18. September 2022

Licht und Schatten  -  Baden-Marathon 2022

Mit nichts weniger als einem Spurt eröffne ich meinen Baden-Marathon in Karlsruhe. Bevor jemand meinen Laufverstand in Zweifel zieht: Ich wetze nicht über die Startlinie, mein Ziel ist die Gepäckaufbewahrung. Das offizielle Startsignal wird das Feld der angetretenen Läufer erst in etwa 30 Sekunden auf die Reise schicken ...

Was ist passiert?

Vorm Lauf treffe ich Jörg aus Thüringen. Jörg zählt zu jenen Laufbekannten, die ich am längsten kenne. Jörg, der nur selten abseits seines Wohnortes, quasi am Fuße des Thüringer Waldes, an Bewerben teilnimmt. Bevor ich mich wundern kann, klärt er mich auf: Im Rahmen seines Projekts "In jedem Bundesland einen Marathon laufen" fehlen noch Baden-Württemberg und Hamburg. Erstere Lücke wird er heute schließen ... Während wir uns gegenseitig kurz über Aktuelles aus dem jeweiligen Läuferleben in Kenntnis setzen, verrichte ich finale Startvorbereitungen: Handy einstecken, Armlinge anziehen, Schuhe fester schnüren, et cetera ... Was natürlich erfordert zweigleisig zu denken. Genau genommen dreigleisig, denn ein bisschen möchte ich mich auch noch wundern, dass wir das Gespräch quasi ansatzlos dort fortsetzen, wo es im Mai dieses Jahres, im Ziel des Supermarathons am Rennsteig, unterbrochen wurde. Manche meiner Laufbekanntschaften zeichnet eine im Grunde unerklärliche Stetigkeit aus: Mit dem ersten gesprochenen Wort wiederhergestellte Vertrautheit, obschon man den Betreffenden nur selten trifft und nie wirklich intensiv kennenlernte.

"Multitasking" also für Udo: Dies und das mit Händen richten, dabei parlieren. Fehlerlos kann er das nicht. Konnte er noch nie. "Fehlt noch was?" Er stellt die Frage laut und geht mit Jörgs Unterstützung von Kopf bis Fuß noch einmal die Checkliste durch: - Halstuch - Autoschlüssel - Gels im Gürtel - Kappe im Hosenbund - Startnummer am Band - Handschuhe - Uhr - Schuhe geschnürt. Alles an Bord und Klarschiff denkt er, schlendert mit Jörg zum Startbereich, hat aber ein "kriegsentscheidendes" Utensil vergessen: Die Kamera.

Laufen ohne Fotodokumente zur Bebilderung des obligatorischen Laufberichts? - Unmöglich! Daher der Spurt. Noch keineswegs in Panik, schließlich habe ich alles im Griff. Binnen einer halben Minute schon knie ich neben meiner Tasche. Suchen oder Tasche abholen entfällt, wir durften das Gepäck selbst auf dem mit Nummern eingeteilten Hallenboden abstellen. Dafür beginnt nun die Suche nach der Kamera bei rasch ausschlagendem Panik-O-Meter. Wo die Digicam stecken sollte, im vorderen Reißverschlußfach, finde ich: nichts. Flashlight: Ich hielt sie schon in der Hand, legte sie aber noch mal ab! Wohin? Etwa oben auf den Zuschauerrängen, wo wir vorhin standen? Ich flitze ein paar Stufen empor, fahnde hektisch: nichts. Wieder runter zur Tasche, erneut alle Seitenfächer durchsuchen: nichts. Also innen, im großen Fach? Unordnung quillt mir entgegen. Unordnung, die teuflischerweise umso heftiger wuchert, je mehr Taschenvolumen sie vorfindet. Und meine Tasche ist riesig ... Auch im großen Fach: nichts. Ich wühle, krame, reiße Kleidungsstücke raus, seziere die Eingeweide der Tasche mit messerscharfen Blicken und sehe vorm geistigen Auge draußen die Meute davoneilen ... Was, wenn ich zu spät komme, wenn das Startzeitfenster schon geschlossen ist? - Voller Panik wühle ich weiter in der Tasche, bin kurz davor die Suche abzubrechen ... dann endlich, zwischen irgendwelchen Fummeln, ein metallischer Schimmer, ganz tief unten in der Tasche: Die Kamera! Bringe sie an mich, stopfe allen Krempel wieder rein, renne los, vergesse meine Handschuhe. Die liegen neben der Tasche am Boden. Egal, egaler, Sch ... egal! Zurück zum Start!

