30. Juli 2023

Rutschpartie  -  Nordschwarzwald Trophy Trailrun T47

Mit jedem Satz, den der Offizielle ins Mikro spricht, rutscht mein Herz etwas tiefer in die Laufhose. Das ist einerseits dem Charakter des „Laufjobs“ geschuldet, den ich in Bälde „erledigen“ werde: 47 km Trail mit 1.300 Höhenmetern. Gedrungener Körperbau und bestenfalls ausreichende Gewandtheit disqualifizieren mich eher für Läufe mit solchen Anforderungen. Darauf war ich mental eingestimmt, meinte damit klarzukommen. Die heute schlechten äußeren Bedingungen lassen nun doch ansatzweise Panik aufkeimen. Nach allem, was ich seit ein paar Minuten höre, haben enorme, ein Gewitter begleitende Niederschläge Teile der Strecke in bodenlose Rutschbahnen verwandelt. Morast und gefährlich schmieriges Gefälle erwarten mich; anscheinend auch ein Bach, der nicht mehr trockenen Fußes überwunden werden kann. Auf mich, der ich nur bedingt einsatzbereit diesen Jogg antrete. Meine Ausdauer heute ist … fragwürdig! Wie weit ist die Erholung nach dem Marathon vor vier Tagen gediehen? Darüber hinaus passt auch meine Ausrüstung nicht zum Geläuf, das ich offenbar vorfinden werde. Ich entschied mich für „normale“ Laufschuhe.

Uneingeweihte Leser werden sich fragen, wie jemand, den außer fehlendem Talent im Gelände inzwischen auch sein Lebensalter in die Schranken weist, sich zu einem Ultratrail versteigen kann. Eingeweihte Leser kennen meine Situation: In zwei Wochen will ich 100 Meilen in Berlin laufen, auf die ich mich mit stundenlangem, erschöpfendem Training vorbereiten möchte. Deshalb stehe ich hier, in der Startaufstellung der einzigen, erträglich weit von zu Hause stattfindenden Veranstaltung dieses Wochenendes. „In der Not frisst der Teufel Fliegen!“ eine Redensart, die meine „Not“ treffend zusammenfasst. Klaus versteht ganz sicher, was ich damit ausdrücken will; gehört er doch zu jenen, die meinen „Laufweg“ in den vergangenen Monaten mit Aufmerksamkeit begleiteten. Außer Klaus begegne ich mit Jürgen, Reinhold und Norbert weiteren Bekannten aus der Region Stuttgart. Was nicht verwundert, weil der Ort des Geschehens, Schömberg im Nordschwarzwald, gerade mal 40 km Luftlinie von Stuttgart entfernt liegt.

Der Offizielle hat es an Humor beim Lautmalen des Streckenzustandes nicht fehlen lassen, zum Lachen ist mir trotzdem nicht zumute. Zumal es ein paar Sekunden vorm Startsignal auch noch zu regnen beginnt. Ich krame die Schildkappe aus dem Laufrucksack und dekoriere meinen Kopf. Vor wenigen Minuten schien noch die Sonne und nährte die Hoffnung auf ein paar wenigstens von oben trockene Stunden … Der Sommer 2023 nervt. Die einen mit wochenlanger Hitze, danach mich mit gefühlt schon etlichen Wochen ständiger Gewitter und Wolkenbrüche. Der Start geht in der Nähe des Kurhauses von Schömberg über die Bühne. Nach ein paar hundert Metern Asphalt biegen wir in den Wald ab. Die ersten fast vier Kilometer dienen als „Zubringer“, der nur zu Beginn gelaufen wird. Darauf folgt der eigentliche Rundkurs, 22 km, den die „T25-Teilnehmer“ im Feld einmal, wir „T47-Ultras“ ein weiteres Mal absolvieren werden. Wobei die Bezeichnung „Rund-“kurs die gequetschte, vielfach gewundene, sich an drei Stellen auf Hin- und Rückweg berührende Route höchst unzulänglich wiedergibt.

