Ein Trainingslauf. Nichts Besonderes geplant, mittleres Tempo, zehn Kilometer. Einer von zig Alltags-Joggs seit ich Marathons und Ultras in Endlosschleife aneinanderreihe. Im Grunde ein Klacks, bloß: Wieder mal mieses Wetter. Trüb dunkler Himmel, nasskalt, böig und eklig der Wind. Schon diese Bedingungen wären geeignet meine Stimmung zu drücken. Überdies fühle ich mich schlapp, vermutlich „restmüde“ nach zuletzt fordernden Trainings. Und weil das offenbar nicht reicht an üblem Beiwerk, muss ich früh auch noch mit dem falschen Fuß aufgestanden sein: also Ego düster umflort. Dennoch: Allen Widrigkeiten zum Trotz wird der Lauf mein Gemüt aufheitern. Kein Zweifel, denn ich bin nicht allein unterwegs: unsere Hündin Roxi begleitet mich.
Um Roxis Sicherheit brauche ich mich hier zwischen Feldern, später im Wald, nicht mehr kümmern. Okay, eben noch im Wohngebiet und entlang der Straße behielt ich sie im Auge und am Fuß. Leine haben wir keine dabei, Roxi lässt sich verlässlich mit Worten lenken. Jetzt, fern jeglicher Verkehrsrisiken, macht sie ihr Ding. Tippelt voraus, verharrt zum Schnüffeln, rast hinter mir her, wenn die Botschaft im Gras eines längeren Studiums bedurfte. Bleibt sie zurück, drehe ich mich nur selten nach ihr um. Und wenn, dann um sie zu sehen, mich an ihrer Erscheinung, ihrem Hinterherpreschen, dem prallen Leben in ihr zu erfreuen. Und exakt das versüßt mir Tage wie diese, an denen ich entsetzlich dicke Trainingsbretter bohre.
Wetter übel, Beine schwer, wabernde Nebel der Laufunlust im Kopf - wieso dann überhaupt joggen, jetzt und hier? Die Frage stellt sich nicht, mehrmals die Woche zu laufen ging mir vorzeiten in Fleisch und Blut über. Umziehen, Schuhe an, raus, laufen. Nicht überlebensnotwendig wie Atmen oder Schlafen, fürs Wohlbefinden aber gleichermaßen unabdingbar wie etwa regelmäßig und gut zu essen. Was natürlich nicht ausschließt, dass ich mich trabend da draußen bisweilen richtig Sch … fühle. So wie heute. Aber da ist dieses schwarzbefellte, stets gut aufgelegte, anspruchslose Wesen an meiner Seite. Roxi, mein guter Geist. Ihre nie versiegende Lauffreude steckt an, wiegt manches auf, hilft über Misslichkeiten hinweg. Roxi, alias „Born to wild“, meine nimmermüde Laufbegleiterin - was für ein Traum von einem Hund!
So war es lange, sehr lange: 2009 widerfuhr uns das große Glück Roxi zu finden und jetzt, im Juli 2024, im Alter von fast 17 Jahren, mussten wir Roxi gehen lassen. Ihre Lebenskraft, die in den letzten beiden Jahren stetig und vor ein paar Wochen sprunghaft abzunehmen begann, war erschöpft. „Born to be wild“ brach an einem Samstagnachmittag vor unseren Augen regelrecht zusammen, konnte sich nicht mehr auf ihren Beinen halten. Wochenlang hatte sie wie eine Löwin gekämpft, sicher auch gelitten, um uns weiterhin mit ihrer Gegenwart zu erfreuen. Zuletzt verlor sie den Kampf. Wie sie da lag, ausgezehrt, schwach und stoßweise atmend, durften wir ihr keine Minute weiteren Leids zumuten.
Jetzt ist sie nicht mehr da. Körperlich. Aber sie ist weiterhin Teil von uns. Für immer. Diese Verbundenheit kennen wahrscheinlich viele Menschen, die mit Hund lebten. Doch sicher nur wenigen von ihnen ist vergönnt den vierbeinigen Lebenspartner mit der eigenen Laufleidenschaft zu verknüpfen. Bei meiner Frau Ines war es über Jahre so und in ungeahntem Ausmaß bei mir.
