Wer läuft viel und wer extrem?  -  Erkenntnisse beim Linz Marathon 2007

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Was oft genug in Nebensätzen anklingt und manchmal auch offen ausgesprochen wird, nimmt im Kopf des Betroffenen langsam den Status einer Tatsache an. So fühlte ich mich inzwischen schon ein wenig in die Ecke der Extremen gedrängt. Der Weg nach Biel ist lang, verdammt lang. Immerhin soll das in Linz mein vierter Marathon in diesem Jahr werden. Und, so ich diese neuerliche Laufprüfung bestünde, summierten sich die Laufkilometer der Woche auf über 130! ‚Viel Feind, viel Ehr’, warum sollte ich mich gegen die Abstempelung als Laufverrückter wehren, da sie doch dem Läuferego schmeichelt und ein ganz klein wenig für die vielen harten Trainingsstunden in heimischen Gefilden entschädigt? Aber dann, in Linz, noch vor dem eigentlichen Lauf, zerstört jemand dieses pseudo-heroische Selbstbildnis radikal und braucht dafür letztlich nur ein paar Sätze. Und das kam so:

„Verkehrsbehinderungen wegen Linz Marathon am 15.4. ab 5 Uhr“ - Schon auf der Autobahn A7, kurz vor der Stadt, weist eine Leuchtschrift auf das Großereignis des Folgetages hin. Offen gestanden reise ich mit ziemlichem Informationsdefizit an, was den morgigen Marathon angeht. Derzeit springe ich von Lauf zu Lauf und finde zwischen Anmeldungen, Hotelreservierungen und Laufberichten gerade noch rechtzeitig den Weg zur jeweils nächsten Veranstaltung. Im Moment weiß ich nur, wo Ines und ich hin müssen, um die Startunterlagen abzuholen: A7, Abfahrt „Hafenstraße“ und dann zum „Brucknerhaus“. Kein Problem, Linz ist übersichtlich! Erfreulich: Ein winkender Posten weist den richtigen Weg zur Einfahrt des Parkhauses. Und erfreulich geht es weiter: An der Schranke eine Dame, die jedem erklärt, dass 30 Minuten Parken frei sind und wer auf der Messe länger braucht, erhält dort ein Zwei-Stunden-Gratisticket. Noch gar nicht richtig angekommen und schon zwei hilfreiche Geister. Wir sind eben in Österreich, da „is manches a bisserl anders und wannst wem brauchst, nocha hülft da ahna“...

Es ist Mittag, wenig Betrieb auf der Messe. Die Abholung von Startnummer und Finisher-Shirt im „Sackerl“ dauert nicht mal fünf Minuten. Zeit genug sich noch bei einigen der etwa zehn Aussteller im Foyer des Brucknerhauses umzusehen. Der Stand von Nike interessiert mich. Um genauer zu sein: Die dort ausgestellten Schuhe für natürliches Laufen möchte ich anprobieren. Da stehen drei Versionen des „Nike Free“, die sich hinsichtlich der eingebauten Fußunterstützung unterscheiden. „3.0“ auf dem Sohlenrand des einen weist ihn als Quasi-Barfuß-Laufschuh aus. Dann gibt’s da noch das „5.0-“ und „7.0-Modell“ mit mehr eingebauter Technik. Ines und ich sind gegenwärtig die einzigen Interessenten. Sofort wendet sich uns ein junger Kerl zu, dem ich etwas voreilig das Schild „Verkäufer“ umhänge. Umso mehr, als er ohne Anlaufzeit und wortgewaltig auf uns einredet. Zwischendurch frage ich mich immer wieder, wann er eigentlich zum Luftholen kommt. Während der Anprobe lassen dann seine gezielten Fragen zu meinen läuferischen Beweggründen und zahlreiche Erläuterungen recht schnell einen profunderen Horizont erkennen, als ihn ein Fachverkäufer vorweisen könnte. In Windeseile ist die Anprobe Nebensache und läuferische Exzesse kommen zur Sprache. Stell dir das ein bisschen so vor, wie die urkomische Reklame mit dem „Mein Auto, mein Haus, meine Yacht, ...“ Jedenfalls klopfe ich mit meinen läuferischen „Trümpfen“ nach und nach auf den Tisch und erwarte eine gewisse respektable Resonanz. Das hätte doch ein toller Tag werden können: Draußen lacht die Sonne, beschert uns mit über zwanzig Grad schon einen Vorgeschmack auf den Sommer und dieser Kerl soll mir jetzt gefälligst meine läuferische Extremstellung bescheinigen und mich ein wenig für morgen aufbauen! Und was macht der? Der hat auch „Auto, Haus und Yacht“ und was für welche! Ich erzähl ihm was von den geplanten 100 km in Biel und meinem 6h-Einstand vom letzten Jahr mit 70 gelaufenen Kilometern. Und jetzt kommt es dicke: Er wird dieses Jahr in der namibischen Wüste an einem 100 Meilen Lauf (160km) teilnehmen und hat an Bestzeiten für den Marathon eine 2:25h und - noch niederschmetternder - auf der Halbmarathondistanz eine 1:04h zu Buche stehen. Erlebnisse und Erfahrungen werden ausgetauscht, wobei ich nun schon sehr viel „defensiver“ und „vorsichtiger“ zu Werke gehe, weil der Mensch schlicht viel mehr von der Materie versteht als ich. Sein nächster Trumpf ist ein Studium der Sportwissenschaften und ein entsprechender beruflicher Hintergrund. Nicht nur ich, auch Ines hängt inzwischen an seinen Lippen und wir staunen veritable Bauklötze ...

Die Anprobe ist beendet. Ich weiß, was ich wissen wollte: Der Schuh fühlt sich angenehm an, völlig anders, als alles was ich bisher am Fuß hatte. Und ich brauche Größe US11. Nun kann ich mir das Teil irgendwann kaufen und nahezu barfuß trainieren. Das Gespräch ist noch ganz und gar nicht beendet und gerät immer mehr zum Vortrag. Der Herr Magister - so sein akademischer Grad auf der Visitenkarte, die sich Ines zum Schluss aushändigen lässt - doziert aus dem Stehgreif und mit maschinengewehrartiger Wortkadenz zu Laufthemen: Trinken, selbstgemengte, gut verträgliche Nahrungsbreis während Ultradistanzen, Trainingsmethoden. Und dann passiert es, dann pustet er mein kleines Ultra-Wolkenkuckucksheim binnen einer Minute um. Vor mir steht ein Finisher des Marathon de Sable, der eine spezielle Ausdauertrainingsform praktizierte, um sich auf die Hitzeläufe in der Sahara vorzubereiten. Dazu rollte und wuchtete er jedes Mal ein schweres Spinning-Rad in die Sauna und absolvierte dort unter Kontrolle seiner Herzfrequenz stetig länger werdende Einheiten. Spinning bei 60 bis 80°C, ich glaub ich spinne ... Da fehlen mir die Worte und der Weg für die richtige Einschätzung meiner eigenen läuferischen Aktivitäten und Fähigkeiten ist wieder geebnet. Ich laufe viel, oft am eigenen Limit, auch im Training, aber das ist wenig, gemessen am Pensum und der Intensität wirklich extremer Läufer.