Ich flitze um die Ecke und ... schlagartig entweicht die Luft aus dem mit Panik aufgeblasenen Ballon: Aufreizend langsam strebt der Lindwurm von 6.000 Läufern (Marathon, Halbmarathon und Staffeln) Richtung Startlinie. Geschätzte drei Minuten nach dem Start haben sich erst etwa zwei Drittel der 6.000 auf den Weg gemacht. Und Gevatter Zufall, der drollige Geselle, lacht glockenhell: Kurz vor den Zugläufern "4:30", ungefähr an jener Stelle, wo ich mich vorhin mit Jörg in die Meute einreihte, lasse ich mich von der Flut mitreißen ...

Bloß nicht vergessen die Uhr zu starten! Ein Faux pas, den ich mir vor ein paar Monaten in Mannheim leistete. Und nun endlich über die Startlinie! Binnen weniger Schritte legt sich der gänzlich unnötige Sturm widerstreitender Gedanken und Empfindungen im Kopf. Was für ein dämlicher Fehler! Dennoch verzichte ich in diesem Fall auf die vielfach eingeübte Praxis geharnischter Selbstbeschimpfung. Das Missgeschick blieb folgenlos, ist überdies entschuldbar. Schon immer unterliefen mir Fehler, wenn ich versuchte nicht automatisierte Vorgänge zeitgleich zu erledigen. Und natürlich wurde das mit den Jahren nicht besser. Stets staunend sah ich meiner Frau bei wirklich meisterlichen Multitaskingübungen zu. Etwa telefonieren, dabei argumentieren, zugleich fehlerfrei irgendwelche Daten im Notebook abrufen oder eingeben, womöglich mir noch ein Lächeln schenken, weil ich grad mal wieder im Homeoffice störe ...

Schritt für Schritt komme ich im Wettkampf an. Das Tempo überlasse ich meinem Laufgefühl. Erstens geht es um nichts, zweitens war das in den letzten Jahren noch immer die beste Methode, um mich einigermaßen schadlos ins Ziel zu retten. Ich schaue mich um, mehrfach, vielfach, und ... entdecke kilometerweit nichts. Nichts, was auch nur ansatzweise reizvoll wäre und das frühe Aufstehen lohnte. Breite Straßen, seitliche Bepflanzung mit Bäumen und Büschen, Wohnstraßen, später solche mit Büro- und Geschäftshäusern. Nicht ein Bild, das mich außerhalb des bunten Tausendfüßlers, genannt Baden-Marathon, animieren würde hier zu laufen. Okay, eine Ausnahme gibt es und die ist sogar kurios: Links voraus erspähe ich im Garten einer alten Villa die mehrere Meter hohe, metallisch schimmernde Nachbildung einer Giraffe. Fast schon dran vorbei visiere ich das "Tier" von der Seite an, will einen Mitläufer mit im Bild haben. Und im selben Augenblick, da ich den Auslöser betätige, blicke ich in ein rabenschwarzes Gesicht. Zweimal Afrika. Im Vordergrund ein dunkles Konterfei, dahinter das Tier aus der Savanne. Bitte nicht schimpfen! Ich weiß es doch selbst: Der Mann mit der dunklen Hautfarbe hat wahrscheinlich einen deutschen Pass und spricht Badener Dialekt. Und Giraffenskulpturen sind weltweit vermutlich häufiger anzutreffen als ihre majestätisch einher schreitenden Vorbilder in den Weiten des schwarzen Kontinents. Anlass zum Schmunzeln gibt mir der Zufallsschnappschuss aber doch. Und er wirbelt schöne Erinnerungen auf. An Begegnungen in Kenia, Tansania und Südafrika. Mit Menschen derselben Hautfarbe und bei Fotosafaris eben auch mit wild lebenden Vertretern der Spezies Giraffe ...

