Der Traum erfüllt sich nicht
Habe ich alles richtig gemacht? Diese Frage beschäftigt mich während der letzten
Minuten vor dem Start. Dicht an dicht gedrängt stehen wir im ersten Startblock,
eingepfercht von Absperrgittern. Ines hat sich von mir verabschiedet, zuletzt
hatten wir noch Blickverbindung. Neben mir geht ein Läufer in die Hocke. Der hat
ja eine merkwürdige Art sich zu dehnen denke ich. Bis er aufsteht und den Blick
auf eine eindeutige Pfütze zwischen seinen Beinen freigibt. Ok, das werde ich
mir merken, so kann man das Problem auch lösen, wenn es mal mit der Trink- und
Toilettentaktik nicht geklappt hat. Ich selbst habe zwei Besuche der verhassten
Mobiltoiletten hinter mir. Beim ersten Mal passierte mir etwas derart Übles, dass
man es fast als schlechtes Ohmen nehmen kann. Über diese kleine menschliche
Katastrophe breite ich den Mantel des Schweigens … Die Prager Innenstadt ist
nahezu frei von Grün und Parkanlagen. Also musste ich mir das „Häuschen“ noch
ein zweites Mal zumuten. Während ich vergeblich nach einem Baum suchte, stellte
sich Ines brav
für mich in die Warteschlange. Man stelle sich vor: Mehr als 3000
Läuferinnen und Läufer nahmen an diesem Marathon teil. Und weniger als 10
Toilettenhäuschen verloren sich auf dem Prager Altstadtplatz. Nicht das einzige
Manko der Organisation!
Vielleicht war ich einfach zu doof mich richtig anzumelden. Allerdings wurde in
der Online-Prozedur nirgends die Bestzeit oder die beabsichtigte Zielzeit
erfragt. Und so verweist mich die Startnummer 3554 eigentlich in eine der
hinteren Startboxen, was ich jedoch erst bei der Ankunft im Startgelände
realisiere. Läufer mit meinen Ambitionen haben Startnummern zwischen 151 und
500. Ich war jedoch wild entschlossen und hätte auch einen handfesten Streit mit
Ordnungskräften nicht gescheut, mich ins erste Karree zu bugsieren. 20 Minuten
vor dem Start ist jedoch noch ausreichend Platz und am Eingang zum Startblock
halten zudem keine Offiziellen Wache. Deren Aktivitäten beschränken sich auf
den Block der Spitzenläufer, der dafür hermetisch abgeschirmt wird.
Ich bin ruhig, kein Herzklopfen. 3 Minuten bis zum Start. Noch passt das Wetter:
Kaum Wind, keine Sonne, schätzungsweise milde 15°C. Aber der Blick zum Himmel
verheißt eine bald hervorbrechende Sonne und damit für meine Zielzeit nichts
Gutes. Eben habe ich mit einem Viertelliter Wasser den ersten Beutel Energie-Gel
runtergespült. Was tue ich hier? Wieso will ich jetzt 42 km laufen? Und auf das
hier hab ich mich jetzt fast 20 Wochen vorbereitet? Es ist fast ein wenig
irrational, was sich da an Gedankenfetzen und Gefühlen in mir vollzieht. Wie
kann es sein, dass ich jetzt hier so, so, so … verloren und lustlos stehe? Hat
mich mein Ehrgeiz und der Traum von „U3“ doch all die Wochen vorher immer wieder
angetrieben und alles ertragen lassen! - Ich reiße das Tütchen mit dem ersten „Marsh
Mellow“ auf, stecke mir das weiche, kastaniengroße Energiebällchen in den Mund,
halbiere es mit den Zähnen und positioniere es mit der Zunge in den
Backentaschen. Fertig ist das Eichhörnchen. Ich sehe aus, als hätte ich
beiderseits einen bösen Zahn. Woher ich das weiß? Man sieht es auf einigen der
offiziellen Fotos. Die weichen Bällchen sollen sich mit dem Speichel auflösen
und die darin enthaltenen Zuckerkalorien über die Mundschleimhaut direkt ins
Blut abgeben. Bis auf ein Bällchen im Training, habe dieses „Doping“ noch nie
ausprobiert. Von jenem Versuch weiß ich, dass das Ding einigermaßen angenehm
nach Cola schmeckt und ungefähr 20 Minuten braucht, um sich vollständig
aufzulösen. Das gilt aber nur für den ersten Streckenteil. Auf der zweiten
Hälfte, wenn der Speichelfluss infolge Dehydrierung abgenommen hat, dauert es
deutlich länger! Und im Ziel war ich wirklich froh, mir die inzwischen
widerliche Süße erst einmal aus dem Mund spülen zu können …
Gleich ist es soweit: Die Kette aus Absperrposten weicht in Etappen zurück, der
Läuferpulk schließt zu den Spitzenläufern auf. Ich habe eine tolle Position.
