14. Mai 2022

Es wird schon nix passieren  -  Dämmermarathon Mannheim

Mein Vorhaben ist anspruchsvoll aber nicht konkret: Ich möchte einen für meine Verhältnisse "schnellen" Marathon laufen. So schnell, dass ich am Ende (sehr) erschöpft sein werde, gemäß der unter "Längstläufern" kursierenden Weisheit: "Tempo tötet!". Dabei geht es mir nicht um Zeit und Platzierung, sondern um den Trainingseffekt. Der Dämmermarathon Mannheim füllt die "Lücke" zwischen zwei Ultras (63 und 73 km, jeweils mit reichlich Höhenmetern), die mich ihrerseits aufbauen sollen. Gemessen an profilierten Ultrastrecken wird ein flacher Marathon zur "Kurzstrecke". Klingt überheblich, ist aber nicht so gemeint und enthält trainingstaktisch erheblich mehr als nur das sprichwörtliche Körnchen Wahrheit. Ein Marathon wird mich mit Blick auf mein Ultra-Saisonziel nur voranbringen, wenn ich ihn mir mit "Tempohärte" zumute.

Um ehrlich zu sein: Die Sache mit der "Trainingseffizienz" habe ich vor der Anmeldung nur kurz "angedacht", verschüttetes Wissen aufgefrischt, dann rasch wieder zu den Akten gelegt. Die Zusammenhänge sind evident und wozu sollte ich mir das berühmte "Loch ins Knie bohren und schon gedanklich über Tage vorab die Schraube zur Schmerzregulierung weiter ins Gelenk reindrehen?" Ein einfacherer Weg, um mir die Vorfreude zu verderben, ist schwerlich vorstellbar. Es reicht, wenn mir der hochintensive Lauf dann real, bei der Umsetzung des Trainingszwecks, zusetzt. Unter anderem deshalb verzichte ich auf eine Tempovorgabe. "Was geht" an diesem Abend, wird der innere Tempomat intuitiv erfassen und mich am Limit laufen lassen. Wenn ich mich in dieser Hinsicht richtig einschätze, dann reicht schon die feste Absicht "Voll auspowern!". Den Rest erledigt mein Unterbewusstsein, es übernimmt die Regie und wird mir Beine machen ...

Ganz offensichtlich trifft diese Selbsteinschätzung voll ins Schwarze. Ein paar Kilometer liegen bereits hinter mir und Mal um Mal begegne ich den auf meiner GPS-Uhr abgelesenen Tempomesswerten mit Erstaunen. Meldet sie doch Werte um die 6 Minuten pro Kilometer, mal knapp drunter, dann wieder drüber. Das Misstrauen schwindet rasch, da mein Laufgefühl die Pace-Werte mit einer in letzter Zeit höchst selten verspürten Leichtigkeit untermauert.

So selbstvergessen brüte ich über dieser erfreulichen Wahrnehmung, dass ich vom Geschehen um mich her kaum Notiz nehme. Was aber zu verschmerzen ist, denn ich laufe durch Mannheim. Und auf einer Mannheimer Marathonstrecke gibt es ohnehin (fast) nichts Bemerkenswertes zu sehen. Wer noch nie hier war, dem verspricht die Umrundung des hübschen, historischen Wasserturms mit der Parkanlage drum herum zu Beginn einen "reizenden Laufabend". Das war's dann auch schon mit hübsch, seither besichtige ich öde Straßenfluchten, mehrstöckige Häuserzeilen stadtauswärts. Das wird einstweilen so weitergehen, behauptet zumindest meine Erinnerung, befüllt mit Bildern von bisher dreimal Dämmermarathon. Wenn ich Pech habe, droht diesmal sogar optische Tristesse bis zum Finish. Aus Kostengründen kappte der Veranstalter den Streckenteil in der Schwesterstadt Ludwigshafen, drüben auf der anderen Rheinseite. Aus einer wurden zwei, zum jeweiligen Ende hin unterschiedliche Runden. Damit entfällt vor allem der Unterhaltungswert der Überquerung von Hafen und Fluss, der Ausblick von den Rheinbrücken.

