3. Mai 2023

Herrlich!  -  Hohenlohe Marathon (zum 6. Mal)

Ein Marathon mit Zweckbindung: Um „noch eins drauf zu satteln“ fahre ich vier Tage nach „Totalentleerung“ im Harz (Harzquerung 53 km und 1.300 Höhenmeter) nach Crailsheim-Goldbach. Die drei profilierten Runden der Hohenloher Route (insgesamt ca. 600 Hm) werden einerseits zeigen, wie gut mein Körper die Belastung im Harz verkraften konnte. Darüber hinaus dienen sie der Vorbereitung auf den Supermarathon am Rennsteig (74 km, 1.700 Hm) am übernächsten Wochenende. Es mag so aussehen, dennoch ist nicht Laufsucht der Treibsatz hinter meiner Wettkampfserie: neunmal Marathon und weiter seit Anfang März. Auch das Sammeln von Marathons, das mir seit ein paar Jahren zusätzlichen Spaß beschert, tritt als Motiv in den Hintergrund. In diesem Frühjahr bin vor allem darauf aus meine Reichweite Zug um Zug zu verlängern, um im August 100 Meilen in Berlin laufen zu können.

Die 14 km-Runde (60 Prozent Wiesen und Felder, 40 Prozent Wald), Start und Ziel am Ortsrand von Goldbach, wuchs mir zwischenzeitlich ans Läuferherz. Einerseits der ebenso reizvollen wie abwechslungsreichen ländlichen Strecke wegen. Ulrich Tomaschewski bietet seinen Lauf einmal im Monat an. So kann, wer häufiger hier ist, Werden und Vergehen der Natur im Lauf der Jahreszeiten studieren. Stets im gleichen „Schaufenster“, was nach meinem Empfinden den Reiz solcher Marathonserien verstärkt. Heute schmücken sich die Bäume mit frischem Grün, das war vor vier Wochen noch ganz anders. In sattgrünen Wiesen sprießen Frühlingsblumen, sogar Schmetterlinge taumeln schon durchs Blickfeld und endlich ist auch das Summen der übrigen geflügelten Bestäuber wieder zu hören.

Auch der Austragungsmodus des Hohenlohe Marathons kommt mir entgegen: Jeweils an einem Rentner-freundlichen Mittwoch darf ich meine Startzeit weitgehend selbst festlegen. Als Rahmen ist vorgegeben: Start nach Sonnenaufgang, Zieleinlauf bis Sonnenuntergang. Ein weiteres Argument pro Hohenlohe Marathon bildet die gute Erreichbarkeit: Nach Goldbach muss ich vergleichsweise nicht weit, darf ausschließlich auf Bundes- und Landstraßen fahren und entgehe so der unberechenbaren „Staufalle“ Autobahn.

Unter blauem Himmel angereist und nicht zuletzt deshalb zu hundert Prozent positiv vorgespannt steige ich aus dem Auto. Und schwupp! erfährt meine Euphorie einen kleinen Dämpfer. Eine eiskalt heranrauschende Windbö stellt mein Bekleidungskonzept infrage: Kurze Hose, kurzes Shirt, keine Kopfbedeckung - geht das so? 10°C können einen durchaus schwitzen lassen - wenn der Wind schläft. Der weht leider lebhaft bis böig. Ich halte am vorgesehenen Dress fest, könnte aber Armlinge überstreifen!? Statt zusätzlicher Textilien bemühe ich das Prinzip Hoffnung: Wird schon bald wärmer werden!

Kurz vor 10 Uhr starte ich meine Uhr und trabe los - allein auf weiter Flur. Bei der Ankunft ließ mich ein weiterer Teilnehmer, bereits ein Stück weit entfernt, noch seinen Rücken sehen. Ansonsten bestimmt der Zufall, wem ich wann unterwegs begegnen werde. Wollte ich die Wahrscheinlichkeit solcher Begegnungen kalkulieren, wären neben abweichenden Startzeiten auch Tempounterschiede und Verweildauern zum Verpflegen am Parkplatz zu berücksichtigen. Irgendwen werde ich irgendwann treffen, das war fünfmal zuvor auch schon so.