Sicher stehen nicht mehr als 50 bis 100 der schnelleren Läufer vor mir. Das ist
gut so. Laut Veranstalter geht es auf den ersten Kilometern in der Altstadt
recht eng zu.
Startschuss - für mich und meine Stoppuhr! An den Absperrungen mit dicht
gedrängten Zuschauerreihen vorbei rennen wir Richtung Moldau. Tempo mäßigen!
Mensch lauf bloß nicht zu schnell an, du warst ganz vorne, da stehen nur sehr
gute Läufer, lass sie rennen. So achte ich anfangs nur auf mein Tempo, versuche
meinen Rhythmus zu finden. Und ich spüre meine Oberschenkel auf ganz merkwürdige
Weise: Sie fühlen sich nach weniger als einem Kilometer irgendwie „dick“ an.
Trugschluss? Oder war das Abschlusstraining gestern Nachmittag zu heftig? Dann
beschleicht mich auch noch die Angst in der wunderschönen, „goldenen Stadt“ Prag
zu lange herumgelaufen oder -gestanden zu haben … Zum Glück verschwindet diese
ungewohnte Spannung in den Beinen sehr schnell wieder. Nichts ist jetzt
wichtiger als die erste Kilometermarke! Kurz bevor wir nach rechts auf die
Karlsbrücke abbiegen kommt sie: 4:15 - eine Sekunde unter Soll, genial!!! Noch
nie habe ich mein Tempo auf dem ersten Kilometer so genau getroffen. Also weiter
so. Auf Kopfsteinpflaster mit ein paar flachen, eingearbeiteten Stufen geht es
auf die pittoreske, alte Karlsbrücke und damit über die Moldau. Unerwartet: Fast
keine Menschenseele
ist um 9 Uhr morgens hier zu sehen. Und an den Vortagen
drängten sich Touristen in nicht enden wollendem Strom zwischen den
Brückenstatuen und Händlerständen hindurch … Die Moldau ist passiert, durch den
Torbogen des diesseitigen Brückenturmes laufe ich geradewegs durch die Prager
Kleinseite in Richtung Hradschin. Ich bin aufmerksam, habe aber keinen Blick für
die herrlichen alten Gebäude oder die wenigen Passanten am Streckenrand. Meine
Konzentration gilt ausschließlich dem Kopfsteinpflaster: Nicht umknicken, nicht
stolpern, Unebenheiten umlaufen. Durch das menschenleere Viertel mit
Regierungsgebäuden und Botschaften geht es wieder zurück zur Moldau und die
Läuferschlange bleibt am diesseitigen Ufer. Alle Straßen sind für den
Autoverkehr gesperrt und Straßenbahnen werden für uns angehalten.
Was ich befürchtet habe tritt ein. Die Wolken haben sich verzogen und die Sonne
treibt den Schweiß aus allen Poren. Wenn das so bleibt, kann ich meine U3-Träume
gleich begraben. Auf jeden Fall muss ich mehr trinken! Am besten zwei Becher pro
Verpflegungspunkt, auch wenn das etwas mehr Zeit kostet. Weiter. Kilometer 2, 3,
4 und 5 - alles in Ordnung, das Tempo stimmt, bin ein paar Sekunden unter der
Sollzeit, das ist ok. Wo bleibt der
erste Verpflegungspunkt? Die „Tränken“ sind
wie üblich für 5, 10, 15 usw. Kilometer avisiert. Auch nach 6 und 7 Kilometern
noch immer keine Wasserstelle! Dann plötzlich ohne Vorwarnung erreichen wir sie
doch. Sch…organisation schimpfe ich in Gedanken und schnappe mir die beiden
ersten Becher. Natürlich geht einiges daneben, aber es wird ja nicht der letzte
Stand gewesen sein.
