8. Mai 2022

Ochsentour  -  Rund um Rutesheim Ultra

Zwei Runden, ein voller Marathon mit gut und gerne 600 Höhenmetern, liegen bereits hinter mir. Meine Verfassung entspricht ziemlich genau derjenigen, nach den letzten Marathonfinishes: Mein "Fahrgestell" fühlt sich an, als hätte mir irgendwo am Wegrand eine Horde Hooligans aufgelauert und mich auf rüdeste Weise vermöbelt. Aber es hilft nichts: Die nächsten Laufvorhaben nötigen mich den Marathonsieg mit einer dritten Runde zum Ultra zu erheben. Ohne mich dieser Ochsentour zu unterziehen traute ich mich nicht in den Thüringer Wald zum Supermarathon am Rennsteig.

Die ausstehende Halbmarathonrunde wird mich zum dritten Mal "Rund um Rutesheim" schicken und meinen Tageskilometerzähler auf 63 erhöhen. So weit bin ich seit letztem Sommer nicht mehr gelaufen. "RuR - Rund um Rutesheim" ist ein Kind des Läuferpaares Birgit und Norbert Fender und ausschließlich auf deren Internetseite 100Marathon42.de ausgeschrieben. Letztes Jahr erkundete ich die Strecke bereits zweimal. Beim Debüt gleichfalls als Ultra über drei Runden, das war vor genau einem Jahr minus einem Tag. Zudem nutzte Klaus Neumann "RuR" für seinen Comrades Marathon Centenary Run (Gedenklauf 100 Jahre Comrades Marathon), bei dem ich mir einschließlich eines Zusatzschlenkers zum Auftakt volle vier Runden zumutete. 88 Kilometer, die ich aber keineswegs als Zumutung empfand - damals, Ende Mai 2021, als mein Körper noch so "funktionierte" wie er sich mir all die Laufjahre zuvor "zur Verfügung gestellt" hatte.

Inzwischen ist einiges geschehen und anders. Was geschah, will ich hier nicht noch einmal thematisieren. Die Folgen, soweit ich sie an mir beobachte und verstehe, dagegen schon. Nach und nach, genug Zeit wird auf dieser dritten Runde sein. Immerhin werde ich für die fehlenden 21 Kilometer nicht weniger als 2:48 Stunden benötigen! Das mag sich für Läufer, die einen Halbmarathon mal eben flott runtertraben, astronomisch anhören. Die Rahmenbedingungen - ausgelaugter, schmerzender Körper, weitere ca. 300 Höhenmeter, schwülwarme Luft, vielfach direkte Sonneneinstrahlung -, samt der Tatsache, dass es sich nun mal um die letzten 21 von 63 Kilometern handelt, lassen den Zeitbedarf sicher in einem anderen Licht erscheinen. Natürlich empfinde ich mich als extrem langsame Schnecke, gerade jetzt auf der Schlussrunde. Objektiv betrachtet, gilt das allerdings gar nicht oder über alle drei Runden. Dazu die Daten: Für Runde eins, in der ich mich bewusst zu verhaltenem Tempo zwang, investierte ich bereits 2:31 Stunden und nach Umlauf zwei waren weitere 2:40 Stunden vergangen. Im Vergleich schneiden 2:48 Stunden mit übel schmerzenden Knochen und mehreren Unterbrechungen gar nicht so schlecht ab.

