16. Oktober 2022

Bestätigt, was ich schon weiß  -   Bottwartal Marathon

Der Bottwartal Marathon leidet unter Schwindsucht. Die Teilnehmerzahlen liegen deutlich unter denen der Prä-Corona-Jahre. Zwei Läufer, deren Gespräch ich mithörte, sprachen darüber. Sie waren sich zugleich einig, dass die meisten Laufveranstaltungen diesem Trend unterliegen. Letzteres zu überprüfen fehlt mir die Zeit. Für den Bottwartal Marathon nahm ich sie mir, blickte in alte Ergebnislisten. Tatsächlich stehen dort für 2019 und früher teils mehr als 1.500 Halbmarathonis verzeichnet. Heute machen sich nur rund tausend "Halbe" auf den Weg. Auf "Halbe" nehme ich Bezug, um die Vermischung von Trends zu vermeiden. Schrumpften doch die Teilnehmerzahlen an Marathonläufen schon vor Corona stetig.

Die Halben starten vor und nach uns. Nach uns, weil: Startzeit Marathon 9:30 Uhr, "Halbe" 11 Uhr. Vor uns, weil: Startort Marathon in Steinheim an der Murr, Halbmarathon in Gronau. In Gronau werden wir Marathonis bereits einen ganzen "Halben" in den Beinen haben. Im Startraum wird gerade gebetet. Ein Geistlicher trägt von der Bühne herab Danksagungen und Fürbitten vor. Seine Litanei streift gefühlt jeden Aspekt des bevorstehenden Laufs; vom warmen Wetter bis zur Selbstüberschätzung, die möglichst keinen der Teilnehmenden heimsuchen soll. Abschließend erfleht er noch Frieden in der Welt und den Herzen der Menschen. ER ist mein Zeuge: Ohne es zu wollen, sträubt sich in mir alles gegen die bigotte Rede. Als wenn DER da oben - so es IHN denn gibt - sich für vergleichsweise bedeutungslose Läuferbelange interessieren würde. Wo IHN nicht einmal schändlichste Gräuel dazu bringen "hienieden" mit Blitz und Donner dazwischenzufahren. Eine recht infantile Vorstellung, ich weiß. In meinen Ohren hallt dieses Fürbittengeleiere aber gleichermaßen naiv und kindlich wider. In dieser Welt geschieht, was Menschen aushecken! Stets exekutiert von jenen, denen die Umstände die Macht dazu verleihen. Im Guten natürlich, leider viel zu oft auch im Schlechten. Und, ob das Läuferlein Udo heute von Glück oder Pech verfolgt werden, Fehler begehen oder alles richtig machen wird, das entscheidet sich in ihm selbst; beinflusst von objektiven Parametern, die die Umwelt vorgibt.

Natürlich lasse ich mir meinen Unmut nicht anmerken und halte mich im Hintergrund. Freie Religionsausübung hat in diesem Land Verfassungsrang. Und mein berufliches Leben widmete ich vormals der Verteidigung ebendieser Verfassung. Das Amen des Predigers hallt in frühlingshafter Luft noch nach, als übergangslos Gute-Laune-Sprech und bombastisch Musikalisches von den Gehörgängen Besitz ergreifen will. Empfinde nur ich das als pietätlos? - Helm ab zum Gebet und nun holterdiepolter ab in die Schlacht? Egal. Ich schiebe alles Unwirsche in mir zur Seite und widme mich dem Start in Höhe des Kreisverkehrs in der Steinheimer* Ortsmitte. Beseelt von der Gewissheit, dass ER auch keine der sicher zahlreichen Fürbitten in Sachen Pandemie erhörte, verfüge ich mich auf den Rasen mitten im Kreisverkehr. Dort steht niemand, mithin dürfte die Viruslast meiner Atemluft gegen null tendieren.

