Von der Quadratur des Kreises  -  Nachtmarathon Marburg 2007

Gerade vier Wochen sind seit Biel verstrichen und mich lockt ein weiterer Marathonstart. Eigentlich nichts besonderes, als frisch gebackener 100 km-Finisher hätte ich seither sicher nicht einmal voll trainieren müssen. Doch es geht um mehr. Für mich sogar um sehr viel mehr. Ich fahre nach Marburg, um einen hartnäckigen Widersacher zu stellen. Er trägt den Namen „Marathon-unter-drei-Stunden“. Nun sehe ich diverse Finger reflexhaft an die zugehörige Schläfe tippen: „Isser jetzt komplett übergeschnappt? Wie kann man vier Wochen nach einem 100 km-Lauf mit entsprechend mörderischer Vorbereitung eine Bestzeit im Marathon anstreben?“

Meine „Rechtfertigung“ datiert etwa vierzehn Tage vor Biel. Die letzten Trainingswochen, besonders die harten Tage im Westerwald, verliefen traumhaft und meine Pulswerte starteten zu nie erlebtem Tiefflug. An diesem Tag stehen 80 Minuten lockerer Dauerlauf auf dem Programm. Bereits beim Einlaufen „bin ich gut drauf“ und nutze anschließend eine meiner vermessenen Strecken. Ich kann kaum fassen, was mir der Pulsmesser erzählt: 4:15 min/km im Schnitt bei höchstens 85% meines Maximalpulses. Ein Irrtum ist ausgeschlossen, wie spätere Testläufe zeigen. 4:15 min/km entsprechen exakt dem Tempo, um einen Marathon unter drei Stunden zu laufen. Nach diesem Lauf ist der Gedanke einfach da: Erst Biel, ein paar Wochen später dann einen schnellen Marathon als Sturmangriff auf die Festung „3 Stunden“ … Die Idee stiftet eine Menge Unruhe in meinem kurz vor dem 100 Kilometer-Finale ohnehin aufgewühlten Kopf. Mit zwei Projekten, von denen jedes einzelne mir heftiges Herzklopfen verursacht, komme ich mental nicht klar. Nach ein paar Tagen wische ich den neuen Plan zur Seite: ‚Bring erst mal Biel ordentlich hinter dich, dann sehen wir weiter!’

Der Hunderter gelingt, wird zum sportlichen Triumph. Es folgen ein paar Tage Pause mit rascher Erholung in denen es mir leidlich gelingt, so zu tun, als bliebe mir noch die Wahl den „Schnellen“ zu laufen oder nicht. Nur eine Handvoll Menschen wissen davon. Wahrscheinlich zweifeln sie trotz wankelmütiger Äußerungen weniger an meiner Absicht als ich selbst. Recht schnell steht fest, dass der Nachtmarathon von Marburg die besten Randbedingungen bietet. Einige Marathons kommen zu früh, diverse zu spät, etliche sind mir zu weit, weisen Steigungen auf oder passen von der Tageszeit her nicht. Der Marburger Kurs ist flach und bietet einen Start um 19 Uhr. Wenn ich Glück habe ist der Tag nicht zu heiß und ich laufe in einen kühlen Abend. Außerdem erreiche ich das Ziel mit letztem Tageslicht gegen 22 Uhr. Eine Woche nach dem 100 km-Finale teste ich den Puls: Etwas schlechter als vor drei Wochen, aber nicht dramatisch. Zwei weitere Tage lasse ich im Ungewissen, was längst entschieden. Ein „Knochenjob“ von Intervalltraining soll die Entscheidung bringen: Wenn ich 1000 m-Intervalle unter 3:50 min schaffe, sollte es möglich sein … Auch diese Hürde wird genommen: Ich renne sieben mal 1000 Meter in Zeiten von 3:44 bis 3:50 min und höre dann aus Vernunftsgründen auf, obwohl noch mindestens Einer möglich gewesen wäre. Aus Vernunft und weil „SiebenMalTausend“ mir selbstquälerisch genug vorkommen. Jetzt lässt sich der Entschluss nicht länger aufschieben und mein Dilemma wird offenbar. Auf Marburg verzichten hieße der verpassten Chance nachzutrauern: „Damals wär’ es möglich gewesen, aber du hattest ja nicht den Mumm dazu!“ Also sage ich „ja“ zu Marburg (was sowieso nie in Frage stand!) und beschere mir damit ein unmittelbares Problem. Mir fehlt der sonstige Antrieb, der unbedingte, unbeugsame Wille zum Erfolg. Einschließlich Biel habe ich zwei Ultras, neun Marathonläufe und zwei Halbe in fünf Monaten hinter mir. Und es existiert ein Vertrag zwischen „Mister Ambition“ und „Signorina Dolce Vita“: Erst alles für den Hunderter, danach „summer dreaming“ voll alternativer Bewegung und nachhaltiger Erholung! Der Vertrag wird geändert, „Dolce Vita“ verschoben, schließlich sind nur wenige wirklich beinharte Tainingseinheiten zu laufen, dann geht’s ja schon wieder ans Tapern.

Wesentliche Folterinstrumente der folgenden Tage: Ein heftiges Fahrtspiel mit vielen langen Steigungen, ein Crescendo über 36 km und noch einmal die sieben Tausender. Die gehen mir im Schnitt um drei Sekunden hurtiger vom Fuß als bei der ersten Serie. Und mit dem finalen Tausender will ich wahrscheinlich Unlust und Zaudern zugleich in den Boden stampfen und mobilisiere für 3:36 Minuten alle Energie. Auch danach steht fest: Einer ginge noch! Als ich letztes Jahr für den Prag Marathon trainierte, bei dem ich mit neuer Bestzeit einigermaßen knapp an der drei Stunden-Klippe scheiterte, gelang mir kein einziges Intervall unter 3:50. Aber bitte keine Euphorie! Meine Kardinalfrage bleibt unbeantwortet: Kann ich das 3h-Tempo auch lange genug stehen? Ist da genug Substanz und Tempohärte, um jenseits der 30 Kilometer wachsender Ermüdung zu widerstehen? Die 100 km-Vorbereitung erforderte mehr Quantität, weniger Qualität. Lange, schnelle Läufe hatten im Trainingsalltag Seltenheitswert …