Meine Geringschätzung der Mannheimer Strecke wundert nach diesen einleitenden Worten vermutlich niemanden mehr. Anders als vorhin im Startblock Judith und Andreas, die mit dem Lauf im Gegensatz zu mir offenbar vor allem schöne Erinnerungen verknüpfen. Die beiden treffe ich in letzter Zeit häufiger, zuletzt vor zwei Wochen beim Marathon am Lech. Heute sind sie in Farben und Auftrag von marathon4you unterwegs und werden auf dem Portal einen Laufbericht abliefern. Ich ließ die beiden kurz nach dem Start hinter mir, weil meine Beine (oder mein rastloses Unterbewusstsein?) das so wollten. Natürlich hoffe ich Judith und Andreas an diesem Abend nicht wiedersehen zu müssen, weil das bedeutete, dass meine heimlichen Befürchtungen einträfen. So flott wie heute ging ich seit langer Zeit keinen Marathon mehr an. Im Moment erstaunlich leichtfüßig trabend fehlt mir dennoch die feste Überzeugung dieses Tempo auch nur annähernd in die Spätphase hinüber retten zu können ...

Ich überspringe ein paar Kilometer. Meine Erinnerung behält leider Recht. Ödnis pur links und rechts des Weges. In dieser Hinsicht aussagekräftige Bilder im Text ersetzen überflüssige Sätze. Übrigens muss ich mich heute hinsichtlich Entfernung und aktueller Laufzeit auf ungefähre Angaben verlassen. Hänge nicht dem Irrglauben an, dass du nach mehreren hundert Marathon und Ultrastarts nichts Elementares mehr falsch machen oder vergessen kannst! Auch nicht bei Handgriffen, die einem als Vielläufer in Fleisch und Blut übergangen sind oder sein sollten. Zum ersten Mal als Wettkampfläufer überhaupt vergaß ich am Start meine Uhr abzudrücken. Als es mir nach einigen Minuten auffiel, sann ich auf Abhilfe: Wann oder wo lässt sich das Starten der Uhr mit größtmöglichem Nutzen nachholen? Es wollte sich jedoch keine zündende Idee einstellen, vermutlich weil es für diese Denksportaufgabe keine Lösung gibt. Nach bereits 1,8 absolvierten Kilometern - geeicht beim Passieren der nächsten Kilometertafel - holte ich das Versäumte nach. Wann immer ich die Laufzeit ablese, muss ich ihr demnach grob kopfgerechnete 11 Minuten hinzufügen ...

Die Rechnerei geht mir schon nach zwei, drei Kilometern auf den Keks. Schluss damit. Fortan beobachte ich die Entwicklung meiner Leistung auf dem GPS-Tacho. Das Schwinden der Reststrecke feiere ich jeweils mit gedanklichem Abhaken, wenn mal wieder eine Kilometertafel hinterrücks auswandert. Inzwischen habe ich die Stadt hinter mir gelassen. Um genau zu sein: Sie versteckt sich links von mir. Der Stadtteil Seckenheim liegt unsichtbar hinter Büschen, einer Straße und begrünten Schallschutzanlagen. Rechts erstrecken sich Felder, begrenzt von Büschen in einiger Entfernung. Die Abendsonne müht sich angesichts der weitgehend reizfreien Umgebung mit intensiven Farben Wiedergutmachung zu leisten. Okay ich geb's zu, der Ausblick in Laufrichtung ist auf seine Weise schon irgendwie einmalig. Den Hintergrund bilden vier parallele, dicht nebeneinander angeordnete Starkstromtrassen. Und im Vordergrund schwingen etliche Läuferbeine, die den im Himmel hängenden Stromdrähten folgen. Zum vierten Mal seit 2008 lasse ich dieses Bild auf mich wirken und noch immer weiß ich keine andere Stelle zu bezeichnen, an der mir Ähnliches begegnet wäre.