Mittlerweile haben wir über eine Brücke in den Außenbezirken der Stadt wieder
die Uferseite gewechselt und laufen in Richtung Innenstadt zurück. Eigentlich
ist es an der Zeit, einen Läufer in meinem Tempo zu finden und sich dranzuhängen.
Irgendwie bietet sich aber niemand mit konstanter Geschwindigkeit an … Auch den
versprochenen Pacemaker für die 3 Stunden, er soll mit gelbem Luftballon
gekennzeichnet sein, kann ich nirgendwo entdecken. Am Start war er nicht vor
mir. Und - um es vorweg zu nehmen - er überholt mich bis zum Schluss nicht.
Einzig mögliche Schlussfolgerung: Es hat ihn nicht gegeben! Einen mit
Kennzeichnung „4:30“ habe ich auf dem Startgelände gesehen, mehr nicht.
Kilometer 10 - erste offizielle Zwischenzeitnahme: 42:30 werden für mich
protokolliert und später in der Urkunde stehen. Passt! Das sind 10 Sekunden
unter Soll und stimmt mich zuversichtlich. Bei Kilometer 11 verlassen wir das
Moldauufer und schwenken Richtung Innenstadt. Vorbei an diversen Baustellen mit
viel Aktivität (sonntags!) erreicht der Tross den Wenzelsplatz mit dem Zelt der
Marathonmesse. Hier säumen auch mal wieder mehr Zuschauer die Strecke und feuern
uns an. Einer der himmlischen Heerscharen muss für Marathonläufe zuständig sein.
Einer mit Einfluss auf Petrus: Wolken haben die Sonne wieder verdeckt und so
bleibt es erst einmal angenehm kühl in den Prager Straßenschluchten. Einen
weiteren Kilometer geht’s sanft bergab und das Moldauufer hat uns wieder. Vor
der Brücke scharf links, wir bleiben am diesseitigen Ufer. 13 Kilometer vorbei.
Natürlich ist das Tempo hart, natürlich spüre ich die Anstrengung schon in den
Beinen, aber alles ist im grünen Bereich. Ich weiß, dass ich mich für diese
Zielzeit 42 Kilometer lang schinden muss und nicht erst auf der zweiten Hälfte
oder jenseits der 30 …
Das „tanzende Haus“ mit seinen kunstvoll
verdrehten, krummen, glasbewehrten Fassaden taucht vor mir auf. Gestern haben
Ines und ich diese Bürohausschöpfung eines modernen Architekten auf unserem
Spaziergang ausgiebig bestaunt und fotografiert. Heute ist daran nur wichtig, mit
dem Haus Kilometer 14 hinter sich zu lassen … Ines wird gleich auftauchen! Eine
Stelle - vor und hinter einer Bahnbrücke - werden wir dreimal passieren. Gleich,
bei 14,5 km, dann wieder nach einer 3-km-Schleife und letztmalig nach der
ersten, kürzeren Wende am rechten Moldauufer bei Kilometer 23. Da steht sie! Sie
versucht ein Foto zu schießen, was jedoch misslingt, weil die abgesprochene
Übergabe des nächsten, bereits
aufgerissenen Gel-Beutelchens wichtiger ist. Im
Vorbeilaufen hechele ich ein „Danke“ und schnappe mir den „Stoff“. Schnell
drücke ich mir das Gel in den Mund und schlucke. Gleich wird der
Verpflegungspunkt kommen, dann muss ich damit fertig sein und mit Wasser
nachspülen! Denkste! Er kommt nicht! Nicht bei 15 km und nicht bei 16. Erst kurz
bevor ich Ines wieder erreiche gibt es was zu trinken. Sch…organisation! Es ist
nämlich ausgemacht, dass Ines mir beim zweiten Treff eine kleine Flasche mit
Wasser und weitere „Marsh Mellows“ reicht. Das klappt auch, und so trinke ich
innerhalb kürzester Zeit ein weiteres Mal. Kein Fehler, müsste man meinen, da die
Sonne sich jederzeit wieder blicken lassen kann. Schon richtig, allerdings
bricht jeder Trinkvorgang meinen Atem- und Laufrhythmus und es dauert Minuten,
bis die Herzfrequenz sich wieder auf Normalmaß eingepegelt hat. Noch bei keinem
der neun Läufe vorher habe ich das Trinken als so störend empfunden. Die beiden
aus Ines Händen „gegrabschten“ „Marsh Mellows“ stopfe ich zunächst in mein
Handgelenktäschchen, weil ich noch so ein Ding im Mund hab.
