22. April 2023

Konsonantentausch  -  Ampermarathon 2023

Ich mag Buchstaben, alle Buchstaben, Vokale gleichermaßen wie Konsonanten, bevorzuge keinen. Auch wenn ich den Fokus an dieser Stelle ausnahmsweise auf zwei Konsonantenpaare richte: „gr“ und „bl“. Spontan stellte sich die Idee ein, dass mit „gr“ beginnende Wörter einen eher abwertenden Anstrich besitzen; so etwa in Grobian, grotesk, grölen, grimmig, Großmaul, grell, gruselig, grundlos, grunzen und anderen. Wohingegen mit „bl“ eingeleitete Vokabeln vor allem heitere oder lustige Empfindungen ausdrücken: blasen, blinzeln, Blüte, blinken, Blickfang, Blume und viele mehr. - Sehr subjektive Auswahl magst du einwenden und hättest damit nicht unrecht. Ich halte dennoch einstweilen fest an dieser Idee, komme später darauf zurück …

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Der Ampermarathon wird zum zweiten Mal veranstaltet. Letztes Jahr mobilisierte er nur 20 Teilnehmer, von denen lediglich 2 die volle Marathondistanz - drei Runden zu je 14,x Kilometer - absolvierten. Auch in diesem Jahr gibt es die Wertungen „Ein-Drittel-“ und „Zwei-Drittel-Marathon“. In der Ergebnisliste stehen immerhin „schon“ 24 Marathonfinisher verzeichnet. „Schon“ steht zwischen Gänsefüßchen, da mir selbst ein Sprung von 2 auf 24 Marathonfinisher - immerhin das Zwölffache - unbegreiflich vorkommt. Eine Steigerung von „fast nichts“ zu „kümmerlich“. Damit soll keineswegs das Engagement des Veranstalters abgewertet werden - im Gegenteil. Die Einschätzung geschieht mit Blick auf den Veranstaltungsort. Der liegt in Hörweite der Autobahn A8, Ausfahrt „Fürstenfeldbruck/Dachau“ und damit quasi in „Spuckweite“ der Millionenmetropole München. Das gern reklamierte „Weiß-halt-keiner-von-dem-Lauf!“ lasse ich nicht gelten. Unter anderen der Marathonkalender des Laufportals „marathon4you“ listet die Veranstaltung auf, geheim gehalten wurde sie wahrlich nicht. Erklär’s mir: Wieso stellen Rainer, Robert - nur diese beiden im Feld kenne ich - und meine Wenigkeit bereits ein Achtel aller Starter?

Der Gedankenaustausch mit Robert hat richtig Fahrt aufgenommen, für den später eintreffenden Rainer bleibt leider nur ein Handschlag zur Begrüßung. Robert ist Österreicher und lebt in der Nähe von Wien. Er nutzt einen Besuch in der Nähe und verbindet das Angenehme mit noch mehr Angenehmem. Wir kennen uns von etlichen Läufen in Österreich, aber auch hierzulande kreuzten sich mehrfach unsere Marathonwege. Eine Viertelstunde Läufergeplauder - unter anderem über den Olympian Race in Griechenland, für den Robert im Mai gemeldet hat, zugleich eine meiner schönsten Ultraerinnerungen - ist rasch um, Briefing und Start stehen an.

Erstmal ein Briefing für dich: Seinen Namen bezieht der Ampermarathon vom Flüsschen Amper, dem Abfluss des Ammersees, Luftlinie 25 km südwestlich von hier. 50 km Luftlinie weiter im Nordosten mündet die Amper in die Isar. Wissenswert: Als „Ammer“ speist das in den Ammergauer Alpen nahe Oberammergau entspringende Gebirgsflüsschen den Ammersee, um am Nordufer in „Amper“ umbenannt gen Isar zu strömen (siehe da, ein erster „Konsonantentausch“, „p“ ersetzt „m“!). Die 14 km-Wendestrecke des Ampermarathons bleibt überwiegend in Ufernähe, formt darüber hinaus an beiden Enden eine Schleife. Was ich vorab, da oberflächlich vertraut mit der hiesigen Topografie, vermutete, soll sich als richtig erweisen: mich erwartet ein brettflacher Kurs.

