31. Oktober 2022

Die Nacht der Ungeheuer  -  Bestzeitmarathon München

Unterwegs in Runde fünf, Sonntagmorgen kurz vor ein Uhr. Dunkelheit um mich her. Die ist nicht vollkommen; zahlreiche, von Mitläufern vor sich her geschobene Lichtblasen verhindern das. Außerdem stört die Aureole der nahen Millionenmetropole München. Selbst mit ausgeschalteter Stirnlampe, also von eigenem Streulicht nicht irritierten Augen, sind nur die hellsten Sterne am Nachthimmel auszumachen. Der Mond ist längst wieder untergegangen. Wenn man den treulosen Gesellen mal braucht, kalkweiß und mit möglichst vollem Mondgesicht die Nacht erhellend, macht der sich rar. Mit schmaler Sichel kroch er in den frühen Abendstunden übern Horizont, tauchte alsbald wieder ab.

Wem Sterne leuchten, der wandelt unter wolkenfreiem Himmel. Derzeit und für den Rest der Veranstaltung werde ich folglich auf trockenen Parkwegen joggen. Weitere "Wettergeschenke": Völlige Windstille und immer noch etwa 12°C. In den frühen Morgenstunden Ende Oktober wohlgemerkt. Tagsüber sprang das Quecksilber sogar keck über die 20°C-Marke, wie mehrmals in den letzten Tagen. Ausdruck des von rücksichtslosem Konsum kaputt emissionierten Klimas? Vermutlich ja, aber derzeit heißen sicher die meisten Menschen dieses - wie ich es nenne - "Anti-Putin-Wetter" willkommen. Das soll nicht zynisch klingen, will lediglich das Genießbare aus dem Verdorbenen schälen. Und speziell mir kommt dieses "Un-Wetter" noch aus einem anderen Grund zupass: Ich singe des Nachts ungern Loblieder, egal auf was. Denn die Nacht ist nicht meine Freundin, das war sie nie. Heute mache ich eine Ausnahme, denn: Bessere Verhältnisse darf zu dieser (eigentlich kalten) Jahreszeit nicht erwarten, wer ein paar Stunden im Finstern joggen will!

Es lässt sich verhältnismäßig gut an. Ich lief vor knapp einer Stunde einfach mal drauflos, auf meinen Bio-Tempomaten vertrauend; war und bin in diesem ersten Viertel des Marathons ein bisschen schneller als erwartet unterwegs. Auch schneller als "gefühlt". Was einer der Bekannten, die mir begegneten (oder noch begegnen werden) auf den Punkt brachte: "Im Dunkeln kannst du nur schlecht dein Tempo einschätzen!" Geht mir ähnlich, auch wenn ich mit reichlich Lauferfahrung, zu der auch etliche nächtens gelaufene Stunden zählen, "Pace-mäßig" nicht weit daneben liege.

Ich drehe meine Runden vor der Stadt, geografische Grenzziehungen berücksichtigend jedoch eigentlich in der Stadt. Bis zum 16. Mai 1992 fand das Gelände unter meinen Füßen als "Flughafen München Riem" Verwendung. Da an Ort und Stelle nicht erweiterbar, zog der Flughafen um ins Erdinger Moos. Umzug einfach so, als wär's Mobiliar einer Wohnung, binnen 16 Stunden über Nacht. 1992 klappte so etwas noch in Deutschland. Mittlerweile ... man denke an den neuen Flughafen in ... ach, lassen wir das. - Das freigewordene Areal wird seitdem auf dreierlei Weise genutzt. Auf einem Großteil der Fläche entstand die so genannte "Messestadt Riem". Sie besteht einerseits aus einem neuen Münchner Stadtteil für 16.000 Einwohner, zum anderen aus Hallen und Freiflächen der neuen Münchner Messe. Derzeit findet dort die Baumaschinenmesse "bauma 2022" statt, aber auf diesen Spuk komme ich noch gesondert zu sprechen ... Auf etwa einem Viertel des einstigen Flughafengeländes plante man den Riemer Park, in dem 2005 die Bundesgartenschau residierte. Eine der Attraktionen des Riemer Parks bildet der 10 Hektar große Riemer See. Und ebendiesen See rahmt in dieser Nacht die Strecke des Marathons ein. Ziemlich genau 2,11 Kilometer lang, was mit 20 multipliziert 42,195 Marathonkilometer ergibt.