Eine Brücke überspannt die Autobahn A5, schickt uns rüber in den Stadtteil Durlach. Während unter unseren Füßen auf sechs Spuren sonntäglicher Autoverkehr flutet, richtet sich meine Aufmerksamkeit auf die in den Laufweg einmündenden Ausfahrten der Autobahn. Unfassbar: Für den Marathon wurden die Ausfahrten "Karlsruhe-Durlach" beider Fahrtrichtungen gesperrt. Was für ein Aufwand! Wundersamer noch: Wer bitteschön erteilt für dergleichen eine Genehmigung? Landesregierung? Verkehrsministerium in Berlin? Eventuell sogar das Kanzleramt oder braucht's dafür Olaf höchstselbst? Ich bin beeindruckt: Die letzte von einem Marathon "manipulierte" Autobahn begegnete mir vor Jahren in Linz. Doch das liegt in Österreich und dort hat Sport einen ganz anderen Stellenwert als bei uns.

Karlsruhe-Durlach am Fuße der Ausläufer des Nordschwarzwaldes: Hinter Häusern erheben sich Hügel, die die flache oberrheinische Tiefebene in Nord-Süd-Richtung begrenzen. Weiter südlich werden sie höher, nennen sich irgendwann Hochschwarzwald. Nordwärts flachen die Erhebungen ab, gehören zum Kraichgau, bis sie schließlich vom angrenzenden Odenwald abgelöst werden. Sekundenlang nette, wenngleich von Infrastruktur verstellte Eindrücke. Gleich hinter der Brücke biegen wir ab. Fortan durchstreift der Tausendfüßler Durlacher Nebenstraßen. Findet dort aber auch keine Nahrung, die seine Sehnsucht nach Bildern stillen könnte ...*

*) Dabei gäbe es eine Altstadt in Durlach zu besichtigen. Einen Ortskern, dessen Geschichte viel weiter in die Vergangenheit reicht als diejenige der jungen Stadt Karlsruhe. Das erfahre ich aber erst anlässlich späterer Recherchen.

Zurück zur Innenstadt, diesmal unter der A5 hindurch, irgendwann per Brücke über das ausgedehnte Areal des Karlsruher Rangierbahnhofs. Lok-lose Zusammenstellungen von Güterzügen harren auf zig parallelen Gleisen ihrer Abholung. Beladen? Leer? Mehr als die Waggons und Gleise beschäftigen mich Erinnerungen an den Fidelitas Nachtlauf. Ein Ultra, der spätnachmittags und südlich von hier im Stadtteil Rüppurr beginnt, alsbald den Rangierbahnhof an der Außenseite "touchiert" und die Teilnehmer auf insgesamt 80 km langem Rundkurs durch Ausläufer des Nordschwarzwaldes schickt. Zweimal war ich dabei, zuletzt 2017. Lange her.

Zurück in der Innenstadt und nun kommt endlich Farbe ins schon 13 Kilometer weit währende Grau. Überraschender Weise zunächst am Himmel: Wirklich froh und dankbar war ich bisher für ausbleibenden Regen am Ende einer nasskalten Woche. So dankbar, dass ich nicht mal über den eisigen Luftzug klagte, der mich bisweilen frösteln ließ. Und nun reißt die Wolkendecke zeitweise sogar auf. Aber auch der sich in Laufrichtung erstreckende ... ja, was ist das hier eigentlich? ... ein Park? Das Areal weiß jedenfalls einen halben Kilometer weit zu gefallen. Mit großzügigen Grünanlagen, einschließlich eines kleinen, künstlich angelegten Teiches. Alles noch "jung", noch übersichtlich; bis alles auf- und eingewachsen ist, wird's dauern. Beidseits des ausgedehnten grünen Bandes erheben sich kühne Bauten. Modern, zweckdienlich aber nicht hässlich. Im Gegenteil. Die Architekten dieser Wohn- und Bürohäuser legten sich mächtig ins Zeug, um dem neuen Stadtteil ein ansprechendes Gesicht zu verpassen. Aber was war hier vorher, bevor das alles aus dem Boden gestampft wurde?* - Ich werd's daheim klären ...

*) Der City Park samt umgebenden Wohnvierteln (2.800 Wohneinheiten) wurde in den letzten 10 Jahren auf ehemaligem Bahngelände realisiert.