Die Ouvertüre zu diesem Jogg spült meine ärgsten Bedenken erst einmal von Bord - dem nun stet und ergiebig fallenden Regen zum Trotz. Als mich der erste Trail fordert liegen überraschenderweise bereits acht (!) Kilometer hinter mir. Bislang hatte ich Asphalt und überwiegend feste Waldwege unter den Sohlen. Außerdem - ebenso überraschend - tragen mich heute ausdauernd und ausgeruht wirkende Beine. Haxen, die mir obendrein das Gefühl vermitteln, diese erstaunliche Frische für geraume Zeit bereitstellen zu wollen. Beide Umstände zusammen nehmen den ärgsten „Cut-Off-Druck“ von meinen Schultern. Denn: Wer für die erste Runde ( einschließlich „Zubringer“ 25 km) länger als 3:30 Stunden braucht, wird disqualifiziert. Um diesem „Fallbeil“ zu entgehen, wählte ich ein flottes, meinem Durchhaltevermögen mutmaßlich abträgliches Anfangstempo. Alle Kräfte auf die ersten, entscheidenden 25 km fokussieren! Die zweite Runde spielt in meinen Überlegungen eine untergeordnete Rolle. Für diesen „Rest“ gesteht mir die „Taktik“ schon jetzt ein Höchstmaß an „Schlendrian“ zu (unterstellt überdies „Leidenmüssen“ als nahezu garantiert). Umso optimistischer registriere ich die aktuellen Rückmeldungen von innen. Mag sein, dass ich „hinten raus“ werde büßen müssen, bis zum Cut-Off-Punkt sollte ich das forsche Tempo allerdings konservieren können.

Den ersten Trail, nur ein paar hundert Meter lang, überwinde ich mit einiger Bravour. Kommt mir auch ein bisschen wie ein Test vor: Na Udo, was hast du heute drauf? - Für meine Verhältnisse erstaunlich viel, mache ich mir Mut. Um wie viel rasanter und eleganter Trailspezialisten über diesen Pfad zu „fliegen“ vermögen, stelle ich mir lieber nicht vor. Steine verlegen mir den Weg, zuweilen auch Wurzeln und wie erwartet sprengt der Trail den Rhythmus meiner Schritte, ernsthafte Hürden aber errichtet er nicht. Vor allem besteht nirgendwo eine erhöhte Gefahr auszurutschen, von der im Streckenbriefing mehrmals die Rede war.

Kaum dem „Testtrail“ entronnen entere ich eine Straßenkreuzung. In deren Zentrum lockt der erste Verpflegungsstand. Alle Zufahrtsstraßen wurden zugunsten der Veranstaltung gesperrt.* Ich schlucke ein erstes Gel und kippe mehrere Becher Flüssigkeit in mich rein. Das an sich verfrühte Gel mit voller Absicht, um bis zum Cut-Off meine „energetische Standhaftigkeit“ durch keine Unterlassung zu gefährden. Für die Unmengen flüssiger Labsal habe ich im Grunde genommen keine sinnvolle Erklärung. Im Regen dehydriere ich kaum, Durst verspüre ich schon gar nicht. Zudem werden wir auf die nächste „Tränke“ bereits in sechs Kilometern treffen. Einziges Argument: zu wenig kann man trinken, zu viel nie! - Überschuss lässt sich jederzeit am Streckenrand entsorgen.

*) Die Straßensperrung wurde vor allem für die am Vortag durchgeführten Mountainbike-Bewerbe vorgenommen. Die beabsichtigte rasche Freigabe der Straßen begründet den Cut-off.