Das „ungeahnt“ fordert Aufklärung: Wenn du dir einen Hund ins Haus holst, weißt du nicht wirklich wie sich euer Zusammensein gestalten wird. Körperlich und mental entwickelt sich jeder Vierbeiner zu einem einzigartigen Wesen. Sich an Rassemerkmalen zu orientieren vermag allenfalls grobe Fehleinschätzungen zu vermeiden. Wer sich etwa einen Border Collie ins Haus holt, sollte wissen, dass er Körper und Kopf seines Tieres ständig fordern muss. Ansonsten bleibt die Fellnase unzufrieden und läuft Gefahr (verhaltens-) krank zu werden. Große, massige Hunde, zum Beispiel Leonberger oder Doggen, eignen sich zu vielem, doch sicher nicht für ausdauerbetonte Unternehmungen. Roxi war halb Australian Sheperd (der Worcaholic unter den Hütehunden), halb Golden Retriever (jagdliche Gene inklusive). Völlig unberechenbar mithin, welche Ansprüche sie an uns stellen würde. Als sie sich uns anschloss war sie zudem schon fast zwei Jahre alt. Im vormaligen Rudel - Menschen, andere Hunde, Katzen - erfuhr sie keine Schulung. Kommandos: Fehlanzeige.
Recht schnell stand fest: Wir haben ein Lauflimit, Roxi nicht. Wir legen Wert, auf dem eingeschlagenen Laufweg zu bleiben, Roxis jagdlicher Spürsinn ließ sie Mal um Mal im Unterholz abtauchen. Wir lernten: Roxi kehrt zur selben Stelle zurück, an der sie verschwand. Dabei kann allerdings eine Viertelstunde vergehen, bis die Duftspur „abgearbeitet“ ist. Roxi lernte: a) Durch Ines' Verdienst rasch die nötigen Kommandos. b) Gleichermaßen erleichterte wie übellaunige Zweibeiner kennen, wenn sie sich nach der Pirsch wieder dem Rudel zugesellte. Erleichtert war vor allem Ines, wenn wir zu dritt einen Rudel-Jogg bestritten. Sauer bis zornig traf Roxi mich an, wenn wir als Duo unterwegs waren. Weil ich eben nicht beliebig einher trabte, sondern stets ein fixes Trainingsziel vor Augen hatte.
Wie oft ich sie maßregeln musste, weiß ich nicht mehr. Allerdings erinnere ich mich nur zu (un-) gut an ihren finalen derartigen Ausflug, gefolgt von meiner massiven Zurechtweisung. Endlich kapierte Roxi, riss seither nie wieder aus. Bald durfte Roxi jeder Spur seitwärts ins Gelände folgen. Nach ein paar Sekunden, spätestens auf Zuruf, kehrte sie um und zischte hinter mir her. Unerschütterliches Vertrauen kennzeichnete fortan unsere Läufe. Gleichwohl: Meine harte Reaktion nach jener finalen Pirsch habe ich mir bis heute nicht verziehen. Schon damals war ich unsterblich verliebt in Roxi. Und mit jemandem, den man liebt, darf man so nicht umspringen …
„Born to be wild“ - ihren Spitznamen hatte Roxi rasch weg. Explosivität bei Spiel und Spaß war ihr Markenzeichen. Training reihte sich an Training, ob kürzer oder länger, schneller oder langsamer, in schwierigem oder einfachem Gelände, Roxi erwies sich als „unkaputtbar“. Rasch keimte der Wunsch unser Laufwunder auch zu Wettkämpfen mitzunehmen. Roxis Ungestüm erschwerte diese Absicht anfangs. Doch nach und nach lernten wir drei, Roxi und ihre beiden Laufmenschen, dazu. Exaktes Halten einer Position, wie etwa nach dem Kommando „Fuß“, erwies sich als illusorisch, war dazu meist überflüssig. Also erfanden wir spezielle Jogging-Kommandos: „Langsam!“ und „Rechts!“. Ersteres war nicht wörtlich gemeint. Die erwartete Reaktion war ähnlich der nach „Fuß!“, nur weniger strikt. Links neben ihrem Menschen eine Hundelänge vorzueilen oder zurückzuhängen wurde toleriert. „Rechts!“ forderte gleiches Verhalten auf der rechten Seite.
„Zu mir!“ signalisierte Roxi sich uns sofort zuzugesellen. „Lauf!“ - ihr Lieblingskommando - entließ sie in die Freiheit. Ein scharf formuliertes „Halt!“ war dazu gedacht ihre Bewegung am jeweiligen Ort schlagartig „einzufrieren“, wenn weiter zu tippeln gefahrvoll gewesen wäre. Die verlässliche Befolgung dieses „Befehls-Sets“ sicherte Roxi - ihrem Naturell gerecht werdend - ein Maximum an Selbstbestimmung. Und mir als gesamtverantwortlichem Leader im Laufduo eine munter sprudelnde Quelle der Freude. Vor Roxi* hätte ich von dieser Harmonie auf sechs Laufbeinen, in solchem Ausmaß und nahezu perfekt, auch bei Wettkämpfen, nicht zu träumen gewagt.