Fortlaufend checke ich meine Geschwindigkeit. Nicht selten bleibe ich unter der Marke sechs Minuten pro Kilometer, was - erstaunlicherweise - ohne Widerhall wirklicher Be- oder gar Überlastung bleibt. Eine Weile empfinde ich die Leichtigkeit mit der mein Körper Ausdauer bereitstellt als Überraschung. In diesem Jahr war ich stets langsamer unterwegs, meist sogar erheblich. Indem ich die heutigen Umstände wieder und wieder "durchdekliniere" verwandelt sich Überraschung in Verstehen und damit auch Hoffen. Als Grundvoraussetzung für aktuell "beschwingteres" Laufen betrachte ich ausgiebige Regeneration, die ich meinem Körper in den sechs Tagen seit dem 63 km-Ultra gönnte. Darüber hinaus laufe ich am Abend!! Abends zeigte sich mein Biorhythmus von jeher für Ausdauerleistungen besser aufgestellt als tagsüber. Zeit meines Läuferlebens konnte ich darauf wetten, dass mich ein in den frühen Abend verlegter Trainingslauf mit Erfolg und gutem Gefühl belohnen würde.

Dann ist da noch die Sache mit der "Pille": Seit meinem Infarkt bremst mich die verordnete Medikation. Ich nehme einmal am Tag abends einen Betablocker, der mein Herz vor Stressoren schützen soll. Was viele wissen, durfte ich seitdem an mir erleben: Betablocker bremsen die Herzfrequenz und senken den Blutdruck. Das ist für einen Laufsportler ungefähr so zielführend wie seine Beine straff mit Gummibändern zu umwickeln ... Und besagte "Pille" nahm ich zuletzt gestern ein, vor mehr als 24 Stunden. Ihre Wirkung dürfte weitgehend "aufgebraucht" sein und genau das spüre ich in Form leichterer Beine bei höherem Tempo in diesen Minuten. - Mein nächster Arzttermin steht und einen meiner einleitenden Sätze habe ich auch schon formuliert: Die "Pille" macht mein Läuferleben vielleicht sicherer, aber sie erschwert es in einer Weise, die ich nicht länger hinnehmen möchte.

Die Stromdrahtverfolgungspassage ist beendet. Nach Linksknick der Route bleiben zur optischen Unterhaltung lediglich noch grüne Felder rechts und der vermutete Mannheimer Stadtteil Seckenheim hinter begrüntem Bollwerk links. Immer wieder wetzen Läufer vorbei. Vergleichsweise in einem Affenzahn, von dem ich mich zuweilen mitreißen lasse. Dass ich die "Fremdbeschleunigung" wahrnehme und nichts dagegen unternehme, ist der oben erwähnten Hoffnung geschuldet. Ich fühle mich körperlich leistungsfähiger als irgendwann in diesem Jahr. Vielleicht schaffe ich es ja doch das selbstmörderische Tempo bis weit in Richtung Finish zu konservieren!? - Das ändert aber nichts am Kopfschütteln, dass so viele Läufer gezwungen sind mich lahme Schnecke zu überholen. Und nicht nur mich: Die meisten der später in der Ergebnisliste aufgelisteten 2.159 Halbmarathonis und -thonas müssen einen Großteil von uns 450 Marathonläufern im Dauerslalom umkurven. Die "Halben" mussten uns mit ein paar Minuten Startverzögerung hinterher rennen ... Warum das so geregelt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis; angesichts sich häufender Warnrufe entsprechend hurtig vorbei preschender "Halber", hin und wieder auch sich gefahrvoll zuspitzender Überholmanöver aber ganz entschieden auch meinem Verständnis. Wie kann man so einen Quatsch planen?

Nach Richtungsumkehr blicke ich gegen die tiefstehende Sonne. Zu Beginn allerdings nur ausnahmsweise, weil die Route jetzt die Seckenheimer Hauptstraße in ihr ganzen Länge erschließt. Und in Seckenheim steppt der Bär. Die Erinnerung an drei vorausgegangene "Besichtigungen" des Stadteils bei warmem Wetter erwacht schon auf den ersten von Applaus und grellem Juchhu begleiteten Metern. An beiden Straßenrändern hat man sich zum Feiern hinter Bierbänken und auf jeder Art von Sitzgelegenheit niedergelassen. Tische bersten von Getränken, da und dort wird gegessen. Überall wollen Kinder abklatschen. An einer Stelle hat man sogar Buden zur Bewirtung und für ein Dorffest (?) aufgestellt. Tatsächlich mehr Auftrieb und Remmidemmi, als die anderen Male zuvor? Oder kommt mir das nur so vor? Überschätze ich den Lärmpegel, das Geplapper, Rufen, Anfeuern, Johlen aus zahllosen Kehlen, in ihrem Versuch das Wummern miteinander wetteifernder Musikanlagen zu übertönen? Und wurzelt mein Eindruck - richtig oder falsch - in zwei nervigen Jahren Pandemie? Die entweder die Menschen überbordend in Zahl und Verhalten zusammenströmen ließ oder meine von langer Publikumsabstinenz entwöhnte Wahrnehmung verzerrt?