In der „Verpflegungshektik“ der letzten 30 Minuten habe ich nicht mehr
sonderlich auf meine Zeit geachtet. Aber die Zwischenzeiten passen, liegen noch
leicht unter dem zu laufenden Schnitt, und einen Läufer mit gleicher Pace habe
ich inzwischen auch gesichtet. Klein ist er, kräftig und mit eintönigem,
unelegant klingendem „Schlapp Schlapp“ läuft er vor mir her. Ich häng mich dran
und für die nächsten 10, 12 Kilometer bilden wir ein „laufendes Zweckbündnis“.
Meistens liegt er vor mir, weil er jede Absicht meinerseits, „Führungsarbeit“ zu
leisten, durch baldiges Überholen zurückweist.
zum Seitenanfang
Ein bis zum Fluss vorspringender
Felsrücken wird in kurzem Tunnel passiert. Es ist der sagenumwobene Felsen
Vyšehrad, mit Burgruine und Gräbern großer Persönlichkeiten des Landes, von dem
aus die Geschichte Prags ihren Ursprung genommen haben sollen. Nein, über so
etwas denke ich nicht nach, als ich durch den Tunnel laufe. Nur so ein
Gedankenfetzen wie „ach, das
ist also der Felsen Vyšehrad“ lässt mein hart
kämpfendes Bewusstsein zu. Den Rest ergänze ich erst jetzt. Nichts von alledem
hat mehr Bedeutung. Es ist völlig gleichgültig wo ich bin und was rechts und
links der Strecke liegt oder vor sich geht. Bedeutung hat der kleine Mann und
sein „Schlapp Schlapp Schlapp“ vor mir. Bedeutung hat die Uhr und wichtig sind
Meldungen von innen, die mir sagen, dass ich Tempo halten kann. Noch glaube ich
an meine Chance für Sub3. Den Glauben erneuere ich bei jeder Zwischenzeit, bei
17, 18, 19, 20 Kilometer. Noch immer gibt die Uhr Durchgangszeiten leicht unter
der Sollzeit wieder. Ich vertraue auf den kleinen „Schlapp-Schlapp“ vor mir. Der
sieht nicht aus, als würde er einbrechen. Gut so! Dranbleiben!
Die erste von zwei Wenden kommt in Sicht. Wie so eine enge Kehre schmerzen kann,
wenn man schon über 20 km einfach nur heftig geradeaus gelaufen ist! Egal,
weiter. Die Halbmarathon-Marke kommt in Sicht und mit ihr die zweite offizielle
Zeitnahme: 1:30:03 stehen in der Urkunde. Auf meiner Uhr habe ich sogar 6
Sekunden Rückstand auf die Sollzeit. Kein Beinbruch, aber heftiges Erstaunen löst
das schon in mir aus. Wo habe ich die Sekunden verloren. Beim letzten Blick auf
die Uhr lag ich noch eindeutig unter der Sollzeit. Hab ich mich zu sehr auf
Mister „Schlapp-Schlapp“ verlassen und wurde unmerklich langsamer? Muss ja so
sein. Also forciere ich vorsichtig, obwohl meine Beine meinen, dass ein
Halbmarathon doch auch eine Distanz ist, die sich sehen lassen kann, und mit
Nachdruck vorschlagen, das Laufen für heute einzustellen … Kurzzeitig setze ich
mich vor den „Kleinen“, was ihm aber wie gehabt nicht passt. Ok, ist ja gut. Ich
will nicht schneller sein als du. Ich will „nur“ unter 3 Stunden laufen… Und ich
werde alles geben - alles. Ich hab heute die Chance und ich will sie nutzen!