Ein Stückchen die Straße hinan, dann biege ich wieder auf einen Waldweg ab. Und von dergestalt festem Geläuf alsbald auf noch festeres: am Waldrand aufwärts auf Asphalt. Einigermaßen steil aufwärts. Was ich erstaunlicherweise weniger in den Beinen spüre, als es das Beispiel mehrerer meiner Mitläufer vermuten ließe: alle gehen. Obschon es auf diesem Abschnitt „richtig in Wallung gerät“, wird mir eher „leicht ums Herz“. Wer erklärt mir meinen Körper? Mittwoch prügelte ich mich noch mühsam über die Steigungen beim Hohenlohe Marathon und nun das! Natürlich geht die aktuelle „Leichtigkeit“ wenigstens teilweise aufs Konto meines Bio-Rhythmus‘; der noch am Mittwoch in einem Sumpf aus Schwäche versackte und mich heute von lichter Höhe zuversichtlich vorausblicken lässt. Den wirklich krassen Unterschied zwischen „heute oben“ und „vor vier Tagen ziemlich weit unten“ erklärt das aber nicht …

Kilometer 11: Es ist soweit, der Tanz auf glitschigem Parkett beginnt. Zunächst harmlos als Graspiste, die jedoch immer feuchter und weicher wird. Bis mir schließlich in voller Breite knöcheltief schmierige Masse den Weg verlegt. Im leicht abschüssigen Gelände habe ich übergangslos Mühe das Gleichgewicht zu halten, drohe überdies auszurutschen. Mein gehetzt hin und her schwenkender Blick sucht einen Ausweg … meint ihn dicht am Rand der Suhle auszumachen, lenkt mich dorthin. Tempo runter, höchste Konzentration, Sohlen haften … einigermaßen jedenfalls. Rutsche kurz, fange mich wieder, bin drüber weg. Drüber weg und Sekunden später vor der nächsten schmierig schlammigen Passage. Versuche es - mehr oder weniger erfolgreich - mit derselben Taktik: dicht am Rand abwärts tasten … … … Die Schuhe beginnen schon hier die Farbe zu wechseln. Das ursprüngliche dunkelblau verschwindet rasch unter lehmig braunen Flecken. Dennoch fühle ich mich der Situation gewachsen … bis das Gefälle plötzlich zunimmt … dafür bin zu schnell, viel zu schnell … halte mich wieder am Rand, suche mit den Augen trittfeste Stellen, um die Hatz zu verlangsamen … gelingt mir nach und nach … kurzes, seitliches Ausgleiten im und in Richtung noch tieferen Morastes … abgefangen, Oberkörper schwankt, balanciere mich aus … und jetzt noch eine rechtwinklige Kurve, schramme hart am Rand aufs Gestrüpp voraus zu … Sohlen greifen, Steppschritt zur Seite, ein paar rasche kurze Bremsschritte folgen … puh, das war knapp!

Weitere solche Abschnitte - teilweise noch schlammiger, tiefer, schmieriger - verlegen mir auf dem derzeit überwiegend talwärts strebenden Kurs den Weg. Und nicht immer besteht die Möglichkeit dem Morast randseitig Paroli zu bieten. Wie ich es schaffe die vielen Suhlen ohne Sturz hinter mich zu bringen, verstehe ich selbst nicht recht. Vor allem, weil ich, den Cut-off im Nacken, meinem Lauftempo einstweilen den Vorzug gebe. Anders als gewöhnlich, da ich der Minimierung des Sturzrisikos alle anderen Belange unterordne. Glücklicherweise darf ich mich mehrfach zwischendrin auf festen Waldwegen „entspannen und sammeln“.

Sammeln und für Minuten die Gedanken schweifen lassen. Gestern trugen die Mountainbiker ihren Wettkampf auf dieser Piste aus. Wieso sehe ich keine Reifenspuren? Und wie bezwangen die „Pedalritter“ die schlammigen Rutschbahnen? Dem Radlaien in Laufschuhen bleibt rätselhaft, weshalb die Räder nicht im stellenweise mehr als knöcheltiefen Boden steckenblieben!? Oder war das Geläuf gestern noch um einiges tragfähiger als heute, da noch nicht von Regenwasser gesättigt?

