4. Juni 2022

Varus, gib mir meine Legionen zurück!  -  Rund um Detmold 2022

Bisweilen führe ich beim Laufen etwas im Schilde, ohne es mir bewusst vorzunehmen. Heute den Gedanken die komplette Ultra-Runde um Detmold kalorienfrei zu bestreiten. Zumindest ohne Energiegel, von dem ich drei Rationen im Rucksack mitführe. Bei Bedarf könnte ich mir zwei weitere von meiner "automobilen Supporterin" Ines zustecken lassen. Mehr kann ich nicht einsetzen, weil ich nur diese fünf zu unserem Pfingsturlaub im/am Teutoburger Wald mitnahm. Der Verzicht gewinnt mit jedem gelaufenen Kilometer an Konturen. Anfangs als vage Möglichkeit, irgendwann spekulativ und entschlossen: "Wenn ich den festen Willen dazu habe, dann geht es sicher auch ohne Zuckerbooster!" Meine Überlegungen kreisen nicht zuletzt um die bessere Trainingswirkung: Ich werde körpereigene Ressourcen tiefer ausschöpfen und nach Wiederaufladung vom Mehrwert profitieren.

Dass ich die "No-Gel-Taktik" dann tatsächlich umsetze, ist schon einigermaßen "revolutionär". Seit ewigen Zeiten wagte ich nicht mehr einen (Trainings-) Lauf mit solchem Anspruch (57 Kilo- und mehr als 1.100 Höhenmeter) ohne Nachladen von "Brennstoff" anzugehen. Deshalb komme ich nicht umhin mir eine Art Kamikaze-Verhalten zu unterstellen. Umso mehr der grottenschlechten Tagesform wegen, die mein Körper mir an diesem Samstag vor Pfingsten zumutet! Vom ersten Schritt an fühle ich mich schwach, anfällig und bleiern schwer. Schon nach etwa 20 Kilometern passt das Attribut "ausgebrannt". Im Unterleib rumort es und nach wenigen Kilometern zwickt es im Kreuz. Die Rückenschmerzen erreichen nach etwa zwei Stunden den Level "lästig und störend", auf dem sie eine Weile verharren ... Noch vor der Hälfte der Gesamtstrecke dann der fatalistische Entschluss: "Ich werde so oder so leiden wie ein Hund, da kommt es auf vorenthaltene rund 500 kcal Zucker auch nicht mehr an."

Meine Verfassung in ihrer Entwicklung vorwegzunehmen raubt dem Laufbericht einen seiner Spannungsmomente. Dafür entledige ich mich der lästigen "Pflicht" ständigen schriftlichen Klagens. Darüber hinaus erlebe ich genug Überraschendes, Wunderbares, auch Skurriles mit dem es mir hoffentlich gelingt den gewogenen Leser bei der Stange zu halten.

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Nur eine Stunde nach Aufstehen, Ankleiden und improvisiertem "Frühstück" stehe ich auf dem "Parkplatz Adlerwarte" in Berleburg. Ort und Parkplatz liegen an den Nordost-Hängen des Teutoburger Waldes. Während ich im Kreis der 17 Teilnehmer (einschließlich Veranstalter Ulrich Schilder) dem Briefing lausche, schwant mir Übles: Keine Schonfrist, kein Einlaufen in flachem Terrain. Am Parkplatz beginnt ein ellenlanger, steiler Anstieg ... Inniger Abschied von meiner "Supporterin" und Ehefrau Ines. Um Punkt sieben Uhr, angezeigt von der Digitaluhr im Heckfenster von Ulis Pkw, heißt es schlicht: "Loslaufen!" Was sich einfacher anhört, als es ist. Schon auf den ersten Metern sterbe ich Tode, die sonst der Endphase eines Wettkampfs vorbehalten sind. "Zäh" ist ein zu schwaches Wort, um das verzögerte Anspringen meines Kreislaufs zu beschreiben. Sekunden dehnen sich zu Minuten, in denen ich zutiefst bereue ausgerechnet die blöde Lauferei zur bevorzugten Freizeitbeschäftigung erwählt zu haben. In denen ich nichts lieber täte, als meine Laufschuhe augenblicklich an den Nagel zu hängen ...

Verbohrt an meinen Grundsätzen festhaltend gestatte ich mir  n-a-t-ü-r-l-i-c-h  auch an den Hängen des Teutoburger Waldes keine Gehschritte. Das ist ausgesprochen dumm. Weiß ich seit langem. Aber Prinzipien, inklusive selbst auferlegter und ungeachtet zugrunde liegender Motive, stehen auch vor Unerbittlichem nicht zur Disposition. "Alles laufen, nicht gehen!" war mir immer wichtig (für mich, nicht bei anderen). Ausnahmen nur, wenn laufen nicht (mehr) möglich ist. Also tippele ich im Schwanzende der "17" einher und komme auch nicht rascher voran als die Geher. In kurzzeitig flacherem Terrain dann doch, wodurch ich mich vor die Meute setze und zugleich "unwohl" fühle. Man/frau könnte mein Gebaren durchaus missverstehen.

Der Weg gabelt sich. Die Plakette mit dem "R" (= Residenzweg) schickt den Wanderer nach rechts. Mit Blick auf den GPS-Track trabe ich geradeaus weiter. Von wo mich lautes Rufen wenige Schritte später zurückholt. Uli entscheidet "nach rechts", obwohl alle mit Track beladenen Uhren dagegen protestieren. Weiter aufwärts. Inzwischen ist mein Energiestoffwechsel halbwegs in Gang gekommen. Stirnrunzelnd beobachte ich die zunehmende Divergenz von Pfeil (= Udos Position) und Track (= Strecke) auf meiner Uhr. Ich beschließe mich einstweilen dicht hinter Uli zu halten. Wenn einer sicher weiß, wo’s langgeht, dann er. Vorübergehendes Durchschnaufen als wir ein paar Meter Höhe aufgeben. Zugleich schicke ich Stoßgebete in den unentschieden wolkenweiß und himmelblau gefärbten Himmel, mein "Motor" möge diese Passage nutzen und endlich auf volle Drehzahl kommen. Weiter den Kommentaren meiner "Innereien" zu lauschen ist auf halbseidener Piste allerdings keine Option. Volle Konzentration: Grobkantige Steine laden zum Einfädeln ein, diverse Matschlöcher legen's drauf an mir die Schuhe zu verkleistern.