Wir schlendern Richtung Ausgang, als ein Streckenplan in Plakatgröße meine Aufmerksamkeit erregt. Davor steht ein Grüppchen von Besuchern und lauscht den Erklärungen eines Offiziellen. Als sie abgefertigt sind, erkundigt sich Ines nach den öffentlichen Verkehrsmitteln am Lauftag. Normalerweise verlasse ich mich auf die Erläuterungen in den Startunterlagen, aber wenn die schon extra jemanden abstellen ... Freundlich verbindlich hilft er uns weiter, erzählt vom Pendelbusbetrieb zwischen Bahnhof und Startbereich und besorgt uns dann abschließend noch ein Freiticket fürs Parkhaus. Da fehlt zum „Rundumsorglospaket“ nicht mehr viel. Service wird groß geschrieben bei dieser Veranstaltung, da pflichte ich Ines gerne bei. Und, wie gesagt, wir sind eben in Österreich, da „is manches a bisserl anders und wannst wem brauchst, nocha hülft da ahna“.

So nun ab ins Hotel, schnell einchecken und danach die Stadt erkunden. Business as usual. Mit dem Hotel wartet die nächste positive Überraschung auf uns. Wieder hat der Veranstalter dazu beigetragen. Über seine Homepage wurden Arrangements für das Marathon-Wochenende mit einer oder zwei Übernachtungen angeboten. Für sage und schreibe 78 Euro die Nacht, Frühstück inklusive, kommen wir in einem schönen Viersternehaus im Doppelzimmer unter, dürfen am Marathonsonntag das Zimmer bis 16 Uhr nutzen, stehen für lau in der Tiefgarage und erhalten obendrein noch zwei Tagestickets zur Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel.

Sonntagmorgen 6:30 Uhr: Ich muss im Spiegel ein paar Mal hinsehen, um es einmal zu glauben: Am rechten Auge habe ich ein prächtiges „Veilchen“. Keine voreiligen Schlüsse! Nicht Wirtshausprügelei, noch nächtlicher Ringkampf mit Ines haben mir das beschert. Rücksichtnahme und männliches Ungeschick anlässlich eines nächtlichen Toilettenbesuches sind ursächlich: Um sie nicht zu wecken, mache ich kein Licht. Dann bücke ich mich, will den Deckel öffnen. Zu Hause ist da nichts im Weg, aber ich bin nicht zu Hause, und so knallt mein Kopf mit Wucht auf die Kante eines gefliesten halbhohen Mäuerchens. Mit Licht ein dekorativer Raumteiler, ohne Licht ein heimtückisches Monster, das keine Marathonis mag und sie mitten in der Nacht anspringt. Aber ich hatte Glück, es tut kaum weh und behindert mich auch nicht. Ein halber Zentimeter tiefer und … Ich weiß, wie so was ausgehen kann. Vor etlichen Jahren hat mich im eigenen Wohnzimmer mal eine Stehlampe auf noch hinterhältigere Weise attackiert. Per Not-OP musste dann ein Augenarzt im Klinikum die Hornhaut wieder flicken.

Der Tag fängt nicht gut an. Zum Glück bin ich nicht abergläubisch. Andererseits gibt das routinemäßige „Inmichhineinfühlen“ auch keinen Grund zu übertriebenem Optimismus. Irgendwie unausgeschlafen und ungewohnt steif fühlt sich alles an. Mensch denk positiv: Das gibt sich noch, stehst doch fast jeden Morgen neben dir. Frühstück, fertig machen zum Lauf, Ines begleitet mich zum Bahnhof, von wo der Pendelbus verkehrt. Ich komme nicht in die Gänge, bin nicht richtig in mir zu Hause. Morgens war ich noch nie zu Heldentaten fähig und vor keinem frühen Marathonstart fühlte ich mich je wirklich leistungsfähig. Aber heute empfange ich Signale, als wäre ich gestern über die 42km-Strecke gegangen und bräuchte ein paar Ruhetage. Trotzdem mache ich mir keine allzu großen Sorgen. Es ist ein Trainingslauf. Es wird schon gehen! Irgendwie ging es immer!

Die Sonne arbeitet an einem weiteren April-Hitzerekord. Das Acht-Uhr-Läuten ist noch nicht lange verklungen und eigentlich trage ich die Fleecejacke nur aus Vorsicht. Frieren würde ich auch ohne sie nicht. Gestern war der 14. April und wir saßen zum Abendessen draußen - verrückt! Kurz vor dem Bahnhof treffen wir auf ein Läuferpaar, das gleichfalls zum Pendelbus will. Wir wissen, dass er am Bahnhof abfährt und sie können uns den schnellsten Weg dahin zeigen. Österreichisch-deutsche Kooperation führt rasch zum Erfolg. Ein schon prallvoller Bus steht abfahrbereit. Flugs verabschiede ich mich von Ines. Sie wird Linz abseits der Marathonstrecke mit einem längeren Lauf erkunden und mich später im Zielbereich erwarten.

Ist mir ganz recht, dass schon alle eingestiegen sind, so kann ich im Bereich der Tür stehen und fühle mich weniger als Sardine in der Büchse. So denke ich, bis die überirdische Regie mich einer kleinen Prüfung im Fach „Halt’s aus, kannst eh nix ändern“ unterzieht: Plötzlich strömen aus den Katakomben des Bahnhofs weitere Marathonis. Offensichtlich einem gerade angekommenen Zug entstiegen, wollen sie den Bus verständlicherweise auch noch entern. In Nullkommanix schrumpft verfügbarer Lebensraum auf die von meinen Sohlen bedeckte Grundfläche mal Bushöhe. Menschliche Nähe intensivst! An sich unbedeutend, wenn ich nun nicht im Kreuzfeuer diverser „Emissionen“ stünde. Zwei Scherzbolde an meinen Flanken werden nicht müde sich die Wartezeit durch mich hindurch mit landestypischem „Schmäh“ zu verkürzen. Unfähig meine Schalltrichter aus der Schusslinie zu bringen, kann der Hörsturz nur noch eine Sache von Minuten sein. Wahrscheinlich werde ich jedoch vorher ohnmächtig gegen meine Mitpassagiere sinken. Schlimmer als die akustischen Attacken peinigen die auf mich eindrängenden Gerüche. Jener Witzereißer zu meiner Rechten ließ sich gestern Abend ein mit Knoblauch gespicktes Gericht schmecken. Und eine der Begleiterinnen des Scherzduos, deren propere Formen ich an meiner Rückseite ahne, muss einen ganzen Flakon eines schwülstigen, aufdringlichen und für meine Nase widerwärtigen Parfums über sich ausgegossen haben. Die Türen sind seit geraumer Zeit geschlossen und ich schwitze tierisch in meiner Fleecejacke. Warum fährt der Heini nicht endlich!?? Ich versuche flach zu atmen, ein bisschen mehr durch den Mund, die Nasenschleimhäute zu entlasten. Ines steht noch draußen und ich lächle ihr zu. Sieht sie die aufsteigende Verzweiflung in meinem Blick? Endlich setzt sich der übervolle Wagen in Bewegung. Mehr als zehn Minuten wird es kaum dauern. Das Gespräch der Witzbolde bekommt unerwartet informativen Inhalt. So erfahre ich, dass die „Sackerl“ mit den Läuferhabseligkeiten nicht am Start zu deponieren sind, wie ich mit totaler Selbstverständlichkeit unterstellte, sondern im schon bekannten Brucknerhaus. Das liegt etwa einen Kilometer vom Start und fünfhundert Meter vom Ziel entfernt. Eigentlich will ich jetzt nur eins: Raus aus diesem überfüllten Bus und frische Luft atmen!