*) Steinheim an der Murr liegt im Bottwartal, Kreis Ludwigsburg, etwa 20 km Luftlinie nördlich von Stuttgart

Weniger Teilnehmer als vor Corona? - Kann sein, die Marathonmenge wirkt aus leicht überhöhter Position doch recht überschaubar*. Aus eigener Anschauung heraus vermag ich es nicht zu beurteilen. Ich war zwar dreimal zuvor im Bottwartal, jedoch zu unterschiedlichen Bewerben und lange her ist es außerdem: 2004 Halbmarathon, 2011 Marathon und 2014 Urmensch Ultra. Mit der attraktiveren Strecke des Ultras hatte ich auch heute geliebäugelt. Schließlich siegte die Vernunft, den vielen Höhenmetern über Schotterwege und Trails fühle ich mich derzeit nicht gewachsen.

*) Ungefähr 230 Teilnehmende

Zumal ich die Veranstaltung aus "kosmetischen" Gründen kurzfristig in meinen Terminkalender zwängte. Demnächst steht ein Schnapszahl-Jubiläum an, mein 333. Marathon. Den will ich mit einer Veranstaltung im Dezember verknüpfen, die mich schon sehr lange lockt. Deshalb heute Nummer 331 und in zwei Wochen in München der Bestzeitmarathon. Sollte eines der beiden Finishes wegbrechen, fänden sich im November Ersatztermine. Am verführerischsten für meine Kurzentschlossenheit war jedoch - ich gebe es unumwunden zu - der vorhergesagte goldene, vor allem warme Oktobersonntag. Ein letztes Mal in luftig sommerlicher Robe laufen und die Sonne genießen ...

Zu Anfang will mir scheinen, als hätte ich mich bös' verkalkuliert. Vorm Start platschten schon vereinzelt Tropfen auf den Asphalt und während der Auftaktrunde innerorts, wie auch auf der sich anschließenden Erkundung des Murrtales steht eine unheilschwangere Wolkenbank über der Landschaft. Unverdrossen baue ich weiter auf den Wetterbericht und vielleicht erhellen des Pfaffen Fürbitten ja wenigstens Petrus' düsteren Sinn, wenn schon nicht SEINEN ...

Ein paar Namen durfte ich in der Liste der üblichen Verdächtigen schon vorm Start abhaken. Auf dem Radweg im Murrtal schlüpfe ich zwischen zwei von ihnen hindurch. "Schaun' wir mal, was der Tag uns bringt" entbiete ich Klaus Neumann und Michael Weber als Gruß. Ersterer hat mehr als 1.200, Letzterer immerhin auch schon deutlich über 400 Marathons auf dem Kerbholz. Darüber hinaus tun sich die beiden Stuttgarter selbst als Marathonveranstalter hervor. Michael Weber verantwortet den Neckarufer und den Ostfildern Marathon, bei Klaus Neumann meldete ich mich schon mehrmals zum Frauenkopf Marathon an.

Was geht heute? Diese Frage berührt unser kurzer Wortwechsel nicht. Während ich nach verbindlichem "Man sieht sich!" mit raumgreifenden Schritten "Land gewinne", überdenke ich genau das: Was geht heute? Zu einem Mark und Bein erschöpfenden Kampf wie letzte Woche in Graz fehlt mir der Antrieb. Dort meldete ich mich eindrucksvoll zurück; muss mir nun nichts mehr beweisen. Und große Ziele, die meinen Eifer anfachen könnten, stehen einstweilen keine an. Zudem durchzieht mich heute ein nicht näher bestimmbares Gefühl von Trägheit. Ich habe große Lust es ruhiger angehen zu lassen. Henne-Ei-Problem: Will ich mich der Trägheit wegen schonen oder entspringt die Trägheit ebenjener Schonungsabsicht?

Die Route legt Schleifen durch einen Ortsteil von Steinheim. Wohnhäuser links und rechts, ein Platz, eine Schule, herbstlich rotes Weinlaub an altem Fachwerkhaus, langweilig wird's nicht. Schon hier, nach nur fünf Kilometern, besteht das "Marathonfeld" hauptsächlich aus Lücken, die zwischen Läufern oder Läufergruppen klaffen. Die ständigen Richtungsänderungen des Kurses - der Gedanke wird mir noch mehrfach in den Sinn kommen - erfordern einen gewaltigen Aufwand zur Streckensicherung. Ungewöhnlich viele Streckenposten wehren dem Verlaufen ebenso, wie häufig und großzügig gespanntes Trassenband. Die Bottwartaler dürften davon einige Kilometer verbraucht haben.