Dann wieder rauf unterm Blätterdach des Teuto*. Vorhin war "steil", jetzt ist "steiler". Steiler auf grobem Schotter, eine Kombi, die nicht mehr als "Steppschrittchen" zulässt. Meine Pumpen pumpen wie verrückt. Eine Blut in Beine und Hirn, die andere Wasser, das an abertausend Leitungsenden aus den Poren rinnt. Musste ich je einen gewalttätigeren Marathon- oder Ultra-Beginn überstehen? Wohl kaum. Daran müsste ich mich erinnern, auch wenn ich nicht alle 320 bisherigen M’s und U’s parat haben kann. Noch 30 Meter bis zur Sichtkante, dahinter winkt Erlösung. Heller wird es dort auch, anscheinend endet dort der Wald ...

*) Häufig hört und liest man "Teuto" als Abkürzung für das langatmige "Teutoburger Wald". Die Abkürzung scheint sich "offiziös" eingebürgert zu haben.

Wieso der Wald dort endet? - Lass es mich so ausdrücken: Angenommen der Teutoburger Wald hätte sich im Jahr 9 nach Christus im selben beklagenswerten Zustand befunden wie dieser Tage, die Weltgeschichte hätte einen anderen Verlauf genommen! Viele Hektar des Teuto-Höhenrückens sind nackt! Weithin einsehbar waldfrei! Wie und wo hätte der Cheruskerfürst Arminius (= Herrmann, dem unweit von hier ein Denkmal errichtet wurde) die drei Römischen Legionen (bis zu 20.000 Mann) unter ihrem Feldherrn Publius Quinctilius Varus in einen Hinterhalt locken sollen? - Mithin hätte Rom nicht den Verlust eines Achtels seiner gesamten Streitmacht verloren und die Eroberungskriege jenseits der vom Limes gesicherten Grenze fortgesetzt. Schwer auszudenken, welche Richtung die Geschichte der damals bekannten Welt ohne Varusschlacht* genommen hätte. Der angebliche Stoßseufzer des damaligen römischen Kaisers Augustus - "Varus, gib mir meine Legionen zurück!" - hätte jedenfalls nie Eingang in die Sammlung geschichtlicher Anekdoten gefunden.

*) Geschichtsforscher sind noch immer uneins, wo die Varusschlacht tatsächlich stattfand. Verlässliche Angaben dazu gibt es in der römischen Geschichtsschreibung nicht. Lediglich die Schlacht als solches und das Ausmaß der römischen Niederlage, wohl auch deren Folgen sind belegt. Jahrelang glaubte man durch Funde belegen zu können, dass die römischen Legionen viel weiter westlich, in Kalkriese im Osnabrücker Land, vernichtet wurden. Anlässlich eines 50 km-Laufes ("50 zum 50sten") wurde ich erstmals mit dieser Möglichkeit konfrontiert (sh. Laufbericht aus 2013). Neuere Forschungen stellen jedoch Kalkriese als Ort des Gemetzels wieder in Frage.

Schon bei der gestrigen Ankunft im Teuto und der Fahrt durch das südöstlich vorgelagerte Eggegebirge war das Erschrecken gewaltig: So gut wie alle Fichten, örtlich zusammenhängend ganze Fichtenwälder, sind abgestorben. In einem Umfang, dass Einschlag der verdorrten Stämme und Wiederaufforstung noch Jahre in Anspruch nehmen werden. So soll es im Harz und anderen Mittelgebirgen auch aussehen. Nach mehreren niederschlagsarmen Jahren, die dem Borkenkäfer in die Karten spielten.

Kahlschlag beidseits des Weges. Hier oben ist immerhin die "Grablegung" der Baumleichen fast schon abgeschlossen. Als wollte mir eine höhere Regie den Stand der unguten Dinge vor Augen führen, verstellen zwei Holztransporter die Piste. Einer bereits beladen mit den traurigen Überbleibseln des einst stolzen Nadel-Teuto. Demnächst steht dann bestimmt die Wiederaufforstung an und sehr, sehr bald, in höchstens 100 Jahren, gerade noch rechtzeitig für die Urenkel unserer Enkel, werden die Wunden des Teuto verheilt sein. Natürlich nur, wenn es uns gelingt die Erderwärmung zu begrenzen und auch sonst pfleglicher mit der uns anvertrauten Natur umzugehen. Alles wird gut! Oder etwa nicht?

Entsetzen kann sich nicht festsetzen, zu sehr sorge ich um mich selbst. Obschon nun weitgehend flache Streckenteile abzulaufen sind, komme ich auf keinen grünen Zweig.* Die mehr als drei Kilometer Anstieg haben aktiviert, was zu aktivieren war. Trotzdem komme ich nicht im Wettkampf an. Schlappe müde vor mich hin und betreibe wieder einmal Ursachenforschung. Wie üblich ohne Aussicht auf klare Erkenntnisse. Restermüdung nach hartem Vorwettkampf, langer Anstieg zu Beginn, allgemein und altersgemäß bescheidener Trainingszustand, zum x-ten Mal schlechte Tagesform? Oder von allem etwas in unseliger wie untrennbarer Allianz? Sch... drauf! Jammern hilft nicht, auch heute werde ich mich wieder voll verausgaben müssen. Was zwar der Zweck der Übung sein sollte, aber eben nicht so.

*) Die sprachliche Analogie war unbeabsichtigt und natürlich wünsche ich mir, sie möge sich nicht zu sehr bewahrheiten.