Für eine Zielzeit von 4:30 Stunden, mutmaßlich realistisch für den nächtens kreisenden Udo dieser Tage, wäre ein Rundenschnitt von genau 13:30 Minuten einzuhalten. Das habe ich mir nicht sklavisch so vorgenommen, der Wert dient lediglich der Orientierung. Im "Dustern" laufen und laufend Tempokontrollen einzuhalten wäre zuviel des Unguten. Zumal es einmal mehr um überhaupt nichts geht. Den "Marathon-und-weiter-Zähler" um eins höher auf 332 setzen lautet mein bescheidenes Ziel. Damit schaffe ich die Voraussetzung, um im Dezember im Siebengebirge einen Wunschmarathon mit der Schnapszahl 333 zu verknüpfen. Die eine oder der andere mag angesichts solcher Absichten den Kopf schütteln. Was ich verstünde. Es ist durchaus nicht einfach sich in die Motivationslage eines anderen Läufers einzufühlen. Zumal für jene nicht, die "anders" laufen. Vielleicht auch "anders" laufen, weil sie jünger sind. Vor ein paar Jahren hätte ich mir Inhalte und Rahmenbedingungen meines Laufhobbys auch nicht so ausgemalt wie sie sich jetzt darstellen ...

Startnummer 185 - das bin ich - ist schneller unterwegs als 13:30 Minuten pro Runde. Meist schaffe ich es meine Rundenzeit am Monitor im Ziel abzulesen. Nicht immer, weil ich nach jeder zweiten Runde einen Becher leere und auch mal vergesse zum schräg gegenüber, jenseits der Laufstrecke aufgestellten Monitor zu blicken. Runde fünf beende ich ohne Trinkstopp und finde en passant 13:10 Minuten angezeigt. Also 20 Sekunden schneller als für eine Zielzeit 4:30 Stunden erforderlich. Nähme ich diese Zwischenzeit als Durchschnitt, ergäbe das eine Endzeit von etwa 4:24 Stunden. Für die zweite Runde brauchte ich gar nur 12:53 Minuten, spürte jedoch auf der Zielgeraden dieses Tempo nicht lange durchhalten zu können ...

Der Bio-Tempomat wird's richten, verhindern, dass mir Böses widerfährt. Zuversicht auf der Basis vieler positiver Erfahrungen, wenn ich mich aufs Laufgefühl verließ. Nun also Runde sechs, in der ich - der Wahrnehmung der Welt ringsum weitgehend beraubt - mit mir alleine bin. Bisweilen von Schnelleren überholt zu werden hebt diese merkwürdige Form der Isolation nicht mal für Augenblicke auf. Vom Riemer Park ist abgesehen von schmalen Streifen, die meine Lampe beidseits des Weges dem Dunkel entreißt, rein gar nichts zu erkennen. Lediglich kurz vorm Ziel stehen ein paar Laternen, die das (weitgehend leere) Umfeld ein wenig ausleuchten. Im gegenwärtigen Stadium des Krieges "Putins Russland gegen die bisher naivgläubige Welt"* votiere ich allerdings dafür diese Form der Energieverschwendung zu unterlassen.

*) Wer die Anwendung des Begriffes "Krieg" auf unsere Gegenwart als überzogen ansieht, der möge sich der Realität zuwenden und erkennen, was alles unternommen wird, um die Folgen von Putins kriminellem Vorgehen zu neutralisieren und kompensieren. Was darüber hinaus unternommen wird, um potenzielle Schwachstellen unserer Zivilisation "kriegsfest" zu machen. Beispiel: "Blackout Vorbeugung".

Was um alles in der Welt versammelt diesen Udo und zahlreiche andere Verrückte in dem um diese Zeit normalerweise menschenleeren Riemer Park? - Die Veranstaltung heißt Bestzeitmarathon, eine erst nach gedanklichem Schlenker verständliche Bezeichnung. Licht ins Dunkel bringt statt der Stirnlampe die heute Nacht anstehende Umstellung von Sommer- auf Winterzeit. Eine Stunde "Zeitgewinn" beim Zurückdrehen der Uhr von 3 auf 2 Uhr beschert "Wettkämpfern" eine um ebendiese Stunde verkürzte Laufzeit. Wodurch die meisten in Marathonbestzeit finishen. Ein Gag, nichts weiter, der dennoch die Teilnahme vieler Läuferinnen und Läufer erklärt; nicht jedoch meine. Marathonbestzeit - 3:01:50 Stunden, 2006 in Prag gelaufen - werde ich auch nach Bonusabzug weit verfehlen. Und es gibt noch mehr, das gegen mein Hiersein spricht: Ich mag es überhaupt nicht im Dunkeln zu laufen, fürchte überdies die nächtliche Kälte zu dieser Jahreszeit. Bei der Anmeldung durfte ich auf die heute vergleichsweise laue Nacht allenfalls hoffen. Zunehmender Altersbequemlichkeit geschuldet, verbringe ich die frühen Morgenstunden zudem am liebsten schlafend in meinem Bett. Warum also tut einer wie ich sich das an?