Ortsende. Eine überdachte Holzbrücke nutzend überqueren wir erneut die Murr. Murr heißt das Flüsschen heute, Mur hieß es vor einer Woche in Graz. Was für ein kecker, höchst humorvoller Geselle der Zufall doch ist! - Eine ganze Weile hält sich der Radweg dicht am Murrufer. Buntes Laub klebt auf nassem Asphalt. Feuchte und dunkler Himmel dämpfen ein wenig meine Freude am Laufen. Das ändert sich nur Minuten später durchgreifend, als die abziehende Wolkenformation endlich der tief stehenden Sonne Platz macht. Schlagartig leuchtet die Landschaft in intensiven Farben, als hätte man mich in ein bunteres Paralleluniversum "gebeamt". Wunderschön! Und natürlich heiße ich auch die plötzliche Wärme willkommen. Nach anfänglichem Frösteln scheine ich für mein Vorhaben nun doch goldrichtig ausstaffiert.

Mit Verspätung bemerke ich, dass sich eine erste Schleife geschlossen hat. Die dünne Kette der Läufer steuert auf bereits gegensinnig belaufenem Weg Steinheim an. Sieben Kilometer, dann acht; mit dem neunten bin ich zurück im malerischen Zentrum, laufe an der in rotbraunem Balkenmuster schraffierten Fachwerkfassade des Rathauses vorbei. Gefällt mir im hellen Licht des inzwischen weiß-blauem Himmels um Potenzen besser als vorhin unter dunklen Wolken. Auf die Hauptstraße zum Kreisverkehr hin abbiegen ... Jenseits der Pylonen traben Vorauslaufende auf Gegenkurs vorbei. Ich billige ihnen nur einen kleinen Vorsprung zu, die Wende am Kreisverkehr liegt keine 200 Meter mehr entfernt. Rasch erkenne ich meinen Irrtum: Statt einen Bogen um den Kreisverkehr zu schlagen, wiederholen wir das nach dem Start abgelaufene, platte Oval. Die gerade eben Entgegenkommenden hatten somit mehr als einen Kilometer Vorsprung!

In Höhe der entsprechenden Tafel nehme die Zeit für 10 Kilometer ... Ich mag mich heute "unflott" gefühlt haben, viel langsamer als in Graz bin ich dennoch nicht unterwegs. Überschlägig gerechnet brauchte ich nur etwa sieben, acht Sekunden pro Kilometer mehr als in der Vorwoche. Kein Handlungsbedarf: Tempofindung ist Sache des Laufgefühls und auch heute funke ich dem psychosomatischen Automatismus nicht dazwischen ...

Mit Rechnen beschäftigt sehe ich im Augenwinkel und nur für den Bruchteil einer Sekunde Ulli Tomaschewski* auf Gegenkurs vorbeihuschen - leider zu spät für einen Gruß. Ich biege links ab und erarbeite mir innerorts eine lange Steigung. Die erste bemerkenswerte Steigung, wenn ich's recht bedenke. Und bekannt ist sie mir auch. Auf der ersten Schleife gingen mir fast keine Lichter auf. Wiedererkennungswert besaß im Grunde nur das hübsche Rathaus. Zwischenzeitlich angesehene alte Fotos weisen mir jedoch "gerichtsfest" nach, die Auftaktrunde vor Jahren schon einmal gelaufen zu sein.

*) Ulrich Tomaschewski richtet einmal monatlich den Hohenlohe Marathon aus.

Die Steigung bewältige ich ebenso unbeeindruckt, wie ihre noch moderatere Fortsetzung jenseits der Stadtgrenze. Auf dem Rückweg werde ich wieder hier vorbeikommen - behaupten zumindest auf den Straßenbelag gesprühte Zahlen: Jetzt "41" und gute sechs Minuten später die "40". Auch dieses Sträßchen und die sich anschließende Strecke erkenne ich abschnittsweise wieder. Ich laufe durch Kleinbottwar, richte hinterm Ort meinen Blick auf einen Weinberg unweit des Radwegs. Reihen von vertikal in regelmäßigen Abständen gepflanzten Reben überziehen die Hänge bis fast zum bewaldeten Kamm. Die Weingärten puzzeln ein herbstliches Patchwork in gelb, rot und noch-grün. Ich hab diesen Hügel imposanter in Erinnerung, was vielleicht dem momentan trüben Licht oder der Laufrichtung geschuldet ist.