Nach und nach gebe ich die (unbeabsichtigte) Solopartie zwischen zwei Dreiergruppen auf und nehme zu den Männern vor mir (dabei auch Veranstalter Uli) Tuchfühlung auf. Allerdings halte ich mich dicht hinter den munter aufeinander einplaudernden Mitläufern. Im Hintergrund trabend wird man wenig Notiz von mir nehmen und mich "in Ruhe lassen". In meiner gegenwärtig "prekären" Verfassung wären mir Gespräche wenig willkommen. Auf längst unschwierigem Geläuf fokussiere ich mich großenteils auf Echos meines Körpers. Den Rest an Wahrnehmungsvermögen investiere ich in heran drängende Bilder. Bilder des inzwischen scheinbar gesunden (?), dafür auch zu hundert Prozent aus Laubbäumen bestehenden Teuto. Auch Bilder eines unweit des Weges die Bäume überragenden, gemäß späterer Recherche fast 300 Meter hohen Sendemastes. Als "Sender Bielstein" bezeichnet Uli den dürren, aus Gitterelementen errichteten, mit Stahltrossen abgespannten Spargel.

Uli sprach’s in meine Richtung, worauf ich mit bestätigendem Brummen Verstehen quittiere. Nachfrage? Die rot-weiß gestrichene, Antennen tragende Konstruktion hat so gar nichts an sich, was mich momentan aus der Reserve locken könnte. Vermutlich hätte ich mich dennoch bereitwillig in ein Gespräch ziehen lassen. Doch dann scheren die anderen zu einem Boxenstopp aus, den ich schon vor einer Viertelstunde erledigte.

Allein im Teuto. Erst auf schmalem, asphaltiertem Sträßchen, das Techniker auf ihrer Fahrt zum Sender nutzen. Alsbald wieder auf Schotterpisten, deren Qualität sich auf dem Weg talwärts stetig verschlechtert. Gespickt mit faustgroßen, fest im Boden verankerten Steinen und so recht geeignet umzuknicken oder daran hängen zu bleiben. Also laufe ich verhalten, setze meine Füße achtsam auf mutmaßlich verlässliche Flecken im Geläuf. Von einem Walker abgesehen bleibt mein "Downhill-Eiertanz" ohne Zeugen ...

Kilometer 10,5, am Fuße des Teuto: Verwirrt verharre ich in Höhe eines kleinen Teiches, wo die Markierung "Residenzweg" erneut von der Wegweisung auf der Uhr abweicht. Etwa eine halbe Minute verstreicht, in der ich der Darstellung auf der Uhr misstrauend fieberhaft überlege: Was stimmt? Dann sammelt mich vorbei trabende, mutmaßliche Ortskenntnis in Gestalt des zeitweilig "verlorenen" Trios ein. Ich folge den Dreien willig - alles, nur nicht verlaufen! Eine Gefahr, die nicht trotz, sondern wegen doppelter Orientierung - Track und Markierung "Residenzweg" - da und dort besteht. Erst zum Ende hin werde ich kapieren, dass sich "Rund um Detmold" als Laufstrecke und "Residenzweg" überwiegend, aber keineswegs zur Gänze decken.

Kilometer 14,5: Ausgesprochen wird die lange schwelende Verwunderung erst als wir zu viert dem Ufer des idyllischen Postteiches folgen. Man (n) wundert sich, dass einer von Augsburg nach Detmold zum Ultralaufen fährt. Wahrheitsgemäß berichte ich von der Notwendigkeit einer Trainingsbelastung, deren Äquivalent ungefähr dem von "Rund um Detmold" entspricht. Erzähle von der spontanen Idee den Lauf zum Anlass eines Pfingsturlaubs im meiner Frau und mir unbekannten Ostwestfalen zu nehmen. Welcher denn mein bisher härtester Lauf gewesen sei, will Veranstalter Uli danach wissen. Eine der wenigen Fragen, die ich ohne nachzudenken, wie aus der Pistole geschossen beantworten kann: "Das war der Spartathlon" - Die Wirkung des Zauberwortes "Spartathlon" ist mir nicht fremd. Von Sekund’ an behandelt man mich wie einen "Star" im Ensemble. Ein mir unangenehmer Part. Als Spartathlon-Finisher fühlte ich mich nie herausgehoben, kehrte nie den elitären Superläufer hervor. Denn der bin ich nicht. Nur einer von vielen Ultraläufern, erst recht nach dem letztjährig erlittenen, krankheitsbedingten Knick in meiner Leistungskurve. Das sei ja wohl ein Erfolg, den nur wenige Läufer in Deutschland vorzuweisen hätten, meint Uli. "Stimmt! Vor allem, weil häufig dieselben Leute finishen!" entgegne ich, während mir spontan die Namen legendärer Spartathlon-Vielfachfinisher in den Sinn kommen. In den Sinn, der vom Routine-Check der Trackdarstellung allerdings abrupt unterbrochen wird: Verlaufen!

Ich alarmiere die Gruppe, gemeinsam traben wir 50 Meter zurück, wo ein "gut getarnter" Trail vom Seeuferweg abzweigt. Schon zum zweiten Mal verhelfe ich der Gruppe auf den rechten Weg. Vorhin übersah sogar Uli einen völlig verwachsenen, vor einem Zaun abzweigenden Pfad. Obschon ich diverse Detmolder Trabantsiedlungen in relativer Nähe ahne, anlässlich von Straßenquerungen zuweilen auch einen Blick dorthin erhasche, findet die Route unablässig Pfade im Wald. Offensichtlich unter Naturschutz stehender Forst, der sich abschnittsweise Urwaldcharakter bewahren konnte. Dichtes Unterholz, keinerlei erkennbare menschliche Eingriffe. Wir passieren ein Steilufer mit Blick zu einem idyllisch mäandernden Flüsschen. Hier wähnt man sich fern der Zivilisation ... so lange man nicht genauer hinschaut oder sich Papier- und Kunststoffmüll an den Ufern des Gewässers wegdenkt. Alsbald leuchtet der nächste See durch die Bäume, der Meschesee, um einiges ausgedehnter als der Postteich vorhin.

Das war’s dann einstweilen mit Wasser, Wald und Pfaden. Auf asphaltiertem Sträßchen traben wir über landwirtschaftlich genutztes, leicht welliges Terrain, streifen alsbald einen Golfplatz. An dessen Rand hinan, einen jener Anstiege nehmend, die harmlos aussehen, es ihrer Ausdehnung wegen aber nicht sind ... Es folgt ein Gewerbegebiet. Austauschbar mit jedem anderen Gewerbegebiet dieser Republik. Abweichende Namen für die ansonsten üblichen Gewerbe und Gewerke. Darunter selbstverständlich ein Autohaus. Autohäuser dürfen in Deutschland nirgendwo fehlen. Ein weitläufig angelegtes Areal. Mit weitläufig meine ich auch: verschwenderisch und landfressend, dabei umweltzerstörend und Böden versiegelnd. Mit zwei Worten: gedankenlos dämlich. Eine der vielen von Menschen praktizierten Möglichkeiten sich selbst den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen. Die Situation wird häufig beklagt, nur ändert das nichts.

