29. April 2023

Wie zuvor, aber dramatisch anders  -  Harzquerung 2023

Die Harzquerung ist ein „DDR-Klassiker“, nun schon in der 42. Auflage.* Nicht so groß und bekannt wie der Rennsteiglauf, der heuer sogar schon zum 50. Mal stattfindet, dennoch bei vielen Ultralandschaftsläufern beliebt. Auch mich „zieht“ es nicht zum ersten Mal in den Norden der Republik. Zweimal war ich bereits hier, 2011 und 2017. Purer Zufall, dass jeweils sechs Jahre verstrichen bis ich wiederkehrte. Die morgen in der Freinacht auf ihren Besen zum Brocken reitenden Hexen haben damit nichts zu tun.

*) Die Harzquerung wurde in den Siebziger Jahren ins Leben gerufen, danach zeitweise von den DDR-Verantwortlichen verboten. Die DDR förderte nur Sportarten, in denen internationale Meisterschaften stattfanden. Ultralauf gehörte nicht dazu. Mehr zur Geschichte der Harzquerung steht auf der (alten) Webseite!).

Vieles kommt mir vertraut vor, so zum Beispiel der Start in Wernigerode. Du marschierst einfach die im Herzen der Stadt beginnende Salzstraße hinauf, vorbei an zahllosen geparkten Läuferautos, schreitest noch ein Stück über das Ende des Asphalts hinaus und erreichst das Ende der bunt bedressten, den Start erwartenden Meute. Man steht einzeln herum, zu zweit oder in Grüppchen; unter hohen Buchen, die in diesem kalten, verregneten Frühjahr noch keine rechte Lust verspüren die Welt mit sattem Blattgrün zu schmücken. Und ich verstehe sie, die Bäume. Gerade heute wieder, da - anders als noch zum Wochenanfang von den Wetterfröschen versprochen - eine triste, graue Wolkendecke auf den Höhen lastet. Geregnet hat’s auch schon, zum Glück bevor ich raus musste. Eine Läuferin, mit der ich ein paar Meter Seite an Seite die Salzstraße aufwärts wandere, erwartet im Laufe des Tages besseres Wetter. „Wehe nicht!“ drohe ich, sollte sie ihr Versprechen brechen …

Ein Umstand ist diesmal „dramatisch“ anders als zweimal zuvor - allerdings nur für mich: Ich bin ohne Roxi hier. Unsere betagte Hundedame genießt ihren Lebensabend zu Hause. Ich vermisse sie, sehr sogar. Obschon ich ihrem damaligen „Vorwärtsdrang“ und dem üblichen „Ausrasten“ beim Start heute nicht mehr gerecht werden könnte. Nicht nur Roxi ist gealtert, an mir gingen die sechs Jahre seit dem letzten „Auftritt“ als Laufduo im Harz auch nicht spurlos vorüber. Ich werde so sehr mit mir selbst beschäftigt sein, dass einen Hund zu führen meine Kräfte überstiege.

Also ohne Roxi, Udo solo. Traurig. So stehe ich denn auch ein bisschen verloren zwischen plaudernden, gut gelaunten, zu allem entschlossenen Läufern (w/m/d) herum. Unter all den schnittig-trendig Gekleideten, quicklebendig und austrainiert wirkend, komme ich mir schwach und chancenlos vor. Ein Effekt, dem ich schon früher manchmal grundlos unterlag. Heute ist der Eindruck sicher nicht weit von der Wahrheit entfernt. Ich bin hier, weil ich den nächsten logischen Schritt zu mehr Ausdauer - mehr Reichweite - und einem robusteren Bewegungsapparat vollziehen möchte. Seit Anfang März der neunte Wettkampf über Marathondistanz und weiter. Ausnahmslos jeder dieser Läufe brachte mich im letzten Viertel an meine Grenzen. Genau genommen nicht der Lauf: im Grunde bin ich es selbst - mein Ehrgeiz -, der ständig den Grenzbereich der eigenen Leistungsfähigkeit auslotet.

*) PS: keine Panik, das war’s auch schon mit „Gendern“.

Worin besteht der Sinn solcher Selbstkasteiung? - Ich will im August 100 Meilen weit laufen. Mit Betonung auf laufen, jeden Meter laufen. Ein Wunsch, den zu realisieren mir in Altersklasse M70 schwer fallen wird. Deshalb heute im Harz die nächste „Eskalationsstufe“ auf einer Route, die mich mindestens sieben Stunden lang fordern wird. Harten 1.300 Höhenmeter im Auf- und 1.400 im Abstieg werde ich mit Langsamkeit begegnen, denn Höhenmeter konnte ich bislang in meinem Saisonaufbau nicht unterbringen. Dazu kommt: Sechs Jahre reichten aus, um zu verdrängen oder vergessen, wie sehr manche Pfade der Harzquerung meinen Füßen zusetzten. Daran werde ich mich bald wieder erinnern, überdies feststellen, dass sich das Geläuf in dieser Zeitspanne „dramatisch“ verschlechterte …

Jetzt aber Schluss mit Bangemachen: Start pünktlich um 8:30 Uhr. Der Schuss hallt durch den Wald und beinahe augenblicklich setzt sich der mehrere hundert Köpfe starke Tross in Bewegung. Vom ersten Schritt an aufwärts … Zum Ressourcen schonenden Einlaufen und, um jüngerem Sturm und Drang freie Bahn zu gewähren, halte ich mich am Wegrand. Die ersten Kilometer werde ich in Steigungen verbringen. Heute ist mir zum Atemschöpfen willkommen, was ich zweimal zuvor nur zähneknirschend akzeptierte: Alsbald wird der Weg schmäler, Stockungen und kurze Staus sind unvermeidlich. Hin und wieder, wo der Pfad ausschließlich Gänsemarsch zulässt, bin ich auch gezwungen zu gehen. Überholen unmöglich, sinnvoll ohnehin nicht.