Lauf Udo! Lauf! - Ist es blöde, sich selbst anzufeuern? Alle mir bekannten
Formeln nutze ich auf diesen Kilometern, um mental Kräfte zu mobilisieren. Geh!
Geh! Lauf! Gib alles! Lauf du Sau! Du bringst es! Halt durch! Bleib dran! Nicht
nachlassen! Dies und mehr zischt immer mal wieder durch meine Gedanken. Es geht
doch. Kilometer 22, der Felsen mit Tunnel kommt wieder in Sicht.
Nur noch ein Kilometer, dann werde ich wieder bei Ines ankommen. Da ist die
Eisenbahnbrücke, drunter durch. Wo ist Ines? Da vorne winkt sie, hält einen
weiteren Beutel in der Hand, eine Flasche und noch so ein „Lutschdings“.
Konzentrier dich, lass nix fallen! Es klappt. Aber vor lauter Konzentration
schaffe ich es nicht mal sie anzulächeln oder danke zu sagen. Sie wird’s
verstehen. Den „Marsh Mellow“ lasse ich gleich fallen. Ich hab noch zwei weitere
im Handgelenktäschchen. Runter mit dem süßen Kleber, nachspülen, Flasche
wegschmeißen - verzeiht mir ihr Prager Müllmänner! Wieder bin ich aus dem Tritt,
musste auch „Schlapp-Schlapp“ ein paar Meter ziehen lassen. Ich hole ihn aber
rasch wieder ein.
Zeit die Seite zu wechseln. Auf einer von 14 Brücken geht’s neuerlich über die
Moldau. Frau mit buntem Windrad über dem Kopf und großem, schwarzem Hund an der
Leine? Die kenn’ ich, hätte sie fast übersehen, kann sie aber nicht überhören.
Sie feuert mich heftig auf Deutsch an: Bravo! Super! Weiter so! - Es ist die
Frau eines anderen Läufers, und die beiden sind im selben Hotel wie wir
abgestiegen. Die Moldaubrücke ist Geschichte und ich registriere die Tafel mit
der großen 24. Auch wenn es nicht so klingt, ich kämpfe heftig, um diese für
mich irre Geschwindigkeit zu halten. Bei dieser Distanz etwa musste ich damals
in Florenz schon alle Hoffnungen begraben, wurde stetig langsamer und sah die
Pacemaker davonlaufen. Mit einer gewissen Befriedigung registriere ich, dass ich
heute nicht langsamer werde. Und ich fühle, dass es zumindest auf den nächsten
Kilometern auch nicht passieren wird. Das motiviert. Noch fließt die Energie
stetig. Zwar spüre ich die zurückgelegten Kilometer in den Beinen, aber das ist
immer so. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich zurückstecken muss. Wird es
reichen? Kann ich dieses Tempo ins Ziel retten? Es muss reichen! Konzentrier
dich lieber auf den Lauf!
Wir bleiben am linken Moldauufer. Bloß nicht dran denken, dass es nun 16 elend
lange Kilometer langweilig geradeaus gehen wird. Bis zur zweiten Wende und
zurück, Richtung Innenstadt. Mittlerweile gibt es beidseits der Strecke keine
Häuser mehr. Wir befinden uns auf einer dicht befahrenen Straße und nur die dem
Fluss zugewandte Fahrbahn ist gesperrt. Der Autolärm ist mir egal. Was mich wie
immer in so einer Situation stört, ist der Abgasgeruch.

