laufen. Aber, wer weiß, womöglich wird’s noch mal heftig. Dann bin ich vielleicht völlig am Ende und muss gehen. Und gehen will ich auf keinen Fall!

Kilometer 47, 48: Die Steigung nimmt noch einmal zu. Langsam, ganz langsam trabe ich hoch. Dabei besteht keine Gefahr außer Atem zu kommen. Um Atemfrequenz und Puls merklich zu erhöhen, müsste ich schneller laufen. Dazu fehlen Kraft und Antrieb. Was hätte ich davon? Die Zeit ist doch egal. Ankommen und laufen, bis zum Schluss durchlaufen, das ist mir wichtig. Das Kinn klebt schon wieder auf der Brust, bin müde, sooo müde. Die Häuser da vorne, das könnte Rengsdorf sein. Das MUSS Rengsdorf sein. ‚Komm, nur noch zwei Kilometer, das packst du noch, das ist doch nichts mehr.’ Kurz vor der Überquerung der Bundesstraße geht’s ein paar Meter abwärts. ‚Konzentrier dich, da ist viel Verkehr!’ Trabe am rechten Straßenrand, muss mehrere Fahrzeuge passieren lassen, dann rüber und in eine Seitenstraße. Es ist die Straße, in der mein Hotel liegt! Die Erkenntnis mobilisiert noch ein paar Watt. Genauso, wie das herbei gesehnte letzte Täfelchen: „Km 49“. Gleich ist es geschafft. Noch mal rein in den Wald, noch mal bisschen runter, wieder rauf, wieder runter, Muskeln hart wie Stein, Beine tonnenschwer. Halt! Da nicht lang, der gekalkte Querstrich ist eindeutig! Also nach links und ... boaahh ... Sch...! Noch mal hoch, steil, so steil, muss auf die Zehenspitzen, fünf Meter, zehn Meter, wird flacher, noch flacher, Schmerz lässt nach ... Noch hundert Meter, links über den Parkplatz, rechts auf den Fußweg, da das Zieltransparent, rechts ein verlassener Tisch mit Getränken und Bananen, dran vorbei, erst ins Ziel ... Hand an die Uhr. Stopp! Bin im Ziel, es ist endlich geschafft!

Ich tappe ein wenig umher, blicke auf die Uhr: 5:02:16. Außer mir ist da nur noch eine Frau. Die einzige Zeugin meiner Ankunft wartet anscheinend auf ihren Mann, lächelt mir zu. Lächle ich zurück? Ich hoffe es. Dann laufe ich die paar Meter zum nahen Schwimmbadeingang, wo sich alle Ankömmlinge sammeln.

 

Manöverkritik

Die Ausrichter vom TV Rengsdorf waren gut beraten, diese tolle Veranstaltung nicht mit einer offiziellen Zeitmessung zu verschärfen. Die Strecke ist nicht ungefährlich, vor allem bei Regen. Entfernung und Höhenmeter sind Herausforderung genug! Vielleicht sollte man Neulinge mit dem Hinweis auf stellenweisen Crosscharakter der Strecke besser vorbereiten. Ansonsten war ich hoch zufrieden und fühlte mich gut betreut. Glücklicherweise gibt es immer noch Menschen, die den gewaltigen Aufwand eines solchen Unternehmens nicht scheuen und viele Stunden Freizeit dafür opfern. Danke!