Nur einen Kilometer weiter, bevor ich mich optisch unterfordert wieder in meinen Konkon mentaler Abgeschiedenheit verkrieche, wird's spektakulär. Einleitend ein Rechtsschwenk auf die geradlinig das Schloss ansteuernde Karl-Friedrich-Straße. Konzipiert wurde sie einst als Via Triumphalis. Gefällt mir im Grunde besser als der heutige profane Straßenname, immerhin folgen nun touristische Highlights wie Perlen einer Kette. Zunächst am Rondellplatz die Verfassungssäule, nur eine Häuserflucht dahinter der Rathausplatz. Links voraus das rote, trotz eines von Säulen gestützten Balkons nicht übermäßig alt wirkende Rathaus.* Davor der gleichfalls mattrote, vermutlich aus Sandstein bestehende Ludwigsbrunnen.

*) Karlsruhe ist eine vergleichsweise junge Stadt. Sie wurde im 18. Jahrhundert am Reißbrett geplant. Bauherr war Markgraf Karl Wilhelm, der zuvor im nahen und nach seinem Empfinden "engen" Durlach (heute Stadtteil) residierte. Im Zentrum der neuen Stadt steht das Schloss, von dem sich strahlenförmig 32 Straßen in die Umgebung erstrecken. Nur der südliche Teil wurde bebaut, wodurch ein fächerartiges Stadtbild entstand, das Karlsruhe den Beinamen "Fächerstadt" eintrug.

Kaum an Rathaus und Brunnen vorbei, zieht eine rote, offenbar gleichfalls aus Sandstein erbaute Pyramide meine Blicke magisch an. Sie erhebt sich in der Mitte des Platzes, umgeben von der unwiderstehlich geheimnisvollen Aura, die jedes Pyramidenbauwerk einhüllt. Die seitlich, vor der mir zugewandten Basis der Pyramide dargebotene Tanzvorführung geht da völlig unter. Leider gelingt es mir nicht en passant die goldene Inschrift des Monuments zu entziffern. Ich werde einmal mehr Wikipedia zu Rate ziehen müssen ... *

*) Die Pyramide wurde als Grabmal für den Stadtgründer Karl Wilhelm von Baden-Durlach (1679 - 1738) im Jahre 1825 fertig gestellt. Ursprünglich ruhten die Gebeine des Markgrafen Karl in der Gruft der Konkordienkirche an derselben Stelle. Das Gotteshaus musste im Zuge der Stadterweiterung weichen.

Ein Ausschnitt des Karlsruher Schlosses, Höhepunkt der Stadtbesichtigung, ist am Ende der Straßenschlucht, zugleich Ende (oder Anfang) der Via Triumphalis, bereits auszumachen. Kurz Zickzack im Fächermuster der Innenstadt laufen, dann hält die inzwischen schon lose Kette der Läufer auf den barocken Schlossbau zu. Auf dem von Grünflächen (links), Bäumen und Skulpturen (rechts) gesäumten Parkweg unterbreche ich meinen Trott mehrmals für Fotos. Der Veranstalter brachte es nicht nur zuwege Ausfahrten der Autobahn zu sperren, wir dürfen uns auch das Schloss aus der Nähe ansehen. Mehrfach den Auslöser der Kamera antippend, jogge ich entlang der barocken Fassade bis fast vor den Eingang der vormals markgräflichen Residenz; biege ab und entferne mich mit dem Schloss im Rücken über den gepflasterten Vorplatz. Zwischen den einstigen Wachhäuschen tut sich was: Eine Menschentraube und schrille, weibliche Kommentare, die aus Lautsprechern über den Schlossplatz schallen, lassen auf eine kurz bevorstehende Tanzvorführung schließen. Nicht die erste und - wie ich noch erleben werde - mitnichten die letzte Darbietung dieser Art.

Ich verlasse den Schlossplatz rechtsseitig und folge meinen Mitläufern in eine der fächerförmig von der Residenz wegstrebenden Straßen. In unseren Tagen natürlich eine Shoppingmeile, die die Reizüberflutung auf den letzten anderthalb Kilometern rasch abebben lässt. Alsbald links abbiegen und vorbei an einer Kirche. Wie vielen Bauwerken im Zentrum fehlt auch diesem Gotteshaus die "Patina des Steinalten", wie man sie in Städten von der Größe Karlsruhes erwarten würde. Karlsruhe ist nun mal, im Vergleich zu anderen deutschen Städten derselben Größe und Bedeutung, eine sehr junge Stadt. Auch diese Kirche (St. Stephan) wurde erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts erbaut.