Das „Sackerl“ - drauf „pappt“ der Startnummernaufkleber „686“ - hängt an der Garderobe im Brucknerhaus. Eine Wasserflasche habe ich mitgenommen, die Fleecejacke im „Sackerl“ verstaut. Wär’ das ein „normaler“ Apriltag, ich holte mir den Tod in meinem Trägershirt. Stattdessen genieße ich die herrlich warme Morgensonne und schlendere mit Hunderten anderer Läufer an der Donau entlang. Üppiges Frühlingsgrün an den jenseitigen Hängen, ein ruhig dahin fließender Strom, hie und da ein Entenpaar - irgendwie lädt alles zum Verweilen und Ruhen ein, eher nicht zum Laufen. Das ist aber eine Zusammenfassung, die rückblickender Betrachtung entspringt. Meine Gedanken beschäftigen sich vor Ort mit anderem. Zum Beispiel mit dem jetzt schon trockenen Mund. Ich hab vor und während des Frühstücks genug getrunken. Definitiv. Und jetzt, mehr als eine halbe Stunde vor dem Lauf, darf ich nichts trinken, sonst muss ich nach einer Viertellaufstunde schon in die Büsche. Ich versuche es mit Mundausspülen.

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Vor mir erkenne ich zwei Brücken. Die nähere, im Stadtplan als „Eisenbahnbrücke“ bezeichnete, entpuppt sich als Radfahrer- und Fußgängerpassage. Über sie wird die Läuferschar zum diesseitigen Ufer zurückkehren. Dahinter baut sich die mächtigere Autobahnbrücke der A7 auf. Und nun kommt der Clou: Kennt ihr einen Marathon, zu dessen Austragung man eine ausgewachsene Autobahn sperrt? Gestern entdeckte ich diese läuferische Rarität eher beiläufig, als es mir in einer ruhigen Hotelminute tatsächlich mal gelang, die Strecke unter die Lupe zu nehmen. Der Start erfolgt auf der Autobahn, unmittelbar vor der Autobahnbrücke. Wie bereits erwähnt: Wir sind eben in Österreich, da „is manches a bisserl anders“.

Obere wie untere Donaupromenade und die dazwischen liegende Uferwiese sind fest in Läuferhand. Einzeln, zu zweit, zu mehreren, still oder schwatzend, trottet man flussabwärts. Zehn Schritte vor mir bricht jemand in Straßenkleidung aus seinem Grüppchen aus, bringt sich mit ein paar schnellen Schritten in Position. Es blitzt, Foto im Kasten, er reiht sich wieder ein. Mein Blick erfasst die Läuferin in der Mitte der Schar. Über’m knackigen Po trägt sie nicht mehr als einen knappen, eng sitzenden Slip. Das erregt meine Aufmerksamkeit. Nein, nicht die des Mannes in mir. Diese „Funktionen“ sind automatisiert und arbeiten dauerhaft parallel zu anderen Systemen. Solche Nichtigkeiten von Laufhöschen tragen für gewöhnlich nur Spitzenathletinnen und DAS macht mich neugierig. Sie hat kräftige Beine, durchtrainiert natürlich, und eine vergleichsweise „gedrungene“ Figur. Toppläuferinnen sind sonst drahtiger, schlaksiger, fast dürr. Ein Verdacht macht sich breit und deshalb suchen meine Augen ihre Fingernägel. Nein, das ist nicht merkwürdig! Im offiziellen Programmheft wird die Favoritin des Laufes vorgestellt und an ihrem Foto fielen Ines gestern vor allem die kunstvoll bemalten Fingernägel auf. Tatsächlich, die Frau vor mir unterzieht sich häufigen Behandlungen im Nagelstudio ihres Vertrauens. Eva-Maria Gradwohl heißt sie, 34 Jahre alt, vielfache österreichische Meisterin auf Langstrecken zwischen 5000 m und Marathon. Später wird sie als erste Frau und Siebte insgesamt das Ziel erreichen und ihren persönlichen Rekord mit 2:37:36 gerade mal um vier Sekunden verfehlen ... Irgendwie sympathisch, dass sie den Kilometer wie wir „einfaches Läufervolk“ zu Fuß bewältigt, sich nicht in Startnähe chauffieren lässt. Verständlich, dass ich sie und ihr Umfeld nun genauer beäuge: Der Herr zur Linken tätschelt mehrmals aufmunternd ihren Po. Trainer? Ehemann? Beides in Einem vielleicht? Hellblonde, kurze Haare können den überaus kräftigen Nacken nicht verdecken. Ergebnis häufigen Krafttrainings, wie ich vermute. Alles andere bleibt meiner Ortung unter einem locker übergeworfenen Kurzarmshirt verborgen. Natürlich bin ich nicht der Einzige, dem die Frau auffällt. Schräg hinter mir vernehme ich hinweisende Worte eines Läufers an seinen Begleiter.

Im Schatten der Autobahnbrücke ist es kühl. Doch die herrschende Windstille verhindert jegliches Frösteln. Via Steintreppe überwinde ich den Uferdamm. Reichlich niedrige Bäume und Läufer in charakteristisch abgewandter Position lassen mich überlegen: ‚Soll ich hier schon, oder erst später?’ Noch fast eine halbe Stunde bis zum Start. Ich verkneif’s mir noch ein Viertelstündchen. Über Straßenböschungen und Leitplanken steigend erreiche ich das Niveau der Autobahn. Da hinten stehen genügend Büsche in Straßennähe, ich werde also nicht wieder runter müssen. Eine weit ausladende Gitterkonstruktion spannt sich quer über alle Fahrstreifen und markiert den Start. Mannshohe Lautsprecher hängen daran und beschallen das noch ungeordnete, bunte Gewimmel tausender Sportler. Der Sprecher interviewt die Sportverantwortliche der Stadt, die wohl vor fünf Jahren maßgeblich an der Geburt dieses Laufes mitgewirkt hat. Auf diese Weise erfahre ich, dass in diesem Jahr insgesamt 13.000 Läufer an den Bewerben des Linz Marathon teilnehmen, 15% mehr als im letzten Jahr. Davon geht allerdings nur ein relativ kleiner Teil auf die Marathondistanz. Schlussendlich platzieren sich 980 Marathonas und Marathonis. Dazu kommen noch weit über 600 Staffelläufer.