Aufbruch am "Stützpunkt", für den ich wie stets den Kofferraum meines Autos nutze. Es steht auf einem Parkplatz an der Peripherie von Rutesheim (Kleinstadt 20 km westlich von Stuttgart). Inzwischen "steppt hier der Bär": Alles zugeparkt von Freiluftenthusiasten, die das endlich warme, sonnige Wetter genießen wollen. Manche starten von hier zu (Rad-) Wanderungen, andere wiederum "verlustieren" sich nebenan auf dem von der Stadt Rutesheim angelegten Sport-/Spiel-/Grillareal. Aufbruch am Stützpunkt, bei dem es nicht mehr mit simplem "Loslaufen" getan ist. Wenn mein Bewegungsapparat bereits in allen Fasern jault, dann muss ich mich zum (Los-) Laufen überreden, es mir quasi befehlen. Erst ein paar Gehschritte, dann ins Tippeln wechseln, in der Folge "freilaufen". Ich blicke noch mal rüber zu dem jungen, schwarz gekleideten Mann mit Trinkrucksack, der ein paar Autos neben mir parkt und etwa zeitgleich den "Stützpunkt" erreichte. "Ihr habt alle nix zu trinken dabei!?" stellt er fest. Seine Verwunderung entkräfte ich mit dem Hinweis vorab an zwei Stellen der Strecke Trinkflaschen gebunkert zu haben. "So kann man's natürlich auch machen" lässt er sich noch ein, derweil ich den Übergang von Geh- zu Laufschritten endlich schaffe und davon trabe ...

Zuckele zunächst unter der vielleicht 30 Meter über mir den Taleinschnitt überspannenden Autobahnbrücke hindurch und biege scharf rechts ab. Meine Route tangiert und kreuzt die Autobahn A8 (Abschnitt Stuttgart-Karlsruhe) mehrfach. Einstweilen steppe ich parallel zur Brücke einen der steilsten Buckel überhaupt empor. Der brächte mich alsbald zur Strecke, vor allem im sprichwörtlichen Sinne, beschränkte sich die "Steilwand" nicht auf rücksichtsvolle 50 Meter. Dann wird es flacher und geht leichter voran. Wobei: Über mangelnde Ausdauer kann ich eigentlich nicht klagen. Die vielen Höhenmeter haben meiner Ausdauer zwar zugesetzt, ich hielt mich aber mit reichlich Energiegel einigermaßen schadlos. Mein waidwunder Laufapparat macht mir mehr zu schaffen. Jeder Schritt schmerzt. Vor allem aus dem Rücken heraus in der Region Gesäßmuskulatur, inzwischen aber auch in fast allen anderen "bewegten Teilen".

Ich entferne mich ein paar hundert Meter von der sechsspurig ausgebauten A8, noch immer moderat an Höhe gewinnend, überquere alsbald eine Straße. Eine von mehreren brandgefährlichen Straßenquerungen, die noch folgen werden. Deutschland ist Autoland und hier in BaWü schlägt das Herz der Autoindustrie. Und der Pulsschlag dieses Herzens sieht, hört, spürt man auf allen Straßen. Vielleicht bilde ich mir das nur ein ... doch nirgendwo ist der Verkehr dichter als in der Region um Stuttgart, verkehren so viele Boliden, wird auf so hemmungslose Weise gerast. Also aufpassen! - Weiter zwischen Feldern, vorbei am Häckselplatz, auf dem wie gehabt viel Arbeit auf den Häcksler mit seinem Häcksler wartet. Der Feldweg hält wieder auf die Autobahn zu, minutenlanges Hintergrundrauschen schwillt an. Schwillt wieder ab, sobald der Weg unter Fahrbahnniveau abtaucht. "Wrohhmm" und "Sssttt" verfolgen mich, als der Kurs sich an der nächsten Kreuzung dem nahen Wald zuwendet. Ich tippele mit Radau im Rücken und bäuerlichem Idyll vor Augen durch die an diesem Tag grün-blau lackierte Welt. Ungefähre Zweiteilung: Oben Himmelblau unten Pflanzengrün, dekoriert mit einem Meer von Blüten. Weiße an Obstbäumen querab, gelbe von Butter- und Pusteblumen in den Wiesen ringsum.

Schönes verdrängt Hässliches, ich blende den Autolärm aus. Ein paar Stellen entlang der RuR-Route stachen mir von jeher ins Auge. Diese Wiesen kurz vorm ersten Waldstück gehören dazu. Und hinter ihnen lädt mich frisch ergrünter Laubwald ein. Der Start ins Frühjahr, Sonne, Wärme, explodierende Natur, die Jahreszeit, in der ich jedem einzelnen der soeben entfalteten, zarten Blätter versichern möchte, welch immense Bedeutung ich seinem Erscheinen beimesse ... Dass mich der Wald kühler umfängt, verursachte mir heute Morgen, zu Beginn von Runde eins, noch ein Frösteln. Jetzt am Nachmittag, bei inzwischen etwa 22°C und nach fünf schweißtreibenden Laufstunden, begrüße ich die kühlere Luft. Obzwar ich an drei Stellen der Runde Trinkflaschen vorfinde, ist mein Mund ständig trocken und Durst zum steten Begleiter geworden.