Das pseudowissenschaftliche Vokabular, mit dem die "Groundcrew" augenzwinkernd ihren "Lauf gegen die Gesetze der Physik" verbrämt, entlockt mir anlässlich der dritten Teilnahme allenfalls ein Lächeln. Der Scherz vom "Zeittunnel", der sich um 3 Uhr morgens öffnen und alle "Timejumper", wenn schon nicht im Raum, dann wenigstens im Strom der Zeit zurück "beamen" wird, verfängt nicht mehr. Mich locken drei sehr individuelle Annehmlichkeiten: Erstens muss ich nicht weit fahren. Zweitens kann ich am Samstagabend hin und am Sonntag frühmorgens zurück zügig fahren, muss nicht fetten Verkehr noch Staus befürchten. Bei der Rückfahrt vom Grazmarathon vor drei Wochen brauchte ich beispielsweise für ein paar Kilometer auf der A99 (Münchner Umfahrung), die mich nachher heimwärts 5 Minuten kosten werden, geschlagene zwei Stunden! Entscheidend für meine Teilnahme ist jedoch die Sozialverträglichkeit des Laufs! Wer wie ich Jahr für Jahr viele Wettkämpfe bestreitet, lässt sein "soziales Umfeld" zwangsläufig* oft allein. Ich bin meiner Frau mehr als nur dankbar, dass sie mich oft begleitet und mir für die übrigen Termine "freigibt". In dieser Hinsicht ist der Bestzeitmarathon neutral: Erst kurz bevor meine Frau sich schlafen legt breche ich zu Hause auf und liege wieder neben ihr, wenn sie am Morgen erwacht.

*) Bitte die Doppeldeutigkeit von zwangsläufig nicht überlesen.

Gute Gründe also zur Geisterstunde und danach zu laufen. Apropos Geister: Stünde - besser: joggte - ich nicht mit beiden Beinen fest auf der Erde, meinem Wesen nach allem Spukhaften gänzlich abhold, mir wären schon bei der Ankunft im "Zeittunnel-Gelände" Angstschauer über den Rücken gelaufen. Und nun gruselte ich mich in einem fort, so ich beiläufig den Blick zum Messegelände schweifen ließe. Über Haushöhe und von grellen Scheinwerfern angestrahlt recken dort scheußliche Ungeheuer ihre Tentakel in den Nachthimmel. Aus monströsen Körpern sprießen hässliche Gliedmaßen, teils unnatürlich abgeknickt, manche hummerrot herüber schimmernd, andere in alarmierenden Gelbtönen leuchtend. Täusche ich mich oder rücken mir die Monster mit jedem Umlauf näher auf den Leib ... ? Nüchtern betrachtet: Nicht zwei Tage verfrühter Halloween-Klamauk, noch Aufbauten einer ins Gigantische vergrößerten Geisterbahn lugen über die Dächer. Baukräne sind's, von Ausstellern anlässlich der Baumaschinenmesse "bauma 2022" dicht an dicht platziert. Metallisch Diesseitiges also und doch auf nicht näher bestimmbare Weise unheimlich.

Runde acht vorbei: Ich schnappe mir einen Becher Trinkbares, leere ihn flugs und starte in die neue Runde. Genauer: in eine neue "Eckige". Aus der Satellitenperspektive betrachtet formt die Laufstrecke eine Art Trapez mit zwei kurzen und zwei langen Seiten. Wobei die langen Seiten Knicke aufweisen. Die Route rahmt den See auf drei Seiten ein. An der westlichen, kurzen Trapezseite tippeln wir übers Wasser, von Planken einer stabilen Holzbrücke getragen. Der Steg bildet zugleich den einzigen Abschnitt der Strecke mit Höhendifferenz. Zur Mitte hin senkt sich das Bauwerk, minimal aber spürbar. Irgendwo las ich von einem Höhenmeter, der pro Runde zu überwinden ist.