Ein paar Schritte weiter lenkt mich die nächste Verpflegungsstation von allem ab, das hier, auf und am Rande eines Platzes (Friedrichplatz), an Sehenswertem residiert. Für kurze Zeit fokussiere ich mich auf läuferische Bedürfnisse: Gel und Trinken. Vier Gels trage ich im Gürtel bei mir und eines ist jetzt, nach inzwischen 17 km, fällig. Um niemanden zu behindern, greife ich mir einen Becher Wasser und stelle mich etwas abseits neben einen schon zur Hälfte mit Pappgefäßen gefüllten Müllcontainer. Als säße ich im Zuschauerraum verfolge ich von hier die Darbietung einer südamerikanisch anmutenden Tanzgruppe auf ihrer "Bühne", dem Trottoir auf der anderen Straßenseite. Die fünf Tänzerinnen tragen lange, bunte Kleider, deren Rocksaum sie mit Händen fächerförmig heben, was den Schwung ihrer Bewegungen unterstreicht. Wieder eine der zur Unterhaltung des laufenden Volkes angekündigten Tanzeinlagen.

Bis zum nächsten "optischen Wecksignal" trabe ich durch drei einigermaßen fade Kilometer Innenstadt. Bis da plötzlich drei prächtig restaurierte Fachwerkhäuser am Straßenrand auftauchen. Von jüngerer Bebauung eingerahmt wirken sie wie aus der Zeit gefallen. Wieso stehen die ausgerechnet hier und wieso nur drei? Noch ein paarmal,also nur vereinzelt, komme ich an weiterem Fachwerk vorbei. Gehörten diese Behausungen einst zu einem bäuerlich geprägten, erheblich älteren Weiler, der von der ausufernden neuen Stadt eingemeindet wurde?

Die Schlussphase von Halbmarathon eins vollzieht sich am Ufer des kleinen Flüsschens Alb, das, dem Nordschwarzwald entsprungen, sein Wasser dem nicht allzu weit entfernten Rhein übergeben wird. Flüsschen oder Bach? Drehte man die Zeit ein paar Wochen zurück, zum trocken heißen Sommer 2022, die Frage stellte sich vermutlich gar nicht. Die feuchte Niederung beidseits der Alb wurde als Park und Naherholungsgebiet ausgestaltet. Auf Rad- und Fußwegen nähern wir uns rasch dem Start-/Zielbereich und damit der Marathonweiche: Weitere Drangsal (= Marathon) geradeaus. Wer schon genug hat, darf nach rechts in Richtung Ziel abbiegen.

"Drangsal" steht da nicht ohne Grund. Inzwischen spüre ich die absolvierten Kilometer deutlich im "Fahrgestell". Allerdings fühlt sich die Beanspruchung anders an als letzte Woche in München, wo ich zur Mitte der Distanz bereits ausgelaugt war. Heute mangelt es mir nicht an Ausdauer, das zu Beginn eingeschlagene Tempo von etwa 6:15 bis 6:20 km/m konnte ich bis hierher ohne große Mühe konservieren. Und Lauferfahrung sagt mir, dass ich wohl auch demnächst nicht einbrechen werde. Das frühzeitige, unangenehme Ziehen in der Gesäßmuskulatur spricht dennoch eine unmissverständliche Sprache. Die interpretiere ich nicht als Warnung, vielmehr als logische Konsequenz. Es ist schon eine Weile her, dass ich zuletzt auf flacher, ausschließlich asphaltierter Strecke mit für mich anspruchsvollem Tempo unterwegs war.