Ich setze mich ein paar Minuten auf eine Kiste am Startportal, beobachte Läufer, genieße Atmosphäre, Sonne und den Frühling. Kurz vor Neun: Neunzehn Männer in Handbikes beginnen ihren Wettstreit. Angesichts ihres kraftvollen, entschlossenen Starts und ihrer ausgefeilten Sportgeräte kann man schon mal vergessen, dass hier 19 harte Schicksale in Rollstühlen auf die 42 Kilometer lange Strecke gehen. Hinter ihnen warten schon die Skater, sie werden Minuten später in ihren Bewerb starten.

Für mich wird es Zeit. Einigen Grasbüscheln neben der Autobahn spende ich die erste Feuchtigkeit seit etlichen Tagen. Ich leere meine Trinkflasche zu zwei Dritteln und lege sie neben diversen anderen ab. Bald hundert Meter gehe ich an der Startaufstellung entlang, bis ich meinen Block gefunden hab. Ungefähr 3:40h sollen es heute werden, folglich ein Schnitt von etwa 5:15 Minuten pro Kilometer. Ich stehe auf der Autobahn, die Sekunden verrinnen. Erst zwei, dann drei, schließlich sogar vier Helikopter kreisen hoch über unseren Köpfen. Der Lauf hat die volle Aufmerksamkeit der Medien. Schon am Nachmittag wird eine Stunde Zusammenfassung über die Bildschirme Österreichs flimmern. Bei uns für einen Lauf dieser Größe und dieses Ranges eher unüblich. Das gilt auch für die eingekauften Spitzenläufer: Der Vorjahressieger Benjamin Itok aus Kenia und der Ukrainer Alexander Kuzin machen sich Hoffnungen auf den Gesamtsieg und eine Zeit unter 2:10h(!). Was für ein Aufwand. Aber ihr wisst es ja, wir sind eben in Österreich, da „is manches a bisserl anders“.

„Horst“ steht auf seiner Startnummer. Horst sitzt auf der Mittelleitplanke. Horst dürfte knapp 60 sein, ein kleiner, kräftiger, drahtiger, weißhaariger Läufer. Still, in sich gekehrt und mit scheinbarem Gleichmut lässt er das Geschehen auf sich wirken. Bestimmt sehe ich jetzt auch so aus. Um mich her nur Marathonis. Ines hatte recht: Da sich die Strecke sofort nach der Brücke gabelt, Marathon rechts, Halb- und Viertelmarathon links weg, wurden die Fahrbahnen zugeordnet. Jenseits der Doppelleitplanke versammelt sich das dichtere Feld der Viertel- und HalbmarathonläuferInnen. Dort kämpfen sich auch ein paar Helfer mit Trauben bunter Luftballons an den Wettkämpfern vorbei. Horst hat seinen Platz geräumt, jetzt steht er rechts von mir, wie es scheint in voller innerer Versammlung, den Blick schräg nach unten gerichtet. Die Stimme des Sprechers klingt aufgeregter, noch eine Minute. Die Luftballons erhalten ihre Freiheit, verteilen sich schnell über den Köpfen der Wartenden. Ein bisschen kindliches Gemüt scheine ich über all die Jahre gerettet zu haben, oder warum gefällt mir dieses Bild jetzt so sehr? Die vielen bunten Punkte vor dem makellosen Azur des Morgenhimmels. Es hat eine Weile gedauert, aber nun erfasst mich die allgemeine Hochstimmung doch noch. Tausende zählen die letzten Sekunden herunter und beklatschen den Startschuss. Ich starte den Pulsmesser. Zu den Klängen von „We are the champions“ setzt sich das Feld in Bewegung. Kurz vorm Startportal falle ich in leichten Laufschritt und bei der wild piepsenden Zeitmessung drücke ich den Knopf meiner Stoppuhr für die Nettozeit. Auf der Brücke kommt dann sogar noch eine Fahrspur hinzu. Keinerlei Enge, freies unbehindertes Laufen. Eine Wohltat nach der Enge von Freiburg.

Schon auf der Brücke, in den ersten zwei Minuten, geht meiner Hochstimmung gleich einem defekten Reifen die Luft aus. Ich laufe, ok, Beine und Füße wissen, was sie zu tun haben. Das bleibt aber einstweilen die einzige Übereinstimmung zu meinen bisherigen Erfahrungen. Ich fühle mich müde und ein bisschen „zerschlagen“. Von Beginn an zwickt es hier, ziept es dort. Ich hoffe auf den Einlaufeffekt, das Anspringen des Motors. Gerede und intensiviertes Getrappel links hinter mir: Ich wende den Kopf und erkenne den 3:45h-Zugläufer. Nach der etwa 900 Meter weit gespannten Brücke folgen wir der ausladenden Rechtskurve der Autobahn und verlieren gleichzeitig Höhe. Der erste Kilometer: 4:58 min. Bisschen zu schnell, also langsamer. Kilometer 2: Immer noch auf der Autobahn, jetzt passt das Tempo. Anders ausgedrückt: Ich habe das Gefühl viel zu langsam zu sein. Ich muss lernen langsam und dabei gleichmäßig zu laufen. In Biel wird genau das mein „Überleben“ sichern, oder, falls ich es nicht schaffe, meinen „Untergang“ bedeuten.

Jetzt geht’s runter von der Autobahn, hoch über mir lese ich den Namen der Ausfahrt auf dem Wegweiser: „Dornach“. Das war eine Autobahn und ich bin wie eine lahme Ente unterwegs. Lahmes Tempo und heute auch eine seltsame innere Lähmung. Was ist nur los? Nach einer Viertelstunde Laufen sollte sich das doch gegeben haben!? Alle sind noch dicht beisammen, auf den breiten Straßen hier kann ich langsamere Läufer dennoch ohne zusätzlichen Aufwand passieren. Ein durch einige Entfernung gedämpfter Schrei - „Vorsicht!“ - wird von einem zweiten Streckenposten aufgenommen und verstärkt. Von rechts mündet eine Straße ein und in etwa 30 Meter Entfernung sehe ich den ersten Handbiker heran rasen. Mir kann er nicht gefährlich werden, ich hab die Stelle Sekunden später hinter mir. Aber wie soll das gehen? Da muss die Läuferschlange doch eine Lücke lassen!? Eine Kreuzung von Handbikern und Marathonis? Vorprogrammierte Konflikte und Verletzungsgefahren. Ein kleiner Schatten fällt auf die bisher makellos weiße Weste des Veranstalters. Kilometer 4: Ein Linzer Vorort nimmt mich auf, vereinzelt Beifall am Streckenrand. Schon jetzt rinnen mir Schweißperlen über Stirn und Schläfe. Es ist zwar noch kühl, aber die starke Sonneneinstrahlung heizt mir gewaltig ein. Auch die Trockenheit im Mund habe ich noch nie in dieser Schärfe wahrgenommen. Ich sehne den ersten Verpflegungspunkt herbei. Die nennt man hier aber nicht Verpflegungspunkt sondern „Labestelle“ und der insgesamt dafür Verantwortliche führt den Titel eines „Labstellenkoordinators“. Wir sind in Österreich, da „is manches a bisserl anders“, aber eben auch liebenswert anders.

