Ein bis zum Fluss vorspringender Felsrücken wird in kurzem Tunnel passiert. Es ist der sagenumwobene Felsen Vyšehrad, mit Burgruine und Gräbern großer Persönlichkeiten des Landes, von dem aus die Geschichte Prags ihren Ursprung genommen haben sollen. Nein, über so etwas denke ich nicht nach, als ich durch den Tunnel laufe. Nur so ein Gedankenfetzen wie „ach, das ist also der Felsen Vyšehrad“ lässt mein hart kämpfendes Bewusstsein zu. Den Rest ergänze ich erst jetzt. Nichts von alledem hat mehr Bedeutung. Es ist völlig gleichgültig wo ich bin und was rechts und links der Strecke liegt oder vor sich geht. Bedeutung hat der kleine Mann und sein „Schlapp Schlapp Schlapp“ vor mir. Bedeutung hat die Uhr und wichtig sind Meldungen von innen, die mir sagen, dass ich Tempo halten kann. Noch glaube ich an meine Chance für Sub3. Den Glauben erneuere ich bei jeder Zwischenzeit, bei 17, 18, 19, 20 Kilometer. Noch immer gibt die Uhr Durchgangszeiten leicht unter der Sollzeit wieder. Ich vertraue auf den kleinen „Schlapp-Schlapp“ vor mir. Der sieht nicht aus, als würde er einbrechen. Gut so! Dranbleiben!

Die erste von zwei Wenden kommt in Sicht. Wie so eine enge Kehre schmerzen kann, wenn man schon über 20 km einfach nur heftig geradeaus gelaufen ist! Egal, weiter. Die Halbmarathon-Marke kommt in Sicht und mit ihr die zweite offizielle Zeitnahme: 1:30:03 stehen in der Urkunde. Auf meiner Uhr habe ich sogar 6 Sekunden Rückstand auf die Sollzeit. Kein Beinbruch, aber heftiges Erstaunen löst das schon in mir aus. Wo habe ich die Sekunden verloren. Beim letzten Blick auf die Uhr lag ich noch eindeutig unter der Sollzeit. Hab ich mich zu sehr auf Mister „Schlapp-Schlapp“ verlassen und wurde unmerklich langsamer? Muss ja so sein. Also forciere ich vorsichtig, obwohl meine Beine meinen, dass ein Halbmarathon doch auch eine Distanz ist, die sich sehen lassen kann, und mit Nachdruck vorschlagen, das Laufen für heute einzustellen … Kurzzeitig setze ich mich vor den „Kleinen“, was ihm aber wie gehabt nicht passt. Ok, ist ja gut. Ich will nicht schneller sein als du. Ich will „nur“ unter 3 Stunden laufen… Und ich werde alles geben - alles. Ich hab heute die Chance und ich will sie nutzen! Lauf Udo! Lauf! - Ist es blöde, sich selbst anzufeuern? Alle mir bekannten Formeln nutze ich auf diesen Kilometern, um mental Kräfte zu mobilisieren. Geh! Geh! Lauf! Gib alles! Lauf du Sau! Du bringst es! Halt durch! Bleib dran! Nicht nachlassen! Dies und mehr zischt immer mal wieder durch meine Gedanken. Es geht doch. Kilometer 22, der Felsen mit Tunnel kommt wieder in Sicht.

Nur noch ein Kilometer, dann werde ich wieder bei Ines ankommen. Da ist die Eisenbahnbrücke, drunter durch. Wo ist Ines? Da vorne winkt sie, hält einen weiteren Beutel in der Hand, eine Flasche und noch so ein „Lutschdings“. Konzentrier dich, lass nix fallen! Es klappt. Aber vor lauter Konzentration schaffe ich es nicht mal sie anzulächeln oder danke zu sagen. Sie wird’s verstehen. Den „Marsh Mellow“ lasse ich gleich fallen. Ich hab noch zwei weitere im Handgelenktäschchen. Runter mit dem süßen Kleber, nachspülen, Flasche wegschmeißen - verzeiht mir ihr Prager Müllmänner! Wieder bin ich aus dem Tritt, musste auch „Schlapp-Schlapp“ ein paar Meter ziehen lassen. Ich hole ihn aber rasch wieder ein.