Die "Eckige" beginnt in Höhe eines Toilettenhauses, dessen "Angebot" ich nur zu gern verschmähe. Fürs unvermeidliche "Kleine", das mich vorhin nötigte, machte ich mich am Streckenrand unsichtbar: Zwei, drei Schritte zur Seite treten, Lampe aus und schon verschwand ich im Dunkel wie unter einer Tarnkappe ... - Moderne Parks sind das Ergebnis kreativen, künstlerischen Schaffens. Vielleicht kapiere ich deshalb die Wahl der unterschiedlichen Bodenbeläge nicht. Hinterm WC-Häuschen zunächst massive Steinplatten, zum See hin flankiert von einer Betonmauer. Dann einen Haken schlagen und weiter auf fein geschottertem Parkweg. Rechts und links von da an Grünflächen, ansonsten so gut wie nichts. Was immer auch den Reiz des Riemer Parks ausmachen mag, der schmale Lichtbalken meiner Lampe vermag es der Finsternis nicht zu entreißen. Schnurgeradeaus in exakter Nord-Süd-Ausrichtung, dann endet die kurze Trapezseite in Höhe eines Wäldchens.

Ich biege rechts in Richtung der langen Seite ab und beschäftige meine Augen-Hirn-Schiene zum neunten Mal mit den an dieser Stelle etablierten Lichtspielen. Die Bäume rechterhand erstrahlen in frostigem Blau und ein auf den Weg projizierter Lichtwirbel gaukelt "Drehbewegungen" vor. Soll der wirbelnde, helle Schemen den "Zeittunnel" darstellen, der sich für uns um drei Uhr, in gut einer Stunde, öffnen wird? Eine auf einen Ständer montierte Uhr zeigt die Laufzeit an. Wozu die hier steht, gibt noch mehr Rätsel auf. Wer läuft schon ohne Stoppuhr? Und sollten tatsächlich "Zeitlose" ums "Eckige" zirkulieren, reicht ihnen sicher ein Blick auf die Zwischenzeit beim Zieldurchlauf.

Dem Lichter-Hokuspokus folgt undurchdringliches, fettes Schwarz, der wohl trostloseste Abschnitt des Kurses. Links ein paar Meter wegnaher Bewuchs, irgendwann ploppt rechts eine Notrufsäule aus der Wiese hoch. Nichts weiter. Läufer überholen mich, ab und zu, ansonsten bewege ich meine Beine automatisiert und schlage Zeit tot. Tagsüber saugt der Geist unentwegt optische Eindrücke auf. Die fallen entlang diverser Marathonstrecken zwar oft öde und langweilig aus, reizen aber wenigstens den Sehnerv und nötigen das Hirn fortlaufend einzuordnen, zu kommentieren, zu werten. Wenn ich nachts laufe - jetzt! -, beschäftigt sich mein Bewusstsein überwiegend mit sich selbst. Betreibt gedankliches Wiederkäuen. Weh dem, der im Grundsatz oder auch nur während dieses nächtlichen "Blindfluges" mit sich nicht im Reinen ist!

Die wenigen äußeren Eindrücke spielen eine untergeordnete Rolle. Zumal sie nicht verlässlich sind. Ich empfinde eine seltsame Form der Verlorenheit, fühle mich ausgesetzt in diesem "Rund", ungeschützt, angreifbar. Wie schon 2019, damals noch ausgeprägter, weil die Nacht kalt, feucht und windig war. Meinen ersten Bestzeitmarathon, 2014, erlebte ich auf anderer Strecke in einem der älteren Münchner Parks. Dort war's auch eklig nasskalt und doch irgendwie "heimeliger" als hier am Münchner Stadtrand. Mehr Laternen säumten den Streckenrand, verbreiteten schummriges Licht, das sich im Geäst alter Bäume und wuchernder Buschgruppen verfing. Außerdem war der Park von der Stadt umringt, in ihr "eingebettet". Was ich nicht sehen, zu verkehrsarmer Zeit nicht mal hören konnte, dessen ich mir dennoch stets bewusst war.

Etwa drei Minuten trabe ich geradeaus, bis zum Knick in der Längsseite des Trapezes und einer weiteren Lichtinstallation. Sieht aus wie ein riesiger, in allen Farben des Regenbogens leuchtender, übern Rasen kriechender Seestern. Sinn? Weiß nicht. Wahrscheinlich sinnfreie Deko zur Unterhaltung von sinnfrei Kreisenden. Bunt pulsierende Wegmarke, auf dass sich niemand in finstrer Weite verlieren möge ... Läufer neben Seestern unmittelbar voraus, Versuch eines Schnappschusses in der Bewegung. Überforderte Kameraelektronik, Blitz nach langer Verzögerung, Aufnahme wahrscheinlich misslungen. Einerlei und schon vorbei ... Irgendein Foto wird in irgendeiner Runde irgendwie gelingen.