Dann sehe ich den führenden Kenianer auf Gegenkurs. Wenige Sekunden später
fliegt er leichtfüßig vorbei. Einmal so laufen können! Der ist in 20 Minuten im
Ziel, während wir uns noch über eine Stunde abquälen müssen. Es dauert einige
Zeit bis sein Verfolger in Sicht kommt: Auch schwarz, auch aus Kenia. Nach und
nach, mit beachtlichem Rückstand, huschen auf den nächsten Kilometern die
Spitzenläufer vorbei. Irgendwann ist auch die erste Frau dabei.
Überraschenderweise eine hellhäutige Läuferin. Ihr Name klingt nach Osteuropa.
Noch etwas anderes überrascht mich: Obschon ich wirklich kämpfen muss, habe ich
nicht dieses Gefühl von sich endlos dehnenden Kilometern. Relativ rasch hake ich
Kilometer für Kilometer ab. 25, 26, 27, 28, 29, 30 … Aber „Schlapp-Schlapp“ ist
deutlich langsamer geworden. Ich empfinde es so und finde es durch eine
Zwischenzeit bestätigt. Ich ziehe das Tempo wieder an und laufe an ihm vorbei.
Diesmal kontert er nicht, scheint mich laufen zu lassen. Bricht er jetzt ein? So
wie etwa 30, 40 andere Läufer, die wir gemeinsam seit der Halbmarathon-Marke
überholt haben? - Nö, ich hab nicht mitgezählt, kann es aber aus der
Ergebnisstatistik schließen, die mich zur HM-Marke auf Platz 177 und bei
33,5 km bereits 50 Ränge weiter vorne einsortiert. - Jedenfalls bleibt er zurück
und ich verliere sein typisches Laufgeräusch aus dem Ohr …
Die Wende kommt und kommt nicht. Ja, klar kommt sie nicht, da muss ich hinlaufen
aber jemand scheint sie moldauaufwärts ständig zu verschieben … So weit mein
Blick reicht sind Läufer vor mir und kommen entsprechend weniger entgegen. Und
dann
ist sie doch erreicht, die ersehnte Wendemarke. Nun sind es „nur“ noch gut
10 Kilometer bis ins Ziel. Zehn Kilometer sind an sich ein Klacks. Andererseits
lasse ich langsam die Erkenntnis an mich heran, dass meine Beine nun schon
bleischwer sind. Mein Laufstil fühlt sich in dieser Phase deutlich „eckiger“ an,
als es sein sollte. Kein gutes Zeichen! Aber die Sonne ist nicht wieder rausgekommen, es wurde nicht übermäßig warm. Das ist ein gutes Zeichen! Und ich
hab häufiger getrunken und bin noch immer in der Zeit. Auch ein gutes Zeichen!
Kurz nach der Wende fühle ich ihn zum ersten Mal. Oh, wie ich ihn hasse! Dieser
Gegenwind, der jetzt entlang des Flusses meinen Lauf bremst - mal mehr, mal
weniger, mal gar nicht wahrnehmbar. Ein ganz schlechtes Zeichen! Vielleicht ist
der immer wieder auffrischende Wind verursachend: Kurz nach der letzten
Zeitnahme bei Kilometer 33,5 - hier liege ich noch mehr als 20 Sekunden unter
Sollzeit - beginne ich unwiderruflich langsamer zu werden. Ich versuche mehr
Energie zu mobilisieren, dem Wind zu trotzen, wieder Tempo zu machen. Aber es
geht nicht. Damit ist schon hier, nach 34, 35 Kilometern klar, das mein Traum
ein Traum bleiben wird. Aber Menschen klammern sich manchmal an absurde
Hoffnungen. Vielleicht geht es ja doch noch. Komm versuch’s! Reiß dich zusammen!
Du hast es so oder so bald überstanden. Nur noch 8, 7, 6, 5, … Kilometer …
Ich hab ihn nicht kommen hören. Plötzlich ist er wieder da und zieht an mir
vorbei - „Schlapp-Schlapp“. Der kriegt jetzt die dritte, vierte Luft.