Leicht aufwärts im Wald, rechts abbiegen, irgendwann wieder minimal abschüssig voran. Kennzeichnend für die RuR-Runde ist nicht zuletzt, dass erwähnenswert ausgedehnte, flache Abschnitte fehlen. Entweder geht's rauf oder runter, zumeist mit mäßiger Neigung, nur stellenweise wirklich fordernd. Ich nähere mich der Autobahn, hinter dichtem Waldvorhang schwillt das Geräusch vorbeirasender Fahrzeuge neuerlich an. Zu Gesicht bekomme ich die Rennbahn dennoch nicht, weil ihr der Waldweg in weit gezogener Linkskurve ausweicht. Wie stets in dieser Kurve bereite ich mich gedanklich auf den Mammutbaum* vor, zu dem ich in der Schlussrunde allerdings nicht mehr aufschaue. Zum Kraft raubenden Heben oder Drehen ist mein Kopf zu schwer geworden. "Augen links!" muss reichen. Mein Seitenblick streift die knorrig zerfurchte Rinde des Baumriesen knapp über Bodenniveau.

*) Was es mit dem eigentlich in Nordamerika heimischen Mammutbaum auf sich hat, kann im Laufbericht vom letzten Jahr nachgelesen werden.

Unablässig tippele ich weiter, einzig nach Raumgewinn trachtend, mit erlahmendem Interesse an allem, was mich umgibt. Wahrnehmungen, erzürnend oder entzückend, nehme ich äußerlich reglos zur Kenntnis.

Entzückend: Eine süße, rosa Maus strampelt mir unsicher lächelnd entgegen. Alles rosa an dem Mädchen: Pulli, Hose, Kopfschutz, Tornister auf dem Rücken (für Brotzeit und Getränk?), sogar ihr Mini-Kinderfahrrad. Als Geleitschutz hat sie ihren massigen, dunkel gekleideten Papa dabei. Größer könnte ein Kontrast nicht ausfallen: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Den beiden begegnete ich in der vorigen Runde schon einmal auf ihrem Weg durch den Wald ...

Erzürnend: Am Grillplatz biege ich links ab, ein Beispiel unverfrorener Dummheit ebenso kopfschüttelnd wie hilflos hinter mir lassend. Ein Auto ohne Insassen parkt hier, Heckklappe und Fenster offen. Wem anders sollte das Vehikel zuzuordnen sein als einem von mehreren Picknickern am Rastplatz. Gedanken- und Rücksichtslosigkeit sind unter Autofahrern sicher nicht häufiger anzutreffen als in der übrigen Gesellschaft. Allerdings fallen dämliche Automobilisten sofort auf, optisch und - ein paar Kilometer weiter werde ich es erleben - auch akustisch. Natürlich besteht in diesem Wald ein grundsätzliches Fahrverbot. Mit gutem Grund, wie in jedem anderen Forst ebenfalls. Das Problem: Die Zahl derer, die ihr Ego rücksichtslos ausleben, sich um Vorschriften nicht scheren, alles Machbare machen, ganz einfach weil sie es können ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, wächst unaufhaltsam!

Mitten im Forst steht die nächste, lebensgefährliche Straßenüberquerung an. Ich verhalte meinen Schritt schon vor dem auf den Asphalt gesprühten, nach Monaten verblassten Warndreieck. Zweimal gelangte ich heute nonstop auf die andere Fahrbahnseite, diesmal kapituliere ich vor der heranrasenden Meute. Zwei Autos, gefolgt von einem knatternden, lediglich eine Handbreit Abstand zum Vordermann haltenden Motorrad. Mit einem aus akustischer Addition resultierenden "Rumms!" donnert die Kolonne an mir vorbei. Hurtig rüber, dann ein paar hundert Meter im Forst maßvoll abschüssig und geradeaus voran. Was ist weniger unangenehm? - Abwärts traben mit mehr Weh im Gebein und reduziertem Energiebedarf; oder hinan schuften, dafür weniger Schmerz aushalten müssen?