Nicht selten wird "Udo" aus heiseren Kehlen mit bisweilen schon vom Alkohol gelockerter Zunge angefeuert, was er den drei auf seine Startnummer gedruckten Buchstaben verdankt. Er nimmt es ausdruckslos hin, wäre auch überfordert jedem klatschenden Händepaar und vielfachem Zuspruch irgendwie danken zu wollen. Der Menschenauflauf gerinnt alsbald zur Frage: Versammelten sich all diese Menschen hier, um uns Läufern eine leistungsfördernde Kulisse zu bieten, oder rennen wir Läufer durch Seckenheimer Gassen, damit die Leute einen Grund zum Feiern haben? Denn tatsächlich ignorieren viele das Wettkampfgeschehen, sitzen/stehen palavernd, mit der Flasche in der Hand herum oder verlustieren sich auf andere Weise. Vermutlich ist es wie immer in der Menschheitsgeschichte: Geboten werden Brot und Spiele!

Er gehört zu denen, die man schon von weitem an ihrer Silhouette und der Art zu laufen erkennt. Für mich gehört er überdies zum Kreise jener, deren Konterfei mir seit Langem vertraut ist, deren Namen ich aber nie parat habe. Das macht aber nichts, es ist deswegen nicht weniger angenehm ihn hier im Feld der Läufer zu treffen. Einige Minuten lang mache ich sein schütteres, zum Pferdeschwanz verknotetes, schon leicht ergrautes Haupthaar vor mir aus, hole ihn nur langsam ein. Auf gleicher Höhe neben ihm trabend beginnt nach meinem einleitenden "Hallo!" und seinem Erkennen ein typisches Läufergespräch. Erst zum zweiten Mal in diesem Jahr ist er unterwegs, hat aber schon einen 6h-Lauf hinter sich. Und, dass es für ihn heute nicht so gut läuft, der Wärme wegen. Worauf ich natürlich entgegne, wie sehr mir gerade diese Temperaturen entgegenkommen. Ich hätte mich vermutlich noch wortreich über meine Dankbarkeit verbreitet nach langen kalten, von eisigem Dauer-Ostwind durchwehten Wochen endlich mit fast "nix" am Körper laufen zu dürfen. Abends in der Dämmerung und dennoch schwitzen! Das Schwitzen zwingt uns allerdings an einer Verpflegungsstelle zu trinken. Und da ich das nach nur 12 km noch in der Bewegung zustande bringe, werden wir sogleich wieder getrennt.

Zurück zur Innenstadt auf identischer, langweiliger Route. Ich vertreibe mir die Zeit beim Versuch scharfe und ausdrucksvolle Fotos gegen die knapp überm Horizont stehende, gleißende Sonne zu schießen. Was mir nur mit mäßigem Erfolg gelingt, weil das grelle Gegenlicht meine kleine Digicam heillos überfordert. Kurz vor Kilometer 14 spaltet sich die Streckenführung wieder auf - Hoffnung auf mehr optischen "Thrill". Etwa einen Kilometer weiter konstatiere ich dann enttäuscht, dass der "Strolch" von Streckenplaner einen der vordem vorhandenen "schwachen Reize" endgültig ausmerzte: Dreimal zuvor liefen wir jenseits der Straßenbahntrasse unweit des Neckarufers. Heute alternativ auf wie folgt eingerahmter Route: Rechts erhöht und den Blick begrenzend die Bahntrasse. Links gibt es ... nichts zu sehen. Nichts aufgedröselt: Erst Häuser eines Wohnviertels, gefolgt von der grünen, für Blicke weitgehend undurchdringlichen Busch- und Blätterwand eines Parks. So zieht der für eine Weile vor mir aufragende Spargel des Fernsehturms meine komplette Fotowut auf sich. Bringt es sogar zustande, dass ich meinen flotten Lauf für ein paar Sekunden unterbreche, um in fortgeschrittener Dämmerung mindestens ein verwacklungsfreies Bild einzufangen.