Erst nur munteres Plaudern hinter mir, zu weit entfernt, um mehr als einzelne Wörter zu verstehen. Der Abstand verkürzt sich bis ich schließlich außerstande bin wegzuhören. Auch nicht mehr weghören will, weil der eine - vorhin in Kleinbottwar sprach ihn jemand als "Norbert" an - dem anderen von einem Lauf vorschwärmt. Mit jedem Satz der vor Superlativen strotzenden Schilderung wächst mein Ohr: "Sponsoren und sogar Helfer bewerben sich, um dabei sein zu dürfen!" ist eine der Formulierungen, die letzte Zweifel beseitigen. Der Mann rühmt den Comrades Marathon in Südafrika. Und schlagartig überfluten mich bildgewaltige Erinnerungen an eines meiner größten Laufabenteuer ...

Zentimeterweise holen die beiden auf, während der mir unbekannte Läufer sein afrikanisches Laufabenteuer zu Gehör bringt. Erlebnisse, die ich teile und mit derselben Begeisterung formulieren würde. Comrades "Marathon" heißt es verniedlichend für einen Ultra mit fast 90 Kilometern Länge, für den man sich qualifizieren muss. Vor der Pandemie schafften das in jedem Jahr 25.000 Läufer! Weitaus die meisten Südafrikaner, was die Bedeutung des Laufes im Land selbst unterstreicht. Davon spricht auch der Unbekannte hinter mir, während ich mich immer mehr fühle wie ein Vulkan kurz vorm Ausbruch. Ungeduldig harre ich des Augenblicks, da mich die beiden einholen ... Schließlich entlädt sich mein Mitteilungsdruck eruptiv, denn so einen Nachweis der Bedeutung des Comrades Marathons für Südafrikaner wird hierzulande kein zweiter führen können. "Und außerdem ..." platzt es aus mir heraus "... ist ein Comrades-Finish bares Geld wert!"

Nach und nach erläutere ich den beiden meine Begegnung mit einem schwarzen Verkehrspolizisten. Der wollte mir zunächst für (irrtümlich) zu schnelles Fahren im Nach-Comrades-Urlaub einen horrenden Geldbetrag abknöpfen. Ließ mich jedoch mit den Worten "I forgive you for this time ..." ungeschoren, als er anlässlich der Erhebung meiner Daten von meinem Comrades-Erfolg erfuhr (Näheres unter diesem Link im Laufbericht).

Ein Weilchen laufen wir nun als Tripel durchs Bottwartal. Die Kausa "Comrades" ist erschöpfend abgehandelt, da wendet sich der "Unbekannte", vorhin als "Norbert" Angesprochene, an mich: "Du kennst mich, Udo!" Was ich bislang unterließ, hole ich mit blitzartigem Seitenblick nach. Ich mustere das Konterfei des vermeintlich Unbekannten und tatsächlich: Neben mir trabt Norbert Fender, Veranstalter des Marathons "Rund um Rutesheim" (westlich von Stuttgart). Eine Strecke, die ich auch schon dreimal ziemlich eingehend "untersuchte". Norbert wird mir das verzögerte Erkennen nachsehen, da ich ihm bei diesen Gelegenheiten nur einmal (oder zweimal?) begegnete.

Vom Radweg abseits der Straße aus genieße ich das bisher reizvollste Talpanorama. Mehrfach über Wiesen und Äcker hinweg streift mein Blick Hügel und Weingärten, folgt der Kammlinie, um sich schlussendlich an der Turmspitze der Burg Lichtenberg zu verfangen. Und jedes Mal sehe ich mich dort oben auf meine applaudierende Frau zu und anschließend durch den Burghof laufen - damals, auf der Route des Urmensch-Ultras. Vielleicht hätte ich doch heute da oben ... ?