Mit Kilometer 14,6 im Zähler glaube ich mich am tiefsten Punkt der Route angekommen. Ich wechsele zur Profildarstellung des Tracks* und finde meine Vermutung auf der Uhr bestätigt. Nun lange zehn Kilometer meistenteils bergauf und ich frage mich, wie das in Morastsuhlen watend einigermaßen flott gelingen soll. Der erste Anstieg zwingt mich auf einen zwei Fuß breiten, zwar steilen aber gottlob griffigen Pfad. Mühsam kämpfe ich mich aufwärts voran - selbstverständlich stur an meiner Marotte festhaltend jeden Meter Strecke laufen zu wollen. 30, 40, 50 Meter aufgestiegen, dann wird die Spur flacher, ich komme wieder rascher voran. Rascher aber natürlich deutlich langsamer als bisher. Sofort springt mir wieder das Cut-off-Gespenst in den Nacken. Wenn mich jetzt auch noch Schlammstrecken bremsen, dann wird’s am Ende knapp …

*) Den Track zog ich nach ein paar Kilometern nicht mehr zu Rate, weil seine Richtungsangaben mehrmals nicht mit der tatsächlichen Strecke übereinstimmten. Die Route war jedoch „üppig“ und unzweideutig markiert.

Überwiegend rauf, zwischendurch aber auch mehrfach runter, wie jetzt in diesen Serpentinen. Der vom Regen ausgewaschene Pfad - Rinnen, große Steine, Geröll, blanke Stellen, Wurzeln - hält mich wider Erwarten kaum auf. Wieder wundere ich mich über die Selbstverständlichkeit früherer Tage, mit der meine Füße heute Laufschritte produzieren. Nicht mehr so flink und kürzer ausgreifend wie ehedem, aber eben nicht mit der zur Gewohnheit gewordenen bleiernen Schwere der letzten Monate. Unterhalb wetzen zwei Mitläufer durch die Kehren. Kurzer Stopp und Fotos. Von unten dringt auch lauter werdend Applaus und Bravo an mein Ohr. Erwartet uns dort der angekündigte Verpflegungsposten? Zeit wär’s, fast 16 Kilometer meldet die Uhr.

Keine Tränke auszumachen als ich vom Pfad auf den festen Forstweg wechsele. Eine einsame Spaziergängerin (?), die sich offenkundig vom Wettbewerb begeistern lässt, spendet hier Beifall. Dankende Geste und weiter. Weiter bergauf versteht sich, nun ohne Unterbrechung fast drei Kilometer weit mit wechselndem Steigungswinkel. Nichts, was ich nicht tippelnd bezwingen könnte und zu meiner Erleichterung gänzlich frei vom befürchteten Matsch. Währendessen halte ich unentwegt Ausschau nach dem bei Kilometer „15,irgendwas“ versprochenen Versorgungspunkt. Jetzt 16 Kilometer: Fehlanzeige. 16,5 und 17: noch immer nichts. Mein Groll meldet sich in dem Moment zu Wort, als mir klar wird, dass es diesen Verpflegungspunkt nicht gibt!? „Unverantwortlich“ und „Organisationsversagen“ gehören noch zu den harmloseren Worten, die ich von nun an in meinem „vor Zorn bebenden Herzen bewege“! Jetzt keine Versorgung, bedeutet zugleich, dass auch die für Kilometer 38, in Runde zwei, angekündigte Station ausfällt. Zweimal auf einer Distanz von 10 Kilometern nichts zu trinken heißt das. Unglaublich!

Die in neuerlichen Abwärtsserpentinen erforderliche Fokussierung aufs Geläuf drängt den Ärger zurück. Und nicht nur den Ärger: Natürlich hege ich auch Bedenken, ob ich irgendwo falsch abbog und dadurch den VP verpasste. Das könnte obendrein die Disqualifikation bedeuten. Mist! Ganz großer Mist!