Zurück in der Innenstadt und im rechten Winkel vorbei am Zielbereich. Kurz darauf besichtigen wir einen Abschnitt der Mannheimer Fußgängerzone. Füße traben, wo sonst Straßenbahnen verkehren, die man diesem Abend offensichtlich aussperrte. Abgelaufen wird ein Straßenviereck, gesäumt von Geschäften und gänzlich ohne Flair. Vom alten Mannheim, das es einst gegeben haben muss, blieb nach 150 Luftangriffen im zweiten Weltkrieg so gut wie nichts erhalten. Neubauten wurden zweckorientiert hochgezogen, wie in vielen anderen deutschen Städten auch. Nach der zweiten Richtungsänderung streben wir Richtung Wasserturm, der nach ein paar Minuten links voraus ins Bild rückt - Runde zwei beginnt.

Runde zwei beginnt und erst 20 Kilometer liegen hinter mir. Mangels echtem Interesse habe ich mich mit dem Kurs nur oberflächlich beschäftigt, darf also gespannt sein, wo die zweite Runde verlängert wird, um auf volle Distanz zu ergänzen. Bis nach Seckenheim und wieder zurück weichen die Runden nicht voneinander ab, so viel sei vorweg genommen.

Ich jogge zentrumsnah durch autofreie und weitgehend menschenleere Straßen. Samstagabend gegen 21 Uhr nicht verwunderlich, denn Geschäfte oder Lokale gibt es in diesem Teil der Stadt kaum. Weitgehend "geleert" präsentiert sich auch die Laufstrecke, seit die "Halben" in Höhe Wasserturm zum Ziel hin ausscherten. So weit das Auge reicht, also oft mehrere hundert Meter voraus, nur vereinzelt Läufer. Der lockere und beschwerdefreie Laufstil, der mir heute länger als sonst vergönnt war, ist Vergangenheit. Wie stets, wenn Abnutzung sich bemerkbar macht, zieht es im Kreuz und drückt diffus im linken Gesäßmuskel. Noch bleiben die Beschwerden ohne Einfluss auf den Bewegungsablauf und aufs Tempo, das ich noch immer fortlaufend kontrolliere. Auf der Skala von 1 bis 10 für "Kämpfenmüssen" bin ich unterdessen vielleicht bei "Härtegrad 5" angekommen, Tendenz steigend.

 

Fotografieren wäre bei fortschreitender Dämmerung sinnlos. Also bin ich abgesehen von Tempohalten und gelegentlich Trinken beschäftigungslos. Zum Trinken bleibe ich unterdessen kurz stehen, weil meine Konzentration nachließ und ich mich nicht mit klebrigem Iso oder Cola einsauen will. Ich trinke vergleichsweise viel, manchmal zwei Becher, wenn der erste zu wenig Flüssigkeit enthielt. Trotz abendlicher Abkühlung wische ich mir regelmäßig den Schweiß von der Stirn. Ich verstehe das als Aufforderung die Trinkmenge nicht zu reduzieren.

 

