Ende November 2024
oder:
Noch ist es nicht vorbei, doch schon jetzt würde ich das Jahr 2024 gerne aus meinen persönlichen Annalen tilgen. Erster Grund: Seit April war Laufen infolge Meniskusverletzung und minimalinvasivem Eingriff zur Behebung desselben nicht möglich. Dann, Mitte August, schien der „Acker“ - das vormalige Operations-„Feld“ - wieder gut bestellt, „darein“ säte ich erste Laufschritte und hoffte auf reiche Ernte. Begann also wieder zu laufen und freute mich
über mein beschwerdefreies Knie wie einst Klein-Udo beim Anblick des leuchtenden Weihnachtsbaumes. Freute mich mit solcher Inbrunst, dass ich dem Leichtsinn anheimfallend meinen Laufradius zu schnell ausdehnte. Nach nur zwei Wochen joggte ich schon wieder fünf Kilometer am Stück. Aber nur zweimal, dann zeigte mir der reparierte, nichtsdestotrotz 70jährige Meniskus erneut den Mittelfinger. Was so hoffnungsvoll begann, endete jäh mit wieder aufflammenden Schmerzen im Knie und Weltuntergangsstimmung im Kopf.
Allerdings gilt mir als verbindliches Lebensmotto: Einmal mehr Aufstehen als Hinfallen! Nach neuerlicher Laufpause, Mitte Oktober, half mir ein Zufall die infolge Wiederanlaufdebakels verständliche Furcht vor weiteren Laufschritten zu überwinden: Beim Einsetzen eines heftigen Regenschauers zu Fuß unterwegs wollte ich mich unter ein Vordach retten. Auf halber Strecke dorthin wechselte ich unwillkürlich von zügigem Gehen ins Joggen. Als ich realisierte: Ich laufe! war meine Freude über abermals ausbleibende Beschwerden riesig. Nach Abebben des Regens fasste ich mir ein Herz und joggte spontan sechs Intervalle zu je etwa 100 Metern mit Gehpausen. In Abwandlung eines berühmten Zitats: „Eine kleine Strecke für einen Läufer, aber eine riesige Distanz für Udos repariertes Knie.“
Seitdem gingen fast sechs Wochen ins Land, in denen ich 21 mal zum Lauf-„training“ aufbrach; stets mit Bangen im Herzen und um Potenzen bedächtiger als beim ersten Laufeinstieg. Heute nun will ich mit nonstop neun Kilometern einen „post-operativen, persönlichen Weitenrekord“ aufstellen. Absicht: Sehr langsam traben, mit betont kurz gesetzten Schritten und ständig in Richtung Knie in mich rein horchend. Die dafür ausgewählte Strecke ist der Beschreibung kaum wert: Ein Drittel Gewerbe-/Wohngebiet, ein Drittel Straßenrand, ein Drittel am Rande eines Stausees. Von Letzterem bekomme ich allerdings nichts zu sehen, weil ich böigen Wind fürchtend Pfade am Dammfuß beschreite. Um es unmissverständlich auszusprechen: Die Umgebung war mir bei bisherigen „Gewöhnungsläufen“ absolut gleichgültig. Total aufs linke Knie fokussiert nehme ich meist nicht einmal wahr, was um mich herum vorgeht. Freude am Laufen? - Das war einmal und wird auch wieder sein. Doch zur Zeit …
… kreisen meine Gedanken ausschließlich um die nötige Stabilisierung des „rekonvaleszenten“ Knies. Natürlich werde ich hart „arbeiten“ müssen, bis ich meine Beine (dereinst hoffentlich) wieder über Marathondistanz werde schicken können. Um den Laufradius zu erweitern könnte ich forscher steigern, als es dem Knie zuträglich wäre. Doch es geht noch für längere Zeit allein um besagte Abhärtung. Muskeln und Organe, in denen Ausdauer residiert und
wächst, passen sich schneller an, weil sie durchblutet und bestens mit Nährstoffen versorgt sind. Knochen, Sehnen, Bänder und vor allem Gelenke - das Knie! - brauchen dafür deutlich länger. Zumal in meinem Alter und nach mehrmonatiger Zäsur im Bewegungsumfang, die muskuläres ab und Fettgewebe aufbaute.