Vielleicht zweihundert Meter weiter, an der Südwestecke des Trapezes biege ich exakt nach Norden ab. Hier gilt es zweimal achtsam zu sein. Zunächst vor einer Betonkante und nur wenige Schritte später die erste Planke der Brücke nicht übersehen! Beides unmerklich "erhaben" aber ideal zum Einfädeln, als Startkatapult für Tiefflüge mit harter Landung. Keinerlei Schwingungen, wie man sie häufig von Fußgängerbrücken und Stegen kennt, stören den Lauf. Vermutlich ruht die Brücke auf zahlreichen im Seegrund verankerten Stützen. Eine Tafel bescheinigt der Holzkonstruktion gar eine Tragfähigkeit von fünf Tonnen. Fünf Tonnen? Hab' ich das im schwachen Schein der Lampe sekundenkurz erhellte, in 20 Runden nur einmal wahrgenommene Schild etwa geträumt? Sanft abwärts über aufgeraute Bretter, in derselben Weise hinan, Höhenunterschied nicht der Rede wert.

Irgendwer stellte den Minibagger genau in der (unbeleuchteten) Nordwestecke des Streckentrapezes ab. Rücksichtslos? Gedankenlos? Wahrscheinlich geht der Täter davon aus, dass sich nach Einbruch der Dunkelheit niemand hier aufhält. An 364 Tagen des Jahres mag das so sein, heute Nacht nicht. Will mir mögliche Blessuren nicht ausmalen, die sich zuzieht, wer das tonnenschwere Hindernis beim Versuch die Ecke abzuschneiden übersieht. Die "Groundcrew" entschärfte den Gefahrenherd mit einer flackernden Lichterkette. Vor dem Maschinenungetüm, den nahenden Läufern zugewandt, harren zwei Schlachtenbummler aus. Dick verpackt trotzen sie der nächtlichen Kälte und beschallen diesen Abschnitt des Kurses mit rockigen Rhythmen. Wer mögen die beiden sein und sich für wen die Beine in den Bauch stehen?

Nach dem Abbiegen bis ins Ziel, etwa 800 Meter an der langen Seite des Trapezes, habe ich Asphalt unter den Füßen. Kantenfreier, auf den letzten 300 Metern sogar von Laternen ausgeleuchteter Untergrund. Deshalb schalte ich meine Kopfleuchte auf "Sparlicht" um. Vermutlich reichte die Akkuladung auch so bis zum Finale. Außerdem liegt in meiner Tasche eine Ersatzlampe griffbereit. Doch wozu einen mit Zeitverlust bestraften Lampenwechsel riskieren, wenn es nicht sein muss? Ich nähere mich dem erleuchteten Zielbogen und staune einen Moment lang über die startbereit versammelte Läuferschar. Ach ja! Um 2 Uhr wird ein zweites Kontingent potenzieller Zeitreisender in den Orbit "geschossen". Halbmarathonis, die gleich uns "ganzen Thonis" den Effekt des "Zeittunnels" auskosten wollen. Bis nachts um zwei wach bleiben, um dann ungefähr zwei Stunden lang Runden zu drehen, obschon der Start bereits um Mitternacht möglich gewesen wäre? Maximal abwegig nach meinem Empfinden, pure Verschwendung von Schlafenszeit. Allerdings weiß ich meine Reaktion durchaus unter der Rubrik "Alterserscheinung" einzuordnen. Wahrscheinlich wäre ich mir vor dreißig, vierzig Jahren für so einen Quatsch auch nicht zu schade gewesen. Vielleicht fehlt es mir aber auch am speziellen Humor, den solche Kapriolen voraussetzen. Dem demnächst, ab dem 11.11., in großen Teilen der Republik ausbrechenden Narrentreiben konnte ich ja auch nie etwas abgewinnen.

Runde 9 abgeschlossen, ziemlich genau 19 km gelaufen, wofür ich insgesamt knapp zwei Stunden brauchte. Ich trinke verfrüht einen Becher Wasser, weil ich gleich das erste von drei Gels konsumieren werde. Künftig also nach ungeraden Runden trinken! Während ich den Becher leere, erfolgt der Start zum zweiten Halbmarathon. Ich lasse den Pulk passieren und mische mich unter die Nachzügler. Soll ich mich nun glücklich schätzen, dass sich der Riemer Park einstweilen wieder "belebt"? Oder wird mich das oft unangenehme Irrlichtern aufholender Verfolger demnächst massiv nerven? Manchmal kam ich mir wie ein Betrunkener vor, wenn mein Schatten, geworfen von extrem hellen Kopflichtern hinter meinem Rücken, wild hin und her schwankte. Der Effekt zeigt sich umso ausgeprägter, je tiefer die Lampe des Verfolgers "hängt". Maximal torkelt mein Schatten, wenn ihn auf der Brust befestigte Leuchten projizieren. Immensen Einfluss hat zudem die Synchronität meiner und der Schritte des Verfolgers, wie auch dessen "Wackeldackel-Koeffizient". Ganz genau: Ich habe unendlich viel Zeit, um die Lichteffekte im nächtlichen "Zeittunnel" zu studieren ...