Unter den Stromdrähten herrscht auf kurzen, von seitlichem Buschwerk begleiteten Abschnitten schon Dunkelheit. Und wenn ich Dunkelheit schreibe, dann weil ich Dunkelheit meine und nicht sehe wo meine Sohlen beim jeweils nächsten Schritt aufsetzen werden. Es gibt hier keine Straßen-/Streckenbeleuchtung. Grob geschätzte zwanzig bis dreißig Minuten hinter mir sind auch noch Läufer und Läuferinnen unterwegs. Wenn die hier ankommen, wird man die Hand nicht mehr vor Augen sehen. Wie soll das gehen? Nein, lege ich mich fest und grolle in Richtung Veranstalter: Das geht gar nicht! Beim Dämmermarathon in Mannheim monierte ich noch jedes Mal Sicherheitsrisiken. Anlässlich der Teilnahmen zuvor gab es in Höhe Ziel eine aus Gerüstteilen zusammengeschraubte Behelfsbrücke. Die war so schmal, dass sich vorm Lauf beidseits vor und auf der Treppe Trauben und Malströme von Menschen bildeten. Eine Panik, ausgelöst vielleicht durch einen stürzenden Passanten, und es wären Menschen tot getreten worden. Hat den Veranstalter nicht interessiert. Offenbar handelt man hier nach der Devise: Es wird schon nix passieren! In diesem Jahr wurde die Gerüstbrücke gottlob nicht aufgebaut, dafür schickt man Läufer über eine teilweise unbeleuchtete Strecke.

In Seckenheim ist es hell genug. Die Menschenansammlung von vor zwei Stunden hat sich ein wenig verlaufen. Vor allem Eltern mit kleineren Kindern dürften inzwischen heimgekehrt sein. Wer blieb feiert ab und das akustisch nachweisbar heftig. Verbale Unterstützung erreicht mich nun meist in lallender Form. Aus dem auf der Startnummer vermerkten "Udo" wird mangels Sehfähigkeit auch rasch mal ein "Uwe" ... Die wummernden Beats wummern weiter und werden damit sicher noch die halbe Nacht fortfahren, lange nachdem der letzte Läufer im Ziel mit seiner Medaille geehrt wurde. Sprichwörtlich "Augen zu und durch". Tatsächlich konzentriert und "Augen auf", um über keine Kante oder Vertiefung im Straßenbelag zu stolpern.

Seckenheim liegt zum zweiten Mal hinter mir. 22 Uhr vorbei, ich arbeite ein langes, schnurgerades Stück zweispurige Straße ab, bin auch hier für etwa eine Minute blind wie ein Maulwurf. Blind, da geblendet, von der kolossalen Fassade eines illuminierten Möbelhauses gegenüber. Blind, da es auch hier kein Licht am Straßenrand gibt. Aus stadtplanerisch-energetischer Sicht sinnstiftend: Hier gibt es nur Gewerbe, keine Anwohner. Aus Dämmermarathonlauf-planerischer Sicht dagegen geht das gar nicht! Ich kann nur hoffen in kein Loch einzufädeln oder auf irgendeinem Hindernis umzuknicken ...

Die Rechnung der Marathonplaner scheint aufzugehen, nichts unter meinen Füßen, das mich straucheln ließe. Bei Kilometer 34 ungefähr biege ich von der Ausfallstraße zum Weg zwischen nichts und nichts ab. Rechts rumpelt eine späte Straßenbahn vorbei. Oder war's in Runde eins und mein Schweizer-Käse-löchriges Gedächtnis verschiebt dieses unerhört spannende Ereignis in Runde zwei? Auf jeden Fall Dunkelheit, die allerdings hier, am Rand eines Wohnviertels, von Straßenlaternen "laufsicher" aufgehellt wird. 10 Minuten später sieht das dann ganz anders aus: Rechts noch immer der Gleiskörper, links Park, null Beleuchtung, wo Bewegung stattfinden soll dominiert schwarze, undurchdringliche Nacht. Da es mir gelang meine Pace weitgehend beizubehalten, überhole ich seit Seckenheim fortlaufend Kontrahenten, die sich überschätzten und einbrachen. Auch jetzt noch, mit dem Unterschied, den Schemen eines Läufers erst auf den letzten zwei Metern als wischenden Schattenriss wahrzunehmen. Mich folglich hüten muss in "schwingende Hufe" zu geraten und jemanden - den Vordermann oder mich oder uns beide - damit ins Trudeln zu bringen. Ungefähr an dieser Stelle frage ich mich, ob die Veranstalter wirklich so rigoros gleichgültig und leichtfertig "planten", wie es den Anschein hat!? Und die Frage stelle ich mir noch bevor der Radfahrer ohne Licht - was der nicht darf, womit eine Orga aber rechnen muss - auf Gegenkurs an mir vorbei huscht. Dem lichtlosen Radldeppen hätte ich nicht ausweichen können, obwohl ich in jedem verdammten Augenblick des Blindfluges auf Hindernisse gefasst bin.