Montag, 9. Juli, noch vier Tage bis Marburg: Sechs Kilometer im Marathontempo stehen auf dem Plan. Ich möchte einen möglichst exakten Test und gehe dafür auf die Tartanbahn. Ein kühler Tag, die Pulswerte sollten also verlässlich Auskunft geben. Was ist in den letzten Tagen geschehen? Der angezeigte Durchschnittspuls ist um mindestens 5 Schläge zu hoch. Selbst wenn ich den Gegenwind auf der halben Runde dagegen rechne wird das nicht reichen. Was habe ich falsch gemacht? Dienstag, Mittwoch und Donnerstag registriere ich Anzeichen für eine Entzündung im Körper. Ein Lymphknoten ist schmerzhaft geschwollen und erinnert mich an den Zeckenstich vom Samstag. Ich habe ein ausgesprochen schlechtes Gefühl, was aber eher als positives Zeichen zu werten ist. Vor wichtigen Wettkämpfen fühlte ich mich immer besch…

Freitag der Dreizehnte mit guten Bedingungen: Die Regenschauer haben aufgehört, ungefähr 20°C hat der Nachmittag dem Abend noch übrig gelassen, der Wind ist bereits eingeschlafen. Einzig die annähernd 100% Luftfeuchte wird uns zu schaffen machen. Als Ines und ich gegen 18:30 Uhr den den Marktplatz erreichen, haben sich bereits viele Läufer versammelt. Nur das Starttor suche ich vergebens. Minuten später beginnt man damit das Starttransparent aufzuhängen und eine Firma baut in Windeseile die Zeitmessung auf. Wie schon heute Nachmittag beim Abholen der Startunterlagen wirkt alles ein bisschen improvisiert, aber sympathisch. Nach und nach schließe ich meine Vorbereitung ab: Drei Gelbeutel wandern in meine Gesäßtasche und müssen noch Platz für einen „Marsh Mellow“ freihalten. Die neuen Schuhe werden mit Doppelknoten gesichert. Knallrote „Asics Racer“ habe ich vor ein paar Tagen als Auslaufschnäppchen erstanden. Sonntag unterzog ich sie einem 12 km-Test und war begeistert vom Laufgefühl: Ein Hauch von Nichts an den Füßen! Mit solchen Leichtgewichten bin ich noch nie gelaufen. Ein gewisses Wagnis, dessen bin ich mir bewusst. Aber meine Füße sind unempfindlich und gemessen am Gesamtfragezeichen dieser Unternehmung „schneller Marathon“ gehe ich mit neuen Tretern ein eher unbedeutendes Risiko ein. Während der letzten Tage bemächtigte sich meiner eine im Wesentlichen fatalistisch geprägte Stimmung. Ungefähr so: Ich glaube nicht wirklich daran heute unter drei Stunden zu laufen. Sollte es jedoch möglich sein, werde ich es auch schaffen. Gemessen am letztjährigen Ergebnis könnte ich mit Sub3h sogar in der Spitze mitlaufen. Folglich wähle ich einen Startplatz in der Spitzengruppe. Aber dieses Jahr werden in Marburg zusätzlich die deutschen Studentenmeisterschaften ausgetragen, weshalb viele schnelle, junge Läufer dem Feld angehören. Wie immer betrachte ich die geduldig auf den Beginn wartende „Konkurrenz“: Die meisten nur mittelgroß, alle drahtig, sehnig bis dürr. Dazwischen meine gedrungene Einsachtzig-Gestalt mit eher stämmigen Beinen. Ich komme mir deplatziert vor: ‚Was willst du unter diesen schnellen Leuten? Da kannst du doch gar nicht mithalten!’ Ich leide nicht unter Minderwertigkeitskomplexen, empfinde mich in der Startaufstellung wichtiger Läufe aber immer als totaler Außenseiter.

Noch zehn Minuten: Eine Ration Gel geschluckt, einen Viertelliter Wasser hinterher geschüttet. Ich bin ruhig, weder zuversichtlich, noch pessimistisch, einfach hingegeben, abwartend. ‚Kann man mit dieser Einstellung Bestzeit laufen?’ Ich weiß es nicht, denke mir aber, dass Ehrgeiz das Regime schon an sich reißen wird, sollte die Chance greifbar werden. Aus einem Straßenlokal unmittelbar neben dem Start beobachten ein paar Gäste unser Treiben. Ein männliches Augenpaar prägt sich mir besonders ein: Sein Blick signalisiert tiefstes Nichtverstehen, sogar Ablehnung. Der hat wahrscheinlich noch nie dem Start einer Laufveranstaltung so dicht beigewohnt. Ist es ihm unangenehm in direkter Nachbarschaft versammelter Ausdauer sitzen zu müssen? Steht er gleich auf, entfernt sich, um nicht zum Zeugen kollektiv begonnener Bewegung zu werden? - Noch fünf Minuten: Der Sprecher wiederholt zum fünften, sechsten Mal, nur Marathonis am Start sehen zu wollen, also nur dreistellige Startnummern. Die Halbmarathonis starten 15 Minuten später und sollen sich im Hintergrund halten. Und was sehe ich links vor mir? Zwei vierstellige Startnummern. Dann „schnallen“ es die beiden doch noch und verschwinden hinter mir in der Läufermenge. - Noch drei Minuten: Das Abschiedsritual wird zelebriert, danach zieht Ines in Laufrichtung davon, um ein paar Fotos vom Start zu schießen. Noch eine Minute: Drei Footballer in massiver Schutzkleidung blockieren den Start. Massige, kräftige, blutjunge Kerle, die uns frontal gegenüber stehen. Sollen wir die umrennen? Die letzten Sekunden: Der Moderator verspricht den Startschuss, aber nur wenn alle brav die letzten Sekunden mitzählen. Also zählen wir mit seiner Unterstützung, zählen weiter als er kurz ins Stocken gerät. Nach „fünf“ sind die Footballer zur Seite gewichen, „drei“, „zwei“, „eins“ und dann knallt es ...

Erste Meter auf Kopfsteinpflaster, vorbei am Straßenlokal, vorbei an Passanten, vorbei an der fotografierenden Ines, dabei mit mäßiger Neigung abwärts. Vorsicht! Da verlaufen Absätze quer zu Laufrichtung … Seltsamer Beginn: Kaltstart und sofort auf holprigem Geläuf abwärts, ohne jedes Tempogefühl. Ich halte mich an Mitläufer: Die Ersten sind mit Sicherheit zu schnell, lasse sie ziehen, hefte mich an die Fersen der „Knapp-unter-drei-Stunden-Verdächtigen“. Nach zwei Minuten endet das Pflaster, mein Schritt wird sicherer. Bald muss die im Streckenplan eingezeichnete „Spitzkehre“ kommen. Ich bin schnell unterwegs, schneller als notwendig. Aber das ist in Ordnung so. Fast zwei Kilometer geht es stetig runter, bis auf Niveau des Flüsschens Lahn. Dort wird die Strecke brettflach. Vierzig Höhenmeter Bonus gewähren einen kleinen Zeitvorteil. Die Spitzkehre! Konzentriert und scharf links, weiter hinab. Zwanzig Meter voraus ein kleiner, weißer Aufsteller mit der „Eins“. Die „3:49“ auf meiner Uhr überraschen nicht. Nach kurzem Reflex akzeptiere ich das Tempo. Bergab überfordert es mich nicht und ein paar Sekunden Puffer könnten am Ende den Ausschlag geben … Einstweilen weiter so!