Ich folge dem Waldrand mit Aussicht zu bestellten, teils Raps-gelb blühenden Feldern. Von diversen anderen Läufen weiß ich: Feldwege weisen in der Region um Stuttgart oft eine Asphaltdecke auf, was mir in aller Regel entgegenkommt. Der plane Belag schont Kräfte und "Knochen" gleichermaßen. Zu diesem vorgerückten Wettkampfzeitpunkt lässt mich der unnachgiebige Belag allerdings auch meine wehen Füße spüren ... Ich biege ab, lasse den Forst endgültig hinter mir. Linkerhand erstrecken sich die Felder einer Gemüse anbauenden Kooperative. Wie hieß die noch gleich?* Die Hinweistafel am Feldrain ist verschwunden. Unterstelltes Motiv: Ausreichend Mitglieder angeworben, was die Felder hergeben reicht soeben, um den Bedarf der bestehenden Gemeinschaft zu decken. Nächste Steigung direkt auf eine Pferdekoppel zu. Verlassen die Wiesen, wo vorhin noch zwei Pferde grasten. Weiter aufwärts, kurzzeitig fordernd, zum höchsten Punkt der Strecke, über den eine kräftige, heute zum Glück warme Brise von Osten her weht.

*) SOLAWI: Solidarische Landwirtschaft Heckengäu eG

Ich halte abwärts tippelnd auf den Rutesheimer Ortsteil Perouse zu. Längst vergessen der geschichtliche Hintergrund des Ortes, den ich letztes Jahr recherchierte. Weil ich wissen wollte, wie ein Dorf mitten in Württemberg zu einem französisch klingenden Namen kommt. Einwanderer, Vertriebene aus französischsprachigen Regionen, siedelten sich vor mehreren hundert Jahren hier an, so viel weiß ich noch. Auffrischung tut Not, die werde ich zu Hause nachholen ... Ich trabe durch den wie ausgestorben wirkenden Ortsteil. Die sonntägliche Ruhe kenne ich vom dem letzten Jahr, das Rauschen aus Richtung Autobahn ist neu. Die A8 verläuft ein paar hundert Meter entfernt und tiefergelegt, trotzdem hört man ihr Rauschen im ganzen Ort. Anscheinend getragen vom Ostwind, der die Ausbreitung des Lärmteppichs unterstützt!?

Ich verlasse Perouse über eine gleichmäßig ansteigende Rampe. Den Anstieg verdanke ich einem Schallschutzwall vor einer Umgehungsstraße, die ich oben angekommen per Fußgängersteg überquere. Wenig aufregend diese Routenführung. Ich schildere sie eigentlich nur, weil mir diese Rampe schon letztes Jahr Vergleichswerte lieferte. Auf jeder Runde ließ sie mich fühlen wie weit die Abnutzung bereits fortgeschritten ist. Jetzt hinterlässt sie mich einmal mehr ratlos. Während ich aufwärts tippele, spüre ich noch energetische Reserven, werde aber zugleich von Schmerzen gebremst. Es geht und geht auch wieder nicht, beides zeitgleich.

Noch verstellen Büsche die Sichtachse zur Ampel, ein paar Schritte weiter werde ich wissen, ob sich mein Wunsch erfüllt. Ein Wunsch, der sich wandelte, was so ziemlich alles über meine momentane Verfassung aussagt. In Runde eins hoffte ich auf eine Grünphase, um meinen Lauf nicht unterbrechen zu müssen (klappte nicht). Runde zwei begegnete ich der Ampelfarbe schon gleichgültig (musste erneut Grün abwarten). Diesmal erflehe ich geradezu Rot. Um ein paar Sekunden pausieren zu dürfen, ein paar Sekunden ohne Pein im Gebein. Zugleich fürchte ich den Ampelstopp, weil er einen schmerzhaften Restart erzwingt ...