Ein abschließender Sprung vom holprigen Trail auf sicheren Asphalt und schon schickt mich ein Streckenposten auf mäßig ansteigender Straße aufwärts. Ich hole Klaus ein und meckere über die entgangene Versorgung. Klaus wirkt vor allem erleichtert, dass mein Protest ihm bestätigt keine falsche Route genommen zu haben. Ich tippele zügig weiter aufwärts, der bekannten, mitten auf der Kreuzung logierenden „Tränke“ entgegen. Was für Konsequenzen wird die fehlende Versorgung für mich haben? Derzeit plagt mich noch kein Durst, was dem kühlen Vormittag geschuldet ist. Und wahrscheinlich auch dem Umstand, dass ich meinen Magen vor über einer Stunde übermäßig mit Flüssigkeit füllte. Exakt diese Taktik werde ich nun weiter verfolgen müssen.

Ich führe meine Beschwerde mit beherrschter Stimme, das Knurren darin überhört die Helferin am VP keinesfalls. Es hätten schon andere vor mir die fehlende Station reklamiert, gibt sie zu Protokoll. Sie, die ja nur hilft, der nicht das geringste Verschulden anzulasten ist. Aber sicher wird sie den „kumulierten“ Unmut der Läuferschar an jene weitergeben, die es verbockt haben. Wie dem auch sei: Ich bedanke mich artig bei der Dame für Speis (Gel) und Trank (Wasser), bevor ich im nahen Wald abtauche …

Der nächste Trail fordert, ich bleibe fokussiert, behalte aber auch den Kilometerzähler im Auge. 20 Kilometer lese ich dort gerade ab, dazu mich vollends „entspannende“ 2:23:xx auf der Uhr. Mehr als eine Stunde bleiben für fünf Kilometer! Der Cut-off kann mich mal kreuzweise! Nur ein Sturz mit Verletzung als möglicher Folge kann mich noch stoppen. Und genau diese Gefahr schießt wenig später dergestalt ins Kraut, dass sich mir die Nackenhaare aufstellen … Zunächst traile ich über den technisch mäßig schwierigen Pfad in minimalem Gefälle. Dabei mit den Augen immer nur ein, zwei Schritte vorausschauend, um mutmaßlich trittsichere Fleckchen für meine Füße zu finden. Darum erkenne ich die steil abfallende, glitschige Rechtskurve erst im letzten Moment. Um anzuhalten und einen sicheren Weg zu „planen“, bin ich zu schnell unterwegs … Zum Glück trete ich intuitiv nur auf Grund, der mein Gewicht trägt. Einmal nur rutsche ich aus, kann mich aber wieder fangen. Steil runter im jetzt engen Hohlweg, etwa 20, 30 Meter weit … Ich meide blanke Erde, latsche durch Geröll, das noch am ehesten Halt zu bieten scheint … überwinde ein schwieriges Stück, indem ich mich am dünnen Stamm eines Bäumchens festhalte … das Manöver bremst meine Fahrt ausreichend, um auch noch die letzten Meter unfallfrei zu überwinden …

Kilometer 21,5: Eine Läuferin ist schon drüben, ein Mitläufer versucht gerade trockenen Fußes das andere Ufer zu erreichen. „Ach ja! … “ wurde bei der Einweisung vorm Start süffisant angemerkt „ … wundert euch nicht, dass das Bächlein kurz vorm Ziel nun ein Bach ist!“ Den entscheidenden Aspekt dieser Bemerkung ahnte ich voraus: Wer rüber will holt sich nasse Füße. Die ausgelegten Trittsteine werden samt und sonders von einer Handbreit Wasser überspült. Mein Flehen gilt den Gottheiten des Wassers: Bitte, bitte keine glitschigen Steine! Tatsächlich finden meine Sohlen „unter Wasser“ den erhofften Halt. Was mich aber infolge hektischen Ungeschicks nicht davor bewahrt das Gleichgewicht zu verlieren und mit dem rechten Fuß mehr als knöcheltief einzutauchen …