Aber verdammt schnell ist das schon!? Sobald ich etwas anderes fixiere als die voraus laufende „Konkurrenz“, wird mir bewusst, wie rasant ich tatsächlich unterwegs bin. Häuser, Passanten, applaudierende Zuschauer, Kanaldeckel, Geländer, Autos - für meine Verhältnisse „fliegt“ das alles vorbei. Zu schnell für bleibende Eindrücke, zu schnell zum Genießen. Bin ich nicht komplett verrückt so zu rasen? Die Jagd nach dem Rekord. Ein Teil von mir will ihn, der andere verharrt noch immer reserviert. ‚Kann ich dieses irre Tempo durchhalten?’ Kurz vor der Lahnbrücke eine Linkskurve stadtauswärts, von jetzt an geht es flach dahin, automatisch laufe ich verhaltener. Tempogefühl hat sich bis jetzt nicht eingestellt, bin noch nicht mal eingelaufen. Die „Zwei“ huscht vorbei: Knapp unter vier Minuten für den zweiten Kilometer, nehme ich zur Kenntnis, verzichte auf eine Wertung. Ich „hänge“ hinter einer lose gestaffelten Gruppe von vier, fünf Läufern. Vielleicht kann ich mich ja bis in Zielnähe in ein Paar dieser energiegeladenen Waden „verbeißen“. Derweil warte ich ab, horche in mich hinein, halte konstant meine Geschwindigkeit.

Wirklich konstant? Alle Wahrnehmungen bestätigen meine gleichmäßige Bewegung, dennoch überfielen mich ohne die Erfahrung so vieler Wettkampf- und Trainingskilometer Zweifel. Schuld sind meine Mitläufer. Alle variieren mehr oder weniger ihren Schritt. Gerade „schießt“ ein junger Kerl an mir vorbei, um sich Augenblicke später zwei oder drei Meter vor mir zu positionieren. Dann fummelt er an seinen Ohren herum, genauer gesagt an den Ohrhörern seines iPod. Das fehlte mir noch: Verkapselte, zugestopfte Gehörmuscheln und ein lästig baumelndes Kabel. In ein paar Minuten „spülte“ es mir das Equipment sowieso aus den Ohren. Abendliche Schwüle fordert ihren Tribut, so folgen erste Rinnsale von Schweiß an Stirn und Schläfen den Gesetzen der Schwerkraft. Die Umgebung bleibt vorerst unspektakulär. Breite Marburger Straßen, ein Rechtsschwenk, dann wieder links, alles gut zu laufen, vollkommen flach. Schließlich schmiegt sich die Route an die Lahn, von der Uferböschung nur durch eine Baumreihe getrennt. Vier Kilometer gelaufen: Unsere Geschwindigkeit hat sich bei 4:10 min/km eingependelt. Fünf Sekunden zu schnell. Fünf Sekunden pro Kilometer sind nichts, wenn man im Wohlfühltempo trabt. Im individuellen Grenzbereich laufend können sie über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Ja, entscheiden! Ich muss mich entscheiden. Wie fühlt es sich an? Nicht übermäßig anstrengend im Moment. Langsamer? Oder weiter so? Der Blick auf meine Vorderleute gibt den Ausschlag, ich zügele meine Schritte nicht.

Die erste Verpflegung, ich greife mir einen Becher Wasser und kippe ihn hastig. Zu hastig und zu ungestüm, das meiste ergießt sich über mein Hemd. Egal, ist ja nur Wasser, weiter. Mal geringfügig schneller, dann wieder langsamer, ständig verschieben sich die Positionen meiner Mitläufer. Zuweilen lässt sich einer zurück fallen, überholt wieder, ist zwanzig Schritte voraus, verliert neuerlich Tempo … Doch insgesamt behält die Gruppe ihr Tempo bei. Außer mir gibt es da noch eine Konstante im Feld. Sicher einen Kopf kleiner als ich, drahtig, auffällige Nase, gelbes Oberteil, eng anliegend, vollkommen unangestrengt wirkend, rennt er seit dem Start ein paar Schritte vor mir her. Unerwartet dreht sich nach mir um, lässt sich zwei, drei Meter zurück fallen, fragt: „Unter drei Stunden?“ Meine Antwort kommt ein wenig widerwillig und ausgesprochen unentschieden: „Schön wär’s!“ Das kann alles heißen. Aber was hätte ich sagen sollen? Dass ich grade dabei bin es zu versuchen, es aller Voraussicht nach aber nicht schaffen werde? Der weiß, dass er unter drei Stunden laufen kann, sonst hätte er sich nicht so selbstsicher erkundigt. Nein, nein, lauf du nur und ich versuche mit dir Schritt zu halten - so lange es eben geht.

Noch geht’s und Kilometer sechs liegt hinter mir. Eine Straßenbrücke bringt uns über die Lahn. Keine zweihundert Meter weiter biegen wir rechts auf den Lahnradweg ab, laufen wieder stadteinwärts, durch einen von Landwirtschaft geprägten Grüngürtel. Der Radweg ist geteert, meine entsprechenden Hoffnungen haben sich also erfüllt. ‚Ein tolles Trainingsrevier’ denke ich mir und bedauere gleichzeitig die wunderschöne Flusslandschaft nicht genießen zu können. Von Zeit zu Zeit begegnen uns Feierabendläufer. Was mag in ihnen vorgehen, wenn wir vorbei hecheln? - Wieder einmal rast der „Verkabelte“ an mir vorbei, gewinnt Abstand, um ihn auf dem nächsten Kilometer wieder zu verlieren. Was für eine Salami-Taktik praktiziert der denn? Irgendwann verschwindet er für längere Zeit im Feld hinter mir. Endgültig? Mein Fixpunkt bleibt die auffällige Nase im hautengen, gelben Top. Kilometer sieben und acht bestätigen die hohe, gleichförmige Pace, mit 4:10 min/h geht es Richtung Zentrum. Mein Laufgefühl hat sich nicht verändert. Im Klartext heißt das: „Ich kann das Tempo halten, habe aber kein Gespür dafür wie lange noch“. Bei meinen letzten schnellen Läufen in Prag, Regensburg, Venedig und zuletzt im Westerwald war das anders. Was soll’s, mir bleibt ohnehin keine andere Wahl als schicksalsergeben weiter zu rennen.