Zeit die Seite zu wechseln. Auf einer von 14 Brücken geht’s neuerlich über die Moldau. Frau mit buntem Windrad über dem Kopf und großem, schwarzem Hund an der Leine? Die kenn’ ich, hätte sie fast übersehen, kann sie aber nicht überhören. Sie feuert mich heftig auf Deutsch an: Bravo! Super! Weiter so! - Es ist die Frau eines anderen Läufers, und die beiden sind im selben Hotel wie wir abgestiegen. Die Moldaubrücke ist Geschichte und ich registriere die Tafel mit der großen 24. Auch wenn es nicht so klingt, ich kämpfe heftig, um diese für mich irre Geschwindigkeit zu halten. Bei dieser Distanz etwa musste ich damals in Florenz schon alle Hoffnungen begraben, wurde stetig langsamer und sah die Pacemaker davonlaufen. Mit einer gewissen Befriedigung registriere ich, dass ich heute nicht langsamer werde. Und ich fühle, dass es zumindest auf den nächsten Kilometern auch nicht passieren wird. Das motiviert. Noch fließt die Energie stetig. Zwar spüre ich die zurückgelegten Kilometer in den Beinen, aber das ist immer so. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich zurückstecken muss. Wird es reichen? Kann ich dieses Tempo ins Ziel retten? Es muss reichen! Konzentrier dich lieber auf den Lauf!

Wir bleiben am linken Moldauufer. Bloß nicht dran denken, dass es nun 16 elend lange Kilometer langweilig geradeaus gehen wird. Bis zur zweiten Wende und zurück, Richtung Innenstadt. Mittlerweile gibt es beidseits der Strecke keine Häuser mehr. Wir befinden uns auf einer dicht befahrenen Straße und nur die dem Fluss zugewandte Fahrbahn ist gesperrt. Der Autolärm ist mir egal. Was mich wie immer in so einer Situation stört, ist der Abgasgeruch.

Dann sehe ich den führenden Kenianer auf Gegenkurs. Wenige Sekunden später fliegt er leichtfüßig vorbei. Einmal so laufen können! Der ist in 20 Minuten im Ziel, während wir uns noch über eine Stunde abquälen müssen. Es dauert einige Zeit bis sein Verfolger in Sicht kommt: Auch schwarz, auch aus Kenia. Nach und nach, mit beachtlichem Rückstand, huschen auf den nächsten Kilometern die Spitzenläufer vorbei. Irgendwann ist auch die erste Frau dabei. Überraschenderweise eine hellhäutige Läuferin. Ihr Name klingt nach Osteuropa.

Noch etwas anderes überrascht mich: Obschon ich wirklich kämpfen muss, habe ich nicht dieses Gefühl von sich endlos dehnenden Kilometern. Relativ rasch hake ich Kilometer für Kilometer ab. 25, 26, 27, 28, 29, 30 … Aber „Schlapp-Schlapp“ ist deutlich langsamer geworden. Ich empfinde es so und finde es durch eine Zwischenzeit bestätigt. Ich ziehe das Tempo wieder an und laufe an ihm vorbei. Diesmal kontert er nicht, scheint mich laufen zu lassen. Bricht er jetzt ein? So wie etwa 30, 40 andere Läufer, die wir gemeinsam seit der Halbmarathon-Marke überholt haben? - Nö, ich hab nicht mitgezählt, kann es aber aus der Ergebnisstatistik schließen, die mich zur HM-Marke auf Platz 177 und bei 33,5 km bereits 50 Ränge weiter vorne einsortiert. - Jedenfalls bleibt er zurück und ich verliere sein typisches Laufgeräusch aus dem Ohr …

Die Wende kommt und kommt nicht. Ja, klar kommt sie nicht, da muss ich hinlaufen aber jemand scheint sie moldauaufwärts ständig zu verschieben … So weit mein Blick reicht sind Läufer vor mir und kommen entsprechend weniger entgegen. Und dann ist sie doch erreicht, die ersehnte Wendemarke. Nun sind es „nur“ noch gut 10 Kilometer bis ins Ziel. Zehn Kilometer sind an sich ein Klacks. Andererseits lasse ich langsam die Erkenntnis an mich heran, dass meine Beine nun schon bleischwer sind. Mein Laufstil fühlt sich in dieser Phase deutlich „eckiger“ an, als es sein sollte. Kein gutes Zeichen! Aber die Sonne ist nicht wieder rausgekommen, es wurde nicht übermäßig warm. Das ist ein gutes Zeichen! Und ich hab häufiger getrunken und bin noch immer in der Zeit. Auch ein gutes Zeichen!