Erst zum zweiten Mal in diesem Jahr stehe ich leicht bekleidet in oben-kurz-unten-kurz an einer Startlinie. Zuletzt am 18. März in Würzburg, seither nur mieses Wetter. Heute endlich mal warm unter blauem, statt wochenlang grauem Himmel. „Grau war der Himmel lange genug!“ - hörte ich vorhin einen Läufer einwenden. Wasser auf meine Mühlen. Etwas Ähnliches hätte ich der Wärme-skeptischen Dame wohl auch entgegengehalten. Zumal die Luft zum Start um 9 Uhr mit mäßigen 10°C durchaus noch zum Frösteln einlädt - mich zumindest.

Im Häuflein der 24 Marathonis ist Robert mir rasch ein paar Schritte voraus. Und ebenso rasch finde ich mich auf dem letzten Platz im Minimarathonfeld wieder. Es dauert vielleicht drei Minuten, bis ich kapiere wie die „Sache“ heute laufen wird: Gut möglich, dass ich das Ziel im 341. Marathon und weiter erstmals als Schlusslicht erreichen werde (Die meisten anderen guckten am Start so entsetzlich jung und leistungsfähig aus bunter Wäsche)! In besagten drei Minuten, hechele ich dem Feld unkonzentriert hinterher, lasse mich vom „optischen Sog“ mitreißen, einzig darauf bedacht Anschluss zu halten. Es obliegt meinem Körper mit widersetzlich schweren Beinen und prompt einsetzender Kurzatmigkeit auf den groben Anfängerfehler hinzuweisen: Ich bin viel zu schnell unterwegs! Deutlich unter 6 min/km meldet der GPS-Tacho am Handgelenk. Einen „flotten“ Lauf traue ich mir heute zwar zu, doch keinesfalls besser als 6:20 min/km im Mittel.

„Läuferischer Überlebenswille“ empfiehlt mir mich nach und nach vom Feld zu entkoppeln. Noch eine ziemliche Weile halte ich Tuchfühlung zu zwei Damen und einem männlichen Mitläufer, die jedoch unwiderstehlich davonziehen. Nach nur drei Kilometern trage ich dem Feld die rote Laterne mit einigem Abstand hinterher, scheinbar ohne Aussicht sie in den kommenden Stunden wieder loszuwerden. ‚Abwarten!’ denkt es in mir die Läuferseele massierend, und: ‚Abgerechnet wird zum Schluss!’ Das mag stimmen, doch zu diesem Zeitpunkt glaube ich nicht wirklich daran.

Einher trabend aale ich mich in der Sonne und halte in unbekanntem Terrain Ausschau nach Fotomotiven. Zunächst bleibt mir der Blick zur Amper verwehrt, dafür werde ich mit dieser oder jener sumpfigen Aue entschädigt. Reichlich Himmelblau über allem, sattes Grün bleibt auch nach überschrittener Aprilmitte hauptsächlich den Wiesen vorbehalten. Bäume und Sträucher mühen sich Triebe zu Blättern zu entfalten, kamen im kalten Dauergrau der letzten Wochen aber kaum voran.

Den Enteilten hinterher joggend lese ich auf meiner Uhr weiterhin besorgniserregende Werte ab: manchmal unter, meist knapp über 6 min/km. Was sich da ereignet ist der „Fluch des gut geschulten Tempomaten“. Meiner will die nach dem Einlaufen, also nach zwei, drei Kilometern, justierte Geschwindigkeit „along the whole distance“ konstant halten. Was ihm in der Vergangenheit regelmäßig glückte, wann immer genug Körner im Säckchen waren. Für eine mit der augenblicklichen „Hatz“ angepeilte Zielzeit von unter 4:15 Stunden ist mein Kornsäckchen jedoch definitiv zu kärglich gefüllt! - Ich denke mehrfach ‚langsamer laufen!' und hoffe, dass mein Bewegungsapparat der Aufforderung Folge leisten wird.

Bei Kilometer vier treffe ich auf die versprochene Verpflegungsstation. Drei Kinder bieten mit geschäftiger Stimme gut gefüllte Trinkbecher feil: „Wasser!?“ - „Iso!?“ - „Cola!?“ - Die Übergabe eines Bechers Iso aus ungeübter Kinder- in en passant fahrig zugreifende Läuferhand wäre um ein Haar gescheitert. Ein Teil des Inhalts schwappt über meine Hand, der Löwenanteil dann doch noch in meinen Magen.