Gewerbegebiet Ende, wieder bestellte Äcker beidseits des Weges. Wir steuern auf ein Dorf zu, beschaulich ländlich am Hang eines Höhenzuges gelegen. Etwa 22 Kilometer stehen auf meiner Uhr zu Buche. Ungefähr jene Distanz, die Uwe* uns vorm Start als Standort der von ihm geplanten Verpflegungsstation nannte. Just als wir seinen "sortenreichen Marketenderladen" vor der Kirche des Ortes erspähen, klingelt mein Handy. Aus meiner sich aufgelöst anhörenden Ehefrau brechen wasserfallartig Fragen und Infos hervor. Ines hat sich um eine Stunde vertan und fürchtet an einer Stelle zu warten, die ich längst passierte. Rasch beruhige ich sie mit der Feststellung infolge schwierigen Terrains und ebensolcher Orientierung unendlich viel Zeit verloren zu haben. Beim Positionsvergleich stellt sich heraus, dass sie nur ein paar Laufminuten voraus auf mich wartet ...

*) Entlang der Runde besteht laut Ausschreibung die Möglichkeit ein unbemanntes Wasserdepot (Km 32) und später das Angebot eines Supermarkts zur Ergänzung des mitgeführten Getränkevorrats zu nutzen. Uwe hatte sich als Teilnehmer angemeldet, ein Muskelfaserriss zwingt ihn jedoch zu pausieren. Also stellte er sich spontan in den Dienst der anderen und baut an verschiedenen Stellen sein Tischlein-deck-dich auf. Bezahlung lehnt er ab. Was er auftischt sei bei einem Lauf übrig geblieben, bei dem er zwei VP betrieben habe und somit längst bezahlt. Zu diesem Zeitpunkt kann ich noch nicht wissen, wie dankbar wir Uwe für seinen selbstlosen "Dienst am Läufer" sein werden. Einschließlich mir, obwohl ich von meiner Frau Ines betreut werde.

Das Dorf erweist sich als einer der Höhepunkte des Laufes. Einerseits der üppigen Verpflegung durch Uwe wegen, zum anderen könnte man den alten Dorfkern, mit Kirche, Fachwerkhäusern und 1000jähriger Linde, sofort in ein Freiluftmuseum umwandeln. Meine Kamera bekommt Arbeit und abermals bleibt viel Zeit auf gepflegten Wegen innerorts liegen ... Teil drei des Höhepunkts wartet am Dorfrand auf mich, meine Frau Ines und unsere Hündin Roxi. Vieles trägt dazu bei, dass ich diesen Lauf als erfüllendes Erlebnis in Erinnerung behalten werde: Gute Versorgung, Sonne und Wärme, die bildhübsche Umgebung, auch die eigene Leistung. Wie immer, wenn sie dabei ist, wird das alles jedoch von meiner Frau, dem von ihr versprühten Frohsinn, in den Schatten gestellt ... Als ich mich endlich von ihr losreiße, sind die anderen nur noch als winzige Silhouetten im scheinbaren Zenit der Hügelkette zu erkennen ...

Anfangs joggt, bald trabt er, recht schnell zwingt der Hang den verbohrten Kerl zum Tippeln. Mühsam aufwärts, da längst von all dem Lähmenden befallen, das ich zu Anfang schilderte. Steigung und Himmelsrichtung variieren mehrfach und noch immer ist die Anhöhe nicht besiegt. So langsam dämmert mir, wie leicht "man" das häufige Auf und Ab in dieser harmlos wirkenden Landschaft unterschätzen kann. Vielleicht hätte ich die Steilheiten im "Teuto" zu Beginn doch gehend unter die Füße nehmen sollen. Späte, nutzlose Reue ... Ich kämpfe mich voran, sehe eine ziemliche Weile nichts mehr vom vorauslaufenden Dreigestirn. Bis sie an einer T-Kreuzung, hundert Meter voraus, unvermittelt durch mein Gesichtsfeld joggen. Von rechts nach links!? Offensichtlich bogen sie an der Kreuzung falsch ab. Selbst an der Stelle angekommen verstehe ich ihr Verlaufen. Sie waren unachtsam, plauderten vielleicht, folgten dem offensichtlichen Weg nach rechts. Der Track schickt mich nach links auf einen eher unscheinbaren, beidseits von brusthohem Bewuchs flankierten, schmalen Pfad.

Ich halte die Schlussposition, bin aber wieder Teil der Gruppe. Felder und wir dazwischen oder am Rand. Wechselndes Geläuf, nicht selten auch Kraft raubende Graspisten, jetzt über einen mittelprächtig komfortablen Schotterweg in den Wald. Der Führende biegt vom einladenden Waldweg auf einen Trampelpfad ab. Reflexartig befrage ich den Track am Handgelenk, auf dem nicht die winzigste Richtungsänderung erkennbar ist und denke unwillkürlich: "Ob das wohl stimmt?" - Wie befürchtet stimmt "es" nicht, was aber außer mir niemand zu bemerken scheint. Ganz und gar arglos dringen die drei vor mir immer tiefer in den Wald ein. Zur genaueren Richtungsbestimmung verhalte ich meinen Schritt und bringe die stückweit enteilte Gruppe schließlich mit lautem Rufen zu Einsicht und Umkehr: "Die Richtung kann aber nicht stimmen! Wir müssen zurück auf den Waldweg!"