Die nächste Ortschaft fängt mich ein. Wieder minutenlang vorbei an Gewerben und durch Wohngebiete. Im Grunde reiht sich im Bottwartal ein Ort an den anderen. Steinheim, Kleinbottwar, Großbottwar, jetzt Oberstenfeld. Wundersamerweise konnte sich das Tal trotz Zersiedelung und pandemischer Ausbreitung der Seuche Flächenfraß beträchtlichen Reiz bewahren. Liegt vermutlich an der praktisch von jedem Aufenthaltsort aus sichtbaren, mit Rebenmustern dekorierten, dritten Dimension. Weinberge, dazu noch eine Burg, romantische Bildelemente, die von der vermeintlich einst heilen Welt erzählen. Bei mir jedenfalls wirkt der Zauber ...

Mit anderen Worten: Ich bin ziemlich gut drauf. Mental vor allem, wessen ich mich schon vorhin, anlässlich meines Comrades-Redeschwalls, verdächtigte. Muskulär und knöchern darf ich heute auf einen höchstens "durchwachsenen" Wettkampftag hoffen. Energie strömt weniger bereitwillig als vor Wochenfrist in Graz und nach nur 20 Kilometern meckert mein Fahrgestell vernehmlich.

Nicht nur gefühlt laufe ich seit Steinheim in Richtung Talschluss, damit meist bergauf. Minimale Steigung natürlich nur, aber spürbar, die sich auf der Uhr mit ein paar Sekunden mehr pro Kilometer abbildet. Am Ortsausgang von Oberstenfeld wird aus "minimaler" kurzzeitig merkliche Steigung. Und zum ersten Mal meine ich zu spüren, dass mich das stete Aufwärtslaufen zusätzlich ermüdet. - Wie lange wird die Lücke zwischen den letzten Häusern von Oberstenfeld und den ersten von Gronau noch unbebaut bleiben? Gerade mal 100 Meter Freiland sind noch übrig. In Gronau abwärts, offensichtlich auf die Ortsmitte zu. Getöse schallt mir entgegen, eine vielköpfige, aus Lautsprechern beschallte Zuschauerkolonie hält hier die Stellung. Als der Startbogen des Halbmarathons in Sicht kommt, gibt mir die versammelte Menschenmenge nicht länger Rätsel auf. Ich befrage den GPS-basierten Kilometerzähler am Handgelenk und finde die unterstellte Streckenhalbierung bestätigt.

Nicht nur hier in Gronau war ich schon mal unterwegs. Immer wieder stiegen Bilder vorm inneren Auge auf, wie Blasen aus einem Sumpf. Kein schlechter Vergleich: Nach mehr als dreihundert Marathons und Ultras hat sich massenhaft zähes, undurchdringliches "Laufsediment" - Erlebnisse, Begegnungen, Empfindungen - in meinem Kopf abgesetzt. Im selben Moment, da ich die "Steilwand" in der Ausfallstraße von Gronau vor mir sehe, ploppen neue Bilder hoch. Sie nehmen vorweg, was mich hinter der Kuppe des bösen Buckels erwartet ... Oben angelangt zeichnet Gegenwart allerdings ein abweichendes Bild. Identisch die Kulisse, dieselbe Landschaft, sogar dieselben kräftig leuchtenden Farben. Auch damals war Herbst und die Sonne schien. Aber die Läufer fehlen. Zwei, nein drei verlieren sich voraus auf der von oben weithin einsehbaren Laufstrecke.

Streckenpostin mal anders: Sie hat sich Musik mitgebracht. Aus dem Korb am abgestellten Fahrrad schallt Rockiges aus den Achtzigern, zu dem sie eigenwillige Tanzschritte kreiert: Von rechts nach links und in gleicher Schrittfolge zurück, dabei im Rhythmus der Musik nach Art eines Verkehrspolizisten die Arme schwenkend, um so die Laufrichtung anzuzeigen. Das verzückte Lächeln in ihrem Gesicht beweist, dass nicht unbedingt Marathon laufen muss, wer Spaß an Bewegung haben will. Mit hoch gerecktem Daumen signalisiere ich Zustimmung und ... bin auch schon vorbei.