Kurz nach der Wende fühle ich ihn zum ersten Mal. Oh, wie ich ihn hasse! Dieser Gegenwind, der jetzt entlang des Flusses meinen Lauf bremst - mal mehr, mal weniger, mal gar nicht wahrnehmbar. Ein ganz schlechtes Zeichen! Vielleicht ist der immer wieder auffrischende Wind verursachend: Kurz nach der letzten Zeitnahme bei Kilometer 33,5 - hier liege ich noch mehr als 20 Sekunden unter Sollzeit - beginne ich unwiderruflich langsamer zu werden. Ich versuche mehr Energie zu mobilisieren, dem Wind zu trotzen, wieder Tempo zu machen. Aber es geht nicht. Damit ist schon hier, nach 34, 35 Kilometern klar, das mein Traum ein Traum bleiben wird. Aber Menschen klammern sich manchmal an absurde Hoffnungen. Vielleicht geht es ja doch noch. Komm versuch’s! Reiß dich zusammen! Du hast es so oder so bald überstanden. Nur noch 8, 7, 6, 5, … Kilometer …

Ich hab ihn nicht kommen hören. Plötzlich ist er wieder da und zieht an mir vorbei - „Schlapp-Schlapp“. Der kriegt jetzt die dritte, vierte Luft. Dranhängen, sein Tempo aufnehmen! Von ihm ziehen lassen! Ich kann ihm aber nur ein paar Meter folgen. Zu schwer sind meine Beine, zu kraftlos. Irgendwo zwischen Kilometer 38 und 39 stoße ich auf eine Läuferin. Keine Ahnung woher die plötzlich kam!? Wahrscheinlich schloss sie langsam zu mir auf und ging dann vorbei. Hab ich schon Aussetzer, dass ich so etwas nicht mehr registriere? Auch, dass es eine „Sie“ ist, krieg ich nur deshalb mit, weil viele Zuschauer plötzlich wesentlich frenetischer applaudieren, wenn ich auftauche. Ich? Nein, der Beifall gilt meiner Begleitung und langsam dämmert mir ihr Geschlecht. Da bin ich sonst nicht so langsam. Ich hänge mich an sie, versuche wenigstens ihr zu folgen. Wie lange gelingt mir das? War’s ein Kilometer, anderthalb? Kraftlos, dick und unbeweglich schwer fühlen sich meine Beine an. Sie zieht davon und ich kann sie nicht halten.

Kilometer 40: Ein Blick auf die Uhr zerstört endgültig alle Hoffnungen. Wenn ich weiter so „schleiche“, werde ich Mühe haben unter 3:05 ins Ziel zu kommen. Ich hoffe darauf, nicht noch mehr Tempo zu verlieren. Brücke Nummer vier bringt mich auf die andere Moldauseite. Scharf links ab … gleich ist es vorbei, halt durch. Oh Mann, jetzt muss bald Schluss sein! Lange kann ich nicht mehr laufen! Doch ich kann! Ich kann und ich werde! 41 Kilometer vorbei. Nur noch ein blöder, lächerlicher Kilometer. Das ist nichts. Es geht noch einmal etwas besser. Vorbei an der Karlsbrücke. Noch ein paar hundert Meter, dann kann ich auf die Zielgerade einbiegen. Tempo halten, Tempo halten! Die letzte Biegung: Schnurgeradeaus geht es in Richtung Altstadtplatz. Viele Menschen flankieren hier die Strecke. Und es ist wie immer: Auf diesen letzten Metern geht noch `mal was. Ich mobilisiere jeden Funken verbliebener Energie. 3:02 sind möglich. Zieh, zieh! Dann ist es geschafft. Mit hochgerissenen Händen laufe ich durch das Zieltor…

Sub3? Verfehlt. Egal. Endlich stehen bleiben dürfen. Herrlich. Zum ersten Mal seit über drei Stunden. Wie immer stütze ich mich ein paar Sekunden mit beiden Händen auf die Oberschenkel und warte in dieser gebückten Haltung auf die zurückkehrende Kraft. Irgendwer hinter mir fragt auf Englisch, ob es mir gut geht. Mit Handzeichen gebe ich positiven Bescheid. In mehreren Gassen vor mir werden die Medaillen verteilt. Nur wenige Läufer sind jetzt im Zielraum. Also kann ich mir die Gasse aussuchen. Derart ausgezeichnet werde ich abgelichtet. Auf diesem Bild bin ich nicht nur aus-, sondern vor allem ge-zeichnet. Gezeichnet von den 42,195 schnellsten Kilometern meines Lebens. Eigentlich sollte ich mich über die persönliche Bestzeit von 3:01:50 freuen. Das kommt auch noch. Aber im Moment überwiegt die Enttäuschung, den Traum wieder nicht in Realität verwandelt zu haben …

Wo ist Ines? Schon nach dem letzten Treffpunkt fiel mir ein, dass wir gar keine Verabredung im Ziel ausgemacht hatten. Kraftlos trotte ich über den von Zäunen frei gehaltenen Altstadtplatz. Da ist sie! Winkt! Aber wer ist das? Hätte ich mir ja denken können! Meine Schwiegereltern sind über das relativ nahe Dresden mit dem Zug nach Prag gekommen. Das hatte Ines schon seit längerem eingefädelt. So gratulieren mir nun drei Fans statt einem …