Noch immer keine Amper, dafür wieder sumpfiger Auwald, auch nicht hässlich. Nur ein paar Laufminuten weiter schmiegt sich der Weg schließlich ans Ufer. Die Amper täuscht hier enorme Breite vor, die sie nicht von Natur aus besitzt. Das nur mäßig bewegte, alsbald einem ruhenden See gleichende Wasser lässt mich eine Staumauer oder ein Wehr vermuten, irgendwo weiter flussabwärts. Der erste Läufer auf Gegenkurs huscht, kaum dass ich ihn voraus erspähte, auch schon vorbei. Wehmut, als vergleichsweise betagtes Schlusslicht selbst nicht mehr so zügig unterwegs sein zu können, kommt bei dieser und weiteren Begegnungen nicht auf. Dafür Freude meine Laufbilder mit vorbei zischenden Athleten beleben zu können …

Inzwischen flutet die Amper träge auf einer Breite von gut und gerne 50 Metern dahin. Präsentiert sich als gezähmter Stausee, auf dem Wasservögel dümpeln, an dessen Uferpromenade mehr und mehr Spaziergänger und Radler Erholung suchen. Es ist der erste und - wenn die Wetterfrösche Recht behalten - vorerst letzte gleichermaßen warme wie sonnige Tag des Monats, der viele Menschen ins Freie lockt. Schon jetzt, kurz vor zehn am Vormittag, muss ich mich häufig vorsehen und ausweichen. Die erste von zwei Brücken kommt in Sicht. Ich bleibe am diesseitigen Ufer der Amper, werde erst in Höhe der zweiten Brücke zur anderen Seite wechseln.

Längst am anderen Ufer und schon stückweit in Gegenrichtung unterwegs trabe ich an der Tafel vorbei, die die Runde teilt: 7-21-35 - drei Zahlen auf der Tafel geben Auskunft über erreichte und mit weiteren Runden angepeilte Kilometer. Anlass wieder zur Uhr zu schauen: Ich komme einfach nicht runter vom „hohen Tempoross“, renne - für meine Verhältnisse passt das Verb - noch immer zu schnell am Fluss entlang. Damit renne ich nicht nur sehenden Auges ins Verderben. Die dabei gefühlte hohe Belastung schmälert überdies den Laufspaß, den ich heute bei Kaiserwetter genießen wollte.

Über die Brücke zur ursprünglichen Seite und nun der eigenen Fährte folgend zurück Richtung Ziel. Keine Minute später flitzt mir ein weiterer Läufer entgegen. Ein Marathoni kann's nicht sein, das Marathonfeld endet mit mir. Er gehört zu den Zwei-Drittel-Marathonis, die um 9:20 Uhr auf den Kurs entlassen wurden. Blick zur Uhr: Die „Ein-Drittler“ starteten vor wenigen Minuten um 9:40 Uhr. Ihrer Spitze werde ich dann wohl in weniger als einer Viertelstunde begegnen …

Ich bade in milder Luft, genieße das blaue Gewölbe über mir. Trotz massiver Anstrengung laufe ich wie befreit. Befreit vom Joch des Winters. Eruptiv aufwallenden Widerwillen entzündet der Gedanke wie es wäre jetzt mit langer Laufhose und Jacke unterwegs zu sein, die Hände „be-handschuht“, der Kopf „be-mützt“ ... Sanft links, bald rechts herum, ich laufe ein paar Biegungen der Amper aus. Meist halte ich den Blick zum Fluss gerichtet, bis mich von eigener Rasanz herrührende Belastung mal wieder die Uhr befragen lässt. Es bleibt dabei: Ich bin zu flott unterwegs …