Keine Ahnung wie der Ort oder Ortsteil heißt, dessen Rand ich zunächst streife, den ich nach einer mehrere Wiesen einfassenden Schleife schließlich durchquere. Unstrittig dagegen: Auch hier kam ich schon mal durch. Das Wiedererkennen funktioniert inzwischen reibungslos und vorausschauend. Gerade so, als habe der Archivar im Hirn alle infrage kommenden, verstaubten Aktenordner unterdessen aus dem Regal geholt ...

Die weithin einsehbare, gänzlich unbelebte Straße zwischen den Dörfern will mir einflüstern ganz hinten im "Feld" der Marathonis herumzukrebsen. Was nicht stimmen kann, da ich trotz Tempoeinbuße noch immer auf eine Schlusszeit von unter 4:30 Stunden hoffen darf. Die vor mir klaffende, riesige Lücke muss Zufall sein und doch impft sie mich mit Unsicherheit. Bin ich verkehrt? Hätte ich nicht vorhin irgendwo rechts abbiegen müssen? - Surreale Angst vorm Verlaufen, wo doch der Aufwand an Streckenposten und kilometerweise Trassenband falsches Abbiegen schier unmöglich macht. Typisches Beispiel wie einen erinnertes Halbwissen an belegbaren Wahrheiten zweifeln lassen kann. Erst der nächste Streckenposten, mehr noch die zu meinem Zählerstand passende Kilometertafel am Wegrand verscheuchen die Gespenster aus meinem Kopf: Alles paletti!

Am Schwimmbadzaun, den ich mühsam hangseitig über mehrere Aufschwünge des Weges umlaufe, spätestens jedoch auf der anschließenden Straße wären alle Streckenzweifel ohnehin verflogen. Das Bild dieses Streckenschnipsels, wo Läufer (mutmaßlich Halbmarathonis, da dicht an dicht laufend) auf höher gelegenem Radweg entgegen kommen, steht mir so plastisch vor Augen wie kein zweites. Es ploppte stets auf, wenn ich in den letzten Tagen an den bevorstehenden "Bottwartal Marathon" dachte. War augenblicklich präsent, musste nicht erst mühsam erinnert werden. Warum ist das so? Warum assoziiert mein Denkapparat einen Ort, ein Geschehen, eine Veranstaltung regelmäßig mit einer bestimmten Szene? Mit einer Ansicht wie dieser: weder spektakulär, noch reizvoll, nicht aufregend oder aus anderem Grund sonderlich attraktiv? Lediglich dies: die einen joggen hin, die anderen her ...

Der Reiz fehlt allerdings nur wenige hundert Meter weit, dann schiebt sich eine weitere Ansiedlung ins Bild, die ich allerdings nur mit oberflächlichem Interesse bedenke. Der Kulisse dahinter gilt mein Interesse. Erneut ein Weinberg, auch dieser gekrönt von einer alten Burganlage. Während der viertelstündigen Erkundung diverser Straßen und Winkel des Ortes* verliert man Berg und Burg jeweils nur für Sekunden aus den Augen. Steil bergwärts joggend keht man Ort und Weinberg schlussendlich doch den Rücken - es sei denn man bleibt gleich mir kurz stehen, wendet sich um und nimmt einen Schnappschuss gegen Laufrichtung mit ...

*) Es handelt sich um die Ortschaft "Beilstein", mit Burg- und Schlossanlage "Hohenbeilstein"

Der Buckel fordert gehörig, ist auch schon Teil des 30. Marathonkilometers. Auf bereits ermüdeten Beinen nehmen ihn die meisten gehend. Gehen, wenn Laufen irgendwie noch möglich ist, machte mich rasch übellaunig. Das ist aber nicht der einzige Grund mir trabend Kurzatmigkeit und schwere Beine zuzumuten. Jeder kleine Sieg, jede Überwindung von Schwierigkeiten erfüllt mich mit Befriedigung. Das gilt en detail für diesen Hügel, en gros für den Marathon insgesamt. Letztlich ist Freude am erfolgreichen Überwinden innerer Widerstände ein zentrales Laufmotiv für mich.