Drüben angekommen steht in beiden Schuhen Wasser. Ungehemmt fluchen würde helfen. Mir nicht zu trockenen Füßen verhelfen, aber dazu das Unausweichliche mental rascher wegzustecken. Angesichts einer mitfühlenden, selbst mit Fußbad belohnten T25-Mitläuferin, befleißige ich mich aber einer gemäßigten Ausdrucksweise: „So ein Mist!“ Sie pflichtet mir mit denselben Worten bei, tröstet überdies meine Ultraseele mit Verständnis: „Ihr Armen müsst auch noch die zweite Runde mit nassen Füßen laufen!“ - Mit schmatzenden Schritten wieder Fahrt aufnehmend versuche ich die Folgen abzuschätzen. Etwa 25 Kilometer jetzt in wassersatten Schuhen und Strümpfen - beinahe eine Garantie für Blasen.* Zu Blasen neige ich aber eher nicht und weitere Folgen stehen nicht zu befürchten.

*) Tatsächlich kam ich ohne Blasen davon.

Aufwärts, was auch sonst? Ich passiere eine Stelle, an der Läufer aus offensichtlich abschüssigem Hohlweg auf mich zu und an mir vorbei „trudeln“. Mein Weg diesseits des trennenden Trassenbandes führt weiter hinan. Inzwischen auf schwereren Beinen, weil ich dem für mich bisher „höllischen“ Tempo Tribut zollen muss. Das ist okay so, weil ich es erwartete und bewusst in Kauf nahm. Zudem trennt mich nur noch die soeben begonnene „Schikane-Schleife“ vom ersten Zieldurchlauf. Kurz vor der Begegnungsstelle konnte ich bereits den Schlusshang erkennen. Die Haxen machen weiter einen auf „müde“, was mich nicht zuletzt meinen Vorsatz erneuern lässt - zugleich ein Geschenk von mir an mich! Der Schlussanstieg zum Zielbogen verläuft in der Falllinie einer Skipiste. Angesichts einer derart widersinnigen Routenführung im Rahmen einer Laufveranstaltung werde ich auf stur schalten und mir Gehschritte gönnen!

Weiter aufwärts, schließlich links in den Wald, über einen leicht ansteigenden Pfad aufs Lautsprechergetöse zu. Ein paar Meter vor einem tuckernden Stromaggregat, das Zieltor von der Seite vor Augen, schickt mich die Markierung seitwärts in die Tiefe. Übergangslos finde ich mich in einem Hohlweg wieder, dessen eigentliche Bestimmung sich mir alsbald erschließt. Ich stelle mir ein bisschen Schnee in dieser „Halfpipe“ vor, und schon ist die Rodelbahn perfekt! Beinahe unten angekommen, wird die Rodel- für mich zur Rutschbahn. Tiefer Matsch zwingt mich an den Rand, trotzdem schlingere ich unsicher abwärts. Endlich ist auch diese Prüfung ohne Tiefflug überstanden und ich trudele nun meinerseits aus dem Hohlweg hervor, am Trassenband vorbei.

Ein paar Atemzüge später halte ich auf den Fuß des Skihangs zu. Auch ohne festen Vorsatz zu gehen hätte ich vor dieser Steilwand kapituliert. Schon zügiges Steigen peitscht Puls und Atem in den Grenzbereich. Beinahe schon oben … irgendwer hält sich für witzig: „Seh dich! Darfst ruhig lächeln!“ Vielleicht hat er bei weniger vergrätzten Teilnehmern Erfolg mit solchen Sprüchen. Wieso und für wen sollte ich ein Gesicht aufsetzen, das weder meine tatsächliche Stimmung noch die momentane körperliche Verfassung widerspiegelt? Ich bin Läufer und kein Schauspieler.