Auf dem Rückweg wische ich mir häufiger Schweißtropfen aus der Stirn. Die noch mäßige Lufttemperatur ist dafür weniger ursächlich als die Windverhältnisse: Auf dem Hinweg war ich minimalem Gegenwind ausgesetzt, nun begleitet mich völlige Windstille (= ein Hauch von Rückenwind). Dankbar nehme ich am Versorgungspunkt einen weiteren Becher Iso aus Kinderhand entgegen. Mit verminderter Geschwindigkeit diesmal, so klappt die Übergabe verlustfrei. - Ich durchquere eines der zwei, auf der Route gelegenen Wäldchen. Vorhin, dicht am Amperufer, setzte sich der Forst aus für Auwald typischen Gehölzen zusammen: vorwiegend dünne Stämme, niedrig im Wuchs und verbuschtes, dichtes Unterholz. In diesem Wald gedeihen eher Fichten und stämmiges Laubholz. Bäume, die, um an Wasser zu kommen, großflächig oder tief wurzeln müssen. Sie wachsen hier auf geringfügig höherem „Plateau“. Vermutlich bemerken nur am persönlichen Limit laufende Marathonis den Höhenunterschied: am einen Ende zwei, höchstens drei Meter aufwärts, am anderen um denselben Betrag wieder runter …

Ein paar Minuten parallel zur Bundestrasse B 471, dann drunter durch und jenseits wieder ein Stück Amper besichtigen. Stückweit sogar auf schmalem Pfad „trailen“, auf dem unter einer Straßenbrücke wirklich nur eine „Menschenbreite“ Platz findet. Wer strauchelt und stürzt, wird schwimmen müssen. Ein entgegenkommender Radler hat mich offenbar rechtzeitig gesehen oder gehört, wartet zuvorkommend hinterm Brückenpfeiler ab bis ich vorbei bin. Auf mein Verständnis anlässlich einer Begegnung in der Engstelle hätte er nicht hoffen dürfen. Auf dem Hinweg umgehen auch wir die Brücke, überqueren die Straße und nehmen dabei 300 Meter Umweg in Kauf.

Noch zwei Kilometer bis zum Ende der ersten Runde, von denen ich knapp einen auf bekanntem Weg zurücklege. Dann schicken mich Pfeile nach rechts in Richtung Fluss. Was links und rechts hinter Gestrüpp verborgen liegt kann ich nicht erkennen. Jedenfalls nicht mit flüchtigen Blicken, zu denen mich der nun etwas ruppigere Abschnitt des Kurses zwingt. Rechts von mir höre ich die Amper rauschen (rauschen?). Und von irgendwoher dringt vielstimmiges Quaken an mein Ohr. Wo die liebestollen Frösche leben, werde ich auch nach dem dritten Umlauf nicht ergründet haben, das Rauschen der Amper kläre ich dafür sofort auf: Über eine langgezogene, von großen Steinen gebildete Kaskade strömt das Wasser flussabwärts.

Im weiten Bogen an der Amper entlang, dabei umrunde ich das Abfallheizkraftwerk Geiselbullach. Mehrfach blicke ich zu dem klotzigen Bauwerk hinüber und wundere mich: Kein Anzeichen von Betriebs-Leben dort drüben, nicht mal das winzigste Dunstfähnchen, das aus den hohen Abgasschornsteinen des Kraftwerks aufstiege. Die Anlage wirkt modern und gut in Schuss, schwer vorstellbar, dass sie ihren Betrieb eingestellt haben sollte. Werden die Öfen nur unter der Woche angefahren, um zu verheizen, was an Müll in dieser Zeit angeliefert wird? Rätselhaft. Ich wühle in verschütteten Erinnerungen anlässlich einer Besichtigung woanders: War es nicht so, dass die gefräßigen Mäuler von Müllverbrennungsanlagen ständig Futter brauchen, weil ihre Öfen nie erlöschen dürfen? Protest regte sich seinerzeit, als die Absicht bekannt wurde die Müllverbrennungsanlage in Augsburg mit Abfällen aus der gesamten Region, sogar aus dem Allgäu, zu beschicken. Man karrte den Müll über viele Kilometer herbei, weil die Anlage zu groß dimensioniert worden war. Das Schrumpfen des zu verbrennenden Restmülls anlässlich des Erfolges der Mülltrennung hatte man nicht bedacht. Und zumindest die Augsburger Öfen mussten 24/7 brennen.