Entschluss: Von jetzt ab werde ich nirgendwo mehr blindlings hinterher rennen und die Kongruenz von Ist und Soll (Track) in noch kürzeren Intervallen überprüfen. Ausschließlich deshalb entdecke ich kurz vorm Ende des Wäldchens, nur etwa 30 Meter vor einer Straße, den Abzweig. Wieder ein unscheinbarer Pfad, der uns fünfzig Meter weiter dann doch an den Straßenrand führt. Ich frage mich, wieso es ausgerechnet mir, dem komplett Ortsfremden, mehrfach oblag die Gruppe auf den rechten Weg zurückzuführen. War ich einfach nur aufmerksamer unterwegs? Nicht abgelenkt von Gesprächen? Vermutlich liegt es auch an der gehäuften Erfahrung mit dem unvollkommenen Lenkungsinstrument an meinem Arm. Inzwischen vermag ich die zwar genaue aber leider primitiv spärliche Anzeige weitgehend fehlerfrei zu lesen.

Seit Stunden fühle ich mich im Bauchraum unwohl, auf merkwürdige, schwer zu definierende Weise ... "belastet". Über zwei, drei Kilometer reift nun die Überzeugung, dass sich das Problem nicht von selbst lösen wird. Ich werde mich hinter der Gruppe zurückfallen lassen und versuchen mir "in Deckung gehend" Erleichterung verschaffen. Entschlossen suche ich mit den Augen voraus den Laufweg ab, bis sich nach geraumer Zeit endlich eine Stelle anbietet. Eichen waren immer schon meine Lieblingsbäume. Dieses wunderschöne und ziemlich alte Exemplar unweit des Weges gewährt mir den nötigen Sichtschutz ...

Kilometer 30: Ich hätte nicht so viel Geduld mit meinen Eingeweiden aufbringen sollen. Nach der "Problemlösung" fühle ich mich zwar nicht "fitter", überdies schmerzt mein Kreuz infolge "Turnübungen unter der Eiche" ein Weilchen deftiger als vorher, dennoch bin ich nun mit verbessertem Laufgefühl unterwegs. Einen Kilometer noch aufwärts unterwegs und - so meine Erwartung - solo bis ins Ziel. Immerhin ließ ich zur "Befriedung des Bauchraumes" deutlich mehr als fünf Minuten liegen ... Ich durchquere einen Weiler "Namenlos" und begrüße Asphalt unter meinen Sohlen. Weicher ist schöner, aber Asphalt schont meine Ausdauer. Mit zweieinhalb Kilometern Sträßchen werde ich im Folgenden beschenkt. Ein Präsent, das sich zu meiner Freude über sanft abfallendes Terrain erstreckt und herrliche Fernsichten in die von Feldwirtschaft geprägte Umgebung gestattet. Abgesehen vom Traktor eines Bauern, der querab seinem Tagwerk nachgeht, nur Gegend im Blickfeld, keine "Zivilisation". Kaum zu glauben, dass sich nur wenige Kilometer von hier eine 70.000 Einwohner beherbergende Stadt ausbreitet.

Kilometer 32: Demnächst sollte ich das von Uli hinterlegte "Wasserdepot" erreichen. Kurz davor laufe ich jedoch Ines und Roxi buchstäblich in die Arme und Pfoten. Mega-gute-Laune-Hallo, das mich noch mehr als das gereichte Wasser aufbaut. Offenkundig hatte Ines Schwierigkeiten in unbekannter Gegend, oft ohne konkrete, vom Auto-Navi verwertbare Adresse, die Strecke zu finden. Diesmal suchte sie sich Ulis "Wasserdepot" aus. Es wartet hundert Meter abseits der eigentlichen Strecke in der Nähe einer Gaststätte, die anzulaufen sich für mich nun erübrigt. Ein Stück darf ich mich noch am Rand eines Sträßchens erholen, dann zweigt der Rundweg ab und prüft mein Stehvermögen auf stellenweise "kaputtem" Trail. Den Wiesengrund zu durchqueren ist noch einfach, den Beginn der Pfadspur im Waldrand zu entdecken schon etwas heikler. Windbruch verlegt mir alsbald den Weg, zwingt zu Ausweichen und ständigem Orientieren. Über einen Buckel empor, dann weitere 300 Meter und einen verwachsenen Trampelpfad später auf einen geschotterten Waldweg einbiegen. In Höhe Windbruch wurde ich überholt. Von einem jüngeren Läufer, der wie aus dem Boden gewachsen auftauchte. Vermutlich erquickte er sich am Wasserdepot, das mir Ines ersparte, ruhte sich dort eine Weile aus, um nun mit frischen Kräften an mir vorbeizuziehen. Ehrgeiz ihm Paroli zu bieten darf (und will) ich mir nicht leisten. Nur im langsamen Gleichmaß meiner Schritte erhalte ich mir die Chance auch die verbleibenden 23 Kilometer ohne Gehpause zu überstehen. Und einzig das habe ich mir neben "ankommen" zum Ziel gesetzt.

Die Strecke "Rund um Detmold" veräppelt mich. Erst bergauf, dann im rechten Winkel auf eine Straße abbiegen und kurz darauf zurück in den Wald, exakt in Gegenrichtung ... Ein etwa 400 x 200 Meter großes Stück Wald rahme ich auf diese Weise mit meinen Schritten ein. Ohne die Trackdarstellung auf der Uhr, samt kurzeitigem Umschalten von der Auflösung "100 m" zu "500 m", wäre mir die "Waldumzingelung" vermutlich gar nicht aufgefallen. Das Vergackeiern erreicht zwei Minuten später sogar nervige Dimensionen: Ich habe die Wahl zwischen geradeaus und geradeaus. Wobei das alternative Geradeaus einen kurzen Schlenker nach rechts hinter eine Buschreihe voraussetzt. Ich bleibe zur Orientierung kurz stehen, weil ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht weiß, dass die Alternative auch geradeaus, also parallel zum anderen Geradeaus, weiterführt. Alles klar? - GPS arbeitet unseligerweise mit mehr Präzision als mir in diesem Fall guttut. Vom leicht in der Richtung abweichenden Pfeil veranlasst entscheide ich mich für den Schlenker und finde mich hinter den Büschen auf einem von Pferdehufen durchgeackerten Reitweg wieder. Fluchen (unhörbar, allenfalls leise, um die Tierwelt nicht zu stören) lässt Dampf ab und hilft mein Stolpern zwischen Erdschollen und sandigen Furchen, wenn schon nicht an Leib, dann wenigstens an der Seele, unbeschadet zu überstehen. 200 schweißtreibende Meter später registriere ich kopfschüttelnd die Wiedervereinigung der alternativen Wege.