Weswegen erwähne ich das? - Wie immer will ich die gesamte Strecke laufen, auch bergauf, jeden der 1.300 Höhenmeter. Der ist bekloppt! - Ich höre dein Urteil, nur ficht es mich nicht an. Das kann der doch unmöglich schaffen, in seinem Alter und Trainingszustand!? - Es hieße sich etwas vorzumachen, wollte ich das Missverhältnis zwischen Wollen und Können leugnen. Ich werde es jedoch nicht durch Gehen kompensieren, sondern mit Sekundenpausen zum Verschnaufen. Pausen, die ich auch zu Verrichtungen nutzen werde, die tippelnd nicht oder zu späterer Stunde mangels Kraft nicht mehr möglich wären. Brauchbare Fotos schießen gehört heute zu diesen Verrichtungen. Unter dichter Wolkendecke ist die Lichtstärke für scharfe Aufnahmen in der Bewegung nicht ausreichend.

Es geht erwartungsgemäß kaum voran: Immer wieder mäßige ich meinen Schritt, um niemandem in die Hacken zu treten. Jeweils mehr als 10 Minuten investiert die Kolonne auf jedem der drei Anfangskilometer. So zäh wie heute hatte ich das Gezuckel nicht in Erinnerung. Irgendwann ein Pfad, der nur einzeln hintereinander zu nehmen ist. Er windet sich diagonal durch einen steilen Kahlschlag aufwärts. Geht einer, gehen alle. Sich tippelnd zu beeilen ergäbe ohnehin keinen Sinn, weil sich die Kolonne alsbald staut. Nichts geht mehr! Etwa 20 Meter voraus, zu Beginn eines Hohlweges, verwehrt ein Hindernis zügiges Weiterkommen. Ich vermute einen quer liegenden Baum. Was in Wahrheit bremst, ist Läufers Abneigung gegen Morast, knöcheltief auf voller Wegesbreite und einer Länge von 10 bis 15 Metern. Mit sauberen Schuhen nur von jenen umgehbar, die die steile Wand des Hohlweges erklettern. Ich entscheide mich ohne zu zögern für dreckige Schuhe. Ernst gemeint: Die Kletterpartie ist mir zu anstrengend. Kraft für Extratouren habe ich definitiv nicht an Bord!

Dann ist die Schlammreihe an mir: Ein paar ausgreifende, schmatzende Schritte, die die „Soße“ überm Vorfuß zusammenschwappen lassen und ich bin durch. Zum Glück ist der Brei zähflüssig genug, um die Poren im Schuhmaterial flugs zu verstopfen. So entkomme ich der Suhle mit nur klammen statt nassen Strümpfen. Weiter bergwärts voran, noch fehlt ein Stück bis zum Scheitelpunkt des ersten Höhenrückens, nun allerdings auf besserem, breitem Waldweg. Wobei die Bezeichnung „Waldweg“ irreführt: Was einst Wald war, stapelt sich tausendfach auf gleiche Länge zugeschnitten, doppelt mannshoch beidseits des Weges. Ein hölzerner Hohlweg, hundert, zweihundert Meter weit … Wald ringsum? Fehlanzeige. Noch arg- und gedankenlos unterstelle ich Gewinnstreben der Waldbesitzer, die auf dem aktuell holzhungrigen Erneuerbare-Energien-Markt hohe Preise erzielen … Sieht scheußlich aus so eine kahle Hochfläche … kommt mir auch merkwürdig vor, steigert mit jeder Laufminute meinen Argwohn … Hab’ auch vom Waldsterben im Harz gehört, ohne mich allerdings näher mit dessen Ausmaß zu befassen …

Nicht mal einen Kilometer weiter springt mich nacktes Entsetzen an …

In eigener Sache: Ich verfasste hunderte Laufberichte, alle auf dieser Laufseite verfügbar. Inhaltlich blieb ich stets ehrlich, unterschlug lediglich, was mir unwichtig erschien oder zu persönlich gewesen wäre, wählte Formulierungen mit Bedacht. Wenn ich ein Wort wie „Entsetzen“ verwende, dann ganz bewusst, weil es meinem Empfinden entspricht.

Nicht mal einen Kilometer weiter springt mich nacktes Entsetzen an: Mein Blick reicht weit voraus bis zur Staumauer der Zillierbachstaustufe. Das Grausige daran ist, dass ich die Mauer von hier aus gar nicht sehen dürfte. Wie zweimal zuvor sollte dichter Wald die Aussicht verstellen. Schlimmer noch: Die Höhenrücken entlang des Stausees sind gleichfalls kahl. Graubraune Tristesse regiert. Alles verelendet, Wald kaputt. Bisher immer witzig aufgefasst, hier traurige Realität: Ende Gelände!!! Ich tippele über die Staumauer, stoppe mehrfach, halte das Unfassbare im Bild fest. Vollkommen sprachlos, erschlagen von Bildern, die ich so nie erwartet hätte. Jenseits ein paar Meter hinauf, dann am Ufer entlang. Ich erinnere mich überdeutlich: Zweimal joggte ich hier mit Bedauern entlang, weil dichter Forst nur gelegentliche Lichtreflexe der Wasserfläche durchließ. Jetzt ist Trauer in mir: kein noch so mickriges Stämmchen verstellt mehr die Aussicht …

Zum Glück bin ich Läufer. Muss weder stehen noch gehen, kann das Elend hinter mir lassen. Weiter, voran, weg vom See, aufwärts, den Höhenrücken nehmen. Hier stehen noch Bäume, außerdem am Wegrand ein rund gezimmertes „Hüttchen“ im Format von Litfaßsäulen. Öffnungen unterm überkragenden Dach lassen mich gar nicht erst rätseln. Hier wohnen Fledermäuse*!