Vorm Tor des Kraftwerks biege ich auf Asphalt ab und trete die fehlenden dreihundert Meter bis zum Zielstrich mit Füßen. Die Zeitmessung registriert meinen Durchlauf nach 1:26:06 Stunden, die (für mich) beinharten 6:07 Minuten pro Kilometer entsprechen. Und genauso „beinhart“ fühlt es sich an als ich nach zwei eilig runter gestürzten Bechern Cola und Wasser zur zweiten Runde aufbreche. Noch verzichten meine Beine auf Warnstreik, verleihen ihrem Protest aber mit markigen Worten Ausdruck: Gib dich nicht der Illusion hin, dass wir dieses Tempo weitere zwei Runden mittragen!

Nach ein paar Schritten „läuft es wieder rund“. Wie gehabt richte ich mich in hoher, einstweilen noch aushaltbarer Belastung ein. Wie gehabt überwache ich meinen Lauf in kurzen Intervallen, glaube zuweilen langsamer unterwegs zu sein, werde jedoch jedes Mal vom „Tacho“ eines Besseren belehrt. Der Wunsch „es mir bequemer zu machen“, das ganzkörperlich empfundene Unwohlsein zu reduzieren, auf die Bremse zu treten, poppt immer mal wieder auf. Nur erfülle ich mir - meinem Körper - diesen Wunsch nicht. Kilometer 17, 18, 19 … Die Überzeugung, dass das Gerenne mir spätestens in Runde drei einen herben Einbruch bescheren wird, tritt mehr und mehr in den Hintergrund. Stattdessen eher solches Erwägen: Was hätte es für einen Sinn gehabt bis hierher mit hohem Einsatz zu „spielen“, um nun die Schritte zu mäßigen und so das Erreichte kampflos herzuschenken? Also unternehme ich nichts, das vermeintlich böse Ende zu mildern, lasse es drauf ankommen.

Wieder am Amperstausee unterwegs, noch anderthalb Kilometer bis Halbmarathon, bis zur Rundenteilung. Robert kommt mir entgegen und feuert mich an. Ich möchte es ihm gleichtun, vermag mir jedoch nur eine müde Geste abzuringen. Für Worte reicht es nicht mehr, mein Sprachzentrum fühlt sich wie gelähmt an. Wie oft versuche ich mir auch heute durchs Setzen von Zwischenzielen zu helfen. Der Halbmarathon ist so ein Zwischenziel. Was bedeutet er mir? - Körperlich wenig, mental hat er Gewicht; motiviert über die Gewissheit danach weniger Strecke vor, als bereits hinter mir zu haben. Unterstützt vom Effekt, dass die Distanz zwischen „gelaufen“ und „Rest“ pro Kilometer in Zwei-Kilometerschritten wächst. Mir helfen solche arithmetischen Tricks, wenn es hart ist. Und hart war’s in diesem Jahr eigentlich jedes Mal …

Über die Brücke und auf die Tafel „7-21-35“ zu … Ich verkneife mir die „Halbzeit“ abzulesen, weil ich simpler Verdoppelung als Hochrechnung auf die Endzeit ohnehin keinen Glauben schenken würde. Weiter, weiter, weiter, … alsbald über Brücke zwei zurück ans Südufer der Amper … Einmal mehr meine ich verlangsamte Schritte zu spüren und befrage den GPS-Wahrsager am Handgelenk … wieder und wieder … Mein Laufgefühl narrt mich, noch immer keine Tempoverschleppung.

Zeit verliere ich trotzdem. Dreimal unterbreche ich meinen Lauf in dieser Runde zum Verpflegen. Zweimal zum Trinken, ein weiteres Mal in Höhe eines Abfallbehälters, um das Erste von zwei Gels zu schlucken, die ich mir heute zugestehe. Nötige Laufpausen infolge inzwischen verminderter Körperbeherrschung: Für den verlustfreien Griff nach vollen Bechern reicht die Konzentration nicht mehr. Ebensowenig gelänge mir tippelnd der Gelkonsum aus schwabbeligem Tütchen, ohne mir dabei die Finger zu verkleistern.