Vorbeugen ist besser als Durst leiden: Ich schnappe mir zwei volle Becher Wasser und kippe sie stehend in mich rein. Danach meine ich zwar ein leichtes Schwappen von Flüssigkeit im Magen wahrzunehmen, fühle mich aber der bevorstehenden Hitze gewachsen. Hinter der letzten Ortschaft Plesching entwickelt sich der Stadtmarathon Linz unversehens zum Landschaftsmarathon. Linksseitig rücken bewaldete Anhöhen dicht an die Strecke heran. Rechts trennt uns nur ein schmaler Streifen frisches Grün vom Fluss. Am jenseitigen Ufer reihen sich die Linzer Hafenanlagen, einige Schubschiffe liegen vor Anker. Zuweilen gönnen uns Hang und Wald ein paar hundert Meter schattige Kühle. Sieben Kilometer sind gelaufen. Es bleibt dabei: Eine gewisse Schwäche, gepaart mich leichter Unlust, habe ich heute zu akzeptieren. Nicht wirklich ein Grund zur Sorge. Zwar hatte ich gehofft den vorgestrigen schnellen, harten Lauf besser wegzustecken, weiß dennoch, dass ich dieses Tempo auch müde über viele Kilometer gehen kann. Vom einen oder anderen langen Trainingslauf her kenne ich das. Denk nicht nach, lauf einfach!

Auf der jetzt gut einsehbaren Uferpromenade tut sich was! Ein Fahrzeug, dahinter die Gruppe der führenden Läufer: Von ein paar schwarzen Läufern sticht ein weißer ab. Das wird der Ukrainer sein. Schon ein paar Meter weiter verdeckt Bewuchs die Sicht auf das weitere Geschehen. Wir passieren ein einzelnes, an den Hang gebautes Anwesen. Davor zwei Jungs mit großen Blechdeckeln, denen sie mit Knüppeln in monotonem Rhythmus scheppernden Radau entlocken. Ein Läufer vor mir bedankt sich bei den Jungs für den anfeuernden Krach. Neun Kilometer: Ich kalkuliere mal wieder meine Laufzeit und erhalte eine Bestätigung für die gleichmäßige Geschwindigkeit. Jetzt muss bald das Ende der großen Uferschleife kommen. Kurz hinter der nächsten Labestelle ist es so weit: Scharf rechts weg und durch Auwald Richtung Donauufer. Davor muss ich noch durch das bald fünfzig Meter lange Spalier der beidseits dicht an dicht aufgereihten Staffelläufer, die die Übergabe des Chips vom jeweiligen Startläufer erwarten. Die Wechselzone hat Trichterform. Je weiter hinten die Läufer stehen, umso näher rücken sie zur Streckenmitte vor. Egal, durch. Ein paar kürzere Schritte bringen mich auf den Uferdamm mit seiner asphaltierten Promenade und wieder in Richtung Linz. Anfangs könnte ich in den Fluss spucken, so nah sind wir dran und so niedrig ist hier der Hochwasserschutz.

Da ist sie ja immer noch! Wenige Meter vor mir läuft eine mutmaßlich recht dürre Marathona. Ihre Formen kann ich nur ahnen, weil sie eine lange Laufhose und darüber ein langes Laufshirt trägt. Ich hatte vermutet, dass sie in dieser warmen Montur nur bis zum ersten Wechsel rennt. Anscheinend hat sie sich aber den kompletten Kurs vorgenommen. Und dann dermaßen „overdressed“? Möglicherweise verträgt sie ja die Sonne nicht!?

Ist es zu glauben? Elf Kilometer gelaufen und ich hab nicht einmal an den Pulsmesser gedacht. Den abgelesenen Wert kann ich zunächst nicht glauben: 121. Das sind nicht einmal 70 Prozent meiner maximalen Herzfrequenz. Ich ruckele ein bisschen am Brustgurt herum, vielleicht hat der Sender Kontaktprobleme. Aber das ändert nichts. Auf den nächsten Kilometern bewegt sich die Anzeige zwischen 118 und 123 (67 bis 70%). Ok, ich hab hart trainiert, auch etliche Kilometer mit Tempo hinter mich gebracht. Aber, dass ich im Schnitt 5:15 min/km mit einer so niedrigen Pulsfrequenz laufen kann, erstaunt mich dann doch. So müde ich auch sein mag, diese Erkenntnis stimmt mich für eine Weile ungemein optimistisch.

Der Uferstreifen wird breiter, der Damm ist hier sicher fünf Meter hoch. Sonntägliche Szenen im Naherholungsgebiet: Weit hinten im Uferbereich Sonnenanbeter in Liegestühlen, unter Bäumen im Schatten rastende Menschen, Biker beim Radausflug. Letztere hat die Läuferschlange auf den unteren Weg, parallel zum Damm verdrängt. Dann ist der Landschaftsmarathon schlagartig zu Ende. Bei Kilometer 15 geht es zurück in bewohnte Regionen. Wir laufen jetzt in jener Straße, aus der vorhin der Handbiker auf uns zu schoss, rennen danach ein kurzes Stück auf bekanntem Weg, um uns endlich dem Stadtteil Dornach zuzuwenden. Die Strecke hat kaum Profil. Ich habe mir aber gemerkt, dass es auf den nächsten beiden Kilometern leicht bergauf gehen wird. Also mache ich den Versuch ein wenig Tempo ’raus zu nehmen. Müdigkeit und Schmerzempfinden bilden eine Konstante und so will ich mich einfach schonen. Immer wieder denke ich an das kommende Wochenende. Als ich es plante, hielt ich es für eine gute Trainingsidee, inzwischen habe ich mehr und mehr „Bauchschmerzen“, wenn es mir in den Sinn kommt: Zwei Marathonläufe an einem Wochenende, Samstag und Sonntag. Dieses Vorhaben bannt heute wirklich jegliche Gefahr, von plötzlicher Lauflust gepackt, undiszipliniert los zu rennen ...