Ich durchquere das Dörfchen Goldbach, wende mich anschließend dem von ausgedehnten Wiesen dominierten, weitgehend flachen Teil der Strecke zu. Drei Kilometer Genusslaufen, im offenen Gelände, lediglich belästigt von der kalten Brise. Sie lässt mich zuweilen frösteln, kann aber meine gute Laune nicht ernsthaft beschädigen. Schlüsselblumen wachsen am Hang, vor dem ich rechts abbiege. Zu hunderten recken die „Himmelsschlüssel“ - eine Bezeichnung, die meine Frau wählen würde - zwischen Gräsern ihre Blütendolden ins Licht. Dichter und mit größerer Ausdehnung stehend, als sie mir je woanders unterkamen. Herrlich!

Woher kommt diese Hochstimmung heute? - Immerhin erwarte ich später eklatante Schwierigkeiten: Schwäche, Schmerzen, das Übliche. Ist mir derzeit allerdings völlig schnuppe. Sehr wahrscheinlich macht „Frau Sonne“ den Unterschied, die mich in diesem Frühjahr häufig im Stich ließ! Nach drei Kilometern die erste Anstiegsserie, drei Buckel, dazwischen ein paar Meter zum Verschnaufen. Ein bisschen Erstaunen mischt sich unter die Wahrnehmungen von Anstrengung. Gestern spürte ich noch die Nachwehen der Harzquerung in den Knochen und jetzt gelingt mir der Aufstieg zügig, vergleichsweise mühelos …

Klarstellung Anfang --- Der eine oder andere Kommentar zu meinen Laufberichten oder in Gesprächen mit Bekannten, fordert mich schon länger zu einer Erläuterung heraus: Ich versuche mich verständlich auszudrücken, um Lauferlebnisse so plastisch und authentisch wie nur möglich zu beschreiben. Am Ende stehen da Texte, sage ich Sätze, die hoffentlich unterhaltsam und verständlich sind. Doch egal wie viel Mühe und Sorgfalt ich auch investiere, ein grundsätzliches Problem werde ich nie aufheben können: Ich (be-) schreibe, was ich erinnere, jemand anders liest und fasst es auf. Dabei wird, was der Schreiber ausdrücken will und, wie es beim Lesenden ankommt, häufig nicht deckungsgleich sein. Beide haben eine ganz eigene „(Lauf-) Weltsicht“, die - salopp ausgedrückt - davon abhängt wie sie mental und physisch drauf sind. Dazu kommt, dass so oder so „drauf zu sein“ keine Konstante darstellt. Es ändert sich, beispielsweise durch Erfahrung oder schlicht nach Verlusten physischer Leistungsfähigkeit.

Beispiel „Anstiege auf einer Marathonstrecke“: Diesen paar Buckeln hier auf der Hohenloher Strecke, in Summe besagte ca. 600 Höhenmeter, hätte ich zu Beginn meiner Marathonlauferei kaum einer Rede wert erachtet. Da stufte ich Strecken als „flach“ ein, denen ich heute das Etikett „profiliert“ anheften würde. Mit nach und nach reduzierter Leistungsfähigkeit und altersbedingt wachsender Bequemlichkeit, gewinnen Anstiege subjektiv an Steilheit. Die Zugspitze ist für jeden Menschen, der sie zu Fuß besteigt, unterschiedlich hoch. Objektiv knapp 3.000 m zum Gipfel sind nur für Nutzer der Seilbahn gleich, dann ohne Ansehen der Person. Wenn ich nun darüber schreibe, was mir unterwegs den Weg verlegt und wie ich es werte, dann stellt sich ein sehr ausdauernder Leser weiß Gott was vor. Oder, auch das schwingt in Kommentaren mit, sie/er versteht mein Lamentieren wegen der „paar lächerlichen Höhenmeter“ nicht. --- Klarstellung Ende.

Von hier „oben“ streift der Blick übers nahe Goldbach, das sich wie üblich verschlafen in die Talmulde duckt. Ergrünte Wäldchen gliedern die Hangwiesen beidseits des Feldweges. Zigmal schon betrachtet und doch wieder anders. Goldbach wird von einem Höhenrücken umschlossen, der sich nahezu hufeisenförmig, erst ost- später südwärts, erstreckt. Zwei Windräder „on top“ lassen mich mutmaßen: Der Wind weht hier häufiger und/oder stärker als anderswo in der Gegend. Die Ausrichtung der Windräder sagt das Wetter an und - eingeschränkt - auch voraus. Ich kneife die Augen zusammen und schaue genauer hin: Bis auf weiteres Ostwind, also wieder mal kalt.