Was tun? Weiter rechts laufen? Geht nicht, weil ich den Wegrand nicht sehe und womöglich über eine Begrenzung stolpere. Was bleibt ist mich dem gefährlich dummen Optimismus des Veranstalters anzuschließen: Es wird schon nix passieren!

Ich bin unfallfrei zurück in der hellen Innenstadt. Licht genug, um allen Fußangeln, wie etwa Straßenbahnschienen, sicher ausweichen zu können. Als ich am Zielbereich mit Kurs Fußgängerzone vorbei laufe, fehlen noch reichlich vier Kilometer zur vollen Marathondistanz. Und inzwischen pfeife ich - wie nicht anders zu erwarten - aus dem letzten Loch. Das schmerzhafte Ziehen aus dem Rücken in Gesäß und Beine hat sich verstärkt. Schwächelnde Ausdauer kostet mich Tempo, etwa 10 bis 15 Sekunden inzwischen pro Kilometer. Womit ich hochgerechnet aber immer noch in für mich fantastischer Zeit von maximal 4:25 Stunden finishen werde. Genauer kann ich es infolge Spätstarts meiner Uhr nicht beziffern, aber länger werde ich nicht brauchen (wenn ich das Ding nur mit Anstand zu Ende leide und nirgendwo verunfalle).

Meine Spekulation erweist sich als korrekt: Wo wir in Runde eins links abbogen, geht es jetzt geradeaus weiter durch die Fußgängerzone. Alsbald ein Schlenker nach rechts, wieder links und parallel zur ursprünglichen Richtung weiter ... und weiter ... und immer weiter ... gefühlt endlos, objektiv nicht mal einen Kilometer. Erlittene Erschöpfung dehnt mir die Distanz im Kopf. Bei langen und längsten Läufen entscheidet ohnehin immer der Kopf über das Ausmaß des Erfolges (oder Misserfolges). Du musst die hässlichen Signale aus der unteren, bewegten Körperetage in der obersten, empfindenden ertragen können ...

Nach ungefähr einem Lichtjahr endet die Gerade. Eine Gerade, deren Attraktivität ungefähr derjenigen eines Tunnels entspricht - lichtarm und reizlos. Genauso geht es weiter: Links abbiegen und unter einer von mehreren Auffahrten einher. Die Auffahrten führen zur Kurt-Schumacher-Brücke, die Binnenhafen und Rhein überspannt und in Ludwigshafen endet. Läuferwissen, das nur sammeln konnte, wer an einer der vormaligen Ausgaben des Dämmermarathons teilnahm. Unter der Auffahrt bergab, vorbei an einem letzten Verpflegungsstand. Eine bemühte Helferin reicht mir im Vorbeitraben einen Becher. - Etwa ein Kubikzentimeter Flüssigkeit, wahrscheinlich weniger, Becherboden kaum bedeckt. Soll ich das lustig finden? Stoppen, umkehren und zurücklaufen, drei Meter höchstens? Den dafür nötigen Kraftakt möchte ich mir keinesfalls mehr abringen. Bis ins Ziel fehlen meiner Schätzung nach höchstens noch zweieinhalb Kilometer ...

Auch an der folgenden Steigung, sicher nicht mehr als 30, 40 Meter weit, aber so kurz vorm Finale steil genug, um schwächeren Läufern den Rest zu geben, erkennt man wie wichtig dem Veranstalter seine Marathonläufer sind: Warum wurde die Rundenerweiterung nicht in Runde eins integriert, in der alle Marathonis noch bei guten Kräften sind? Ich ahne warum: Weil 2.500 Läufer an einer Weiche korrekt zu sortieren zusätzliches, erfahrenes Personal erfordert hätte. Leider legte der Veranstalter sich auf die vorgefundene bizarre Streckenführung und eine fragwürdige Verschränkung der Bewerbe Halb- und Ganzmarathon fest. Aus Kostengründen natürlich, wie in einer vorab übersandten Info um Verständnis buhlend offen zugegeben wurde. Zur Kostenfrage lasse ich ein paar Zeilen weiter unten noch eine andere Läuferstimme zu Wort kommen ...