*) Vor Roxi joggte ich bereits mit unserer ersten Hündin Laska, eine Vertreterin der Gattung Shetland Sheepdog (Sheltie). Auch Laska war unkompliziert und folgsam im Laufduo. Zu einer ähnlichen Vollendung läuferischen Miteinanders konnte es seinerzeit nicht kommen, da ich noch keine Wettkämpfe bestritt, und nur auf kürzeren Strecken unterwegs war.
Gehorsam und Beherrschtheit ließ unsere Fellnase am Start von Wettkämpfen jeweils schlagartig vermissen. Natürlich spürte Roxi, wusste auch äußere Anzeichen zu deuten, wenn wir uns der Startlinie eines Marathons oder Ultras näherten. Bis in die schwarzen Haarspitzen aufgeladen mit Adrenalin rastete sie vorm, beim und nach dem Startsignal komplett aus. Gebärdete sich minutenlang als reißende Bestie, der kein Augen- oder Ohrenzeuge auch nur ein Funken Friedfertigkeit zugebilligt hätte. Oft reichten Lautsprecherdurchsagen, um unbeherrschtes Kläffen zu stimulieren. Nur an der Leine war sie notdürftig zu bändigen, an der sie mich auf den ersten Metern mit der Gewalt eines Berserkers hinter sich her schleifte. Roxis Wesen verlangte nach Freilauf, mithin kamen für gemeinsame Wettkämpfe nur Strecken auf überwiegend Wald- und Feldwegen und mit beschränktem Teilnehmerfeld infrage. In solchen Fällen dünnte die Kette der Läufer nach dem Start rasch aus, so dass ich Roxi ableinen konnte. Ausnahmslos jede Startphase war „hässlich“, hatte die zeitweise Entzweiung zweier ansonsten harmonierender Laufpartner zur Folge.
Doch was bedeuten schon ein paar nervige Minuten, gemessen an stundenlangem Vergnügen? - 15 mal auf Marathon- und weitere 12 mal auf Ultradistanz durfte ich dieses Vergnügen genießen. Dabei zeigte sich Roxi jeder Distanz gewachsen, auch unter kritischen Witterungsbedingungen. Dunkle Fellfarbe und hündische Luftkühlung setzten unter brennender Sonne voraus, dass ich meine Gefährtin, wo immer möglich, in Bäche oder Teiche schickte. Wo das nicht möglich war, nässte ich ihr Fell mit Wasser ein, das ich mir an Trinkstellen erbat, um Roxi zusätzliche Kühlung zu verschaffen. Meine Beine unterlagen stets einem Limit, Roxis Pfoten schienen auch nach unserer weitesten gemeinsamen Strecke, den 72 km des Elm Trails in Niedersachsen, nicht erschöpft. Nie werde ich vergessen, was nach dem Zieleinlauf geschah, als ich erschöpft und mit Zielbier in der Hand im Schatten eines Baumes saß. Roxi legte mir auffordernd ein Stöckchen vor die Füße und blickte mich auffordernd an: „Na los, wirf’s für mich!“
Dass ich sie zu noch längeren Bewerben in der Folgezeit nicht mitnahm, war folglich nicht ihrer sondern meiner Leistungsgrenze geschuldet. Das hebt ab auf meine Ausdauer als Hundeführer. Da ihr Naturell Freilauf voraussetzte, musste ich (Verkehrs-) Gefahren für Roxi oder Unbeteiligte zuverlässig im Voraus erkennen und entsprechend reagieren. Auf 72 Kilometer Elm Trail zeigte sich, dass meine Aufmerksamkeit nach einigen Stunden ermüdungsbedingt unter Aussetzern litt. Einzig aus diesem Grund beschränkte ich fortan unsere gemeinsam absolvierte Distanz auf etwa 60 km, ließ mich allenfalls von Roxi auf Teiletappen begleiten (wenn Frauchen dabei war, um mir Roxi zu übergeben und sie wieder zu übernehmen).