Stille hat auf der Strecke Einzug gehalten, vergleichsweise wenige muten sich den vollen Marathon zu. Ein Umstand, der meinem Empfinden entgegenkommt. Heute Morgen vorm und beim Start wurde mir einmal mehr bewusst, dass mir das von mehreren tausend Läufern entfesselte Remmidemmi immer mehr gegen den Strich geht. Dass mir nichts mehr bedeutet, worin viele der zum Lauf Angetretenen ihr Läuferglück finden. Mir geht es eher um "innere Versammlung", darum den Gedanken und Gefühlen ein paar Stunden lang die Zügel schießen zu lassen. Darum zu schauen, was es zu schauen gibt, begleitet von der körperlichen Herausforderung einer langen Strecke. Wer mich unerwartet "anquatscht", holt Udo stets mit langer Reaktionszeit irgendwo tief drinnen ab ...

"Von Augsburg kommt einer sicher nicht zum Halbmarathon hierher!?" ließ sich vorhin einer ein. Gab sich dann, da meine Rede zu lange auf sich warten ließ, die Antwort gleich selbst: "Schon klar, du läufst Marathon!" Ein paar Schritte weiter schoss er seine nächste Frage ab: "Sind bei euch die Teilnehmerzahlen bei Läufen auch so stark rückläufig?" Gedanklich mittlerweile vollends im Diesseits angekommen antworte ich rasch, vermutlich aber unbefriedigend für ihn: "Tut mir leid, ich verfolge das nicht, nehme nur an Marathons und Ultras teil." Anscheinend dämmert ihm in diesen Sekunden, wohl auch nach mehrfachem Ansehen meines nicht mehr ganz so jugendlichen Konterfeis, einen Marathonsammler vor sich zu haben. "Wie viele sind es denn schon dieses Jahr?" Kurz und widerwillig kopfrechnend gebe ich "23" zu Protokoll, was ihn nach kurzer Abschiedsformel verstummen und raschen Schrittes das Weite suchen lässt.

Ein paar hundert Meter folge ich noch flussabwärts dem Wasserlauf, setze dann auf hölzernem Brücklein über und schlage die entgegengesetzte Richtung ein. Auf dieser Seite hält sich der Radweg dicht am Ufer der Alb, windet sich durch dichten Auwald. Der bewahrt die Stille, obschon nur einen Steinwurf weit und parallel zu Weg und Bach eine Schnellstraße verläuft. Deren Fahrzeuglärm brandet mir entgegen, als ich die Verkehrsader per Fußgängerbrücke überquere ... Dahinter wird's wieder still. Still aber leider auch fad. Es folgen drei Kilometer Strecke, die ich einzig erwähne, weil ohne sie der Marathon kein Marathon wäre.

Kilometer 26: Karlsruhe liegt hinter mir. Vermutlich trabe ich noch auf Stadtgebiet, aber nicht mehr in der Stadt. Ich laufe durch lichten Wald in einer mehrere Minuten auffressenden Linkskurve. Auch nicht aufregend aber wohltuend für die Augen, mithin besser als durch langweilige Wohnstraßen zu tippeln. "Eventläufer" empfinden das vermutlich ganz anders, da man ihnen in durchquerten Wohnvierteln, auch denen an der Peripherie, mehrfach akustisch Beine macht. Anfeuerndes Geschrei war zu hören, hart wummernde Musikboxen und vielfach durfte ich studieren, womit Menschen anderen Menschen akustisch den Takt vorgeben können. Eine Kuhglocke wurde dazu ebenso bemüht, wie rhythmisch angeblasene Pfeifen oder Tröten. Dazwischen dröhnte allerlei Hohles, das sich, von Hand oder mit Schlagwerkzeug geprügelt, vortrefflich zum Erzeugen von Krach verwenden lässt. Eine Dame setzte in Ermangelung sonstiger Instrumente sogar ihre dissonant grelle Stimme ein: unablässig, in kurzen, konstanten Abständen stieß sie denselben, dem Krähen eines Hahnes im Stimmbruch nicht unähnlichen Laut aus. Mir gibt's zwar nichts, es tut aber auch nicht weh und vermutlich hilft die akustische Untermalung dem einen oder anderen sein mentales Tief besser zu überstehen.