Etwa zehn Minuten auf gleichbleibender Höhe, dann „stürze“ ich mich einen engen Geländeeinschnitt hinab. Ein „Tälchen“ nur, aber wasserführend und deshalb animierend. Für Anwohner, die einen kleinen Weiher aufstauten, aber auch für mich, der hier nie ohne Fotobeute vorbeiläuft. Die Brühe im Weiher ist trüb, auch ohne professionelle Spurensicherung ein Indiz für ergiebigen Regen. Aber war sie das nicht jedes Mal, trüb? Auch im Sommer des Vorjahres? Bachabwärts schließt sich ein Auwäldchen an, ein Biotop, das sicher vielfältiger Flora und Fauna Lebensraum bietet. Den fälligen Schnappschuss verbinde ich mit der Hoffnung, nach fünfmaligem Scheitern endlich annähernd das einzufangen, was meine Augen sehen ... Besser diesmal, viel besser.

An Hang und Waldrand entlang erarbeite ich mir ein paar harmlose Bodenwellen. Obwohl: Harmlos sind Bodenwellen nur als singuläre oder in weiten Abständen auftretende Formationen. In der Summe picken sie einiges an Körnern weg. Das ist eine Lektion, die zu lernen den Verlust eines Gutteils einstiger Ausdauer voraussetzt … Vorbei an der Koppel mit dem Fütterungsverbot. Inzwischen sollte sich eigentlich bis zum letzten Oh-wie-süß!-Tierfreund herumgesprochen haben, dass man fremden Viechern, gleich welcher Gattung, erst nach Rücksprache mit dem Besitzer/Halter Futter gibt. Bis zu den beiden Zossen scheint das Fremdfütterverbot übrigens noch nicht durchgedrungen zu sein: Als ich für ein Foto stehen bleibe, kommen sie erwartungsvoll angetrabt.

Gespannt sehe ich der abgesteckten „Untersuchungsfläche Weg-Böschung“ entgegen: Werde ich Veränderungen erkennen? - Das Gras sprießt inzwischen üppiger auf dem Geviert, mehr vermag ich mit flüchtigem Läuferblick nicht zu erkennen. Die kleinen Forscher, die im Rahmen ihres Kurses „Kinder erforschen Natur“ dann und wann hier nachsehen, entdecken sicher aufregendere Details. Käfer, Ameisen, geflügelte Insekten und wahrscheinlich bestimmen sie auch einzelne Vertreter der pflanzlichen Lebensgemeinschaft an diesem Hangstück. Ich wende mich wieder der Strecke und nun auch dem Weiler Westgartshausen zu; erreiche ihn jedoch nicht, biege zuvor bergwärts auf einen anderen Feldweg ab. Ziemlich genau an dieser Stelle wird die Strecke geteilt, ein Sechstel des heutigen Pensums ist geschafft.

Die zweite Anstiegsserie besteht wieder aus drei Buckeln, zwischen denen kurze Plateaus das Verschnaufen gestatten. Der Weg führt durch Streuobstwiesen mit blühenden Bäumen. Herrliche Frühlingsboten, die zu kurzer Fotopause einladen. Weiter aufwärts mit verkürztem Schritt … Minuten später, nach etwas mehr als acht Kilometern, erreiche ich den Waldrand und stehe vor meinem „Depot“: zwei Trinkflaschen, die ich bei der Herfahrt hinter einem Baum ablegte. Daneben ein Gel, das ich strikt und mit nur für mich sichtbarem Etikett als „Notfallvorsorge“ deklariert habe. Wird dieser Notfall eintreten? In Runde zwei gewiss noch nicht. Wenn, dann werde ich in der Schlussrunde energetisch Insolvenz anmelden müssen.