Ich sehne das Ende von Runde 10 herbei, hoffe auf den davon üblicherweise ausgehenden Motivationsschub: Halbe Strecke, ab jetzt also weniger "to go", als bereits zurückgelegt. Wer so was zur mentalen Unterstützung nötig hat, pfeift schon ein bisschen aus dem letzten Loch oder steht zumindest kurz davor. Die Wahrheit zu leugnen wäre sinnlos, vor allem eine, die ich bei jedem Schritt spüre. Die Verhärtung der Gesäßmuskulatur schreitet voran, darüber hinaus fällt es mir seit ein, zwei Runden merklich schwerer das Anfangstempo zu halten.

Beides Indizien einer eher miesen Tagesform. Wobei den Begriff "Tagesform" zu nachtschlafener Zeit zu bemühen nicht nur im Wortsinne fragwürdig erscheint. Ich laufe ausdauernd zu einer Zeit, in der ich sonst schlafe - wie sehr mindert das die tatsächlich verfügbare Leistung? Fraglos bin ich "schlafreif", also müde, wenngleich ich diesen Zustand nicht wahrnehme. Nicht wahrnehme, weil fortwährender Dauerlauf hohe Vitalwerte erzwingt. Trotzdem bin ich sicher, dass die im Bioryhthmus zu dieser Zeit vorgesehene Schlafphase die Absicht zu laufen "hintertreibt". Niemand macht folgenlos die Nacht zum Tag, schon gar nicht unentwegt laufend. Diese Tatsache demonstrierte mir mein Körper bei zwei Gelegenheiten auf drastische Weise. Das erste Mal 2016 im Morgengrauen auf dem "Kölnpfad", nach etwa sechs Laufstunden. Und nur wenige Wochen später, gegen drei Uhr nachts, beim Spartathlon, ein zweites Mal. Wenige Kilometer vorm berühmt berüchtigten Sangaspass lagen da allerdings bereits mehr als 20 Laufstunden hinter mir ... Beide Male war ich völlig übermüdet, für geraume Zeit dem Schlaf (also einem irgendwie gearteten Niedersinken) näher als dem wachen Zustand. Und das, obwohl ich ständig in Bewegung blieb, tippelnd oder gehend.

Noch in den Runden zehn, elf und zwölf gebe ich mich der Illusion hin den Marathon mehr oder weniger eindeutig unter viereinhalb Stunden beenden zu können. Was solchen Optimismus nährt, bleibt eines der ungelösten Rätsel dieser Nacht. Abgesehen vom wachsenden Widerstand, den mein Körper aufbaut, sind da noch die Bauchschmerzen. Welle um Welle wütet seit Stunden in meinen Eingeweiden, stets demselben Muster folgend. Erst schwillt der Schmerz an, erreicht binnen einer halben Runde Maximum, um nach segensreicher Flatulenz rapide nachzulassen. Allerdings nicht bis unter die Wahrnehmungsschwelle. Knapp darüber "blubbert's" weiter im Gedärm, um mich demnächst aufs Neue zu piesacken. Unterdessen in einem Maß, dass ich zuweilen joggend meinen Unterleib massiere. Mir außerdem überlege, ob ein Toilettenbesuch Abhilfe bringen könnte. Mehrmals signalisieren meine Eingeweide mich demnächst ultimativ zur Einkehr nötigen zu wollen ... doch dann - Ätsch! - verliert sich die Empfindung wieder. Noch 10, noch 9, noch 8 Runden, also noch 21, noch 19, noch 17 Kilometer ... unendlich weit sagt mein Bauch ...