Vereinzelte Fachwerkhäuser säumen mit großem Abstand die Route. Was Menschen wohl dereinst veranlasste in solcher Einsiedelei ihre Heimstatt zu errichten? Waren es Waldarbeiter? Bauern? Broterwerb muss das Motiv gewesen sein zu einer Zeit, da die Unsitte Zweit- und Drittdomizile ins "Grüne" zu stellen allenfalls auf wenige Betuchte und Adlige - häufig in Personalunion - beschränkt war. Zurück auf Asphalt und sanft bergan und alsbald - gleichermaßen überrascht und erfreut - einmal mehr in Ines Arme. Sie hat sich von Uwe zu dieser Stelle führen lassen. Uwe, der mir dann auch Trinkbares aus seinem Fundus anbietet. Die Sonne hat mittlerweile ihren mittäglichen Höchststand erreicht. Zu deutlich über 20°C Lufttemperatur gesellt sich zunehmend Schwüle. Vorzeiten schon wurde regelmäßiges Schweißwischen zu einer meiner Hauptbeschäftigungen. Ich habe den Wasserbedarf eindeutig unterschätzt. Hätte Uwe sich nicht der Versorgung des Laufs angenommen, müsste Ines demnächst eine "Wasserquelle" anfahren ...

Die Aussicht den von Wiesen bedeckten, ausladenden Hügel erstürmen zu müssen entlockt mir unwillkürlich ein Stöhnen. Der Weg sieht zumindest steil aus, ob er es ist, wird noch verfügbare Puste unterwegs entscheiden ... Steilheit ist keine Konstante, sie wächst mit einsetzender Ermüdung. Weit voraus, kurz unterhalb der Hügelkuppe schlendern meine vormaligen Mitkämpfer. "Schlendern" wähle ich als Ausdruck bewusst, weil ihrer Aufwärtsbewegung sichtbar die "Frische" fehlt. Steil oder nicht, ich bezwinge auch diesen Buckel mit Tippelschritten. Drüber hinweg und jenseits - zunächst unbegreiflich weit ausholend - wieder hinab. Am Ufer eines idyllisch in die Talsenke eingepassten Weihers ankommend offenbart sich mir der Grund für den scheinbar überflüssigen Umweg der Wanderroute ...

Kein Weg mehr erkennbar. Gras, Brennnesseln, mit Dornen gespickte Ranken und anderes Grün bilden eine brusthohe Wehr. Die von Vorausläufern hinterlassenen Spuren, untermauert von der klaren Ansage des Tracks auf der Uhr lassen mich trotzdem "unerschrocken" voran schreiten. Voran und aufwärts, etwa 100 Meter bedrängt von der Flora des Planeten. Ich appelliere an mein Schicksal, es bei der Flora zu belassen und mir den winzigen, Verderben in sich tragenden Vertreter der Fauna - die gemeine Zecke - vom Leib zu halten ... Als ich aufatmend eine Straße betrete, bleibe ich erst einmal stehen und untersuche panisch freie wie bedeckte Körperpartien auf Krabbeltiere. Dass ich nicht fündig werde, beruhigt mich nur halbwegs. An Udo gibt es zu viel Oberfläche, die er "bauartbedingt" nicht einsehen kann!

Vorbei an der Warteschlange von Pkw, vorwiegend mit Anhänger. Erst unmittelbar vorm Tor der Deponie Hellsiek begreife ich das geduldige Ausharren. Die Autolenker wollen irgendwelchen Abfall loswerden. Mit einiger Verzögerung bahnt sich die Erkenntnis ihren Weg dem Außenzaun einer ehemaligen Mülldeponie zu folgen. Eine von Deponiegas befeuerte Anlage (eine ähnliche erblickte ich vor ein paar Wochen bei einem Lauf in meiner Heimat) öffnet mir endgültig die Augen. Und fauliger Gestank auf etwa fünf Metern Wegstrecke unterstützt das Verstehen über meine Nase. Erst jetzt bemerke ich jenseits des Zaunes den flachen, offenbar mit Kunststoffbahnen abgedeckten Hügel. Ein Areal von der Größe mehrerer Fußballfelder, das zusätzlich mit Solarpaneelen quasi "überdacht" wurde. Wow! Das nenne ich so recht aus der Not eine Tugend machen! Die Deponie war ihr Sündenfall, mit der Solarstromgewinnung tut die Region Buße! Der Techniker in mir rätselt allerdings einige Zeit, wie es möglich war das Untergestell der Paneele standfest in einem gährenden, zig Meter dicken/tiefen Haufen Unrat zu verankern.

Ein Weiler verlegt mir den Weg. Genauer gesagt ein großer, alter Hof. Und der Track fordert mich auf, mitten durch den Hof vom Hof zu traben. Darf ich das? Soll ich das? Oder doch lieber um die Fachwerkgebäude herum? Ich traue mich. Offenbar ist der Hof vom Hof doch mehr Straße als Hof vom Hof. Ein aus Heuballen modelliertes Hochzeitspaar grüßt mich vom Straßenrand, dann liegen die paar Anwesen des Dörfchens fast schon wieder hinter mir.

Der Feldweg mündet in eine Straße. Straße am Ortsrand mit Steigung, die mich alsbald ans Limit bringt. Und nicht nur mich, meine vormaligen drei Begleiter gehen. Ich "schleiche mich an", mein Alles-laufen-Gelübde noch immer nicht brechend. Schließlich ziehe ich im Zeitlupentempo vorbei, wortlos. Nicht aus Missachtung, mir fehlt zum Sprechen schlicht die Puste ... "Oben" angekommen, mitten im Ort, wende ich mich nach rechts. Nach wenigen Metern erfasst der vorauseilende Blick den Parkplatz des angekündigten Supermarkts und dort meine Fantruppe: Ines und Roxi. Auch Uwe hat hier Position bezogen, weswegen ich eigene Wasserflaschen verschmähe und ich mich erneut aus seinem Vorrat bediene.