Udos erste Läuferpflicht: stets besonnen und achtsam joggen, sich mit kleinen Erfolgen bescheiden und falschem Ehrgeiz wehren. Gerade der lauert latent und nimmermüde, meinem Lebensalter hohnsprechend auf seine Chance. Vermutlich gehört sportlicher Ehrgeiz zu dem Teil meiner Persönlichkeit, der zuletzt erlischt, wenn dereinst die Frage „Sein oder Nichtsein?“ unwiderruflich abschlägig beschieden werden wird. Heute aber immerhin und als Belastungsdosis dem Knie mutmaßlich zumutbar 9 Laufkilometer. Ziemlich weit für Laufeinsteiger und als solchen verstehe ich mich dieser Tage wieder.
Bin unterwegs: Die Wahrnehmungen der ersten Minuten habe ich erwartet, sie wiederholen sich bei jedem Training in fast identischer Weise: Einige Schritte weit gar keine Reaktion des reparierten Knies, ein paar Minuten lang gefolgt von leichtem Druck unter der Kniescheibe, zuletzt und kurz ein Zwicken in Höhe Innenmeniskus, dann verschwinden die orthopädischen Anlaufsignale und das Knie verrichtet seine Arbeit klaglos. Sobald es so weit ist, legen sich auch die stets aufwallenden Bedenken, es zuletzt vielleicht doch wieder übertrieben zu haben: Na also! Geht doch!
Während um mich her Wohnbebauung vorüberzieht, ich alsbald am Straßenrand böigem Wind ausgesetzt bin, genieße ich ein paar Kilometer körperlicher Unbeschwertheit. Laufen! Wie sehr hab ich vermisst zu laufen - seit es erst der Schmerzen wegen nicht möglich, später postoperativ ärztlicherseits verboten war. Laufen! Ich kann leben ohne zu laufen, aber es fehlt mir. Sehr. Lange, flotte
Spaziergänge, Radfahren, Krafttraining - strengt an, ist aber kein befriedigender Ersatz, nicht mal annähernd. Nichts, rein gar nichts, kann mir das Laufen ersetzen. Totalverlust im April und nun kämpfe ich mich wieder heran. Marathon? Noch lange kein Thema. Wenn mich nichts Unvorhergesehenes bremst, dann hoffe ich auf ein Comeback im Marathonzirkus etwa zur Jahresmitte 2025; mit dann wieder ausreichend Ausdauer und vor allem Robustheit im „Fahrgestell“ ausgestattet.
Ich bin raus aus der Ortschaft, langweilenden Ansichten entkommen. Dafür bedrängt mich nun emotional ein weiterer, schlimmer Verlust dieses verflixten Jahres. Es gibt hier praktisch keinen Streckenabschnitt, der nicht mit Erinnerungen an Roxi überreich gepflastert wäre. Roxi, meine Laufgefährtin auf vier Pfoten. Zwar begleitete sie mich schon etliche Monate nicht mehr, war längst zu alt dafür. Aber wenigstens wartete sie zu Hause auf mich. Bis in den Juli, dann … Totalverlust einer Liebe, die ich so innig und heftig nie erwartet hätte. Obwohl, so total ist der Verlust dann doch nicht. Manchmal, wenn ich den Blick nach vorn oder zur Seite richte, dann sehe ich sie: zum Schnüffeln verharrend oder mit elegant schwingender Rute vor mir her tippeln. Roxi, der gute Geist abertausend gemeinsam gelaufener Kilometer ist noch immer in mir …