Runde 13, für die ich 13:57 Minuten brauche, kauft mir den Schneid ab. Die mich bedrängenden inneren Ungeheuer übernehmen das Regiment, schieben dem Wollen einen Riegel vor. Auch ohne es gedanklich auszuformulieren weiß ich, dass die verbleibenden sieben Runden zur Tortur verkommen werden. Weitere mindestens anderthalb Stunden, die ich gänzlich spaßbefreit werde ableisten müssen. "Müssen", weil ich Aufgeben aus freien Stücken als Alternative nicht akzeptiere. Nicht der "ausbleibenden Belohnung" wegen, die könnte ich verschmerzen. Über all die Jahre und Marathons wie Ultras hinweg konnte ich nur einen Nimbus wahren, den der Unbesiegbarkeit. Die unerschütterliche Überzeugung, dass einem Start letztlich ein erfolgreiches Finish folgen wird; egal wie lange es auch dauern und wie dornenreich der Weg dorthin auch sein mag. Auch unterwegs, in scheinbar auswegloser Situation, konnte ich vielfach mit diesem Pfund wuchern: Du bist noch immer angekommen, du wirst auch heute als Sieger über die Ziellinie laufen! Freiwillig gebe ich diesen Trumpf nicht aus der Hand!

Trinken und weiter. Kurz hinterm Start-/Zielbereich "ums Eck", in kompletter Dunkelheit untertauchen und wieder Festbeleuchtung einschalten. Noch sieben Runden ... Obschon einstellig klingt "7 Runden" nach extrem viel. Ich will weg von dieser Zählweise und schaue auf meine Uhr: Schon fast 28 Kilometer gelaufen! Eine zumindest von vagem Optimismus begleitete Feststellung ... In meinem Wanst rumort es schon wieder vernehmlich. Anfangs ging ich davon aus, dass der Spuk irgendwann verpuffen würde - durchaus im wahren Sinne des Wortes. Inzwischen begreife ich das unablässige Bauchgrimmen als angemessene Strafe für meine entsetzliche Dummheit. Erstens aß ich abends zu viel, zweitens zu schwer und drittens eine nicht unerhebliche Menge goldgelb gebratener Zwiebeln. Sich vor einem Marathon zu stopfen wie Tierquäler die Mastgans ist ähnlich grotesk wie die Vorstellung "ein Loch ins Knie zu bohren und eine Schraube zur Schmerzregulierung reinzudrehen". Will mal so sagen: Hin und wieder hab' ich's nicht leicht mit mir.

In Höhe der Trapezecke, wo bislang Lichtwirbel und Blaulicht meine Fantasie anregten, tut sich was. Was der umher huschende Operateur im Sinn hat, kann ich nicht erkennen. Dass er irgendwelche Lichteffekte vorbereitet, scheint mir dagegen sicher. Nur noch zwei Minuten fehlen auf 3 Uhr, bis der "Zeittunnel" die "Timejumper" mitreißen wird. Ein Läufer hat den Wettkampf unterbrochen, filmt mit seiner Digicam, was vor sich geht. Den Impuls es ihm gleichzutun unterdrücke ich und jogge weiter. Ich fühle mich einfach zu mies, um mich auf einen optischen Ulk einzulassen. Also weiter, weiter, weiter ... Kurz vorm "Seestern-Monster" blicke ich das nächste Mal zur Uhr. Die hat auch keinen Sinn für Späße, zeigt humorlos 3:01:xx Uhr an. Und nichts ist geschehen, kein "Zeittunnel" hat mich aufgesaugt, keine Zeitmaschine durch die vierte Dimension geschleudert.

Irgendwie bringe ich auch die Runden 15 und 16 rum. Dass ich in der dabei verstreichenden knappen halben Stunde unentwegt Laufschritte aneinander reihe, ist sicher. Der Rest des Geschehens dagegen komplett vergessen. Nicht eine Begebenheit, ein Bild, an das ich mich erinnern kann. Begegnete auch niemandem mehr, den ich kenne. Das ist trotz der vielen Bekannten auf der Strecke nicht verwunderlich, weil ich längst keinen Mitläufer mehr registriere. Eine weitere Überrundung durch Robert - ein Österreicher aus der Nähe von Wien, der Verwandtenbesuche zum Start beim Bestzeitmarathon nutzte - steht noch nicht an. Wir palaverten vorm Start, in Runde neun überholte er mich. Ernst, gleichfalls Österreicher aus Steyr, gab mir Rätsel auf. Irgendwann schlenderte er mit Begleitung am Streckenrand in Richtung Ziel. Bevor ich das eingerostete Scharnier meines stundenlang versiegelten Mundes zum Fragen aufklappen konnte, war ich längst vorbei ...