Das Depot liegt bereits im Wald, der mich auf den verbleibenden sechs Rundenkilometern (minus 300 m am Rundenende) beschirmen wird. Schnell erweist sich, dass der Forst heute keine beschirmende, also schützende Wirkung entfaltet. Ohne wärmende Sonne und bei sicher weniger als den 10°C auf freiem Feld jogge ich übergangslos durch einen riesigen Eisschrank. Rasch beginne ich zu frieren. Das Eingeständnis ist ehrenwert aber nutzlos: Es war ein Fehler auf die Armlinge zu verzichten.

Mich an die „frostigen“ Verhältnisse zu gewöhnen dauert ein paar Minuten, muss mir dann aber irgendwann gelungen sein. In meinen Gedanken kommt Frieren nicht mehr vor, die konzentrieren sich stattdessen auf den hellgrünen Tunnel, durch den ich jetzt laufen darf. Endlich wieder frisches Grün - herrlich! Und natürlich ranken sich meine Gedanken um die Wellen und Buckel, die mir auch auf diesem Abschnitt mehrfach den Weg verstellen. Es sind „gute“ Gedanken, weil die Beine überraschend „gute“ Botschaften versenden: Geht doch! Ist gar nicht so steil! Packen wir sicher auch noch in Runde zwei und drei! Selbst die „härteste Nuss“ bei Rundenkilometer 10, knacke ich ohne ans Limit gehen zu müssen. 150 Meter die steil beginnen, steil bleiben und „sausteil“ enden.

Je nach Windsituation hörst du hier oben ein schwaches bis gut vernehmbares „Wischen“, das die Rotorblätter des nahebei stehenden Windrades verursachen. Heute schneiden die Flügel schneidig durch die Luft, angeschoben von lebhaftem Ostwind. Dessen Luftzug optimiert auch den Wirkungsgrad des Eisschranks hier unten zwischen den Bäumen. Weiter, sanft abwärts, während das Pumpen meiner Lungen stufenlos von Schnappatmung aufs übliche Maß zurückschaltet. Ich suche einen Pfad zwischen wegbreiten Pfützen, die an dieser Stelle - mal schmäler mal breiter - den Weg verlegen und nur selten austrocknen. Die Stelle wäre sicher auch für die kleinen Detektive der Aktion „Kinder erforschen Natur“ interessant. Sie könnten untersuchen, ob die Pfützen von übermäßig hier zusammen rinnendem Regenwasser gespeist werden. Oder, ob unweit des Wegrandes eine durchlässige Erdschicht permanent Wasser austreten lässt.

Waldstraße eins (häufiger mal ein Auto) überqueren und drüben eine Weile sanft abwärts joggen. Es fehlen noch etwa 3,5 Kilometer und ein hinterhältiger Anstieg zum Rundenerfolg. Der „lauert“ hinter Waldstraße zwei (nur selten Autos) und weiß sich meisterlich zu tarnen. Du läufst leichtfüßigen Schrittes im Gefälle drauf zu und lässt dich von der verkürzend wirkenden Perspektive an der Nase herumführen. Was nach hundert harmlosen Metern aussieht, zieht sich dann gewaltig in die Länge. Doch auch hier erlebe ich eine Überraschung: Geradezu mühelos tragen mich die Beine aufwärts. Das wird sich erfahrungsgemäß jedoch ändern. Als ich letztes Jahr im Februar meine Hohenlohe-Marathon-Premiere feierte, zollte ich dieser Rampe im ersten Umlauf keinerlei Respekt. Den nötigte sie mir dann in Runde zwei und vor allem in der Schlussrunde ab.

Wieder mal in der Eichenallee im Wald unterwegs. „Allee im Wald“? Klingt komisch, ist aber so. Heute wundere ich mich ausnahmsweise nicht über deren Existenz, frage nicht, wer sie anlegte, wann und wozu. Stattdessen stelle ich bedauernd fest, dass die Eichen noch immer kein grünes Lebenszeichen von sich geben … Und nun runter: Anderthalb Kilometer, auf denen ich stets versuche flugs aber auch „erschütterungsarm“ zu laufen. Durch und durch gehende Stöße „goutiert“ meine Lendenwirbelsäule nämlich überhaupt nicht. Das pflegt sie mir am Tag nach dem Lauf unmissverständlich mitzuteilen; vor allem, wenn ich mich an ihr versündigte und wie einst rücksichtslos „hurtig“ talwärts eile.