Nicht erst hier entlang dieser einsamen Linkskurve im Wald, aber ganz besonders hier, staune ich über den enormen Personalaufwand der Veranstaltung. Vermutlich sämtliche freiwilligen Feuerwehren der Umgebung wurden für Sicherungs- und Absperraufgaben mobilisiert. An jeder auch nur halbwegs des Verlaufens verdächtigen Stelle wacht darüber hinaus ein Streckenposten. Dazu kommen die vielen Helfer an Start und Ziel, wie auch unterwegs an den Versorgungsstellen. In "Tateinheit" mit dem immensen Materialaufwand, die so ein Stadtmarathon zwangsläufig erfordert, relativiert sich die nicht eben geringe Startgebühr.

Ein kurzer Schlenker durch ein entlegenes Wohngebiet (Stadtteil Weiherfeld), dann zurück ins Ländliche, nun am Rand einer von steinalten Pappeln gesäumten Straße. Der nächste Verpflegungsposten rückt ins Blickfeld, nach jetzt 28 Kilometern Anlass das dritte Päckchen Gel zu konsumieren. Verpflegung mitten im Karlsruher "Outback" durfte man erwarten, weitere, irgendwo zwischen Mexiko und der Südspitze des amerikanischen Kontinents beheimatete Tänzerinnen eher nicht. Sie schwingen die Hüften und lächeln. Also lächle ich zurück (hab' ich doch hoffentlich nicht vergessen!?), sichere mir einen Schnappschuss der Szene und bin wieder weg ...

Im Stadtteil Rüppurr erwartet die nur noch vereinzelt vorbeitippelnden Marathonas und -tonis neuerlich Kurzweil: Die sie erzeugen gucken zwar recht mürrisch, dreschen aber mit Verve ihre Trommeln, als wollten sie uns mit Schalldruck im Rücken die vielleicht fünf Höhenmeter Anstieg erleichtern. Anstieg zu einer Fußgängerbrücke, um eine stark befahrene Ausfallstraße zu überqueren. Die nächste, schon wieder südamerikanisch bunt anmutende Tanzgruppe, ein paar Minuten weiter, leitet den neuerlichen Abschied aus bewohnter Umgebung ein. Wenig später verschluckt mich Wald, den ich nicht zum ersten Mal in meinem Läuferleben betrete. Zweimal davor, jeweils spätnachmittags kurz nach dem Start und mitten in der Nacht, am Ende einer 80 km-Runde durch die Nordausläufer des Schwarzwaldes, folgte ich einer Route in diesem Wald. Das war 2008 und 2017 und steht als "Fidelitas Nachtlauf" in meinem Laufbuch.

Anderthalb Kilometer im Forst, zuletzt auf einem Abschnitt, den ich zweifelsfrei von 2017 wiedererkenne. Auf den letzten Metern gewinnt der Weg an Höhe, bevor der Wald abrupt vor einer Fußgängerbrücke endet. Genau hier "lauerte" mir damals ein Unbekannter auf, der mich von Laufberichten kannte ... Zunächst bringt mich die Brücke über einen Karlsruher Autobahnzubringer, spannt dann einen weiten Bogen über den heute schon einmal, weiter östlich überquerten Rangierbahnhof. Dahinter reichlich Karlsruhe zum Abgewöhnen: Rechts Ödnis, die sich bis zum Bahngelände erstreckt, links gesichtslose Wohnblocks. Lange Minuten, wie andere zuvor leider unentbehrlich, um den Marathon zu komplettieren. Endlich der Lichtblick: Vorhin kamen wir aus der Gegenrichtung und bogen hier ab. Und auch jetzt schlage ich wieder die Route durch den modernen City Park ein. Schritte und Eindrücke wiederholen sich, gut 34 Kilometer liegen hinter mir.

Wenn ich den Streckenverlauf richtig erinnere, dann werde ich nun bis zum Ziel dieselbe Route nehmen wie vorhin. Worüber ich alles andere als böse bin. Also noch einmal diesen erst wenige Jahre alten Park durchqueren, am Teich vorbei joggen und reichlich Bilder moderner, ansehnlicher Architektur einsammeln. Nur wenige Minuten später noch einmal die Via Triumphalis ablaufen, diesmal vorbereitet aufs Sehenswerte und beim zweiten Mal genauer hinschauen. So ungefähr stelle ich mir den Ausklang des Baden-Marathons vor. Dass es mir nur zum Teil gelingt, liegt an den nun mit jedem Kilometer anschwellenden Schmerzen in meinen Laufwerkzeugen. Mehrfache Blicke zur GPS-Uhr versichern mir nicht langsamer geworden zu sein. Ausdauer ist also noch ausreichend vorhanden. Nur muss ich mich inzwischen eckiger, unrunder Schritte auf schweren Beinen bedienen, um die Ausdauer auf die Straße zu bringen. Ein nie zuvor verwendetes Adjektiv kommt mir in den Sinn: "knödelig". Meine Beine fühlen sich "knödelig" an, vermitteln den Eindruck schwindender Kontrolle.