Dranhängen, sein Tempo aufnehmen! Von ihm ziehen lassen! Ich kann ihm aber nur
ein paar Meter folgen. Zu schwer sind meine Beine, zu kraftlos. Irgendwo
zwischen Kilometer 38 und 39 stoße ich auf eine Läuferin. Keine Ahnung woher die
plötzlich kam!? Wahrscheinlich schloss sie langsam zu mir auf und ging dann
vorbei. Hab ich schon Aussetzer, dass ich so etwas nicht mehr registriere? Auch,
dass es eine „Sie“ ist, krieg ich nur deshalb mit, weil viele Zuschauer
plötzlich wesentlich frenetischer applaudieren, wenn ich auftauche. Ich? Nein,
der Beifall gilt meiner Begleitung und langsam dämmert
mir ihr Geschlecht. Da
bin ich sonst nicht so langsam. Ich hänge mich an sie, versuche wenigstens ihr
zu folgen. Wie lange gelingt mir das? War’s ein Kilometer, anderthalb? Kraftlos, dick
und unbeweglich schwer fühlen sich meine Beine an. Sie zieht davon und ich kann
sie nicht halten.
Kilometer 40: Ein Blick auf die Uhr zerstört endgültig alle Hoffnungen. Wenn ich
weiter so „schleiche“, werde ich Mühe haben unter 3:05 ins Ziel zu kommen. Ich
hoffe darauf, nicht noch mehr Tempo zu verlieren. Brücke Nummer vier bringt mich
auf die andere Moldauseite. Scharf links ab … gleich ist es vorbei, halt durch.
Oh Mann, jetzt muss bald Schluss sein! Lange kann ich nicht mehr laufen! Doch
ich kann! Ich kann und ich werde! 41 Kilometer vorbei. Nur noch ein blöder,
lächerlicher Kilometer. Das ist nichts. Es geht noch einmal etwas besser. Vorbei
an der Karlsbrücke. Noch ein paar hundert Meter, dann kann ich auf die
Zielgerade einbiegen. Tempo halten, Tempo halten! Die letzte Biegung: Schnurgeradeaus geht es in Richtung Altstadtplatz. Viele Menschen flankieren
hier die Strecke. Und es ist wie immer: Auf diesen letzten Metern geht noch `mal
was. Ich mobilisiere jeden Funken verbliebener Energie. 3:02 sind möglich. Zieh,
zieh! Dann ist es geschafft. Mit hochgerissenen Händen laufe ich durch das
Zieltor…
Sub3? Verfehlt. Egal. Endlich stehen bleiben dürfen. Herrlich. Zum ersten Mal
seit über drei Stunden. Wie immer stütze ich mich ein paar Sekunden mit beiden
Händen auf die Oberschenkel und warte in dieser gebückten Haltung auf die
zurückkehrende Kraft. Irgendwer hinter mir fragt auf Englisch,
ob es mir gut
geht. Mit Handzeichen gebe ich positiven Bescheid. In mehreren Gassen vor mir
werden die Medaillen verteilt. Nur wenige Läufer sind jetzt im Zielraum. Also
kann ich mir die Gasse aussuchen. Derart ausgezeichnet werde ich abgelichtet.
Auf diesem Bild bin ich nicht nur aus-, sondern vor allem ge-zeichnet.
Gezeichnet von den 42,195 schnellsten Kilometern meines Lebens. Eigentlich
sollte ich mich über die persönliche Bestzeit von 3:01:50 freuen. Das kommt auch
noch. Aber im Moment überwiegt die Enttäuschung, den Traum wieder nicht in
Realität verwandelt zu haben …
Wo ist Ines? Schon nach dem letzten Treffpunkt fiel mir ein, dass wir gar keine
Verabredung im Ziel ausgemacht hatten. Kraftlos trotte ich über den von Zäunen
frei gehaltenen Altstadtplatz. Da ist sie! Winkt! Aber wer ist das? Hätte ich
mir ja denken können! Meine Schwiegereltern sind über das relativ nahe Dresden
mit dem Zug nach Prag gekommen. Das hatte Ines schon seit längerem eingefädelt.
So gratulieren mir nun drei Fans statt einem …