Bisweilen, wenn ich eine unserer heimischen Laufrouten kreuze, sehe ich Roxi vor mir: Wie sie zu Beginn aus dem Auto springt oder auf der Strecke unstet pendelt. Dann überwältigen mich Gefühle, die ich weder beschreiben kann noch will. Fünfzehn mit unzähligen Erlebnissen prallvolle Laufjahre sind unmöglich in Worte zu fassen. Ein paar schöne, witzige oder auf andere Weise bewegende Udo-Roxi-Lauf-Episoden möchte ich dann aber doch überliefern. Nicht zuletzt diese Szenen lassen erahnen, was mir Roxi auf Laufwegen bedeutete, wie beseelt vom guten Geist an meiner Seite ich lange Zeit unterwegs war …
Wir nutzen wieder mal eine unserer Lieblingstrecken, genießen Sommer, Sonnenschein, weiß-blauen Himmel … Gerade lassen wir den Waldrand hinter uns, folgen für ein paar Minuten dem Ufer eines schmalen, schnurgeradeaus verlaufenden Kanälchens. Von dem ist hinter hohen, dichten Büschen meist gar nichts zu sehen. Mein Blick streift stattdessen die mehrere Hektar große, nicht bewirtschaftete Wiese gegenüber. Sattes Grün, darin Blumen, gelb, violett, rot, im Hintergrund der Waldrand. Roxi tippelt hechelnd ein paar Meter vor mir her. Wie so oft bewundere ich ihre fließenden, leichtfüßigen Bewegungen, erfreue mich am Anblick ihrer buschigen, im Schrittrhythmus weich schwingenden Rute … was für ein wunderschöner Hund!
Doch dann: Urplötzlich feuern ein paar von Roxis Synapsen und mein Hund schnappt über: zischt los, bricht zur Seite hin aus, fetzt durch die beinahe kniehoch stehende Wiese … rast Richtung Waldrand, beschleunigt auf maximales Hundetempo. Rast und wetzt in riesigem Bogen, von dem sie offensichtlich weiß, dass er sie zuletzt wieder auf den Weg und vor meine Füße führen wird. Elektrisiert bis in die Haarspitzen verfolge ich Roxi mit den Augen. Was für ein fantastisches Schauspiel! Raumgreifende, mehrere Meter überbrückende Sätze vollführt mein Hund … explosive Entladung wölfischer Urinstinkte: Hetzen, Jagen, Flüchten. Pure ungebremste Lauflust auf vier Pfoten, denn nichts anderes als bis zur Erschöpfung zu rennen bezweckt ihr Manöver. Nicht zum ersten Mal unterhält sie mich mit ihrem exzessiven Sprint.
Roxis Parforceritt ist zu Ende, sie tippelt mit hängender Zunge vor mir her. Erfüllt vom Glück sich ausgetobt zu haben. Ein paar lobende Sätze bedeuten ihr, wie sehr mich ihr Ausflug begeisterte. Das Empfinden von Einssein überkommt mich, Laufharmonie mit meinem Vierbeiner wie ich sie mir intensiver nicht vorstellen kann. Demnächst, bei einem der künftigen Trainings, wird sie den Spaß wiederholen. Unter anderem in diesen anlass- und ansatzlosen Sprints wurzelt ihr Alias: „Born to be wild“!
Juni 2012: Für Roxis zweites Mal weiter als Marathon nehmen wir die 50 km Rundstrecke des Schefflenzer Ultra* (ca. 40 km nördlich von Heilbronn) unter Sohlen und Pfoten. Seit der Harzquerung im Vorjahr (51 km) steht fest, dass meine Hundedame die lächerliche 50 km-Distanz mit einem Lächeln quittierten würde, so sie denn Lachmuskeln besäße. Die Sonne scheint, Roxis Zweibeiner ist auch gut drauf, alles entwickelt sich zum Genuss und wie gehabt vorteilhaft. „Wie gehabt“ meint auch Roxis „Doggy Way of Running“: Voraus zischen, Terrain erkunden, zuweilen Duftadressen neben der Route erschnüffeln. In kurzen Intervallen versichert sie sich der Gegenwart ihres Rudelführes. Gerät der außer Sichtweite bleibt sie stehen oder trottet langsam zurück und „scannt“ jeden der ihr lahmarschig entgegen zuckelnden Zweibeiner. Hat sie mich identifiziert, rast sie wieder los, um ihren Auftrag zu erfüllen, den niemand kennt und den ihr keiner erteilt hat.
*) Der Schefflenzer Ultra findet nicht mehr statt.