Immer wieder fängt der Blick das hoch am jenseitigen Hang klebende Landgrafenschloss ein. Malerisch verteilt sich die Altstadt unterhalb der wuchtigen Anlage. Viel gut erhaltenes Fachwerk prägt das Stadtzentrum. Morgen! Morgen schauen wir uns das alles an, heute ist es mir egal, so egal. Kämpfe ich schon? Ich komme einfach zu keiner brauchbaren Einschätzung meiner Tagesform. Zu schnell für meine Verhältnisse? Oder angemessen? Beine und Atem lassen mich im Ungewissen. Also weiter, einfach weiter hinter der „Nase“ im gelben Top her.

Kilometer 9: Seit einiger Zeit merke ich mir beim Passieren der Kilometertafeln nur noch den Sekundenwert der Uhr und addiere 10 dazu. Auch jetzt, bei Kilometer 9, stimmt die im voraus kalkulierte Zahl fast auf die Sekunde. Und wieder plus zehn und wieder den Wert merken. Weiter. Der Radweg verläuft nun neben der ein paar Meter erhöhten Trasse der Bundesstraße drei. Auf vier Spuren vorbei rauschende Fahrzeuge zerstören das abendliche Flussidyll für ein paar Minuten. Längst laufen wir auf handwerklich perfekt verlegten, dekorativen Platten, ein Zeichen für die nahe City. Der Radweg beschreibt eine Rechtskurve, folgt dem Fluss, das Getöse der Bundesstraße verstummt rasch. Kilometer Zehn: 41 Minuten und ein paar Sekunden sind seit dem Start verstrichen. Schierer Wahnsinn dieses Tempo. So schnell war ich bisher nur einmal auf dem ersten Viertel. Das war in Florenz und das ging fürchterlich in die Hose. - Ich halte auf eine Lahnbrücke zu. Über die schlenderten Ines und ich mit anderen Läufern vom Zielbereich Richtung Marktplatz. Jetzt geht’s drunter durch, vorbei an einem Tretbootverleih, nach links, unter der erhöht verlaufenden Uferpromenade durch und schließlich nach rechts oben, um dieser zu folgen. Die zwanzig Meter Anstieg gehen schon ganz „nett“ in die Beine. Wieder kein gutes Omen, nach gerade mal zehn Kilometern.

Ein Stück weiter steht Ines, fotografiert, lässt die Kamera sinken und klatscht hinter mir her. Keine zwei Minuten später nähern wir uns dem Zielbereich im Universitätsstadion. Vom Streckenplan weiß ich, dass die Route hier wieder ans jenseitige Ufer der Lahn wechselt. Eine schmale Holzbrücke markiert den Übergang. Allerdings scheint eine Menschenmenge den Zugang zu verstopfen. Wider Erwarten öffnet sich ein Durchlauf für „Nase“ und die anderen vor mir. Die ist wirklich schmal, hier kommen höchstens zwei Leute ohne Rempler aneinander vorbei. Mitten auf der Brücke eine Fotografin. Hab ich die nicht vorm Start am Marktplatz schon mal gesehen? Auf der anderen Lahnseite nimmt uns eine Straße auf. Kilometer 11, Tempo passt. Zweihundert Meter weiter noch eine Fußgängerbrücke über einen Seitenarm des Flusses. Sie ist erheblich kürzer als die Holzbrücke von eben, dafür in der Mitte merklich erhöht. Drüber und nach links, wieder auf den Radweg. Die zweite Brückenpassage ging mächtig in die Beine und meine Atemfrequenz hat sich auch erhöht. Kein Zweifel, ich laufe im Grenzbereich und das ist neuerlich ein schlechtes Indiz. Noch halte ich Anschluss, noch halte ich „Nase“ an der „kurzen Leine“. Am nächsten Verpflegungspunkt grabsche ich mir so kurzentschlossen hastig einen per Hand offerierten Becher, dass die Helferin ein erschrecktes „Huch!“ nicht unterdrücken kann. Dummerweise geht es unmittelbar dahinter auf ziemlich steiler Rampe nach unten, wodurch wieder der größte Teil meiner Ration Richtung Boden verschwindet. Allerdings nicht ohne mir dabei Brust und Strümpfe zu nässen …

Blöde Trinkerei! Wieder gerate ich außer Atem, konzentriere mich mühsam auf den Laufrhythmus und auf’s Anschluss halten. Es gelingt, fällt mir allerdings schon schwer. Kilometer 12: Derzeit liege ich etwa eine Minute und vierzig Sekunden unter der Zielzeit für die drei Stunden. Also Tempo halten, einfach dran bleiben und „Nase“ nicht entkommen lassen. Einige aus der Anfangsgruppe sind schon zurück gefallen. Früh Enteilte mussten ihrem überzogenen Anfangstempo Tribut zollen, wurden eingeholt und blieben dann auch hinter uns zurück. Von mir aus könnte es genau so weiter gehen, doch: Irgendwann zwischen Kilometer 12 und 13 ist es dann so weit. Ich registriere es ohne Erschrecken, fühle im Grunde nicht mal Bedauern, als hätte ich es nicht anders erwartet. Hab’ ich doch auch nicht - oder? Die Beine werden innerhalb weniger hundert Meter schwer, ich kann die Geschwindigkeit nicht mehr halten. Dezimeterweise vergrößert sich der Abstand zu „Nase“. Ich weiß was das bedeutet. Aus der Traum! Auch heute werde ich nicht unter drei Stunden ins Ziel kommen. Leider ist das nur ein Teil meiner Erkenntnis. Ich kenne die Situation, erlebte sie so ähnlich schon einmal. Lange her, aber nicht vergessen, es war im November 2004 in Florenz. Bis kurz hinter die Halbmarathonmarke konnte ich das Sub3h-Tempo damals gehen, dann war der Ofen aus. Danach „starb“ ich zwanzig Kilometer lang dem Ziel entgegen. Genau das blüht mir heute wieder. Und es sind gerade mal dreizehn Kilometer gelaufen …

Es wird so kommen, ganz sicher. Aber akzeptieren will und kann ich es nicht. Vielleicht gelingt mir wenigstens eine neue Bestzeit oder es geschieht ein Wunder. Auf diese und ähnliche Weise versuche ich mir Mut zu machen, laufe mit schon viel zu müden Beinen weiter - so schnell es eben geht. ‚Im Ausdauerbereich passieren keine Wunder, zumindest nicht bei mir!’ beharrt meine Überzeugung. Ich stemme mich gegen das Unabänderliche, verleugne meine Erfahrung so gut es geht und laufe, laufe, laufe … Der Radweg bleibt weiterhin dicht neben der Lahn. Ein beliebtes Laufrevier, wovon die vielen Läufer außerhalb unseres Wettkampfes künden. ‚Wär’ das schön! Einfach nur so hier entlang joggen und sich nicht um Zeiten oder Kraftreserven sorgen. Mach’ das Beste draus! Bring den Lauf mit Anstand zu Ende!’ Eine Zeit knapp über drei Stunden scheint noch möglich und die nähme sich auch gut aus in meiner Läufervita.