Ein paar Zuschauer sehen sich das Spektakel an. Immer wieder Applaus. Dort vorne zwischen niedrigen Bäumen auf einem Grünstreifen steht eine Frau und klatscht. Zu ihren Füßen liegen zwei Hunde. Zwei wunderschöne Hunde, die unserer gestorbenen Hundedame ziemlich ähnlich sehen. Ein größerer mit dunkler Zeichnung und ein kleinerer mit goldbraunem Fell. „Sind das Shelties?“ rufe ich der Frau im Vorbeilaufen zu. „Nein, Collies!“ schallt es zurück. - Im Moment geht es besser. Entsprechend gibt sich Lauflust in mir ein Stelldichein. Keine Ahnung woher dieses leichtere Laufgefühl gerade rührt. Immerhin steigt die Straße weiter leicht an. Kilometer 18, 19, es geht wieder leicht abwärts. Das kurze Zwischenhoch war eine flüchtige Erscheinung. Ich mag mir gar nicht vorstellen, dass ich noch nicht mal die Hälfte hinter mir hab. Die Beine sind viel zu schwer für diese relativ geringe Distanz. Ein wirklich merkwürdiger Run heute.

„Wie lang hab ich noch?“ Ich brauche einen Moment, bis mir klar wird, dass ich einen offensichtlich ausgepowerten Staffelläufer neben mir habe. Da ich nicht weiß, wo die zweite Wechselzone ist, kann ich ihm nicht helfen. „Ich denke bis zum Halbmarathon“ mutmaße ich dennoch. Das ist nicht mehr weit und vielleicht macht es ihm Mut. Dann kommt die Halbmarathonmarke in Sicht: 1:48:20. Schwere Beine? Mag sein, aber langsamer werde ich nicht. Mal zwei ergibt das eine Endzeit unter 3:37h. Weniger als ich wollte. - Die Eisenbahnbrücke: Schienen gibt es da noch, doch ihre Profile sind an vielen Stellen schon mit Sand und anderen Verunreinigungen angefüllt. Ein paar Minuten und das Innenstadtufer hat mich wieder. Kilometer 22 und dann ein scharfer Linksknick Richtung Süden. Erst hier ist der zweite Wechsel eingerichtet, den der Laufkamerad so sehnsüchtig erfragte. Wieder schleuse ich mich durch den enger werdenden Trichter wartender Läufer.

Zuschauer bleiben Mangelware. Vielleicht haben die Leute bei herrlichem Frühsommerwetter auch Besseres zu tun, als sich das stundenlange Vorbeitraben von Hobbyläufern anzusehen. Das muss für sie doch bei allen gleich aussehen, wenngleich sie sicher merken, dass die „Auftritte“ der Marathonis mit jeder Viertelstunde an Tempo und Dynamik verlieren. Apropos Dynamik: Das lasse ich mir nicht durchgehen! Schon seit einigen Kilometern ertappe ich mich von Mal zu Mal bei schlampigem Laufstil. Verdammte Müdigkeit! Mit ganz bewusstem Armeinsatz und Konzentration rufe ich mich zur Ordnung.

Kilometer 25, 26: Recht unattraktive Linzer Viertel ziehen vorbei. Wohnbebauung wechselt mit Betrieben. Da bleibt nichts im Gedächtnis. Doch halt, da war was!

Hübsch: Zwei hochmoderne Wohnblocks zu meiner Rechten. Statt Rollläden oder Jalousien hat der Architekt großflächige, verschiebbare Sichtblenden in knalligen Farben vorgesehen. Blautöne zieren die erste, Rot- und Orangetöne die zweite Wohnanlage. Die Unregelmäßigkeit von Farbtönen und Blendenpositionen lockert die an sich schmucklose, langweilige Fassade total auf.

Kurios: Indem ich den Blick von den bunten Hauswänden löse, fällt er auf einen Rollstuhlfahrer inmitten mehrerer Läufer. Krücken in seinen Händen nutzt er zum Anschieben. Eines seiner Beine, offensichtlich gesund, unterstützt den Antrieb. Im Näherkommen erkenne ich das durch einen Verband gestreckt fixierte, verletzte Bein. Es gibt so Fantasien, die einen spontan überfallen: Dieses witzige Bild lässt mich an einen Marathoni glauben, den ein Unfall am Mitlaufen hindert. Und jetzt mischt er sich eben mit der ihm verbliebenen Mobilität unter die Läufer ...

Kilometer 27: Hin- und Rückweg der zweiten Schleife berühren sich hier. Nebenan streben deutlich schnellere Läufer dem Ziel entgegen. Man kann einen Marathon auch als Summe von Tausend teils angenehmen, dann wieder unangenehmen Begebenheiten und Gefühlen beschreiben. Erst siehst du etwas, dann begreifst du es, was gegen Ende des Laufes durchaus dauern kann. Und schließlich spürst du in dir ein Echo. Ich nehme hier zwei Dinge wahr: Das eine ist eine Brücke über die ich gleich rennen muss. Nicht weit, nicht hoch, dennoch der bisher steilste Anstieg. Zugleich sehe ich drüben die Kilometertafel 36 und errechne weitere acht Kilometer, bis ich wieder hier sein werde. Welches Echo wird wohl angesichts zweier „Hürden“ und bei meinen müden Beinen in mir widerhallen???

Drei Kilometer dauert das Defilée der schnelleren Läufer jenseits der Absperrung, dann trennen sich die Laufwege wieder. Wenig später wird’s richtig einsam. Bald einen Kilometer schnurgeradeaus, rechts und links begrenzt von grüner Natur. Schattig ist es hier. Gottlob! Zwischenzeitlich brennt die Sonne erbarmungslos und später wird etwas von 25°C erzählt. Ruhe um mich her. Getrappel von Läuferfüßen hat man nach so langer Laufzeit längst ausgeblendet, registriert es nicht mehr. Und kurz vor Kilometer 30 unterhält sich auch keiner mehr. Unnütze Energieverschwendung! Selbst die reichlich vertretenen Staffelläufer scheinen dazu keine Lust zu haben. Das Ganze endet entlang einer Schrebergartensiedlung. Irgendwie scheinen Nichtläufer der abstrusen Vorstellung anheim zu fallen, dass Krach jedweder Art, so er denn nur entfernt an Musik erinnert, motivierend auf Marathonläufer wirkt. An einem Gartentürl’ haben sich bei Bier und prächtiger Laune ein paar Eingeborene versammelt. Auf einem Stuhl positioniert, schreit ein kleiner, völlig überdrehter Batterieempfänger seine bittere Not in die Welt. Wonach es klingen soll vermag ich nicht zu dekodieren, aber es krächzt, schnarrt und plärrt wie „Bitte, bitte, schalt mich ab, ich habe Schmerzen!“. Und auch schon vorbei. Vorbei auch an der Autobahn A7, die hinter Lärmschutzwänden verborgen und auf diese Weise erträglich bleibt. Zurück in ein Wohngebiet. Hier gibt’s mal wieder Beifall und akustische Unterstützung: „Hopp, hopp, hopp! Vorwärts Udo! Lauf!“ Dagegen bist du wehrlos! Ob du willst oder nicht, so was hilft dir. Schon eine komische „Maschine“, so ein laufender Mensch ...