Hinter der Kuppe zwischen Rebstöcken sanft bergab, was ich nur teilweise in höheres Tempo ummünze. Die bisherigen Höhenmeter haben mich geschlaucht, wenngleich sie in der Summe wohl niemanden beeindrucken. Handeln nach der Devise "Spare in der Zeit, dann hast du in der Not!". Die "Zeit" ist jetzt und spätere "Not" gewiss. Sie suchte mich noch immer auf den finalen Kilometern heim. Die "Not" könnte auch deshalb ein schmerzhaftes Maß erreichen, weil sich mein Kopf längst zu einem Zeitziel durchgerungen hat. "Unter 4:30 Stunden bleiben" scheint realistisch und spornt mich zusätzlich an - vor allem seit mir nach zeitweisem Trödeln die "Häscher" um den "4:30-Pacer" schon auf den Fersen waren ...

Rein ins nächste Kleinstädtchen (oder Dorf?), auch diesen Weg kenne ich. Wieder bin ich so gut wie allein unterwegs. Erstaunlicherweise harren noch immer ein paar Zuschauer an der Strecke aus, obschon Spitze und Hauptfeld, sowohl "halbe" als auch "ganze" Marathonis, längst durch sind. Ich halte auf die von Fachwerkhäusern optisch dominierte Ortsmitte zu, biege ab und trotte weiter abwärts. Vorausschauende Erinnerung gibt mir ein, was mich in nicht mal einer Minute erwartet: zwei schwindlig machende Brummkreisel. Die erste 360°-Spirale hebt mich gut fünf Meter über Fahrbahnhöhe, nach Überqueren der Durchgangsstraße gibt eine zweite mich dem Erdboden zurück. Kurzer Gegenanstieg auf der anderen Talseite, dann vereinigen sich Rück- und Hinweg. Vor anderthalb Stunden begegneten mir auf dem unmittelbar folgenden Abschnitt und kurz nacheinander der führende Halbmarathoni und sein Verfolger ...

Randnotizen auf schon bekannter Route in Gegenrichtung: Eine kostümierte Blaskapelle, die mich en passant verschont, mir dann aber doch blechern tönend nachstellt. Kurz darauf der vielleicht merkwürdigste, wenngleich kürzeste Streckenschnipsel überhaupt. Ich quere eine Art Innenhof - privat oder öffentlich?, nicht näher bestimmbar. Kurz auf dem Radweg neben der Straße weiter, alsbald einmal mehr der unerklärliche Abstecher ins Gewerbegebiet. Unerklärlich, weil der Radweg, auf den ich keine zwei Minuten später zurückkehre, geradeaus weiterführt. Also etwa hundert Meter Umweg. Wozu? Auch diesmal frage ich mich, ob der Schlenker die recht neu wirkende Moschee vorführen will. Ein islamisches Gotteshaus, das Klein Fritzchens Vorstellungen von einer Moschee so gar nicht entsprechen will. Bescheidene Größe, kein Minarett und bis auf eine angedeutete Kuppel auf dem Flachdach keinerlei Rundungen. Nicht zu vergleichen mit anderen islamischen Gebetshäusern des DITIB* in Deutschland, etwa dem in meiner Nachbarstadt Bobingen. Schon gar nicht vergleichbar mit der vielfach angefeindeten, mitten in Köln erbauten Zentralmoschee. Vorhin unbeschwert auf der Straße spielende Kinder, jetzt ein mir freundlich zuwinkender, für eine Zigarettenlänge vor die Tür getretener Moscheebesucher - offenbar ist es im Bottwartal gelungen islamische Religionsfreiheit konfliktfrei ins kleinstädtisch schwäbische Umfeld zu integrieren.

*) DITIB: Türkisch islamische Union der Anstalt für Religion e.V.

Noch acht Kilometer liegen vor mir. Zunächst über den schon bekannten Radweg in Richtung Großbottwar. Dort lenkt der Streckenplaner meine Schritte abweichend vom Hinweg durch die Ortsmitte, wo ich das Fachwerkrathaus besichtigen darf. Vor seiner prächtigen Fassade harrt eine ansehnliche Schar von Schlachtenbummlern aus, die mit Beifall nicht geizt. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Vermutlich gilt der Applaus weniger mir als einer Läuferin, die ich Sekunden zuvor überholte.