Runde zwei beginnt ein paar Schritte abseits des Zieltores, vor einer Verpflegungsstelle. In vielleicht zwei Minuten Rast „pumpe“ ich meinen Bauch prall mit Flüssigkeit auf. Cola, Wasser, auch ein Schluck alkfreies Bier. Danke und ab. Meine Absicht beherzigend schalte ich in „energiesparendes“ Traben um. Allein schon der Gedanke daran verfehlt seine Wirkung nicht. Und die strapazierten „Haxen“ spenden begeistert Beifall … Nach ein paar Minuten macht sich eine seltsame Leere in mir breit. Ich war voll und ganz auf diesen verflixten Cut-off fixiert. Ihn in nur rund 2:58 Stunden deutlich unterboten zu haben, fühlte sich nach Finish an. Jetzt weitere 22 Kilometer dranzuhängen dagegen wie eine lästige Pflichtübung.

Der ich mich natürlich unterziehe, zumal sich die Leere rasch wieder füllt. Mit Beschwerden füllt, für die vor allem Nörgler im LWS-Bereich und in der Gesäßmuskulatur ihre Stimme erheben. Darunter nichts, was ich nicht schon hinreichend oft verspürt und schadlos überstanden hätte. Also weiter, ein paar Kilometer zwar anstrengend aber harmlos. Den ersten, leichten Trail überstehe ich auch im zweiten Umlauf ohne ernsthafte Schwierigkeiten. Im weiteren Verlauf setzen Anstiege mir zwar zu, sie sämtlich im Laufschritt zu nehmen bringt mich jedoch nicht an meine Grenzen. Mit Ausnahme des blöden Schlusshangs verpflichte ich mich auch in Runde zwei meinem Grundsatz treu zu bleiben: Alles laufen, nicht gehen! Eine Zuwiderhandlung ist strafbewehrt! Strafmaß: Zeitweiser Verlust der läuferischen Selbstachtung.

Es wäre wohl zu viel des Glitschigen wollte ich nun alle weichen Suhlen unter Absonderung harter Worte für den Laufbericht ein zweites Mal überwinden. Deshalb beschränke ich mich auf Besonderheiten der zweiten Runde. Habe mir zunächst einzugestehen, unmerklich aber stetig langsamer zu werden. Einerseits akzeptiere ich nun keinerlei Risiko mehr, nehme vor kritischen Passagen komplett das Tempo raus. Verharre auch mal, um eine laufbare „Furt zu planen“. Sorgfalt, die sich lohnt, ich rutsche nur noch selten aus. Auch wachsende Ermüdung hemmt meinen Vorwärtsdrang. Das gilt vor allem für die letzten zehn Kilometer, überwiegend „uphill“. Und nicht zuletzt das „psychologische Bremsmoment“ Unlust macht sich jetzt bemerkbar. Unlust weil: Es regnete nur etwa eine dreiviertel Stunde zu Beginn ergiebig, der Himmel verweigert mir dennoch weiteren Sonnenschein. Und wenn sich doch mal ein Sonnenstrahl zu mir verirrt, dann nur für Sekunden.

Alte, teilweise verwitterte Wegmarken halten mich ebenfalls auf. Sie stachen mir schon in Runde eins ins Auge. Vom Teufel Cut-off gejagt schenkte ich ihnen jedoch keine weitere Beachtung. Es handelt sich um nahezu grabsteingroße Sandsteinblöcke, die hie und da den Pfadrand säumen. Sie stehen wohlgemerkt am Rand schmaler Waldpfade, nicht an einem der breiten Forstwege. Mir kommen nur zwei Beweggründe in den Sinn, die ehedem jemanden veranlasst haben könnten die Stelen aufzustellen: Markieren einer Grenze oder Wegweisen entlang eines alten Wanderweges. Das eine erscheint mir so unwahrscheinlich wie das andere. Leider weiß ich auch die vom Steinmetz eingemeißelten Zeichen bzw. Linien nicht zu deuten. Rätselhaft.