*) Eine Tafel an der Außenwand, deren Text zu lang war, um ihn en passant zu lesen, verdeutlicht die wahre Aufgabe des runden „Holzhüttchens“. Wie hätten in diesem kleinen Holzverschlag auch hunderte, wenn nicht mehrere tausend Fledermäuse Platz finden sollen? - Der „Litfaßsäule“ gegenüber gab es einen alten Bergwerksschacht mit der Bezeichnung „Überhauen 198/1“, in dem die Fledermäuse früher tagsüber ruhten. Der instabile Schacht musste 2014 aus Sicherheitsgründen verfüllt werden. Für die Fledermäuse brachte man einen Ersatzschacht nieder (30 m tief, 2 m breit), den das „Hüttchen“ abschließt. Der Holzverschlag gewährleistet ungehinderten Ein- und Ausflug der Bewohner, schützt zugleich unvorsichtige Passanten vorm Abstürzen.

Die Vorstellung von in der Dämmerung ausschwärmenden Fledermäusen, ein Symbol für intakte Natur, hat mich ein wenig mit dem davor Gesehenen versöhnt. Mentale Entspannung, die leider nicht lange währt ... Der Anstieg flacht zusehends ab und entlässt mich auf eine weitere Hochebene. Wieder „Ende Gelände“, so weit das Auge reicht, diesmal mit 360° Rundsicht. Der Boden ist mit den Resten des einstigen Waldes bedeckt, die Erntemaschinen übrig ließen: Wurzelstöcke und verdorrtes Astwerk. Meine Beklemmung wächst und ich will eigentlich nur eins: Weg hier! Meine Fotos dokumentieren die Katastrophe. Was sie nicht können: Die Wucht dieser furchtbaren Naturzerstörung dreidimensional vermitteln. Das gelingt nur dem menschlichen Auge, dafür muss man hier gewesen sein … - Irgendwo mitten im Nichts folge ich Pfeilen und biege links ab. Allerdings haben links, rechts, geradeaus oder zurück keine Bedeutung mehr: Verheerung in jeder Richtung, wo vor sechs Jahren noch Wald wuchs. Um das Gruseln auf die Spitze zu treiben, lastet über allem diese grau-diesig-kalte Dunstglocke. Wind weht, lässt mich frösteln. Alsbald nestele ich ein Schlauchtuch aus meinem Laufrucksack und streife es mir über den Kopf …

Einige Meter voran in Endzeitstimmung durch Endzeitumgebung. Ich komme mir vor als hätte man mich ins Set eines dieser dystopischen Science Fiction Filme gebeamt. Das Wort „Mondlandschaft“ drängt sich auf, will gedacht werden. Passt natürlich nicht für diese Form der Wüstenei. Auf dem Mond gibt’s keine toten Bäume, kein Wasser, Luft schon gar nicht, nur Steine und Staub. Bizarre Wahrheit: Auf dem Mond ist die Natur noch voll intakt. Was übrigens einzig daran liegt, dass da oben (noch) keine Menschen siedeln und Bodenschätze ausbeuten. - Auch das bleibt mir nicht erspart, dieses Sinnbild kaputter Natur: Eine Birke, gebeugt vom Sturm, fast berührt ihre dürftige Krone den Boden. Die Dürre hat sie überlebt, dem Borkenkäfer schmeckt sie nicht. Sie wuchs auf schlankem Stamm höher als normal, um ihr Laub inmitten nadeliger Konkurrenz ins Sonnenlicht zu rücken. Nun sind die nadeligen Nachbarn tot, geschlagen, beräumt, verschwunden. Nichts schützt die Birke nun mehr vorm Wind. Vielleicht schon beim nächsten Sturm wird eine Bö sie zur Strecke bringen - wie schon etliche andere entwurzelte Birken, die ich am Wegrand sah und noch sehen werde …

10 Minuten später: Einstweilen dem Drama entronnen, jogge ich am Rand einer ausgedehnten Wiese. Hier wuchs schon immer Gras. Nicht seit Äonen, aber seitdem der Mensch den Wald großflächig rodete, siedelte und Viehwirtschaft betrieb. Rechterhand Gruppen kleinwüchsiger Fichten. Ansonsten gewährt mir das Wetter die Gnade diesiger Sichtbehinderung. Fast bin ich geneigt von Nebel zu sprechen. Oder handelt es sich um eine Harz-typische Form niedrig hängender Wolken? Es nieselt ein bisschen. Ich nestele die Kappe aus dem Rucksack, ihr Schirm soll meine Brille trocken halten. Sichtbehinderung auf knubbeliger Rasenpiste kann ich mir nicht leisten. Die Strecke wurde geändert - informierte der Veranstalter auf seiner Website und per Email. Der Grund ist mir entfallen, irgendwas mit „Baumfällarbeiten“ oder umgefallenen Bäumen. War ich hier schon mal? Auf dieser Wiese?