Fünf, sechs (waren es mehr?) Minuten verstreichen bis wir gemeinsam wieder aufbrechen. Dennoch bin ich gleich wieder solo unterwegs, weil die Straße ansteigt und ich mir auch diese Rampe im Tippeltrab zu nehmen befehle ... Fünf Minuten später: Zurück im Wald, Geläuf erst mittelprächtig, dann kurz Pfadcharakter annehmend, schlussendlich ein brauchbarer Forstweg, alles bergauf. Mitten im Wald schließlich scheint der Zenit überschritten und ich freue mich darauf nun zügig "Strecke machen" zu können. Zu früh gefreut! Track und Wegweiser schicken mich in den Wald. Vor mir erstreckt sich ein Trail, dessen wurzel- und steinbewehrter Anblick meine Alarmglocken schrillen lässt. Vorsichtig voran, Füße bewusst heben, bis ich auf einer Art Lichtung einem Mann begegne. Der hat hier Ausrüstung (?) auf einem Haufen zusammen getragen, geht zudem einer mir unverständlichen Beschäftigung nach.* Mein Interesse, das zur Gänze kreuz und quer liegenden, vom Sturm gefällten Bäumen gilt, erregt er trotzdem nicht. Wo bitte geht’s hier weiter? Der vom Track vorgezeichnete Pfad existiert nicht mehr ... "Suchen Sie die Anderen?" spricht mich der Rätselhafte an. Kurz angebunden antworte ich nur: "Nein, ich suche den Weg!" und bin auch schon vorbei.

*) Später erfahre ich, dass es sich bei dem älteren Herrn um einen Wissenschaftler handeln sollte, der den Ort einer genaueren Untersuchung unterzog. Dort soll es große Felsen - die so genannten "Opfersteine" - geben, um die sich Mythen und Sagen ranken. Zu meiner Schande muss ich gestehen, mich nicht mal konkret an die Felsen erinnern zu können. So sehr war ich zu diesem Zeitpunkt mit dem Problem der Wegfindung befasst.

Kilometer 44: Mehrere Bäume überstiegen, einmal sogar von einem meterdicken Stamm in die Tiefe gesprungen, jetzt liegt die Lichtung mit Windbruch hinter mir und ich setze wieder Laufschritte. Ich bin müde. Sehr müde. Trotzdem verzichte ich noch immer auf Energiegel. Und dabei wird es auch auf dem Rest der Strecke bleiben - mir selbst so versprochen. Forstwege, kaum Höhenunterschiede, es geht langsam voran, aber es geht voran. Kilometer 46: Abrupt endet der Wald und endlich trabe ich zwischen Lavendelfeldern, von denen ich schon hörte. Leider stehen die Pflanzen noch nicht in voller Blüte, so dass ich mich weder farblich noch schnuppernd verwöhnen lassen kann. Ich bescheide mich mit Bildern und tippele bergab.

Ist das nicht Ines dort unten am Feldrand? Die Silhouette erinnert mich aus der Ferne an meine Frau. Haltung und heutige Bekleidung kommen hin. Ich winke, aber Ines winkt nicht zurück. Ich laufe ein Stück, winke abermals. Sie reagiert nicht, blickt vermutlich in eine andere Richtung oder wird von unserem Vierbeiner Roxi abgelenkt. Später im Auto, nach dem Finish, auf der Fahrt ins Hotel lachen wir herzhaft über meinen Irrtum: Als ich mit etwa 100 Meter Abstand an meiner vermeintlichen, aber starren "Ehefrau" vorbei jogge, identifiziere ich die Gestalt als (wahrscheinliche) Vogelscheuche.

Immer weiter hinab, unten angekommen über einen Bach und dann ist ein Irrtum ausgeschlossen: Das strahlende Lächeln meiner Frau würde ich selbst aus der um die Erde kreisenden Raumstation spähend mit nichts anderem verwechseln. Sie steht mal wieder genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Ich darf jammern und mir so ein wenig Erleichterung verschaffen. Ich trinke noch ein paar Schlucke aus der angebotenen Flasche und dann verabreden wir uns fürs Ziel: Noch 10 Kilometer ...

... und die werden richtig hart werden, da gebe ich mich keinerlei Illusionen hin. Erstens bin ich schon grenzwertig erschöpft und zweitens stehen noch reichlich Teuto-Höhenmeter an. Ich kämpfe mich aufwärts, begleitet von verständnislosen Blicken einiger Schafe. Sie suchen den Schatten unter der Ladefläche eines Anhängers und scheinen sich zuzuraunen: Versteht ihr, wieso Menschen sich so schinden? Einen halben Kilometer weiter opfere ich nochmal Höhe, bevor ich mich kurzatmig ... und schwitzend ... und stetig ... und steil ... und anhaltend lange die Hänge des Teutoburger Waldes hinauf quäle. Drei Atempausen gönne ich mir, bis ich von mir selbst genervt entscheide: Jetzt in einem Zug empor und nicht mehr stehenbleiben!

Ich gewinne eine Straße aber noch nicht den höchsten Punkt. Am Straßenrand weiter aufwärts bis fast vors Ortschild von "Holzhausen-Externsteine, Stadt Horn-Bad Meinberg, Kreis Lippe". Den Ort zu durchqueren verlangt die Markierung "R" des Residenzweges. Dass ich den Lauf an dieser Stelle in entgegengesetzter Richtung fortsetze, dazu fordert mich dagegen die Trackdarstellung auf. Jetzt endlich fällt der Groschen: "Rund um Detmold" deckt sich nur überwiegend aber längst nicht allerorten mit dem "Residenzweg". Dies von Beginn an zu wissen hätte mir da und dort Verwirrung erspart ... Entschlossen aber mit einem Rest Unsicherheit im Gepäck wende ich mich vom Dorf ab und dem nicht markierten Weg zu. Der gehört eher zur Kategorie Holper-Stolper-Pisten. Dafür bleibt er annähernd auf gleicher Höhe, hält mich folglich nur unwesentlich auf. Noch drei Kilometer ...