Über zwei Stunden sind wir schon unterwegs und bestens aufeinander eingespielt. Außenstehende beurteilten das infolge des herrenlos auftauchenden, scheinbar streunenden Vierbeiners vielleicht anders, selbst wenn sie meiner kurz darauf ansichtig werden. Wie sollen sie auch wissen, dass ein Rufen genügen würde, um Roxi wie an unsichtbarer Leine gezogen herbeizuholen. Das Teilnehmerfeld ist klein, folglich besteht meist keine Sichtverbindung zu Mitläufern. Außer Sicht- aber nicht außer Riechweite, verlässlich folgt Roxi der „Duftspur“ der Vorauslaufenden. Richtung verfehlen? Mit Roxi als Kompass ein Ding der Unmöglichkeit.
Was Roxis Vergnügen an der Lauferei ausmacht - hochtrabend: was sie motiviert -, kann ich mir nur zusammenreimen. Dass der Jogg ihr Spaß macht, steht jedoch fest. Und hätte ich je gezweifelt, dann belehrte Roxi mich gerade jetzt, da sie wieder auf mich warten muss, eines Besseren: Schmeißt sich seitlich des Weges, witzigerweise zu Füßen des Schildes mit der Halbdistanz „25“ auf den Rücken und wälzt sich ausgiebig im Gras. Das Ganze begleitet von wohligem Brummen, mit dem sie auch akustisch kundtut: Mir geht es ganz ausgezeichnet! Laufen ist geil!
Insgesamt neunmal erklomm das Laufduo Udo-Roxi die 1.800 Höhenmeter hoch zur Sommeralm in der Oststeiermark. Der Sommeralm Marathon war in unserer Laufplanung Jahr um Jahr gesetzt, komme, was da wolle. Eine überaus reizvolle aber anspruchsvolle Strecke, die mich stets bis zur Erschöpfung auslaugte, Roxi hingegen nicht sonderlich zu erschöpfen schien; nicht mal 2020, als ich mit Roxi, der nun schon 13 Jahre alten Hundeoma, die letzte Auflage des Laufs genießen durfte. Tausendundeine Szene wirbelt mir durch den Kopf, haufenweise Kurioses und Schönes aus neun Jahren Sommeralm Marathon. Erzählen möchte ich aber von einer kritischen Situation, die mehr als viele andere zeigt, aus welchem Holz meine Laufpartnerin auf vier Pfoten geschnitzt war …
Etwa drei Kilometer vor dem Ziel gilt es ein steiles Stück Straße zu bewältigen. Wie immer auf dieser Passage ist Roxis Rudelführer bereits „fix und alle“. Autos donnern talwärts an uns vorbei. Lebhafter Verkehr im landwirtschaftlich geprägten steirischen Almenland, denn lange stand die Sonne am weiß-blauen Himmel, lud die Städter zu sonntäglichen Ausflügen ein. Dann aber zogen Wolken auf, türmten sich, drohten blauschwarz: Gewitterstimmung. Die entlädt sich seit ein paar Minuten mit Blitz und hier oben krachendem Donner. Zugleich versucht ein Wolkenbruch uns von der Straße zu spülen. Die Situation spitzt sich beängstigend zu. Vielleicht nicht objektiv, aber für zwei Wesen, die Naturgewalten und Autoverkehr schutzlos preisgegeben sind. Roxi erschreckt wahrscheinlich der Gewitterdonner, mich eher derjenige der an uns vorbeizischenden, Wasserschleier aufwirbelnden Autos.
Wir liefen an dieser Stelle stets vorschriftsmäßig und hart an der linken Fahrbahnkante. Roxi „klemme“ ich mir Kraft Kommando ans linke Bein. Der Befehl dafür ist „Langsam!“, ungeachtet der Bedeutung, die das Wort für uns Menschen hat. Eigentlich lässt ihr die Anweisung Spielraum, sie darf nach „Langsam!“ auch stückweit vor oder hinter mir laufen, ohne gemaßregelt zu werden. Spielraum, den sie für gewöhnlich souverän ausreizt, für mich trotzdem virtuell und sicher angeleint bleibt. Für gewöhnlich ausreizt, aber nicht hier und jetzt! Roxi erkennt und entspannt die Situation, weicht kein Jota von meinem linken Bein. Roxi denkt mit - daran besteht für mich kein Zweifel. Ihr Verhalten ist definitiv von mehr als nur Instinkt und Gehorsam bestimmt. Mein Hund versteht mehr von der Welt, als wir Menschen Seinesgleichen in der Regel zubilligen.