Der Wiesenweg mündet in einen Feldweg, der sich talwärts neigt. Eine Läuferin mit Hund an der Laufleine überholt mich. Ein schöner Anblick, zumindest für mich, der hier auch schon mit Vierbeiner unterwegs war. Etwas Erbauliches, das ich gut gebrauchen kann, denn es geht schon wieder los … Der Weg senkt sich ins Tal. In ein Tal, dessen Hänge gleichfalls kahl sind. Muss ich dankbar sein, dass die einstigen Waldflächen bereits beräumt sind? Abertausende verdorrte Baumleichen - sähe das nicht noch mehr nach Weltuntergang aus? Dergleichen musste ich mir letztes Jahr im Teutoburger Wald ansehen. Kleinflächiger gottlob, aber schon damals schockierend. Schau nicht hin! Frau mit Hund - schau dahin! Oder guck dir den Bach an, der lustig in seinem Bett talwärts plätschert, als wäre die Welt in bester Ordnung …

Kilometer 11, erste Verpflegungsstation: Tee rein, Iso rein, ein Gel rein. Sechs Gels hab ich dabei. Sollte reichen. Das Wasser in meiner Trinkflasche musste ich noch nicht antasten. Zu kalt. Schweiß? Was ist das? Vergieße ich in diesem Frühjahr in erwähnenswerten Mengen nur in der Sauna. Frau mit Hund abseits des Läuferbüffets. Hund wird mit Leckerchen belohnt. Glücklicher Hund. „Ist das ein Labradoodle“ will ich wissen? „Nein, ein Italienischer Wasserhund!“ Okay, ich lag daneben, aber nicht ehrenrührig weit. Die beiden Rassen kann man als Nicht-fachmännischer-Hundefreund schon mal durcheinander bringen. Wir wechseln ein paar Sätze. Genauer gesagt dränge ich der Hundeführerin ein kurzes Gespräch auf. Wer mich kennt, wird diese Schilderung in Zweifel ziehen. Udo spricht ungern Leute an, insbesondere beim Laufen, würde niemandem ohne Not einen Dialog aufzwingen. Dass es doch geschieht, zeigt wie aufgewühlt ich innerlich bin.

Es gibt sie noch, idyllische Winkel, wie den hier im Talgrund, beidseits der Kalten Bode. Vom Flüsschen gespeist überstand die Vegetation mehrere trockene Sommer. Auf dem wildromantischen, von bemoosten Felsen gesäumten Pfad am Bachufer kommt mir kürzlich Gesehenes vor wie ein Albtraum, aus dem ich jetzt erwache. Zuversicht keimt, die mich leider nur bis zum Weiler Königshütte begleitet, hinter dem wir uns wieder dem Kahlschlag-Harz zuwenden. - Wer ist eigentlich wir? Von den später in der Ergebnisliste verzeichneten 451 Finishern bekomme ich durchgehend und mit wenigen Ausnahmen stets dieselben Mitläuferinnen und Mitläufer zu Gesicht. Tatsächlich bis zum späteren Finale … Häufig die „Frau mit Hund“ oder dieses ältere Ehepaar: er - offenbar ausdauerstark - joggt Mal um Mal ein Stück voraus, bleibt dann stehen und wartet, bis seine Partnerin ihn einholt. Darüber hinaus „duelliere“ ich mich mit einigen anderen, die mich vielfach überholen; was nur möglich ist, da auch ich sie da und dort hinter mir lasse. Entweder an Verpflegungsstellen oder in Anstiegen, die ich so lange die Kraft reicht hoch tippeln werde.

Ich bin sicher: Dieser Abschnitt im Tal, parallel zur Straße, war vormals nicht Teil der Strecke. Etwas erhöht am Hang, so gut wie flach dahin, fast drei Kilometer weit. An die Straße samt vorbei rauschender Autos würde ich mich erinnern. Ein bildhübsches, grünes Tal, durch das malerisch die Warme Bode mäandert. Bildhübsch aber nur für jene, die schmalbandig, wie mit Scheuklappen Ausschau halten! Unwirklich und grotesk der Kontrast: Jenseits des Bachlaufs und ihn umgebender Wiesen erhebt sich ein … nackter Höhenzug. Wenn ich es recht bedenke nicht „nackt“. Denn Nacktheit ist etwas Natürliches. Das dort drüben ist alles andere als natürlich. Wie dieser Kamm müssen ausgedehnte Flächen des italienischen Stiefels im Altertum ausgesehen haben, nachdem die Römer den Wald abholzten, um ihn zu verheizen oder daraus Galeeren und Häuser zu fertigen. In damaliger Unkenntnis der Folgen ohne Vorsorge, ohne den Forst - wie man heute sagt: nachhaltig - zu bewirtschaften. Das dort drüben ist Ausdruck menschlicher Ignoranz, wider besseres Wissen untätig geblieben. Eine derartige Katastrophe kann sich jederzeit anderenorts wiederholen. Schlimmer noch: Die Folgen des hingenommenen Klimawandels sind - wenn überhaupt - nur noch durch langfristiges, für jeden schmerzhaft teures Umsteuern zu beheben.