Ich hake Zwischenziel um Zwischenziel ab - Verpflegungsstand - Unterführung B 471 - schließlich die zweite Runde. Die spätere Auswertung wird ergeben, dass ich mit 1:27:16 Stunden mein Tempo in Runde zwei konservieren konnte. Die Mehrminute gegenüber Runde eins geht zu Lasten der Versorgungsstopps. - Trinken im Zielbereich, einen vollen Becher mitnehmen, gehend austrinken, wieder anlaufen. Damit kein Zweifel aufkommt: Das tut jetzt schon verdammt weh! Immerhin spulte ich 28 Kilometer in „Windeseile“ ab. Zwischenbilanz: Die klammheimliche Zielzeithoffnung für heute, Sub4:30Stunden, bleibt in Reichweite. Bisher schloss ich die Runden deutlich unter 1:30 Stunden ab. Zum finalen Umlauf breche ich nach 2:54 Stunden auf. Mithin bleiben 1:36 Stunden, um das „Klammheimliche“ zu realisieren. Das schaffe ich! Überschlägig kalkuliert: Selbst wenn ich von nun an eine halbe Minute mehr pro tausend Meter investieren müsste, würde die Zeit reichen!

Nach einem solchen Tempoeinbruch sieht es zunächst nicht aus. Nicht zu Beginn der Runde, auch nicht einen Kilometer weiter, wo ich der Kutsche begegne und mit schussbereiter Kamera bei den Insassen Heiterkeit auslöse. Auf dem folgenden Abschnitt zur Unterführung und entlang der Bundesstraße lässt sich der Zeitverlust dann nicht mehr leugnen. Ich verbrauche aber nur ein paar Sekunden mehr pro Kilometer, die das heimliche Zeitziel nicht in Gefahr bringen. Wie schon früher in ähnlicher Situation spricht mein Körper eine ganz andere Sprache. Ausstrahlende Schmerzen in der Gesäßregion, wie auch die Empfindung zunehmend gelähmter Beine suggerieren verkürzte, langsamere Schritte, als messtechnisch ständig abzulesen. Auch heute bleibt rätselhaft, wie es mir gelingt auf desolaten Haxen weiterhin so rasch voranzukommen …

Inzwischen kenne ich die Strecke und setze abschnittsweise Haken. Ich gebe mir kleine Streckenschnipsel vor, um häufiger Zwischenziele erfolgreich verbuchen zu können. Das hilft! Vorletztes Mal trinken und nun auf zum Sumpf … Sumpf erreicht, jetzt Beine in die Hand nehmen und hin zum Amperufer. Durchhalten, nicht langsamer werden! Längst achte ich nicht mehr darauf, wer mir entgegen kommt. Nicht mal mehr, ob überhaupt noch Läufer unterwegs sind, nehme ich bewusst wahr. Jeden Meter muss ich mir jetzt erkämpfen …

Im Kopf trifft diese diffuse Form von Quälerei auf gute Laune. Das mag merkwürdig klingen und doch stimmt es. Die Schmerzen waren zu erwarten, sind nichts Außergewöhnliches, hätten angesichts der von Beginn an hohen Schrittfrequenz durchaus auch heftiger ausfallen können. Außerdem bin ich es gewohnt das von Belastung und zunehmender Ermüdung verursachte unangenehme Gefühl über längere Zeit zu ertragen. Ich kann das. Soweit zur Sollseite. Daneben, unter „Haben“, steht das Angenehme gelistet. Da ist die Aussicht - nein: nun schon Gewissheit - heute den mit Abstand schnellsten Marathon des Jahres abzuliefern. Wodurch sich die erhoffte Tendenz zum Besseren zu bewahrheiten scheint. Mein Körper lässt sich also doch noch trainieren, wenn auch weniger Ausdauer-effizient als früher.

Auf der Habenseite steht auch das grandiose Wetter dieses Tages! Endlich wieder Schwitzen, jetzt am Nachmittag in mehr als 20°C warmer Luft! Laufen unter einer Sonne, die die Welt in kräftige Farben taucht. Vor allem dort oben: Am Himmel regiert endlich blau an Stelle von grau! Für einen Sonnenmenschen meiner Prägung ein ganz entscheidender Tausch von Konsonanten: „Bl“au statt „Gr“au. Grau, das zu ertragen mir zuletzt mit jedem kalten, hässlichen Tag mehr Grau-sen verursachte. Sonne und Blau machen Laune, machen mich mental stark. Vielleicht kostet die bio-physische Umstellung von „jüngst noch kalt“ auf „heute ziemlich warm“ auch mich die eine oder andere Marathonminute. Doch solche „Opfer“ habe ich stets gerne gebracht.