15 Kilometer vorbei, Zeit für das erste Gel, Kraft tanken! Ich nestele das feucht glitschige Plastikbeutelchen aus der Gesäßtasche, reiße den Verschluss mit den Zähnen auf und drücke mir eine Portion in den Mund. So was übe ich zu selten. Die zeitliche Abstimmung zwischen „Drücken“ und „Im-Mund-Behalten“ stimmt nicht und so spritzt ein Teil der pappsüßen Energie über den Handrücken, ein weiterer zwischen die Finger. Erstmal runterschlucken, dann der Versuch die Hand sauber zu lecken. Widerlich wie das klebt. So werde ich das nicht schaffen und hoffe auf den nächsten Verpflegungspunkt mit Wasser …

Marburg liegt eine Weile hinter mir, der Radweg verläuft zwischen Lahn und B 255. Irgendwann ist der Fluss verschwunden, hat Feldern Platz gemacht. Einige hundert Meter voraus erwartet mich die nächste Ortschaft. Hinter den ersten Häusern knickt die Strecke nach links in eine Seitenstraße, erreicht einen Hochwasserdamm und über diesen eine Wohnstraße. Mann mit Hund, Mann mit Rasenmäher, Nachbarn in abendlichem Plausch versunken, für uns wieder ein Tränke. Zwei Becher sind mein: Eine Füllung erreicht den Magen, mit der anderen versuche ich meine verkleisterte „Pfote“ zu waschen. Halbwegs gelingt es. Aber eben nur halbwegs und so pappen die Finger der linken Hand weiter zusammen als besäße sie Schwimmhäute.

Wir verlassen die Ortschaft durch eine Bahnunterführung, gewinnen dahinter wieder Höhe, nähern uns der vierspurigen B 3 und laufen schließlich parallel zu ihr. Über eine lang gezogene Rampe, begleitet von heftigem Ziehen in den Oberschenkeln, erreiche ich das Straßenniveau. Weiter entlang der Bundesstraße, per Brücke über die Lahn, dahinter auf der nächsten Rampe abwärts. Für hundert Meter oder mehr beschleunige ich. Zeit gut machen! Das ist ein Reflex, vollzieht sich ohne Nachdenken. Unten angekommen muss ich unter der Straße durch, passiere zwei heftig applaudierende und anfeuernde Zuschauer - seelische Labsal für ein paar Augenblicke. Hinter der Unterführung erwartet uns ein Streckenposten und übersetzt die weiße Beschriftung auf dem Asphalt in Handzeichen und akustische Weisung: „Erste Runde, alle nach rechts, auch Marathonläufer! Zweite und dritte Runde geradeaus!“ Kapiert! Der zweite Streckenteil, ab der Holzbrücke beim Stadion, gut 10 Kilometer lang, ist dreimal zu absolvieren. Und auf den beiden Wiederholungsrunden muss ich dann hier geradeaus weiter. Jetzt rechts ab, Asphalt zu Ende, Sand und Steine knirschen unter meinen Sohlen. Bis zur Lahn geht es diesseits und unterhalb ihrer Böschung an der Bundesstraße lang. Direkt unter der Brücke warten andere Wohltäter, reichen mir einen Schwamm. Herrlich! Nach und nach gelingt es mir Reste des Klebers abzuwischen. Allerdings muss ich die Reinigungsprozedur kurz unterbrechen, weil es hinter der Brücke eine kleine Cross-Prüfung zu bestehen gilt. Ein Wiesenstück mit rutschigen, von Pfützen unterbrochenen Radspuren nötigt mich zu einem Laufstil, dessen Schritte irgendwo zwischen Stepptanz und Dreisprung anzusiedeln sind. Ein wenig „trauere“ ich um meine neuen, roten Treter, die hier ihre gebührende „Weihe“ empfangen. Länger als fünfzig Meter dauert das Gelände-Intermezzo allerdings nicht, der folgende Feldweg ist wieder harmlos und präsentiert sich eine Minute später sogar als einwandfreies Asphaltgeläuf.

Durch Felder und Wiesen strebe ich dem Ende der ersten Runde entgegen. Es geht noch immer recht flott vorwärts, auch wenn meine Beine ständig das zu hohe Tempo beklagen. Wie schnell sie mich derzeit tatsächlich tragen, vermag ich nicht zu sagen. Seit einigen Kilometern schenke ich der Uhr keine Aufmerksamkeit mehr. Warum soll ich mich damit belasten? Die erträumten Splitzeiten liegen jenseits meiner Möglichkeiten und von der Beobachtung, wie ich Sekunde um Sekunde einbüße, kann nicht mehr als Entmutigung ausgehen. Die anfänglich überforderten Beine geben nun den Takt vor, ihren Signalen habe ich zu gehorchen und auf die Uhr zu pfeifen!

Die Halbmarathonläufer kommen mir in den Sinn. Sie gingen eine Viertelstunde nach uns auf die Strecke. Vom Zielbereich trennen mich jetzt noch ungefähr drei Kilometer und die Halbmarathonis sind seit knapp einer Stunde unterwegs. Eigentlich sollte der erste Läufer bald in meinem Rücken auftauchen. Natürlich erwarte ich Dieter Baumann in dieser Position. Der ehemalige Weltklassemann sollte keine Probleme haben, die regionalen Laufgrößen zu distanzieren. Ein, zwei Minuten nach dieser Überlegung fordert die Stimme des Begleitradlers Vorsicht für den führenden Halbmarathoni ein. Sekunden später rauscht der D-Zug vorbei - wie erwartet mit Baumann an der Spitze. Spontan rufe ich ihm ein „Super!“ hinterher und ergötze mich ein paar Sekunden an seinem stilistisch atemberaubenden Lauf.