Per Fußgängerbrücke auf jetzt wieder bekannter Route über die Warme Bode. Zehn Minuten mental ausspannen zwischen scheinbar heilem Wald und gurgelndem Flüsschen auf „trailigem“ Uferpfad. Idyllisch wie eh und je. Alsbald eine scharfe Spitzkehre und im Fichtenhain aufwärts. Auch diese Bäume leben noch, was jugendlichem Wuchs und der Lage am feuchten Nordhang geschuldet sein mag. Ich steppe hinan, nach exakt 20 Kilometern allerdings schon mit Verschnaufpause. Ein Zaungast auf halber Höhe mag anscheinend seinen Augen nicht trauen: „Respekt, wer hier rauf läuft!“ Ich nehme die Auszeichnung still entgegen, weil mir der Atem fehlt. Woher sollte er auch wissen, weshalb sich einer in diesem Steilstück tippelnd abmüht? Wo die Vernunft alle anderen gehen und auf diese Weise besser mit ihren Reserven haushalten lässt. Woher sollte er wissen, dass ich das, was er für Stärke hält, als Notwendigkeit empfinde. Weil Gehenmüssen meine Stimmung eintrübt. Eine drohende Konsequenz, die ich mitten im Umweltdisaster noch mehr scheue als sonst. Sein Lob steigert eher meine Skepsis: Noch liegen 33 Kilometer und die Mehrzahl der Höhenmeter vor mir. Wie soll ich das alles laufend schaffen?

Die freie, überwiegend von Gräsern besiedelte Hochfläche kenne ich, ebenso den breiten Forstweg, auf den wir alsbald abbiegen. Gänzlich überraschend dagegen der plötzliche Übergang von Schotter auf picobello Asphalt. Wer legt mitten im Wald eine meterbreite Straße an und wozu? Nichtverstehen, das mich allerdings nicht daran hindert den Belag als Wellness für meine Füße willkommen zu heißen. Die mussten nämlich heute schon zig Unebenheiten und scharfkantige Steine unter ihren Sohlen ertragen … Verpflegungsstelle Nummer zwei: Ein weiteres Gel ist schon drin, ich spüle mit Tee, Iso und Cola nach, alles süß und kunterbunt durcheinander. Das Gel mit purem Wasser zu verdünnen wäre geboten, stünde der Faktor Rehydrierung auf Platz eins meiner Prioritätenliste. Doch nach wie vor friere ich eher, wische mir nur im Aufstieg dann und wann einen Schweißtropfen von der Schläfe. Kohlenhydrate zuführen ist wichtiger, darum der Zucker in den Getränken. Sogar eine halbe Scheibe Brot mit salzigem Belag gönne ich mir.

Keine Minute mehr auf Asphalt, dann schickt mich die Streckenteilung nach links Richtung Nordhausen. Die Längenangaben auf dem Wegweiser sind alt und falsch. Aus einst „51 km“ sollen inzwischen 53 geworden sein. Kaum dem Pfeil auf der Tafel Folge geleistet jogge ich erneut durch trostlose Leere. Halte Kurs in beräumter Landschaft ohne den geringsten Schutz vorm gelegentlich böigen Wind. Der Refrain des Westerwaldmarsches drängt sich mir auf: „Oh du schöner Westerwald, über deine Höhen pfeift der Wind so kalt …“. Wo kommt der Quatsch jetzt her? Es ist Jahrzehnte her, dass wir das Lied in trauter Kameradenrunde angetrunken grölten. Und nun dichte ich neu: „Oh du Harz ohne Wald, über deine Höhen pfeift der Wind so kalt …“

Später, bei der Rückfahrt im Bus, wird mein Sitznachbar erzählen, dass die Übernachtungszahlen im Harz rückläufig sind. Er muss es wissen, weil er in der Nähe lebt. Wer will schon in zerstörter Landschaft Urlaub machen?, werden wir übereinstimmend feststellen. Die Kulturlandschaft Harz ist tot. Wie hier auf dem Abschnitt am Hang, mit eigentlich herrlicher Aussicht zum Dörfchen, das sich ins Tal duckt. Vormals umgeben von Viehweiden und beschirmt von dunkelgrünem Tann. Dorf und Weiden sind noch da … Durchs Dorf, anschließend einmal mehr entlang eines malerisch plätschernden Bächleins in einem Seitental aufwärts. Sanft aufwärts zunächst, vorbei an Hangflächen, auf denen die Wiederaufforstung begonnen hat. Graugrüne Kunststoffhüllen schützen die Setzlinge vor gefräßigem Wild … Wild? Wo lebt hier noch Wild? Mehr als zwei Drittel der Fichtenbestände im Harz sind vertrocknet, zu Asche verbrannt oder nach Borkenkäferbefall abgestorben. - Der Horror verfestigt sich. Schon jetzt steht für mich fest, dass ich den Harz künftig meiden werde. Als Tourist sowieso, aber auch als Läufer. Denn eines der entscheidenden Motive meiner Laufleidenschaft sind schöne Bilder, die ich entlang einer Strecke einsammele …

Ich arbeite mich übers „Schlachtfeld“ aufwärts voran. Ja, genau so sieht es hier aus. Wie in Kulissen zu Filmen, die den Stellungskrieg im 1. Weltkrieg thematisieren. Von Millionen Granaten zigfach umgepflügte Flächen. Erde auf der nichts mehr intakt, alles zerhäckselt ist. Zurück zum Sportlichen: Ich schlappe aufwärts, 28 Kilometer geschafft und hundemüde. Wenn’s zu steil wird, oder der Anstieg sich in die Länge zieht, dann bleibe ich kurz stehen. Wie an dieser Stelle, wo ich die Sekundenpause für Schnappschüsse in alle Richtungen nutze: Da und dort steht noch ein Wäldchen mit jüngerem Fichten- oder Laubbaumbestand, ansonsten kahle Hügel und Bodenwellen. Das Seltsamste von allem: Immer wieder mal begegnen mir Wanderer. Ich begreife das nicht. Was hoffen diese Menschen beim Wandern in völlig ruinierter, potthässlicher Landschaft zu finden? Tun Sie es aus Gewohnheit oder Sensationslust?