Immer wieder Grün am Wegesrand. Man wohnt nicht schlecht hier im Linzer Süden. Die Verkehrsberuhigung ist auffällig. Nur selten sehe ich Autos und noch seltener kreuzen sie, einzeln von Polizisten freigegeben, unseren Laufweg. Offensichtlich liegt dem ein gut funktionierendes Verkehrskonzept zu Grunde, das den Schutz des Läufers zur obersten Maxime erhebt. Wer es schafft eine Autobahn zugunsten einer Laufveranstaltung lahmzulegen, dem darf man natürlich auch erfolgreiche, innerörtliche Sperrungen zutrauen.

Kilometer 32: Der Stern brennt vom Himmel, die Brühe rinnt. Mein Lauf hat inzwischen etwas Mechanisches. Trapp, trapp, trapp - zum Glück ist der Geist an das Fleisch gebunden, denn abschnittsweise habe ich mit meiner Rennerei grad nix mehr zu tun und ein Part meines Bewusstseins würde sich hier irgendwo in eine schattig grüne Ecke verziehen. Aber ein unbeirrbarer, furchtbar hartnäckiger Teil von mir würde nie aufgeben. Da kann der andere noch so sehr das Ende herbei sehnen und seine Lustlosigkeit zur Schau stellen. Dann gibt es auch andere Phasen, die noch widersprüchlicher in mir widerhallen. Da empfinde ich das Laufen zugleich als Last und auch wieder nicht. Einerseits spüre ich die schweren müden Beine, trotzdem geht es ganz selbstverständlich immer weiter vorwärts. Irgendwie macht es Spaß und zur selben Zeit hab ich auch die Nase voll. Ich weiß, das hört sich bekloppt an, wohnt aber in solcher Gegensätzlichkeit unter dem einen, nämlich meinem Dach.

Ich trinke noch mal und laufe wieder los. Hier gibt’s Publikum und es spendet Beifall. Da strafft sich das müde Läufergerippe vollautomatisch zum Ausdauerathleten. Wie es scheint gebe ich die Rolle nicht überzeugend genug: „Udo komm, los, gib noch mal alles!“ feuert mich einer an. Da möchte ich doch gern zu ihm hinrennen und mein schweißglänzendes, sicher reichlich ausgepowert wirkendes Auftreten mit dem Pensum der letzten Wochen rechtfertigen. Auch das hört sich bestimmt ein wenig meschugge und nach Effekthascherei an. Aber, wenn du seit bald 33 Kilometern müde durch die Gegend schlurfst, ist ein Impuls, dem genau diese Empfindung innewohnt schon glaubhaft - oder? Alternativ signalisiere ich mit schwacher Handbewegung meinen Dank für die Aufmerksamkeit.

linz

Nur einen Wimpernschlag später quatscht mich ein „Leidensgenosse“ von der Seite an: „Und? Wie läuft’s?“ Hat er den Ansporn des Zuschauers gehört und wähnt mich kurz vorm Zusammenbruch? Was ihm nun widerfährt, hat er jedenfalls seiner unverfrorenen Anfrage zuzuschreiben! Es beginnt mit der Formel „Geht schon, alles ok, ist ja nur ein Trainingslauf …“. Hangelt sich anschließend in kurzen Stakkatosätzen über all meine kürzlich vollbrachten läuferischen Großtaten und will gegen Ende des Vortrags mit ultramegaharten Vorhaben beeindrucken. Der kommt mir gerade recht! Mein müdes Ego giert nach der Labsal eines tief beeindruckten Menschen. Ihr wisst schon - „mein Auto, mein Haus, meine Yacht!“ Gestern ging das in die Hose, heute ist der Erfolg umso überwältigender. Jeden Satzteil quittiert er mit einer Art Stöhnen, was ich so „eruptiv“ von einem anderen Langstreckler nicht erwartet hätte. Der schlimme Nimmersatt in mir fragt dann noch lauernd im wievielten Marathon er unterwegs ist, um ihn womöglich mit meiner „22“ endgültig zur Strecke zu bringen. Oh nein! Mit einem Satz bringt er mir die volle Jämmerlichkeit meiner nach Anerkennung hungernden Läuferseele zu Bewusstsein: „Nein, nein, du ich laufe nur die Staffel, ein Marathon wär’ mir echt zu hart …“ Mensch Udo, du Knalltüte, das hättest du hören müssen! Kein Marathoni atmet so stoßweise wie er. Das hält keiner bis Kilometer 33 durch. Da wollte er sich ein bisschen meiner annehmen, oder sich mit ein paar gehechelten Sätzen von der eigenen Pein ablenken und ich missbrauche ihn auf unsägliche Weise. Ich halte die Klappe. Am Ende eines gemeinsamen Kilometers läuft er mir zu schnell. „Du, das Tempo ist mir jetzt ein bisschen zu hoch. Ich wünsch’ dir was! Mach’s gut!“ Seinem „Servus, du auch!“ kann ich nicht entnehmen, ob das Gespräch irgendwas in ihm bewegt hat. Wahrscheinlich ist mein „inneres Erröten“ ziemlich grundlos. Bald läuft er ein paar Meter vor mir. „Naturfreunde Pucking - Laufteam“ steht auf seinem Laufshirt.

Mal wieder Uhr und Pulsmesser auswerten: Ich bin geringfügig langsamer geworden, errechne aber immer noch ein Finish bei cirka 3:38h. Also Konzentration, Tempo halten! Der Pulsmesser bestätigt mir auch diesmal die Tendenz der letzten Kilometer: Er bringt inzwischen Werte zwischen 125 und 130 (71 bis 74%) zur Anzeige. Nichts Ungewöhnliches: Gegen Ende eines langen Laufes verschlechtern sich die Stoffwechselbedingungen und die Körpertemperatur steigt. Beides treibt den Puls bei konstanter Laufgeschwindigkeit in die Höhe. Im Grunde wundere ich mich, dass der Effekt bei dieser Hitze nicht stärker ist. Andererseits deute ich meinen seit Stunden trockenen Mund und den nie überbordenden Schweiß als Zeichen für eine niedere Luftfeuchte. Der körpereigene „Verdunstungskühler“ hat also optimale Arbeitsbedingungen.