Einerlei. Mit unvermindertem Tempo sammle ich ein weiteres Mal die Bilder an der Strecke ein: Verfassungssäule, Rathaus, Pyramide ... zwei Minuten später die Schlossansichten. Drauf zulaufend, davor entlang laufend und mich wieder entfernend. Ich gewinne den Straßenfächer südlich des Schlosses, passiere die "un-alt" aussehende Kirche und jogge auf die schon bekannte Tränke zu. Kurz bevor ich sie erreiche, fällt mir ein merkwürdiges Gebilde auf, eine Art Turm, auf breiter Basis ruhend, nach oben spitz zulaufend. Teile alter Radios, Hüllen, Chassis, Platinen und Lautsprecherboxen, wurden zu einem sich himmelwärts verschlankenden Kunstwerk aufgeschichtet. Oder manifestiert sich in diesem Puzzle ausgedienter Radiotechnik eine politische Aussage? Selbst im Vollbesitz mentaler Kräfte wäre ich kaum in der Lage die Sprache des Gestalters zu verstehen. Also einfach am Wunderlichen erfreuen und weiter. Wie konnte ich den Radiomüllhaufen beim ersten Umlauf eigentlich übersehen?

Es tut weh und ich habe nun nichts anderes mehr im Sinn als diesen Marathon rasch zu Ende zu bringen. Eine Absicht, die sich wie oft zum Ende hin entsetzlich in die Länge zu ziehen scheint. Dieselbe Strecke wie vorhin, nur ich bin nicht mehr derselbe. Von außen kommende Eindrücke erreichen mich nicht mehr, werden hinter Scheuklappen bestenfalls ignoriert. Fachwerkhäuser? Uninteressant. Hübsche Meter am Ufer des kleinen Flüsschens? Völlig egal. Ich hole aus meinen geschundenen Beinen raus, was noch da ist. Das reicht, um nicht zu erlahmen, zwingt mich aber diese verdammten Schmerzen zu ertragen. Endlich die Marathonweiche und nun nach rechts. Bin gleich da, gleich geschafft, fast im Ziel ... Denke ich und irre. Trabe und trabe und kein Ende, kein Stadion öffnet sein Tor für mich. Ich umkreise den Bezirk des Stadions bis ich letztlich wieder Richtung Innenstadt laufe. Und erst hier - endlich! - ist es so weit: Ein letztes Mal rechts abbiegen - vor mir öffnet sich das Tor zum Paradies ... Durchs Stadiontor auf die Tartanbahn, das Ziel gut hundert Meter voraus in Sicht. Letzte Meter, über die Ziellinie und nach 4:33:35 Stunden, hängt man mir die Finishermedaille um.

 

Fazit zur Veranstaltung

Die Strecke des Baden-Marathons weist nur abschnittsweise Sehenswertes auf. Im Wesentlichen auf jenen anderthalb Kilometern, die beginnend mit der Via Triumphalis und am Schloss vorbei zurückzulegen sind. Dieser Abschnitt wird zweimal absolviert, was optisch sicher kein Nachteil ist. Kurzweilig auch diverse Kilometer des zweiten Halbmarathons, so weit sie den fast ländlichen Karlsruher Süden und auch stückweit den Wald hinterm Stadtteil Rüppurr erschließen.

Die Organisation erlebte ich als weitgehend reibungslos, was nicht selbstverständlich ist für eine Veranstaltung mit mehreren tausend Teilnehmern. Auffallend der große Personalaufwand zur Absicherung, für Versorgung und Streckengeleit sowie im Start-/Zielbereich.

Fazit: Nicht unbedingt meine erste Wahl, aber bei Bedarf durchaus wieder.

 

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