Die Lahn gibt wieder die Richtung vor, noch gut ein Kilometer bis zum Zielbereich und dem Beginn der zweiten Runde. Auf einem Geländer sitzend hat es sich Ines (un-) bequem gemacht und visiert mich durch den Sucher der Kamera an. Nach dem fälligen Foto schickt sie mich heftig anfeuernd weiter. Wie schön nicht alleine in Marburg zu sein! - Rechts voraus erkenne ich den Stadionbereich, erreiche den abgrenzenden Zaun, werfe der Aschenbahn einen sehnsuchtsvollen Blick zu und füge mich ins Unabänderliche: Zwei weitere Runden zu laufen ... Am Ende des Zaunes erwartet mich die schmale Holzbrücke. Auch von dieser Seite kommend, verschwindet der Zugang hinter einer dichten Traube von Menschen. Streckenposten haben Mühe den Läufern eine Gasse frei zu halten. Weder die Beschriftung des Asphalts, noch die Rufe der Offiziellen wären nötig. Ich kenne meinen Weg und renne auf jene Stelle zu, wo sich der Zugang zur Brücke öffnen muss. Erst zwei Schritte vorher steht fest, dass der Durchgang wirklich frei ist, dermaßen dicht stehen hier die Menschen. Einem flüchtenden Feldhasen gleich schlage ich einen Haken und will den ersten Fuß auf die Holzplanken der Brücke setzen. Simultan dazu kollidiere ich in Bauchhöhe mit einem Korb, den die an der Ecke stehende Zuschauerin in den Laufweg ragen lässt. Außer einem Ausruf des (Er-) Schreckens entringen sich mir keine Verwünschungen, obschon ich gute Lust dazu hätte, als der Adrenalinspiegel Sekundenbruchteile später abebbt und der Schreck in Zorn umschlägt. Wie dämlich muss man sein, um derart vorhersehbare Behinderungen zu provozieren?

Schon auf der Brücke stecke ich mittendrin und es trifft mich unvorbereitet. Der Streckenverlauf ist erst seit heute Nachmittag wirklich klar und so war auch kaum Zeit alle Eventualitäten zu durchdenken. Ein dichter Strom Halbmarathonis baut nun massenweise Hindernisse vor mir auf. Es handelt sich um langsamere Läufer, die mit Geschwindigkeiten zwischen 6:30 bis 7 min/km unterwegs sind. Wo man außen vorbei kann verlasse ich den Radweg, wo Büsche oder andere Hindernisse dies verwehren, kurve ich um menschliche „Slalomstangen“ oder verschaffe mir mit einem zigfach hingehechelten „Vorsicht! Vorsicht! Vorsicht!“ einen Durchlass. Die leichte Beklemmung entbehrt der Grundlage, lässt sich dennoch nicht völlig verscheuchen: Ist es nicht eine Form zugefügter Erniedrigung, wenn ich an diesen LäuferInnen vorbei haste? Sie wissen, dass ich bereits zwanzig Kilometer hinter mir habe und trotzdem um Welten schneller laufe als es ihnen möglich ist. Ich komme mir ein bisschen „doof“ dabei vor, habe aber keine andere Wahl. Immerhin weichen alle bereitwillig zur Seite und zweimal verschafft mir sogar ein bereits überholter Halbmarathoni mit seinem Ruf „Achtung! Schnellerer Läufer“ eine Gasse. Daraufhin verlieren sich meine Bedenken.

Mein Zeitziel ist „perdu“, so begreife ich die Halbmarathonis eher als bereichernde Abwechslung denn als Behinderung. Außerdem beenden sie den einsamen Sololauf gegen Ende der ersten Runde. Was mir gut tut, denn mein Körper zieht die Daumenschrauben weiter an, lässt mich die Anstrengung deutlicher fühlen. Die Oberschenkel setzen noch eins drauf und pumpen sich um ein paar atü dicker auf. Im Marathonwettkampf nenne ich sie manchmal die „Kilometer der Hoffnungslosigkeit“, jene mit der „2“ in der Zehnerstelle. Dein Körper stöhnt bereits unter der Last erbrachter Leistung und das Ziel scheint noch unerreichbar fern … Heute wirkt dieses „Nervengift“ besonders intensiv. Zum Glück neutralisieren die Halbmarathonis einen Teil davon. Die dauernden Überholmanöver machen mir das immer noch hohe Tempo bewusst, schenken auf diese Weise ein wenig Zuversicht. 23, 24, 25, irgendwie spule ich die Kilometer ab. Die hübsche Flusslandschaft interessiert mich mittlerweile überhaupt nicht mehr, ich kämpfe.

Mit Marburg im Rücken und Feldern zur Linken, gewinne ich den nächsten Ort. Erste Seitenstraße links, dann auf dem Hochwasserdamm nach rechts und wieder rein in die Wohnstraße. Alles wie gehabt - nur schon zäher und unter erheblichen Mühen. Schnappschüsse des Vorgarten-Feierabend-Idylls erreichen mich noch, brennen jedoch keine Erinnerung in meine „Festplatte“. Am Verpflegungstand greife ich mir einen Becher, schütte, schlucke, huste ... Mann! Lern es endlich! Schlucken und atmen geht nicht gleichzeitig! Becherzielwerfen in Abfalleimer, daneben, wurscht, weiter … Eine vielköpfige Zuschauerkolonie mimt „La Ola“! Die waren vorhin noch nicht da. Ist doch toll, dass sie sich die Mühe machen. Also grüße ich freundlich und vermutlich abgekämpft zurück. Weiter. Bahnunterführung, dahinter Steigung, boaah ... heftig, links, rechts, links, lange Rampe hoch, hart, sehr hart, aber noch geht es ... Jenseits der Brücke Rampe abwärts und wieder ein bisschen mehr Fahrt. Unter der Bundesstraße durch und diesmal geradeaus weiter, auf die Zusatzschleife für Marathonis. Die ist zwar nicht asphaltiert, auf festem Untergrund dennoch gut zu laufen. Rechts, dann noch mal rechts und nach kurzer Zeit renne ich bereits wieder auf die Kette der von verkürzter Strecke einbiegenden Halbmarathonis zu. Vorbei an der Schwammstation, parallel zur Lahn unter der Autobahnbrücke durch und neuerlich „tanze ich Pfützenballett“. Dem hochspritzenden Dreck begegne ich diesmal mit deutlich mehr Teilnahmslosigkeit ...