Mitdenkende Gemeinsamkeit bewies Roxi immer wieder, zum Beispiel auch im Sommer 2018, als sie mich beim Night 52 Ultralauf in Bretten (Kraichgau) begleitete. Wir starteten am späten Nachmittag, um 52 Kilometer später, irgendwann nach Mitternacht, das Ziel zu erreichen. Mithin verbrachten wir gut zwei Stunden trabend in Dämmerung und Dunkelheit. Häufig totale Finsternis abseits bewohnter Gebiete. Nie zuvor war ich mit Roxi im Dunkeln unterwegs. Training ist für uns stets Tag-Werk und Wettkämpfe über Nacht kamen der Streckenlänge wegen nie in Frage. Ich weiß also nicht wie sich Roxi in der Dunkelheit verhalten wird. Ein Risiko, das ich zweier Voraussetzungen wegen glaube eingehen zu dürfen: Unbedingtes Vertrauen in Fähigkeiten und Gehorsam meiner Hündin sowie gute Streckenkenntnis. Zweimal war ich bereits solo hier unterwegs. Und zur Not werde ich tun, was weder Roxi noch ich leiden können und sie anleinen.
Nach etwa 37 Kilometern ist die Dämmerung so weit fortgeschritten, dass ich Roxi das LED-Halsband anlege. So wird niemand sie übersehen (auch wenn wir nur selten Mitläufern begegnen und meist im autofreien Terrain unterwegs sind). Mir selbst erleichtern die roten Lichtpunkte um ihre Halskrause die Aufgabe Roxi sicher zu führen. Im Finstern muss ich dauerhaft Sichtkontakt halten. Deshalb bereite ich mich darauf vor sie in kurzen Abständen per Befehl herbeizuzitieren. Tatsächlich muss ich nichts dergleichen tun. Roxi weiß selbst, was zu tun ist. Sie bleibt auf Tuchfühlung und ständig im Lichtkreis meiner Stirnlampe. Schnüffeln nur wenn ich stehenbleibe, kein Vorauslaufen, kein Zurückbleiben - gemeinsam sind wir stark! Vermutlich erleichtert ihr das Licht der Stirnlampe auch die Orientierung. So einfach habe ich mir Nachtlauf mit Roxi nicht ausgemalt. Was für ein Traum von einem Hund!
Noch eine Anekdote aus diesem Lauf: Im Dunkeln, eine knappe Stunde vorm Ziel, erreichen wir die letzte Verpflegungsstelle. Entzücken und Begeisterung brechen über uns herein, wie oft, wenn ich mit Roxi auftauche. Sie schlabbert Wasser aus flugs gereichter Schale, während sich die Helfer gegenseitig mit Lobpreisungen zu Roxis Leistung überbieten. Wie alt Roxi denn sei, will einer der Helfer wissen. Die von mir angegebenen 11 Jahre multipliziert der Helfer flugs mit 7: „Man stelle sich vor: Einen Ultra laufen mit 77 Jahren!“ - Die einfache Formel „Hundealter = Lebensjahre x 7“ stimmt so nicht. Die Lebenserwartung eines Vierbeiners wird wesentlich von seinem Gewicht mitbestimmt. Im Internet verfügbare Tabellen berücksichtigen diesen Faktor. Damals entnahm ich ihnen kurioserweise den Wert „64“. Mithin waren Herrchen und Hund zum nämlichen Zeitpunkt gleich alt …
Beim Saar-Hunsrück-Supertrail 2015 freute ich mich auf zwei Ultra-Tagesetappen von 66 und 62 km. Ein gecharterter Bus brachte uns frühmorgens jeweils zum Start. Außergewöhnlich schöne Natur durften wir genießen, dazu ein paar Sehenswürdigkeiten und wie stets machte Roxi ihr Ding. Kein Anstieg zu steil, kein felsiger Pfad zu unwegsam, wenn ich um die „Ecke“ bog, wartete meine Begleiterin schon auf mich - oft mit der Nase am Boden oder an Büschen witternd. Nach Tag eins blickte ich auf ein grandioses Laufabenteuer zurück.