Wald bleibt zurück, noch immer Gefälle, wieder auf Asphalt, alsbald auf die Ziellinie vorm Eingang des Freibades Goldbach zu ... Auto auf, Wasser trinken, auf Gel verzichten, Auto wieder zu und ab … gefolgt vom Blick zur Uhr: 1:37:xx Stunden um. Obschon ich nicht daran zweifle „hinten raus“ Tempo einzubüßen, halte ich doch einen Zipfel Zuversicht fest: Es wäre ein toller Erfolg, könnte ich meinen Marathonjob heute unter fünf Stunden vollenden. Eigentlich gibt es wenig, das diesen Optimismus rechtfertigt. Vermutlich ist er meiner Bombenstimmung an diesem Lauftag geschuldet. Devise: Flinte erst ins Korn werfen, wenn der Gegner die Kanone auf mich richtet!

Im Aufbruch gesellt sich Reinhold zu mir: „Ich würde dich gerne ein Stück begleiten, wenn ich darf und dir nicht zu langsam bin!“ Einer mit so langen Beinen kann gar nicht zu langsam für mich sein … Hochaufgeschossene 2,15 Meter traben nun an meiner Seite. Um dieselbe Spanne wie Reinhold mit zwei Schritten abzumessen, reihe ich mindestens drei aneinander. Gut, dass er mich ansprach, wie üblich hätte sich der mundfaule Udo dazu nicht durchringen können. Wir kennen uns, wenn auch nur vom Sehen. Was aus meinem Blickwinkel betrachtet niemanden wundern wird, weil der Marathonsammler Reinhold jede Läuferschar um mehr als Haupteslänge überragt. Es war gar nicht möglich ihn zu übersehen, wenn er in einem Läuferfeld stand, wozu sich in den letzten Jahren in der Stuttgarter Gegend reichlich Gelegenheit ergab. Um sich endlich kennen zu lernen und Erfahrungen auszutauschen, mussten sich die Windräder über Goldbach allerdings sehr lange drehen …

Ich halte stur meinen Schritt und Reinhold passt sich an. Ob er in seiner letzten Runde dafür langsamer oder flotter laufen muss, kann ich nicht einschätzen. Kurzatmig wird er jedoch nicht, unser Dialog entwickelt sich flüssig. Mit Reinhold lerne ich jemanden kennen, der ähnlich spät zum Marathon- und Ultralaufen fand wie ich selbst. Die ganz langen Kanten, die mein Läuferleben lange bestimmten und - wenn’s nach mir geht - weiterhin bestimmen werden, sind allerdings nicht seins. Wie wir alle, die wir weit laufen, ziemlich uneinheitlich „daher gelaufen kommen“. Manchmal muss ich den Kopf schütteln, wenn ich an meine den Laufsport betreffende Naivität früherer Tage denke. Läufer sind im Grunde ihres Herzens alle gleich - glaubte ich anfangs allen Ernstes. Brüder und Schwestern im Geiste und mit den Beinen … Das schiere Gegenteil ist richtig. Nicht nur rein physisch sind wir verschieden getaktet, auch mental erweist sich jeder als Unikum. Man muss nur genauer hinsehen: Das laufende Voraus oder Nebenan denkt, fühlt und reagiert anders. Und es finden sich keine zwei unter uns, die von denselben Motiven in derselben Weise angetrieben werden.

Mit Rede und Gegenrede befasst vergeht die Zeit unbemerkt. Da wir laufen gilt dasselbe eben auch für die ersten Kilometer der Runde. Ich bin froh, eine meiner „marathonalen“ Eigenheiten, den Wunsch alles laufen zu wollen, frühzeitig an den langen Mann neben mir gebracht zu haben. So kann ich mir Entschuldigung und Erklärung sparen, als Reinhold am zweiten Buckel der ersten Serie mein immer noch zügiges Traben zu anstrengend wird. Wir verabschieden uns voneinander, beide davon überzeugt, dass es kein Abschied ist, der länger als ein paar Wochen Bestand haben wird …