Wieder durch die Felder Richtung Stadion. Wegen der Marathon-„Schikane“ überhole ich eine Weile dieselben Halbmarathonis zum zweiten Mal. ‚Nur noch zwei, drei Kilometer, dann hab ich schon die zweite Runde geschafft!’ So ein Gedanke könnte helfen. Dummerweise verfüge ich nicht über die Fähigkeit meinen Kopf selektiv ausschließlich positive Ideen verfolgen zu lassen. Der Pessimist schickt seine Entgegnung gleich hinterher: ‚Na und? Dann hab ich immer noch zehn lange Kilometer vor mir!’ Egal. Egal wie hart es wird, ich steh’ es durch. Inzwischen hat sich mein Tempo schon mehr dem der Halbmarathonis angepasst. Grund eins: Je weiter ich mich vorkämpfe, umso schneller bewegt sich das Feld. Grund zwei: Ich spüre die verlangsamte Bewegung meiner schweren Beine. Den Blick zur Uhr habe ich auf der zweiten Runde bewusst unterdrückt. Jetzt kommt die 30 Km-Tafel auf mich zu und ich stelle mich der Realität. Etwa 2:40 Minuten über der Sollzeit, also bereits über vier Minuten auf den letzten 15 Kilometern verloren. Damit steht sogar in Frage, ob ich das Finish noch unter 3:10 Stunden hinlegen kann. Letzte Hirngespinste um anspruchsvolle Zielzeiten lösen sich in ihren Hauptbestandteil auf: Schwüle Abendluft.

Kurz vor dem Stadion biege ich um eine Hausecke, greife mir an der dortigen Station einen Schwamm und werde von der fotografierenden Ines beim „Frischmachen“ erwischt. Es tut gut, die von Schweiß und Salzen verklebte Haut in Gesicht und Nacken abzuwischen und zu kühlen. Noch lange schallen Ines’ Anfeuerungsrufe und ihr heftiges Klatschen hinter mir her. Morgen werden ihr wieder die Hände weh tun. - Durch den Stadionzaun beobachte ich Halbmarathonis auf der Aschenbahn. Mehrfach bejubeln Zuschauer ihre Zielankunft. In einer knappen Stunde werde ich es auch geschafft haben, so oder so.

Zum dritten Mal setze ich über die schmale Holzbrücke - jetzt wieder als Sololäufer. Die Fotografin aus der ersten Runde ist immer noch da. Und drüber. Links, ein Stück Wohnstraße, rechts, zweites Brücklein, in der Mitte erhöht. Drüben angekommen schlägt mein Herz heftig, tiefere Atemzüge sind nötig und an den Beinen hängen imaginäre Gewichte. Es dauert einige Zeit, bis ich meinen Rhythmus wiederfinde und alle Parameter erträgliche Werte angenommen haben. Mir geht immer mehr der „Dampf“ aus. Die Schritte verlangsamen und verkürzen sich weiter. Auf den Kilometern 33, 34, 35 auswärts Marburg geschieht Schmerzliches: Nach und nach überholen mich Bekannte, denen ich auf der ersten Runde meine Hacken zeigte. Auch der „Verkabelte“ ist darunter. Ihren „Angriffen“ hab ich nichts entgegen zu setzen. Zwar versuche ich dem einen oder anderen zu folgen, muss sie jedoch letztlich allesamt ziehen lassen. Nein, ich bin noch nicht am Ende, aber es tut weh, so weh.

Noch einmal der Lauf durch das Dorf. Die paar Meter auf den Hochwasserdamm scheinen mir jetzt viel höher und weiter. Einen letzten Becher greife ich mir an der Station - vollkommen egal was drin ist, rein damit! Das war’s, jetzt werde ich nichts mehr trinken. Um die Ecke, nehme noch mal dankbar „La Ola“ entgegen, grüße mit sparsamer Geste. Unterführung, dahinter eine unendlich hohe, lange Steigung. Rampe zur Brücke über die Lahn: Mindestens tausend Meter hoch und lang ... mehr als ein lächerlich langsamer Trab gelingt mir aufwärts nicht mehr. Und jenseits abwärts? Wär ich ein Flugzeug, man spräche von „Trudeln“ … Unterführung, geradeaus auf die Extraschleife, rechts ab, vorbei an der Tafel mit der „38“. Langsam, entsetzlich langsam. Ich kann es mir nicht verkneifen an den Kilometertafeln meine Ankunft zu schätzen. Traurig das Ergebnis: Deutlich über 3:10h werden es sein. Weiter. Reiß dich zusammen, es geht doch noch. Auf die Brücke zu, vorbei an den Schwämmen und drunter durch. Kurz vor der Cross-Einlage kommt mir ein Mann mit blauem Plastiksack entgegen. Den hätte ich längst vergessen, wenn mich die im Matsch verteilten, feinen Holzschnitzel nun nicht vor weiterer Verunreinigung bewahrten. „Warum eigentlich erst jetzt?“ kann ich noch denken und finde auch schon wieder festen Untergrund.

Noch drei Kilometer: Verdammt ist das hart. Aber es sind nur noch ein paar Minuten. Nicht mehr lang, nicht mehr weit. Lauf, es geht noch! Die Oberschenkel werden gefühllos, als wären sie nicht mehr da. Noch zwei Kilometer: Gleich vorbei, gleich vorbei! Ich versuche noch einmal etwas schneller zu laufen. Bloß nicht länger als 3:15h brauchen ... Der Versuch überlebt ein paar Schritte, verendet in Kraftlosigkeit. Gleich ist es vorbei. Mit jeder Faser und Inbrunst sehne ich das Ziel herbei. Durchhalten! Laufen! Nur noch ein Kilometer, gleich geschafft … Jetzt wird es dramatisch: Ich spüre wie mir eine nie gekannte Schwäche in die Beine fährt. Meine Füße scheinen auf dem Boden zu kleben. Ich muss allen Willen aufbieten, um weiter zu laufen. Ein Anflug von Krampf fährt mir in die Zehen des rechten Fußes, verschwindet wieder. Der Stadionzaun! Nur noch da rein und dann ins Ziel. Das mobilisiert letzte Kraft, es geht noch mal. Die Schwäche bleibt, aber ich laufe noch mal ein bisschen schneller. In Höhe der Holzbrücke, im letzten Büchsenlicht, biege ich zum Stadioneingang ab. Unter Beifall laufe ich ins Stadion, bin auf der Aschenbahn, bemühe mich um sauberen, ansehnlichen Laufstil, auch wenn das ohnehin niemand mehr sehen kann. Es ist fast dunkel geworden. Gegengerade, Kurve, noch ein paar Meter. Grelles Licht aus mehreren Scheinwerfen blendet mich, weist zugleich die Richtung. Und dann ist es geschafft. Zwar bin ich nicht am Ziel, dafür wenigstens im Ziel …