Die „Kilometer körperlicher Unbeschwertheit“ sind vorbei, die Uhr bescheinigt mir vier-, fünf-, dann sechstausend gelaufene Meter. In dieser Phase muss ich mir schon jeden Schritt abringen. Dem übergewichtigen Kerl fehlt es halt auch an Ausdauer. Aber das ist mir gleichgültig. Die Ausdauer hole ich mir so sicher zurück, wie ein Gebet mit Amen endet. Aber vorsichtig muss und will ich sein! Beinahe als Mantra fordere ich unterwegs häufig Mäßigung von mir ein - nicht zu weit, nicht zu oft, nicht zu schnell. Heute neun Kilometer, 400 Meter mehr als beim letzten Mal. Ende November will ich die magische „10 Kilometer-Marke“ überschreiten …
Ups! Kurz zwickt der Meniskus. Ein paar Schritte, dann ist der Spuk schon wieder vorbei, bevor mich Panik anspringen kann. Noch mal „hinspüren“ … … … Alles wieder Palletti, alles gut … Kam das Zwicken wirklich vom Knie oder narrte mich im Unterbewussten schwelende Angst? Ein ganz sicher vorhandener Dauerlevel an Furcht, der nach Art einer self-fulfilling Prophecy wirkt? Es wird noch lange dauern, bis ich meinem Körper, insbesondere dem Knie, wieder ohne Vorbehalt vertrauen werde. Leute ich bin siebzig! Schon vor dem „MmmM“ - Mist mit‘m Meniskus - zwackte es allerorten im Gewebe und Ausdauer für Marathon oder weiter zu halten forderte gewaltige Anstrengungen von einem alten Mann. Aber ich werde das schaffen: Nächstes Jahr, irgendwann, melde ich mich auf der
Marathonstrecke zurück. Es gab Wochen, in denen ich daran ernsthaft zweifelte. Inzwischen, mit jedem weiteren, schmerzfrei absolvierten Läufchen und langsam wachsender Reichweite wächst auch die Zuversicht.
Sieben Kilometer, Rückkehr in die Wohnbebauung, Bilder wahrnehmen und abspeichern überflüssig. Ich reduziere nochmal das ohnehin geringe Tempo, will auf dem verbleibenden Abschnitt nichts riskieren. Auch, weil sich nun Erschöpfung in allen Fasern breitmacht. Schon bis hierhin sieben absolvierte Kilometer sind reichlich weit für meinen Trainingszustand. Ich setze einen Fuß vor den anderen, schaue der Uhr beim Kilometerzählen zu und forciere die gen Knie gerichtete Aufmerksamkeit: Keinen Mucks überspüren! Bloß nicht! Sofort abbrechen, wenn … Aber das „wenn“ tritt nicht ein. Hüft- und Gesäßmuskulatur schwenken bereits die weiße Fahne, die Füße schmerzen, die Beine sind bleischwer, selbst im Nacken scheint die Muskulatur verhärtet. Nur vom Knie erreicht mich gottlob kein Notruf.
Angekommen, ich gehe die letzten Meter, lese neun Kilometer ab, stoppe die Uhr, bin erleichtert. Lauf Nummer 22 nach Neustart zwei geglückt. Ich bin müde. Müde aber auch zufrieden und ein bisschen glücklich. Ein bisschen, nicht rundherum. Zum Rundherum-Glück fehlt noch das Vertrauen in eine gedeihliche Laufzukunft. Die einst unerschütterliche Zuversicht werde ich mir peu à peu zurückholen. Das kann ich, es geht voran. Allein mein Ehrgeiz rümpft ein wenig die Nase nach „nur“ neun Kilometern. Aber den bringe ich mit geharnischten Anklagen stets rasch zum Schweigen: Führte nicht dämlicher Übereifer zum Meniskusschaden im März? Und was war mit dem Scheitern beim ersten Re-Start? Verführtest nicht du mich, „elender Ehrgeiz“, zu unbotmäßigem Steigern?
Fortsetzung folgt! Das ist nicht als Drohung zu verstehen, sondern als Ausdruck gegenwärtig vorherrschender Zuversicht!