Doch dann der Schreck: Als wir zum Abendessen marschierten - Roxi war unterdessen bei einem Nickerchen zur Ruhe gekommen - lahmt mein Hund plötzlich. Offenbar verletzte sie sich im mehrfach felsig-steinigen Gelände am Lauf vorne links. Natürlich erbringen Abtasten und äußerliche Untersuchung keinen Befund. Ihre Verletzung ist aber immerhin so massiv, dass sie stehend die Pfote anwinkelt, um sie zu entlasten. Nicht nur der Ungewissheit wegen schlafe ich (hunds-)miserabel in der Nacht vor Etappe zwei. Roxi ist nicht einfach nur mein Hund. Uns vereint eine intensive Beziehung. Wenn’s Roxi nicht gutgeht, leide ich mit. Jeder, der mit seinem Hund eng verbunden lebt, weiß wovon ich spreche. Mich und Roxi schweißten darüber hinaus Jahr für Jahr ca. 4.000 gemeinsame Laufkilometer zusammen. Um 5 Uhr gehen wir zum Frühstück, Roxi begleitet mich. Ihre ersten Schritte wirken noch etwas "ungelenk", alsbald tippelt sie munter drauflos. Alles wieder in Ordnung? Scheint so: Als wir zum Start aus dem Bus steigen, vollführt Derwisch Roxi die üblichen Pirouetten, kläfft und springt in unbändiger Vorfreude über den Startplatz. Auch kritischer Augenschein erbringt keinen Hinweis auf eine Bewegungseinschränkung. Da ist nichts ... oder etwa doch? Wenn sie bloß reden könnte! Traf ich die richtige Entscheidung? Für sie, für mich, für uns? Oder handelte ich aus rein egoistischen Motiven? Seit ich mit ihr in den Bus stieg, erwehre ich mich heftiger Zweifel gefolgt von Attacken meines Gewissens.
Dennoch klemmen wir uns hinter die startende Meute und rennen los. Roxi fällt sofort in ihren üblichen „Doggy Way of Running“, ist flugs über alle Berge, holt mich kurz darauf ab, schießt wieder davon, and so on … Ihre Pfote scheint wieder voll intakt! - An Wunder glaube ich nicht. Mehrfach erlebten wir staunend, dass „Born to be wild“ nach wildem Spiel hinkte, kurze Zeit darauf, spätestens am nächsten Tag jedoch wieder quietschfidel umherstreifte. Also lasse ich Optimismus zu und erhoffe mir auch heute ein gedeihliches Laufduett …
Erste Risse erleidet meine Zuversicht nach anderthalb Stunden; und nach einem halben Marathon erwäge ich ernsthaft uns beide aus dem Rennen zu nehmen! Mit jedem Kilometer wurde Roxis Behinderung vorne links offensichtlicher. Nach und nach reduziere ich das Tempo, dennoch bleibt Roxi irgendwann zurück. Das gab's noch nie! Unschwer jetzt erkennbar: Jede Belastung der linken Vorderpfote tut ihr weh. Wieso wimmert sie nicht, schleppt sich stattdessen voran. Sie tut mir entsetzlich leid. Ich könnte heulen und mich ohrfeigen zugleich. Ein Bach. Schicke Roxi ins hundebauchtiefe Wasser. Pfote und Vorderlauf kühlen. Vielleicht lindert das die Beschwerden. Wenn's noch dramatischer wird, muss ich sie tragen - egal wie weit es zum nächsten Verpflegungspunkt auch sein mag, und egal wie lange es dauert!
Extrem langsam arbeiten wir uns den abschüssigen Waldweg hinab. Ich gehe (!) voraus, Roxi humpelt hinterdrein. Unser Abenteuer Saar-Hunsrück-Steig ist gescheitert, am nächsten Verpflegungspunkt steigen wir aus. Kann nicht mehr weit sein, vielleicht noch einer, höchstens zwei Kilometer … Unterdessen hadere ich mit meiner falschen Entscheidung: hätte Roxi diese Belastung heute auf keinen Fall zumuten dürfen. Dann und wann verweile ich kurz, streichle Roxi, gönne ihrer Pfote eine kurze Pause. Ich weiß, dass ihr Blick keine Gefühle auszudrücken vermag, was mich jedoch nicht daran hindert, leidvolle zu erblicken und mich schlecht zu fühlen. Ich weiß auch, dass mein besorgtes Getue ihre infolge Handicaps ohnehin vorhandene Unsicherheit eher vertieft. Nur kann ich nicht anders.