Die ältere Sie teilt meinen Eindruck. Sie, die immer wieder Ihm, dem leistungsstärkeren Partner, hinterher hechelt. Deckungsgleich raunen wir uns zu: „Das ist schlimm!“ Und ich füge hinzu: „Es ist zum Heulen!“ Mein voller Ernst, mir ist danach. Im Grunde hält nur unausgesetzte Anstrengung Trauer und Missstimmung im Zaum. Ich stecke alle Energie in die Vorwärtsbewegung, zum Ausleben von Emotionen bleibt da nichts übrig. Zudem muss ich mit wachsenden Gejammer aus den Abteilungen Füße, Sehnen und Gelenke klarkommen. Die Wege werden immer schlechter. Inzwischen habe ich „Umleitungen“, zu denen sich die Veranstalter genötigt sahen, kapiert: Einige der früher benutzten Pfade existieren schlicht nicht mehr. Die wurden beim Beräumen der Flächen zu nicht mehr begehbaren Brachen … Und mir ist auch klar, wodurch verbliebene Wege so übel zugerichtet wurden: Schwere Holzernte-Maschinen und Lastwagen zum Abtransport des Holzes zerfurchten das Geläuf.

Steil hinab in einen Geländeeinschnitt. Kenne ich, schätzte ich schon vormals brandgefährlich ein. Irgendwer bringt es auf den Punkt: „Gut, dass es nicht regnet!“ Stellenweise mehr als 30° in der Falllinie wären im Dauerregen unpassierbar. Vielleicht noch am Rand und wenn man sich der ausgelegten Halteseile bedient. Die sind neu, vor sechs Jahren musste man sich hier allein auf seine Sohlen verlassen. Komme unfallfrei aber mit prallen Oberschenkeln runter … sofort wieder hinan und übers Gleis der Harzer Schmalspurbahn. Gleichfalls bekannt: Haltestelle Sophienhof. Wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, verehrter Leser, dann hast du den „dramatischen“ Teil, die von ständig erneuertem Entsetzen gezeugten Sätze hinter dir. Denn hinter der Ortschaft Sophienhof wächst überwiegend Laubwald. Und Laubbäume sind von der Katastrophe offenbar nicht betroffen.

Verpflegungspunkt drei in Sophienhof: Tee und Cola. Iso gibt’s nicht mehr, da hat wohl jemand falsch kalkuliert. Überhaupt wirkt das Büffet hier ziemlich leergefegt. Ich schnappe mir noch einen Keks und mache mich wieder auf den Weg. Vorbei am Dorfteich, an dessen Ufer sich der Weg zum Pfad verengt und dem Tal zuneigt. Zwischen hohen Laubbäumen, mutmaßlich Buchen, steil hinab. Die Konzentration darf auf dem schmalen Steig am Hang keine Sekunde erlahmen. Unter altem Laub lauern Wurzeln und kantige Steine. Minute um Minute steil hinab. Das mag Kraft sparen, schreddert aber mein Fahrgestell … anderthalb Kilometer weit, bis ich bei Laufkilometer 34 auf einen Waldweg wechsele. Der Erste, der seit dem Aufbruch in Wernigerode unter gleichfalls Laubbäumen wieder die Bezeichnung rechtfertigt: Waldweg meint einen Weg im Wald. Im Laubwald, um genau zu sein, und der wirkt intakt. Sanfter abwärts nun, unterhalten vom nebenan glucksenden Bach. Bekannte Idylle, die ich schon letztes Mal nicht mehr in vollen Zügen genießen konnte. Damals wie heute fühle ich mich ausgelaugt vom steten Auf und Ab und jogge auf wunden Füßen.

Dazu gesellen sich zunehmend Bedenken: Noch zwei, drei Kilometer, dann beginnt der längste und stellenweise steilste Anstieg der Harzquerung. Nur 300 Höhenmeter, die sich aber anfühlen wie 3.000. Der Weg flacht immer mehr ab, ein merkwürdiges Laufgefühl macht sich breit: Ausdauer ist noch da. Nur kann ich die Füße kaum heben, als wären sie mit Gummibändern umwickelt. Im Vorgriff auf den baldigen Brachialanstieg schlucke ich ein weiteres Gel. Oben in Sophienberg vor zwanzig Minuten eins und nun noch eins. Mehrfach werde ich überholt. Kann kaum fassen, dass die alle noch so „locker flockig“ vorbeiziehen!? Meine Beine wollen sich mit kleiner Amplitude bewegen, damit die Schritte möglichst wenig Schmerzen verursachen. Ihr Motto: Sch… aufs Tempo, Sch … auf die Laufzeit!