Kilometer 34, 35: Strecke und Gegenstrecke verlaufen wieder parallel. Ein paar der Langsamsten traben vorbei. Der „Naturfreund“ war nicht weit voraus, ich verlor ihn trotzdem aus dem Sinn. Nun bin ich wieder neben ihm: „Ah, wieder da!“ keucht er nur. Oh, oh, sein Atem geht schwer und des Pendeln des Oberkörpers hat sich verstärkt. Und jetzt geht der Weg auch noch in eine leichte Steigung über. Aber wieso beschleunigt er auf einmal? Nervt es ihn, dass ich wieder aufgelaufen bin? Hinter dem Buckel renne ich in die Erklärung, in die dicht mit Läufern bestückte Wechselzone. Er übergibt seinen Chip an eine Läuferin und stützt sich sofort auf den Oberschenkeln ab. Mein diesmal endgültiges „Servus, mach’s gut!“ reißt ihn aber hoch und es gelingt uns ein halbwegs ordentliches Abklatschen.

Kilometer 36,37, Kurs Innenstadt: Die meisten Läufer vor mir suchen vor allem den Schatten. Dafür nehmen sie auch den Stolperkurs aus Bordsteinkanten und häufig wechselnden Hindernissen auf dem Bürgersteig in Kauf. Ich fühle mich nach wie vor nicht dehydriert und bevorzuge die ebenere Straße. Jetzt werde ich auch nichts mehr trinken. Noch sechs Kilometer, noch fünf - 3:38h plus irgendwas wird’s werden. Es reicht für heute. Ok, ich weiß, was meine Hax’n diese Woche leisten mussten. Und Erfahrung sagt mir, dass nach gutem Training und rechtzeitigem Tapering unglaubliche Leistungen möglich sind. Trotzdem will mir in der Schlussphase dieses schlappen Laufes scheinen, als seihen 100 Kilometer eine unerreichbare Marke. Mensch denk ans Finish, leb in der Gegenwart, freu dich über den Zweiundzwanzigsten und hab Geduld!

Kilometer 38, 39: Die Beine schmerzen immer heftiger, pünktlich zum bevorstehenden Zieleinlauf. Jahrelang war ich geneigt, diese sich erst wenige Kilometer vor dem Ziel breit machende Maximierung von Schwäche und Schmerz als einen Beweis für gute Renneinteilung zu werten. Im Training interpretierte ich dieselbe Beobachtung als Indiz für einen effizienten Trainingsplan, der mir immer nur so viel abfordert, wie ich zu leisten im Stande bin. Zum Teil ist das bestimmt so. Einige Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit, die mich - wie heute - nicht in die völlige Erschöpfung trieben, legen allerdings auch das jeweilige Lösen mentaler Blockaden nahe. Etwa so: Es ist ja gleich geschafft, also dürfen wehe Laufwerkzeuge und fortschreitende Ermüdung endlich voll wahrgenommen werden.

Ein paar „Schlingen“ durch die Linzer Altstadt werden noch verlangt. Obwohl wir hier an einer Stelle nur etwa hundert Meter vom Ziel auf dem Hauptplatz entfernt sind, stehen keine Zuschauer an der Strecke. Das ist schon ein bisschen seltsam. Kilometer 40, die Schlussphase: Jetzt kommen die körperlich härtesten Meter. Gleichzeitig räume ich das Dachstübchen für freudige Gedanken. Miesepetrige, zweifelnde, leidvolle Empfindungen müssen über Bord. Gleich werde ich im Ziel sein! Bei Kilometer 41 biege ich auf die „Landstraße“ ein. Das ist die Linzer Einkaufsmeile und Fußgängerzone, die nun geradeaus und über Kopfsteinpflaster (tut weh, is’ mir aber so was von wurscht) zum Hauptplatz führt. Vor unserem Hotel am Schillerpark spielt eine Band. Gute Stimmung, Publikum, Applaus. Alles in mir strafft sich, jegliche Schwere fällt ab und ich werde schneller. Der Zuschauersaum wird dichter, der Beifall lauter, die Zurufe häufen sich: „Bravooo Udo, Suppaaa! Lauf!“ Freude, Rührung, dann Begeisterung. Eine Gruppe Cheerleader bildet Spalier. Aus den Lautsprechern „Say it right“! Nelly Furtado! Mein Lied! Der Rhythmus, die Stimme, die Sonne, die Stadt, der Lauf, letzte Sicherungen brennen durch. Mit den Cheerleadern reiße ich die Arme hoch - bin vorbei. „Noch 300 Meter, Suppaaa!“ schreit mir einer zu. Kein Halten mehr, im letzten Wasser muss eine verzögernd wirkende Droge gewesen sein. Bin nun ganz und gar beherrscht von Euphorie, renne, renne, renne, recke immer wieder siegesgewiss die Faust in den Himmel. Wieder Cheerleader, wieder Beine und Pompons, die dem Takt einer Musik folgen. Wieder die Arme hoch, Jubelgeschrei, Freude allerorten. Ganz und gar berauscht stürme ich dem Ziel entgegen, überhole noch einige Mitläufer. Voraus findet mein Blick schon den brodelnden Hauptplatz. Die letzten hundert Meter laufe ich über Kunstrasen, einen weichen Teppich, links rot, rechts grün. Keine Zeit sich zu wundern. Rennen! Vorwärts! Vorsicht ein paar Falten! Mit weitem Satz darüber, die Faust im blauen Himmel. Ist das geil! Fantastisch die Stimmung auf dem Hauptplatz. Alles brechend voll! Vor mir das Ziel, die letzten Meter, einfach nur schön ...

Eine Stunde später sitze ich mit Ines auf der Sonnenterrasse des Traditionskaffeehauses „Traxlmayer“. Die Laufklamotten sind bereits getrocknet, die Startnummer prangt noch auf der Brust, die Medaille werde ich erst später abnehmen. Während ich mir zwei „große Braune“ (starker Kaffee mit wenig Milch) und den leckeren Kuchen schmecken lasse, erzählt Ines mit strahlenden Augen von ihrem 90-minütigen, ganz persönlichen Lauferlebnis. Vom Hotel aus lief sie auf eine nahe Anhöhe, den Freinberg. Sie schwärmt von herrlichen, alten Bäumen im frischen Frühlingsgrün, zahllosen Blumen und unvergleichlichen Ausblicken. Auch sie hat sich laufend berauscht. Berauscht in einer Orgie aus Laufen und fantastischer Natur. Gut eine Stunde später fahren wir gemeinsam da hinauf und sie zeigt mir ihr laufend entdecktes Paradies. Natur und Ausblicke auf Stadt und weitere Umgebung sind noch schöner, als sie es beschrieben hat. Linz lohnt läuferisch auch dann einen Abstecher, wenn man hier keinen Marathon läuft. Auf den Promenaden entlang der Donauufer kann man wirklich endlos und eben laufen. Und wer es gerne ein bisschen mit Profil mag, der joggt hier rauf und findet sogar beschilderte Rundstrecken über 400 und 1500 Meter (siehe Bild).

Linz und Linz Donau Marathon: Jederzeit gerne wieder!!!

 

Für die Statistik:

Zeit Marathon 3:38:11
1. HM 1:48:20
2. HM 1:49:51
Rang 443 von 980 Platzierten (44. in M50)