Kann man sich an den Anblick toter Bäume gewöhnen? Schauen hier ansässige Menschen noch hin und erschrecken wie ich? Durch einen grausigen Vorhang dürrer, nadelfreier Äste reicht der Blick bis ins tiefer liegende Land. Karrt sie alle hierher, die Leugner und Verschwörungstheoretiker. Führt ihnen diese vom Klimawandel (= vom Menschen) verursachte Katastrophe vor Augen ... Ende des Schauderns, zurück im Laubwald, der zwar auch Durst leidet, daran aber noch nicht verendete. Ich gebe Höhe auf, strebe mit zum Platzen angespannten Oberschenkeln dem Tal entgegen. Dem Tal und dem Ort Berleburg, wo ich von meiner Frau im Ziel erwartet werde. Noch zwei Kilometer ...

Aber nicht nur Ines erwartet mich, davor auch noch ein "böses Ende". Einer Bemerkung Ulis anlässlich der Einweisung entnahm ich, dass kurz vorm Parkplatz noch ein Umweg über die "Adlerwarte" und damit ein ganz und gar überflüssiger Anstieg droht. Der wird schon nicht so schlimm werden denke ich seitdem; denke ich auch hier talwärts tippelnd, denke ich am tiefsten Punkt angekommen, zwischen ersten Häusern immer noch. Umso härter trifft mich die Realität, eingeleitet von einer steil aufwärts führenden Treppe. Darüber ein ebensolcher Steig. Ich kämpfe mich hoch zur "Adlerwarte", der ich mich unwillkürlich zuwende. Natürlich getrieben vom Wunsch, dass nun endlich Schluss sein möge mit der Kletterpartie. Der Track lacht mich aus: Falsche Richtung, umkehren! Kennt ihr die Eiger Nordwand wie ich aus Filmen? Ungefähr so steil dürft ihr euch den allerletzten (gottlob wenigstens asphaltierten) Buckel vorstellen. Okay, nur etwa 50 Meter Strecke, die mich aber beinahe zur Strecke bringen.

Was für ein großes, wunderhübsches, kuperfarbenes Exemplar! und ich bin dieser Blindschleiche zu großem Dank verpflichtet! Wände sie sich nicht zu meinen Füßen über den Asphalt, ich hätte mir die kleine, in lebensrettender Absicht eingelegte Pause versagt. Stöckchen oder dergleichen, womit ich das prächtige Tier traktieren und zur Seite ins Gras treiben könnte, sehe ich leider nicht. Es genügt aber schon meine pure Anwesenheit, vielleicht die Erschütterung des Bodens, um hektisches Schlängeln auszulösen. Mit blankem Entsetzen verfolge ich wie sich das Tier auf einen Gitterrost zubewegt und schließlich - absichtlich oder verunfallend - durch die Stege rutscht. Die Gitterabdeckung verschließt eine Wasserrinne quer zur Fahrbahn. So kann’s gehen: Auf tragische Weise vom Lebensretter zum Totengräber werden ... Ich bin ehrlich erschüttert, denn die Abdeckung anzuheben scheint mir aussichtslos. Und aus der Tiefe ans Licht zu klettern wird das Tier alleine nicht schaffen. Doch halt! Das Wasser in der Rinne muss ja seitlich ablaufen! Also gibt es dort eine Öffnung und die wird die Blindschleiche sicher finden. Nachdenklich tippele ich weiter hinan, noch immer mit dem Schicksal des wunderschönen Tieres befasst: Immerhin kann sie dort unten kein Fahrzeug mehr platt walzen. Und genau das wollte ich erreichen.

Endlich abwärts, noch fünfhundert Meter. Vorbei an Einfamilienhäusern, vorbei auch an einer Baustelle. Auch die eine Auswirkung des Klimawandels: Da investiert gerade jemand ein kleines Vermögen in den Bau eines Pools von beachtlicher Größe. Zugleich lässt er das riesige Grundstück rundum landschaftsarchitektonisch "umstylen". Weiter abwärts zwischen hübschen, in den Hang gebauten Anwesen, schließlich eine Spitzkehre und endlich auf den Parkplatz zu. Gerne ersparte ich meinen Hax’n die Schmerzen schneller Abwärtsschritte. Nur sitzt mir just auf diesen letzten Metern ein Verfolger im Nacken. Wie alt und abgeklärt muss ich werden, um solche sinnfreien Manöver zu unterlassen? Wie dem auch sei: Ich setze alles daran nicht überholt zu werden. Wetze die finalen vielleicht 300 Meter in höherer Pace hinab als irgendwo und irgendwann sonst auf der Runde. Und tatsächlich schaffe ich es vor meinem "Häscher" zur offiziellen Uhr im Rückfenster von Ulis Auto. Ein Foto von der Zeitanzeige ... unscharf, hinter Lichtreflexen überdies unkenntlich. Also noch eins und das passt. Unterm Beifall bereits anwesender Finisher und vom strahlenden Lächeln meiner Frau belohnt beende ich "Rund um Detmold". Meine Uhr registriert 8:40:18 Stunden für 58,28 Kilometer und 1.110 Höhenmeter.

 

Fazit zur Veranstaltung

Eine mit viel Natur und schönen Ausblicken gesegnete Runde wartet auf den Teilnehmer von "Rund um Detmold". Wegen seiner Länge (ca. 58 km), teilweise fordernden Trails und einer beachtlichen Anzahl von Höhenmetern (ca. 1.100) sollte kein Läufer diesen Ultralauf unterschätzen.

Die Runde folgt nur überwiegend den Richtungshinweisen des so genannten "Residenzweges", weicht von diesem jedoch an vielen Stellen ab. Daher sollten sich Läufer ausschließlich am bereitgestellten Track orientieren, um Verwirrung und Verlaufen vorzubeugen.

Offiziell wurde keine Verpflegung angeboten. Ausnahme: Ein Wasserdepot bei Kilometer 32. Es besteht bei Kilometer 41 die Möglichkeit Getränke in einem Supermarkt zu kaufen. Bei warmem Wetter wird man kaum mit diesen Versorgungsmöglichkeiten einschließlich mitgeführtem Wasservorrat auskommen. Meine Empfehlung: Sich von einem Begleiter unterwegs mit Getränken versorgen lassen.

Fazit: Gerne wieder, nur leider sehr weit weg von meinem Zuhause.

 


Bildnachweis: Alle Fotos Ines und Udo Pitsch. Ausnahme: Bild 06 stammt aus der Bildsammlung "Rund um Detmold"

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