Ich überquere eine Straße, jogge dahinter flach am Bahndamm der Schmalspurbahn entlang, vollende Kilometer 36. Hinterm Bahnhof Netzkater raffe ich verbliebenen Mumm zusammen und beginne den gefürchteten Aufstieg zum Poppenberg. Tippeln … kurz verschnaufen, nur Sekunden … weiter tippeln, dabei feststellen, dass der Pfad nicht so steil ist, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ich komme voran, gewinne Höhe, weiß, dass ich es schaffen werde. Irgendwie schaffen werde, auch wenn ich rasch am Limit bin. Gedanken irrlichtern durch meinen Kopf, nichts von Belang. Ich stöhne, ächze, feuere mich dazwischen lautlos an; vor allem indem ich die Alternativlosigkeit dieser Quälerei feststelle. Oh nein, Abbrechen ist keine Alternative! Ohne dieses Stück Blech heimfahren, das sie mir nachher um den Hals hängen werden? Ohne in der Einlaufliste dokumentierten Erfolg? Das wäre keine Alternative, das wäre die ultimative Niederlage. Ich bin immer angekommen, ich komme auch heute an! Aber bitte laufend. Also tippeln … Sekundenrast … weiter tippeln …

Schier endlose Schufterei, bis es so aussieht als hätte ich den Berg gleich bezwungen. Ein Einschnitt im Kamm! Ein paar Schritte noch und ich bin drüben. Drüben schon aber nicht oben. Weiter aufwärts … Wanderer schleichen hinan. Eine Frau, die ich überhole, schnauft, kann erkennbar kaum noch ihre Beine bewegen. „Da vorne oben wird’s flach!“ ruft ein Begleiter ihr zu. Frohe Kunde für Udo: Wunderbar, denkt der, gleich wird’s flach! Doch der Typ hat gelogen! Flacher wird’s, aber nicht flach. So was von nicht flach! Weiter voran im schon eingeübten Rhythmus: Bisschen länger jetzt tippeln … Sekundenrast … weiter tippeln … Erst als ich die Tränke auf der Bergkuppe erspähe, weiß ich: Gleich ist es wirklich geschafft!

Mit Cola im Bauch bergab, noch steiler als bergauf. Bergauf frisst Ausdauer, bergab ruiniert die „Knochen“ … zumindest auf Pisten wie diesen. Manchmal weiß ich nicht, wohin ich treten soll, entsprechend langsam komme ich voran. Auf halber Höhe, zwei Kilometer weiter, wird’s besser. Ich suche und finde einen Rhythmus. Tut weh, aber so geht es. Runter, immer weiter runter. Einer der Helfer oben am Berg sprach von drei Kilometern bis zur nächsten Tränke in Neustadt am Harz. Ort und Verpflegungsstelle sind mir noch in plastischer Erinnerung, die Strecke dahin weniger. Von wegen drei Kilometer … Nach drei Kilometern umgibt mich noch immer Wald … Irgendwann dann die bekannte Kulisse, sorgsam gepflegtes Fachwerk, viele Gaststätten, eine aus Feldsteinen erbaute Kirche, wenig später das Stadttor. Neustadt im Harz, eine Ortschaft, die ohne Fremdenverkehr nicht lebensfähig wäre.

Nach fünf Kilometern endlich der VP, der steht, wo er immer stand, am Rand eines Parkplatzes. Trinken, eine Scheibe Brot mampfen, außerdem verleibe ich mir das letzte Gel ein. Ein paar Buckel kommen noch, nichts Gewaltiges, dennoch schier unüberwindlich nach diesem „Vorprogramm“. Ein Schild gibt Auskunft über die Reststrecke: 7,7 Kilometer bis zur Erlösung. Wenn die Angabe stimmt, werde ich im Ziel fast 54 statt der vorgegebenen 53 km auf der Uhr haben. Trinkbares in der Hand mache ich mich gehend auf den Weg, entsorge alsbald den Becher und befehle meinen Beinen: Laufschritt! Keine Minute später, am Fuß eines Höhenrückens, steigt die Straße wieder an. Wobei der Ausdruck „Höhenrücken“ maßlos übertrieben und dem Grad meiner Erschöpfung geschuldet ist. „Ausgeprägte Bodenwelle“ kommt der Wahrheit näher, letztlich nur 30 Meter Höhenunterschied. Wieder mal tippele ich an meiner Lieblingskonkurrenz vorbei, der Frau mit Hund. Es geht ihr wie mir, als ich noch mit unserer Hündin Roxi unterwegs war. Die Bedürfnisse des vierbeinigen Laufpartners haben stets Vorrang. Letztlich kosten diese Bedürfnisse Zeit. Wie jetzt die Frau: dem Italienischen Wasserhund gefällt es an diversen Grashalmen akribisch Spuren zu sichern …

Ich tippele durch einen Hain auf bekanntem Kurs hinan, erreiche den Waldrand und … Streckenänderung. Früher links zwischen Feldern weiter, jetzt geradeaus über eine Graspiste. Aber abwärts, nur um ein paar Minuten später wieder aufwärts zu laufen. Der nächste Hügel will bezwungen werden, immerhin einer der letzten … Von oben genießt man eine grandiose Aussicht übers Tal entgegen der Laufrichtung bis hin zum Poppenberg, der mich außerdem als Schmerz in meinen Beinen begleitet. Eine völlig veränderte Landschaft präsentiert sich dem Auge hier am Südrand des Harzes. Wiesen und Felder dominieren, die Hügel sind niedriger, überall blühen Obstbäume. Nur Petrus scheint uns einen versöhnlichen Ausklang dieses Laufausfluges nicht zu gönnen. Oben auf dem Poppenberg riss der Himmel auf, die Sonne schien und verhieß Wärme. Sie konnte ihr Versprechen nicht einlösen. Seit einiger Zeit ballt sich da droben wieder Gewölk …