Wenn ich die landschaftlichen Schönheiten entlang der Strecke zu bewerten hätte, der Spitzenplatz gebührte zweifelsfrei dem nun folgenden Panorama. Die Ansicht östlich des Radweges von Großbottwar nach Kleinbottwar war auch heute Morgen schon bildhübsch. Was ihr vormittags an Glanz noch fehlte liefern jetzt Sonne und blauer Himmel. Auch wenn ich die angestrebte Zielzeit gefährde, ich kann nicht anders als mehrmals den Lauf zu unterbrechen, um die farbenfrohe Herbstherrlichkeit in ein paar Millionen Pixel umzuwandeln. Wenn es einen Schutzpatron der Fotografen gibt, dann verdanke ich sicher ihm das Farbtüpfelchen auf dem "i". Vermutlich lähmte er der Läuferin im leuchtend orangefarbenen Oberteil exakt auf diesem Abschnitt die Beine, damit ich sie einholen und als Blickfang in mein Bild integrieren kann.

Noch eine knackige, kurze Steigung in Kleinbottwar. Mit Befriedigung nehme ich zur Kenntnis, dass mich der Buckel zwar erheblich fordert aber eben nicht überfordert. Leicht abschüssige Kurven auf gesperrter Straße: vorbei an der auf den Asphalt gesprühten "40", wenig mehr als sechs Minuten später bereits der Haken hinter der "41". Wie vereinzelt schon in den letzten anderthalb Stunden, nun aber vermehrt sammele ich Unglückliche ein, die ihre Ausdauer überschätzten. Was ihnen zur Schlussoffensive an Kraftreserven fehlt, setzt jeder der Überholten in mir frei. Ich bin zufrieden! Letzte Kalkulationen zufolge werde ich eindeutig unter 4:30 Stunden ins Ziel laufen. Außerdem (letztlich wichtiger) gelang mir einmal mehr ein tempokonstanter Lauf über die gesamte Distanz. Ich gewinne die ersten Häuser von Steinheim, laufe alsbald bergab, biege schließlich zum Ziel hin ab. 300 Meter weiter setze ich nach 4:26:41 Stunden den finalen Schritt über die Ziellinie.

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Ich musste kämpfen für diesen Erfolg, insbesondere auf den letzten 10 Kilometern und heftiger als es meine Sätze diesmal zum Ausdruck bringen. Wenn ich aufs Jammern verzichtete, dann weil mir die Belastung unterwegs nicht im selben Maße bewusst war wie sonst. Was sicherlich daran lag, dass die Schlusskilometer von viel Sehenswertem und Schönem begleitet waren. Auch die Vorfreude auf das vorhersehbar gute Abschneiden half mir auf dem finalen Abschnitt. Zwar war ich gut zehn Minuten länger unterwegs als in Graz, jedoch auf einer mit diversen Anstiege "gewürzten" Strecke. Auch die klimatischen Bedingungen an diesem Oktobersonntag waren nicht ohne. Direkte Sonne und mehr als 20°C Lufttemperatur ließen mich auf der zweiten Streckenhälfte regelrecht austrocknen. In der letzten halben Stunde litt ich gar heftigen Durst. Ein Fehler des "Unerfahrenen": Ich hätte vorbeugend viel mehr trinken müssen. Einerlei! Alles in allem bestätigt mein Bottwartal Lauferlebnis, was ich seit Graz bereits weiß: Ich bin endlich wieder ich selbst!

 

Fazit zum Wettkampf

Die Strecke des Bottwartal Marathon am Fuße herbstlich kolorierter Weinberge lohnt die Mühe - selbst bei mehrfacher Wiederholung.

Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltung ließen nur einen Wunsch offen: Warmes Wasser beim Duschen.

Fazit: Warum nicht noch einmal? Vielleicht wage ich mich dann auch wieder an die Urmensch-Strecke.

 

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