Runde 17, noch etwa achteinhalb Kilometer. Wie stets gilt: Eine lächerliche Distanz zu Beginn, nicht selten entsetzlich weit am Ende eines Marathons. Alle Fasern, ob bewegt oder nicht, schreien unterdessen "Aufhören! Stehenbleiben!". Körperprotest halte ich aus, hab ihn ungezählte Male ausgehalten. Beunruhigend allein das Getöse im Bauchraum. Statt sich zu beruhigen, werden die Beschwerden heftiger. Im Verlauf dieser Runde verfestigt sich der Eindruck den Toilettenbesuch nicht bis nach dem Wettkampf aufschieben zu können. Als ich schließlich auf die Zielgerade einbiege bin ich noch immer unschlüssig. Soll ich oder soll ich nicht? Die Entscheidung fällt mir nicht leicht, weil sie viel Zeit kosten wird. Außerdem werde ich während der Zwangspause "einrosten" und auskühlen ...

Neun Minuten opfere ich dem Manöver, tapse dafür aber mit Zuversicht in die drittletzte Runde: Mein Bauch gibt einstweilen Ruhe! Das mit dem Tapsen bitte wörtlich verstehen: Auf steifen, schmerzenden Gliedern, am ganzen Körper frierend, brauche ich etwa einen Kilometer bis sich mein Bewegungsablauf wieder einigermaßen flüssig anfühlt. Sechs Kilometer jetzt noch. In vielen anderen Marathons, die ich schon auf dem Kerbholz habe, durchaus auch zum Ende hin, ein Klacks. Heute ganz und gar nicht. Ich muss mich überwinden, mir Schritt um Schritt erkämpfen. Und weil ich nur so die Nacht der Leiden vollends auskosten kann, rollt auf der Zielgeraden schon wieder eine Welle Weh durchs Gedärm.

Am liebsten schmisse ich mich in der Dunkelheit ins Gras und weinte bitterlich. Weil das aber Blödsinn ist, zudem mein Problem nicht löst, jammere ich lautlos vor mich hin und trabe weiter. Inzwischen übrigens weitgehend vereinsamt auf leerer Strecke. Die meisten ganzen und halben "Thonis" haben das Rundendrehen beendet. Schon in meiner vorletzten Runde leite ich den "Abschied" ein: Zum vorletzten Mal hier, zum vorletzten Mal da vorbei. Nur noch einmal werde ich mir den Monster-Seestern ansehen und auch die Brücke überqueren müssen. Eigentlich ein verfrühter Abschied. Doch wie schon früher in ähnlicher "Notlage" hilft mir das beständige "Abhaken" von Wegmarken die Tortur zu ertragen. In der Schlussrunde ist dieses Mantra nicht mehr so wichtig. Weil es eben die Schlussrunde ist. Nach der ist Schluss. Aus. Ende. Stillstand. Ruhe. Motivation pur in hoher Dosierung.

Gänzlich unerwartet sticht mich in der Schlussrunde der Hafer: Ich werde schneller, hole noch einmal das Tempo der ersten Wettkampfhälfte aus meinen strapazierten Beinen heraus. Warum ich das mache, darüber kann ich nur spekulieren. Wahrscheinlich will ich mir beweisen, dass es an Ausdauer eigentlich nicht fehlt. Dass mich lediglich innere Ungeheuer daran hindern sie freizusetzen. Ausnahmsweise Ungeheuer, die nicht nur im Bewegungsapparat wüten - das kenne ich -, sondern auch in den Eingeweiden Krawall schlagen. Schnelle Schritte sind anstrengender, verschärfen aber die Beschwerden nicht. Also bleibe ich beim letzten Aufbäumen, wetze dem Ziel entgegen ... Kurze Seite, lange Seite, über die Brücke und endlich, endlich zum letzten Mal aufs Marathontor zu. Nicht nur heute, generell zum letzten Mal. Die "Groundcrew" richtet den Lauf heute letztmalig aus. Und nicht erst auf diesen Metern weine ich der Veranstaltung keine Träne nach. Trotz aller Vorteile, die Ort und Zeitpunkt der Veranstaltung mir einbringen. Dreimal war ich dabei, dreimal musste ich nächtens gewaltig Federn lassen ... Noch hundert Meter, endlich die Zielgasse, vernehmlich gibt die Zeitmessung Signal. Nach 4:44:22 Stunden ziehe ich einen Schlussstrich unter die Nacht der Ungeheuer.

 

Fazit zur Veranstaltung

Das Team des Bestzeitmarathons hat sein Bestes gegeben und damit eine vorbildliche Laufveranstaltung realisiert. Was möglich war, wurde möglich gemacht. Dafür möchte ich mich bei der "Grouncrew" herzlich bedanken.

Fazit: Mein Bedauern, dass es den Bestzeitmarathon nicht mehr geben wird, hält sich in Grenzen. So werde ich, der eingangs erläuterten Vorteile wegen, mir nie wieder die Nacht um die Ohren schlagen und eine weitere Abfuhr kassieren müssen ...