Zeit: 3:14:14 - Ein paar Sekunden später ist Ines bei mir, gratuliert, umarmt mich. Ich bin fertig, total fertig, wie noch nie nach einem Marathon. Zu schwach, um mich über das dreißigste Finish wirklich zu freuen. Ich stapfe zur Getränkestation und bekämpfe den heftigen Durst mit ein paar Bechern Gelb- und Braun-Synthetisch. Beides schmeckt scheußlich, muss aber runter. Dann treffen wir Kathy und Jens aus dem Forum. Mehr als ein paar Sätze bringe ich nicht raus, muss mich setzen. Kaum sitze ich, überfällt mich heftiger Schüttelfrost. Ich stehe wieder auf und nehme Ines den Rucksack ab, muss mir was anziehen. Ich schlappe und wanke zur Umkleide und brauche eine geschlagene Viertelstunde, um die nassen Klamotten gegen trockene zu wechseln. Noch immer bin ich fix und fertig. Vergeblich warte ich auf die Rückkehr der Kraft. Sonst dauert das doch auch nicht so lange!? Selbst in langer Trainingshose und mit Fleecejacke wollen die Zitteranfälle nicht aufhören. Vor der Tür erwartet mich Ines. Mit ihr setze ich mich in den Aufenthaltsraum. Sicher eine Dreiviertelstunde vergeht, bis das Zittern aufhört und ich mich kräftig genug fühle. Dann kehren wir zu den Foris zurück, denen sich inzwischen Martin zugesellt hat. Ihm gilt es zu gratulieren, er lief heute seinen ersten Marathon! Phoenix aus der Asche: Ich kann wieder stehen, gehen und mich angeregt unterhalten. Auf vergnüglich verplauderte Weise klingt mein missglücktes Experiment „schneller Marathon nach 100 km-Lauf“ aus.

Kein Tag verging seit Marburg, an dem ich nicht darüber gegrübelt hätte, wie mir dort geschah. Den Sub3h-Traum nicht verwirklichen zu können hatte ich erwartet. Aber eben auch eine Zeit unter 3:05h zu erreichen. Sämtliche Indikatoren deuteten darauf hin. Bei meinen Überlegungen steht weniger das Verfehlen der Zielzeit um fast eine Viertelstunde im Mittelpunkt, als die ungewöhnliche Hinfälligkeit nach dem Lauf. Das gab’s noch nie. Selbst nach den 100 km von Biel war ich nicht annähernd so „erledigt“ wie an diesem Abend. Und es dauerte immer nur ein paar Minuten, bis die unmittelbaren Folgen des Sichverausgabens abgeklungen waren. Also was war los? Wie meist in solchen Fällen dürften mehrere Faktoren verursachend gewesen sein. Die äußeren Umstände sind auszuschließen. Die Strecke war flach, kein Wind, keine sonstigen Leistungskiller. Einzig relevant die Schwüle, da ich aber noch kurz vor dem Ziel schwitzte, war ich mit Sicherheit nicht übermäßig dehydriert. Wenn es stimmt, dass der Glaube Berge versetzen kann, dann gilt auch die Umkehrung. Ich ging schlecht motiviert, sogar ein wenig lustlos, in diesen Lauf, ohne wirklich von meiner Chance überzeugt zu sein. Zweiter Grund: Ein 100 Kilometer-Lauf steckt nach vier Wochen noch in den „Knochen“. Man kann nicht zur selben Zeit von einem Ultra regenerieren und sich gleichzeitig auf eine Marathon-Bestleistung vorbereiten. Im Grunde nehme ich „Unlust und fehlende Motivation“ als Feedback meines Körpers, der Erholung gebraucht hätte und zusätzliche Trainingseinheiten bekam. Dass ich auf den ersten zwölf Kilometern gnadenlos über meinen Möglichkeiten lief, begünstigte natürlich ebenso den Einbruch. Besonders auf der letzten Runde, in der auf 12 Kilometern noch einmal fast 12 Minuten verloren gingen! Im Zusammenwirken bieten diese Faktoren hinreichend Erklärung für die überschüssige Viertelstunde. Allerdings nehme ich sie nicht als ursächlich für den desolaten Zustand nach dem Wettkampf. Die eingangs erwähnte, mutmaßliche Infektionen kann das schon eher hervorgerufen haben.

Die „Quadratur des Kreises“ gelang auch mir nicht. Dennoch bin ich nicht unzufrieden. Wieder ein bisschen „schlauer“ als zuvor, erlebte ich den positiven Ausgang des Schuhexperimentes, lief vollkommen schmerzfrei, konnte an einer stimmungsvollen Veranstaltung teilnehmen und traf ein paar andere nette Läufer ...


Wikipedia: Die Quadratur des Kreises ist ein klassisches Problem der Geometrie. Die Aufgabe besteht darin, nur mit Lineal und Zirkel aus einem gegebenen Kreis ein Quadrat mit demselben Flächeninhalt zu konstruieren. Das Problem lässt sich bis in die Anfänge der Geometrie zurückverfolgen und beschäftigte jahrhundertelang führende Mathematiker, darunter auch Leonardo da Vinci. Im Jahr 1882 bewies der deutsche Mathematiker Ferdinand von Lindemann, dass diese Aufgabe unlösbar ist.


Marburg - die Organisation

Zu verbessern gibt es meistens etwas, zum Meckern auch. Manches wirkte in Marburg einigermaßen improvisiert. Der späte Aufbau an Start und Ziel gehört dazu, wenig wirklich gut informierte Helfer oder eben auch die Siegerehrung, die sich über Stunden dahin schleppte und dann nach Mitternacht kaum noch Zuschauer oder zu ehrende Läufer fand. Zur Orientierung der Erstläufer sollte man vorab (im Internet) einen Streckenplan veröffentlichen, der eindeutig über Kilometer und vorgesehenen Streckenverlauf in Runde 2 und 3 Auskunft gibt. Als einzigen echten Makel empfand ich die fehlende feste Verpflegung im Ziel. Ich hätte dringend zur Erstversorgung ein Stück Banane, Apfel oder anderes benötigt.

Besonders positiv waren die geringe Startgebühr (nehmt 2 Euro mehr für eine verbesserte Zielversorgung!), kurze Abstände der Verpflegungspunkte, eine tolle Strecke, Hilfsbereitschaft und Begeisterung aller Beteiligten. Insgesamt ein empfehlenswerter, stimmungsvoller Abend- und Nachtlauf.