Ein Stück Straße, Asphalt also, den ich nicht mehr als Fußmassage empfinde; der mir nun erst recht verdeutlicht wie sehr meine Füße „im Eimer“ sind. Sie protestieren vehement, stellen aber weiterhin Schritte bereit. Ein letzter Verpflegungspunkt, drei Kilometer vorm Ziel, an bekanntem Standort. Bin schon eine Weile entschlossen nicht zu rasten, aber nicht überzeugt meinem Entschluss auch Folge zu leisten. Dann schaffe ich es tatsächlich vorbeizulaufen. Es war heute morgen kalt, später kühl, eine Weile warm und kühlt nun wieder ab. Durst quält mich also nicht, außerdem habe ich noch reichlich Wasser in meiner Flasche … Vorbei, aufwärts voran, den - wie ich sicher weiß! - allerallerletzten Buckel erstürmen!

Der nimmt mich noch mal ordentlich ran, kann mich aber nun auch nicht mehr aufhalten. - Ich hätte an diesem Tage reichlich Veranlassung zum Klagen gehabt, mehr als je zuvor in diesem Jahr. Wieder spüre ich totale Erschöpfung, dazu heute - nicht übertrieben - zerschlagene Haxen und die Laufzeit versetzt mich auch nicht gerade in Ekstase. Lange vermied ich den Blick zur Uhr. Zur halben Strecke hatte ich bereits 3:30 Stunden verbraucht, bis ins Ziel werden es nun gut 7:30 Stunden sein. Grottenschlecht. Trotz allem jammere ich nicht. Es gibt Schlimmeres. Auch wenn die Bilder nun schon zwei Stunden Vergangenheit sind: die Verheerung der einst wunderschönen Harzlandschaft wirkt noch immer nach.

Entlang einer Baumreihe, zwischen Feldern, senkt sich der Pfad abwärts. Vor mir liegen die letzten beiden Kilometer. Vielleicht brauche ich das für einen insgesamt verträglichen Abschluss: Im Grunde sinnlos ein bisschen Ehrgeiz entwickeln. Wie dem auch sei: Ich werde schneller. Will nun keinesfalls mehr überholt werden. Nicht von der Frau mit Hund, nicht von Ihm, der Ihr noch immer vorauseilt, um dann auf Sie zu warten. Auch von keinem derjenigen, die ich im letzten Anstieg hinter mir ließ. Was ich final von mir erwarte ist wahrhaft blöd, gibt mir aber ein gutes Gefühl. Allein schon, weil ich es noch kann. Durch einen mit welkem Laub angefüllten Hohlweg hinab, allen „Fußangeln“ - verborgene Wurzeln, quer liegende Äste, faustgroße Kullersteine -, mit Glück entrinnend. Schließlich wetze ich auf einen breiten Feldweg, auf dem sacht bergab … nicht mehr weit. Voraus die bekannte Rechtskurve, hinter der man das Stadion schon wird sehen können … Noch vierhundert Meter und schlussendlich, nach 7:31:45 Stunden, bin ich tatsächlich erlöst …

 

Fazit zum Wettkampf

Die Harzquerung war der logische nächste Schritt: Mehr Belastung durch längere Laufzeit. Dahinter steckt die Absicht im August 100 Meilen weit in Berlin zu laufen. Ob mein Körper die beabsichtigte Trainingswirkung annimmt, wird sich in den kommenden Tagen zeigen. Es war der erwartet schwere „Gang“, wobei ich völlig vergessen (oder verdrängt?) hatte, wie sehr mir das teilweise üble Geläuf zusetzte. Durch die Holzarbeiten waren die Wege in noch miserablerem Zustand, als vor sechs oder zwölf Jahren.

 

Fazit zur Veranstaltung

Organisatorisch gibt es bei der Harzquerung nichts zu meckern. Auf der ersten Hälfte ist man infolge von jeweils 11 Kilometern Distanz zum nächsten VP im Grunde unterversorgt. Doch kennt jeder Teilnehmer diese Bedingung vorher und kann entsprechend vorsorgen. Ansonsten hatte das OrgaTeam alle logistischen Belange einer großen Laufveranstaltung im Griff. Danke dafür!

Die Strecke ist ein Albtraum. Von der Kulturlandschaft Harz ist nicht mehr viel übrig. Es lohnt sich nicht nur nicht mehr quer durch den Harz zu laufen, ich empfinde den Kurs inmitten kahler Hügel als Zumutung. Daher werde ich alles daran setzen den Harz künftig zu meiden. Weiter westlich, Richtung Brocken, soll es genauso schlimm aussehen. Der Ostharz soll kaum betroffen sein, dort herrscht Laubwald vor. Möglicherweise ist die Strecke des „Ottonenlaufs“, die mich zweimal begeisterte, noch immer laufenswert.

In den Harz sollte sich vor allem begeben oder die Harzquerung laufen, wer noch immer glaubt der Klimawandel wäre eine Erfindung oder stünde erst bevor. Der Klimawandel ist real und zerstört schon jetzt Lebensgrundlagen in gewaltigem Ausmaß.

Fazit, wenn auch mit Bedauern: Nie mehr Harzquerung.