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir die Versorgungsstelle und alles kommt anders als erwartet. Der Veranstalter ist vor Ort und will meine Abmeldung nicht akzeptieren. Redet mit Engelszungen auf mich ein, Roxi ihm und seinem ebenfalls anwesenden Sohn anzuvertrauen. Man garantiere für Roxis Wohl, werde sie ins Ziel mitnehmen. Nüchtern betrachtet eine naheliegende Lösung des Problems. Für Roxi wird gesorgt und ich kann den Wettkampf zu Ende bringen. Tatsächlich bedeutet ihn anzunehmen Gefühlschaos. Zu wissen, dass Roxi Zutrauen zu allen Menschen hat, sich auch in Hundepensionen mit Familienanschluss Flugreise-bedingt wohlfühlte, hilft mir nicht weiter. Ich lege Roxi die Leine an und nicht erst dabei schießen mir Tränen in die Augen. Zur Sicherheit erläutere ich noch Roxis Grundwortschatz (Sitz! Platz! Fuß! Bleib!), schließlich gebe ich sie in fremde Hände. Ein schlimmer Moment - der schlimmste steht mir aber noch bevor: Ich befehle "Roxi bleib!" und stehle mich davon. Was ich tue, fühlt sich falsch und grausam an. Nach Im-Stich-lassen, Verstoßen, Ausliefern, Untreuwerden und mehr. Ich möchte umkehren und laufe doch immer weiter von ihr weg …
Im Ziel finde ich sie auf der Seite im Gras liegend und schlafend vor. Als ich sie wecke begrüßt sich mich überschwänglich, keinen Deut anders als nach anderen „Trennungen“. Als sei das, was ich ihr (eher mir selbst?) zumutete, die normalste Sache der Hundewelt. Bevor man mir das Etikett des egoistischen Hundeschinders anheftet sei noch dies erwähnt: Anlässlich der Begrüßung wieselt Roxi um mich herum, als wäre ihr Lahmen vor ein paar Stunden pure Einbildung gewesen. Nicht die allerkleinste Einschränkung ihrer Beweglichkeit mehr erkennbar. Kein Hochhalten der Pfote, kein Hinken, rein gar nichts. Happy End nach den schwärzesten Stunden, die ich je mit meiner vierbeinigen Begleiterin beim Laufen durchlebte.
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Die episodische Schilderung unserer Laufpartnerschaft ließe sich nahezu endlos verlängern. Und all die Szenen oder Bilder sind mir geläufig als wär‘s gestern geschehen und nicht schon Jahre her. Roxi verkörperte für mich immer die ideale Laufpartnerin. Dass sie mich schon 2022 nur noch auf kurzen Strecken, später überhaupt nicht mehr begleitete, ändert daran nicht das Mindeste. Ausdauerndes Tippeln fiel ihr zunehmend schwerer, machte ihr nur noch selten Spaß. Sie signalisierte das mit beharrlichem Hinterherlaufen so lange wir uns vom Startort entfernten. Sobald die Runde sich dem Ziel - zu Hause, Auto - zuwandte, bildete Roxi wieder die Spitze. Laufen hält auch alternde Hunde fit und gesund, so mein Kalkül, weshalb Roxi auf kürzeren Strecken noch monatelang zum Mitlaufen verdonnert wurde. Anfang 2023 hatte sich Roxis „Tippeltempo“ so weit verlangsamt, dass ich nur pendelnd, also durch vielfache Richtungsumkehr, Kontakt zu ihr halten konnte. Eine Weile praktizierte nun ich, was „Born to be wild“ über viele Jahre zu eigen war: Vorauslaufen, alsbald umkehren und schauen, wo der Laufpartner bleibt.… Schließlich war es an der Zeit Roxi ihr wohlverdientes Altenteil zu gönnen. In Menschenjahre umgerechnet hatte sie unterdessen die 90 erreicht oder gar überschritten. Hinter uns lag ein Laufabschied in Etappen: August 2020 der letzte gemeinsame Marathon, 2022 keine ausgedehnten Trainings mehr, in den ersten Monaten 2023 schlussendlich Roxis Laufruhestand.
Kann man nachfühlen, dass Roxi mich auch nach ihrer „Verrentung“ noch begleitete? Nicht nur auf Hausstrecken, auf denen wir zigmal Als Team unsere Fuß- und Pfotenabdrücke hinterlassen hatten, meinte ich oft ihre Silhouette wahrzunehmen. Erwies sich eine neu belaufene Marathonstrecke fern von daheim als nahezu ideal fürs einstige Laufduo Roxi-Udo, überkam mich stets Bedauern auf Roxis Begleitung verzichten zu müssen …
Jetzt tippelt sie mir nicht einmal mehr zu Hause entgegen. Kein Schwanzwedeln mehr, wenn Herrchen vom Training heimkehrt. Und doch ist sie noch da, in mir drin unauslöschlich präsent, mein guter Geist, nicht nur auf zahllosen Laufstrecken. Ich spüre ihre Anwesenheit und das wird so bleiben.