Auch diese zweite Runde genieße ich. Sie geht mir noch immer vergleichsweise locker vom Fuß und wärmer wurde es gottlob auch. Zum Frohlocken und Resümieren ist es dennoch zu früh. Was ich tue fühlt sich erstaunlich gut an, das kann sich aber binnen weniger Kilometer drastisch verändern. Ich trabe über das offene Plateau, lasse meine Blicke schweifen, bin auf Entdeckungen aus. Aber es gibt nichts zu entdecken, wenn man von gelegentlichen Spaziergängern, auch mal einem Radler oder einer klagenden Motorsäge nahe des Waldrandes absieht. Muss auch nichts entdecken, genüge mir selbst, bin endlich mal wieder zufrieden. Mit dem Wetter und damit, dass meine Schritte sich weiterhin von selbst formen, nicht ständig ätzend schweren, viel zu früh schmerzenden Beinen abgerungen werden müssen.

Zweite Anstiegsserie, noch immer spüre ich kein Limit nahen. Pferdekoppel links, „Untersuchungsfläche Weg-Böschung“ rechts, aufwärts in Höhe der Rundenhalbierung, durchs Blütenmeer der Streuobstwiese schwimmen und schließlich Trinken am Depot. Nebenbei: auch diesmal lasse ich den Beutel mit dem süßen Blubberlutsch darin unangetastet. Und da mich niemand hören, widrigenfalls also nicht mit Häme überschütten kann, sage ich voraus: Das Gel wird auch Runde drei unversehrt überstehen!

Zurück im Auf und Ab des Waldes, noch immer kühl aber nicht mehr „frostig“. Zwei Kilometer bis zur „Prüfstrecke“. Jenes Steilstück, das sich noch jedes Mal als mein persönlicher TÜV bewährte: Beine noch stabil und „verkehrssicher“? So sehr ich auch den vorbeiziehenden Wald beäuge, geflügelte Fauna lässt sich gelegentlich hören aber nichts von sich sehen. Die aufregende Begegnung aus dem ersten Umlauf wiederholt sich nicht, der Schwarzspecht bleibt verschwunden. Es war das zweite Mal in meinem Leben, dass ich diesen atemberaubend schönen Vogel ein paar Sekunden lang beobachten durfte. Elsterähnlich in Gestalt und Größe, rabenschwarz das Gefieder und blutrot die „Kopfhaube“. Herrlich! Selten und scheu machte er sich rasch davon, obwohl ich augenblicklich zur Säule erstarrte und ihn sicher mehr als zwanzig Meter vor dem bösen, menschlichen Jäger schützten.

Und nun die Prüfung: Noch locker auf den Beinen in die ersten Meter, dann zäher die nächsten und im steilen Ende geht’s nur noch steppend voran. Wieder gehe ich eine ziemliche Sauerstoffschuld ein, die ich, der steilen Rampe auf weichen Beinen entronnen, schnappatmend zurückzahle. Dabei aber weiter tippele, um mich wenig später ein weiteres Mal erfolgreich mit den Pfützen anzulegen …

Runde zwei geht - inzwischen nicht mehr überraschend - bei anhaltend guter Kondition zu Ende. Ich kann es messtechnisch nicht belegen, habe aber das Gefühl in dieser Runde genauso flott, wenn nicht flotter als in der ersten unterwegs zu sein. Messen hieße die Uhr befragen und davor scheue ich zurück. Will mir die schöne Illusion - falls es eine ist - gerne noch bis zum Auto bewahren … Lange und steil abwärts, dabei ein bisschen von der LWS-Rücksicht aufgebend (Bitte zürne mir nicht, lass mich morgen in Ruhe!). Dann den Wald zurücklassen und Goldbach gewinnen, erst die Ziellinie vorm Schwimmbad, bald mein Auto … doch stellen sich mir unvermittelt eine Dame und Jürgen in den Weg. Jürgen kennt, wer mich dieses Jahr häufiger las. Der tanzt auch auf allen Marathonhochzeiten rund um Stuttgart, zu denen der 100 Marathon Club einlädt. Wird heute wieder gewinnen, Jürgen ist noch vergleichsweise jung, zudem pfeilschnell. Die Dame möchte ein Foto von Jürgen und mir, damit ihr Mann seinen Laufbericht verfassen kann. Aha! Doch, wer ist ihr Mann und wo wird der Laufbericht abrufbar sein? - Ihr ahnt es schon, Udo wird nicht fragen. Aber Udo schmeißt daheim seine Suchmaschine an: Dietrich heißt der Mann, den ich übrigens zum Ende meiner ersten Runde im Abstieg überholte. Seinen Laufbericht finde ich über die Seite des 100 Marathon Clubs.