„High Noon“ vorbei, es ist wärmer geworden. Ich wische mir nun häufiger den Schweiß aus der Stirn, vor allem bergauf. Die zehn Kilometer ohne „Tankstelle“ packe ich grade noch, bevor Durst zum Problem wird. Ich unterdrücke meinen Ärger und schweige beim letzten Trinkstopp. Was würde es auch bringen die Helferin neuerlich „anzuraunzen“? Sie schenkt meinen Becher immer wieder nach, während man bereits dabei ist ihr den VP sozusagen unter Flaschen und Händen abzubauen.

In Erwartung eines weiteren Fußbades nähere ich mich dem Bach … und erlebe eine Überraschung: Der Wasserstand sank binnen dreier Stunden so weit, dass die Trittsteine nun freiliegen. Noch einmal volle Konzentration, ein letzter Balanceakt, und ich gewinne ohne abzurutschen das andere Ufer … Dass ich die Latte „sechs Stunden Laufzeit“ reißen würde, steht schon seit geraumer Zeit fest. Ein Umstand, der meinen unberechenbaren, latenten Ehrgeiz heute erfolgreich blockiert. Zwei Minuten nach der Bachüberquerung, als ich noch etwa 2,5 km vor mir habe, nehme ich leidenschaftslos die im Stundenzähler vollendete „6“ zur Kenntnis.

Ich erkämpfe mir ein zweites Mal die schikanöse Schlussschleife, jogge mit Bedacht die Rodelbahn hinab und wende mich schlussendlich dem doofen Skihang zu. Ich weiß nicht mehr wann, ob zu Beginn dieser Runde oder anfangs auf frischen Füßen, spielte ich mit dem Gedanken den Steilhang zum Abschluss vielleicht doch aufwärts zu steppen. Möglich wär’s vielleicht, wenn ich Reste körperlicher und mentaler Energie mobilisierte und bündelte. Doch käme mir ein solcher Versuch inzwischen idiotisch vor. Der Kahlschlag an diesem Hang dient einer anderen Sportart. Eine die „downhill“ stattfindet, bei deren Ausübung man sich „uphill“ vom Lift nebenan schleppen lässt. Und nun jagt man Ultraläufer da hoch. Widersinnig, kompletter Unfug … also gehe ich auch beim zweiten Mal … bis etwa zehn Meter vor der Ziellinie. Ganz zum Schluss ringe ich mir dann doch noch ein paar Laufschritte ab. Dass ich einen Lauf gehend beende, wird die Laufwelt nicht erleben! Nach 6:17:58 Stunden ist mein Trail-Langzeittraining mit Hindernissen abgeschlossen.

 

Fazit zur Veranstaltung

Eine in fast allen Belangen gut organisierte Veranstaltung disqualifiziert sich infolge kapitalen Organisationsversagens selbst. Zwei ausgeschriebene Verpflegungspunkte auf Ultradistanz nicht vorzuhalten, dadurch die Teilnehmer auf jeweils 10 Kilometern ohne Versorgung zu lassen, ist mindestens unverschämt und grob fahrlässig. Mithin durch rein gar nichts zu rechtfertigen!

Abschnittsweise technisch schwierig und gefährlich wurde der Trail allein infolge der am Veranstaltungstag herrschenden Bodenverhältnisse. In Sommern mit weniger Niederschlägen ist die Strecke insgesamt gut laufbar, sogar für untalentierte Trailläufer wie mich.

Fazit: Sag niemals nie. Eine Wiederholung käme jedoch nur als Vorbereitung für ein anspruchsvolles Ziel infrage, falls ich sonst nichts fände. In der Not frisst der Teufel Fliegen!