Rainer hat noch etwa 200 Meter Vorsprung als ich ihn das erste Mal sehe. Entweder zollt er anfänglich zu hoher Geschwindigkeit Tribut, oder irgendein Problem bremst ihn. Jedenfalls schrumpft der Abstand zwischen uns rapide. Ein Wettlauf ist beileibe nicht, was wir hier unter Ausschluss von Publikum austragen. Von zwei älteren Herren, die „es“ partout nicht lassen können, bin ich zu dieser Stunde lediglich derjenige mit weniger „Pein im Gebein“. Etwa drei Kilometer vor Schluss überhole ich Rainer und fühle mich zu einem „aufbauenden Spruch“ verpflichtet. „Bald geschafft!“ presse ich zwischen den Zähnen hervor. Zwei Wörter sind das Äußerste, zugleich das Erste und Letzte, was ich mir verbal zwischen Start und Ziel werde abringen können. Von Rainers offenbar erklärender Antwort kommt nur „ … macht sich bemerkbar“ bei mir an. Was sich bemerkbar macht, werde ich einstweilen nicht erfahren. Die Entschlusskraft meine Schritte kurz zu mäßigen und nachzuhaken bringe ich nicht mehr auf. - Okay, jetzt bin ich also nicht mehr letzter Mann im Feld, das diesbezügliche Debüt auf Marathon- oder Ultrakurs steht weiterhin aus. Geschlechtsübergreifend gewertet habe ich die rote Laterne übrigens schon vor Längerem an zwei Mitläuferinnen abgetreten. Ironie des Läuferschicksals: Nur drei von 24 Leuten werden nach mir finishen und das in meinem seit Langem besten Marathonlauf.

Im Grunde konserviere ich meine Pace bis zum Schluss, auch wenn die letzten fünf Kilometer mit Laufspaß nun wirklich nichts mehr gemein haben. Ich bestehe einzig aus Sehnen nach dem Ende dieser zur Tortur ausgearteten Übung. Und doch hätte es keinen Sinn Tempo raus zu nehmen. Als Folge vielleicht minimal weniger Schmerz, den ich stattdessen aber länger aushalten müsste. Noch einmal den schmalen Pfad unter der Brücke nehmen, ein letztes Mal konzentriert auftreten, bloß hier nicht stolpern. Dann am Rand des Auwalds entlang, noch zwei Kilometer. Alsbald abbiegen vom guten auf den bösen Weg. Na ja, so „böse“ ist der eigentlich gar nicht. Kann aber auch sein, dass meine Füße schon zu abgestumpft sind, um Unebenheiten noch sensibel wahrzunehmen. Jetzt noch einen Kilometer, nicht mehr weit …

Irgendwann joggt mir Robert entgegen, setzt sich an meine Seite, begleitet mich Richtung Ziel. Mein Mund ist wie vernäht, kein Laut dringt nach außen. Nichts, was Robert signalisieren könnte, wie willkommen mir seine Eskorte ist. Nicht mal für eine Geste reicht noch die Kraft. Selbstverständlichkeiten, deren Unterlassen dokumentiert, wie tief ich auch heute wieder in die Erschöpfung laufe … Gemeinsam auf den Asphalt, noch 300 Meter geradewegs aufs Ziel zu, wo mich nach 4:22:54 Stunden warmer Applaus empfängt.

Alsbald muss ich mich hinsetzen, der Akku ist leer. An die Stelle verbrauchter Ausdauer tritt Zufriedenheit. Läuferglück. Heute mehr als zuletzt, denn heute ist der Himmel „bl“au, nicht „gr“au.

 

Fazit zur Veranstaltung

An der Amper wartet auf den Läufer eine flache Strecke in schöner Natur, die auch in der dritten 14,x Kilometer langen Runde nicht langweilig wird. Untergründe: Etwa ein Viertel Asphalt, der Rest wird auf überwiegend ebenen Feld- und Uferwegen gelaufen.

Das engagierte OrgaTeam stellte eine tolle, reibungslos umgesetzte Veranstaltung auf die Beine, der es eigentlich nur an einem mangelt - noch mehr Teilnehmer.

Fazit: Wenn abkömmlich, dann nächstes Jahr gerne wieder!