Fotoshooting überstanden, nun zum Auto und trinken. Viel trinken, unterdessen dürfte das Quecksilber die 15°C-Marke deutlich überschritten haben. Wasser ja, Gel nein. Schon hier entscheide ich mich heute ohne Kalorien auszukommen. Natürlich zu Trainingszwecken, denn jeder Beutel, auf den ich verzichte, schickt mich 100 kcal tiefer ins Körperenergiedefizit. Auto zu und ab, dann der mit Spannung erwartete Blick zur Uhr: 3:18:xx Stunden.

Ich rechne und verrechne mich. Im Kopfrechnen war ich immer gut, praktiziere es auch heute noch überwiegend. Allerdings schleichen sich mit zunehmendem Alter mehr Flüchtigkeitsfehler ein. Dazu Fehler, für die ich keinen Namen kenne, ihre Ursache auch nicht deuten kann. Kennst du das?: Du stehst zu Hause unter der Dusche, die du in und auswendig kennst. Willst gen wärmer oder kälter drehen, Richtungen, die dir mehr als geläufig sind. Und dann schiebst du den Hebel zielsicher in die falsche Richtung! Ein Fehler spiegelverkehrt im Unterbewussten begangen, dennoch wissend, sehend, voll zurechnungsfähig. Ein ähnlicher Fehler unterläuft mir wohl auch beim Kalkulieren der Endzeit. Vielleicht rechne ich auch nur schluderig. Tatsächlich brauchte ich für Runde zwei gute drei Minuten mehr. So viel zum Thema Laufgefühl und Tempoeinschätzung, siehe zwei Absätze weiter oben … Es wäre also absehbar, sollte sich die Tendenz des Tempoverfalls verstärken, dass ich die Sub5Stunden vergessen kann. Stattdessen gesteht mir die Udo-Arithmetik ein beruhigendes Zeitpolster zu. Sieht mich bei etwa 4:45 Stunden im Ziel …

Es gibt nichts Neues noch Abweichendes von dieser letzten Runde zu berichten. Will sie darum auch nicht textlich in die Länge ziehen. Meine Ausdauer erweist sich als robust, was keinen mehr überrascht als den Kerl, der sich vor vier Tagen siebeneinhalb Stunden lang im Harz aufgerieben hat. Ich komme nicht umhin endlich anzuerkennen, dass der gewaltige Laufaufwand, den ich im Training und bei nun bald 10 Wettkämpfen seit März betrieben habe, endlich anschlägt. Anschlägt in Form längerer Reichweite, robusterer Knochen und - mindestens ebenso wichtig - rascherer Regeneration. Natürlich haut nun jeder Anstieg mächtig rein, lässt mich Maikäfer-mäßig pumpen und betont eingetretene Beinschwere. Entscheidend aber ist, dass ich dabei nicht langsamer werde.

Irgendwann rechne ich erneut und komme zu einem ganz anderen Ergebnis. Restkilometer mal Tempo ergibt „soundsoviel“ Minuten. Addiere ich diese Zeit zu der auf der Uhr, dann bleibe ich stets nur ein, zwei Minuten unter fünf Stunden. Nach mehrmaliger Rechnungsprüfung akzeptiere ich diese Prognose als wahr. Versteht sich von selbst, dass ich nun alles daran setze in Runde drei den Lorbeer „Sub5Stunden“ nicht noch zu verspielen. Und tatsächlich gelingt mir, was ich vorm Start als höchst unwahrscheinlich abgetan hätte: Ich laufe Runde drei in nur 1:39:xx Minuten und flitze (da bergab) nach exakt 4:57:00 Stunden über die Ziellinie.

 

Fazit zum Wettkampf

Siehe Laufbericht vom Februar 2022.