Was mich angeht, so bringe ich das unschöne Ding jetzt zu Ende: Ein paar Mal rechtwinklig abbiegen ist noch erforderlich. Unter anderem, um zwei Kilometer vor Schluss eine mit Pylonen vorgegebene Schikane abzuarbeiten. 150 Meter ca. hin und 150 Meter wieder her. Weiter in Richtung Ziel durch menschenleere Gassen, schlussendlich auch vorbei am Paradeplatz. Den ich als begleitende Sehenswürdigkeit (?) aber erst jetzt beim Schreiben des Laufberichts und exaktem Studium der Route wirklich realisiere. Den ich vor Ort auch gerne wahrgenommen hätte und dazu vermutlich auch in der Lage gewesen wäre - in Runde eins, noch Herr meiner Sinne und bei besserem Licht. Jetzt nicht mehr, dazu bin ich zu kaputt. Außerdem mit "Zielsehnsucht" druckbefüllt bis unter die Schädeldecke; so sehr, dass es schmerzt, weiter unten natürlich ... Noch gut tausend Schritte, die meine energetisch und nerval müden Beine unrund auf den Asphalt trommeln. Noch fünfhundert Meter, links voraus schiebt sich der Wasserturm vor den Nachthimmel ... Gleich geschafft, die Formel kreist mit vielfachem Echo im Hirn ... gleich geschafft ... gleich geschafft ... Linkskurve um Mannheims Zentrum, Wasserturm mit Park, und endlich biege ich in die Zielgerade ein. Mit bunten Scheinwerfern und zuckenden Lichtern dekoriert, ansonsten aber leer ... Ich verharre kurz, schieße ein Foto, überbrücke weitere 30 Meter. Mit netto 4:22:40 Stunden hält die Zeitmessung meinen Zieleinlauf fest.

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In und nahe der Garderobe begegne ich mit zeitlichem Abstand zwei Läufern. Der mir unbekannte Erste äußert sich dem flink agierenden, uns Taschen und Beutel zurückgebenden Helfer gegenüber ziemlich ungehalten. Meine von stimmlicher Emotion geweckte Neugier lässt mich heraushören, dass er stockdunkle Passagen auf der Strecke beklagt. Wie sich im kurzen Zwiegespräch, das wir daraufhin führen, herausstellt, stürzte der Mann in einem der Vorjahre beim Dämmermarathon. Verständlich, dass er für die diesjährige "Dunkel-Edition" des Dämmermarathons kein gutes Wort findet.

Die zweite Begegnung beschert mir einen versöhnlichen Abschluss des abendlichen Laufabenteuers. Im Treppenhaus grüßt mich von oben ein langjähriger Bekannter. Von oben, ich also unten auf der Treppe, er auf der nächsten Etage. Näher können die bein- und fußgeschädigten Königskinder nicht mehr zueinander kommen ... Den Mann kenne ich schon aus meinen Marathon-Anfängen. Treffe ihn allerdings so selten, dass mir sein Name längst entfiel. Er wird es mir nachsehen. Besonders, wenn er liest, dass es mir eine Freude war ihn nach mehreren Jahren (auf wunden aber gesunden Füßen) mal wieder kurz gesprochen zu haben.

 

Fazit zum Dämmermarathon

Die Strecke ist langweilig. Zwei Runden ergeben nicht Langeweile mal, sondern hoch zwei. Zu sehen gibt es fast nichts. Abschnittsweise darf mit dicht stehendem und beherzt anfeuerndem Publikum gerechnet werden. Aber eben nur abschnittsweise.

Im Hinblick auf die Läufersicherheit versagt die Organisation. Stockdunkle Streckenteile sind nicht akzeptabel. Hier lasse ich den Läufer sprechen, den ich in der Garderobe traf. Er sagte: " ... dann sollen sie um Himmels Willen fünf Euro mehr verlangen und Scheinwerfer aufstellen!" Dem ist nichts hinzuzufügen!

Fazit: Dämmermarathon nur wenn ich muss. Und müssen muss ich, wenn ich einen Trainingslauf brauche und keinen annähernd gleichwertigen woanders finde.

 

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