Kann man eine hohe Wahrscheinlichkeit auf Rot für Fußgänger und Radler an dieser Ampel postulieren, wenn ein einzelner Läufer zum dritten Mal bei drei Versuchen vor Rotlicht warten muss? Und wie hoch ist diese Wahrscheinlichkeit? - 10 Sekunden vergehen, 20, drüben wartet ein Radler, neben mir ein zweiter ... Kurz vorm Umschalten der Ampel zischt von der nahen Autobahnausfahrt ein mit vier jungen Kerlen vollbesetzter Kleinwagen heran. Vermutlich sieht er schon Gelb, macht aber keine Anstalten zu bremsen. Mit infernalisch quietschenden Reifen zwingt er seine Karre in die Kurve zum Linksabbiegen ... Wie schon gesagt: Dummheit am Steuer fällt auf, in diesem Fall optisch und akustisch.

Autobahnbrücke und Fahrzeuglärm bleiben hinter mir zurück. In den verbleibenden drei, vier Minuten bereite ich mich mental auf den Trubel im Erlebnispark von Rutesheim vor. Minigolf und andere Outdoorspiele gibt's dort, einen Klettergarten im benachbarten Wald und nicht zuletzt das kitschigste Gebäude der Stadt, ein Gasthaus im Alpenstil, täuschend ähnlich nachempfunden. Als hätte man die Hütte irgendwo im Allgäu zerlegt und an der Peripherie von Rutesheim wiedererrichtet. Heute Morgen war hier noch tote Hose, in Runde zwei erlebte ich bereits übervolle Parkplätze und jetzt platze ich mitten in einen wimmelnden Ameisenhaufen ... Ich habe Muße das Treiben zu beobachten, weil ich der Einfachheit halber hier, hinter ein paar Schaltschränken am Rand des Parkplatzes, zwei meiner Trinkflaschen deponierte. Ich stehe, schaue und stille meinen (schon wieder kapitalen) Durst. Nach und nach leere ich Flasche zwei, die Wölbung meiner Bauchdecke ignorierend. "Druckbetankung" weil: Ungefähr sechs Kilometer weit werde ich austrocknen, bevor ich mein nächstes Wasserdepot erreiche.

Der junge Mitläufer - er wunderte sich zu Beginn der Runde über den Kerl, der ohne Wasservorrat aufbricht - holt mich an dieser Stelle ein. Dass ich mich zu einer dritten Runde aufmachte, quittiert er sicht- und hörbar mit Respekt. Weitere Sätze fliegen hin und her, dann macht er sich davon. Übrigens begegnete ich dann und wann auch anderen Mitläufern auf der Strecke. Einige von ihnen waren gegenläufig unterwegs. Ein Zugeständnis des Veranstalters, vermutlich um jenen ein bisschen Abwechslung zu bieten, die die Runde um Rutesheim schon oft absolvierten. - Ein letzter Schluck, dann stelle ich die Flasche hinter den Schaltschrank zurück, vollziehe einmal mehr das ungeliebte Ritual "Udo-überwindet-sich-zum-Loslaufen". Der Jogg entwickelt sich zum Slalom um Fußgänger, einzeln, paarweise und in Gruppen, auch gilt es Fahrzeugen auszuweichen, die vom Parkplatz zur Straße rollen. Mitten in diesem Durcheinander drei Jungs in gemieteten Kettcars: Die Chance Spiel und Spaß auf dieser Zuwegung unverletzt zu überstehen ist real aber von 100 Prozent doch mehr als nur marginal entfernt ... Ich bin gegen Berufsverbote. Den Planer dieser Anlage sollte man aber wenigstens ein paar Tage bei Wasser und Brot schmoren und eine Abhandlung zu folgendem Thema verfassen lassen: "Wie konnte es geschehen, dass eine Parkplatzzufahrt ohne gesicherten Bereich fürs Fußvolk mitten durch einen Erlebnispark gebaut wurde?". Ach ja: Am besten sperrt man den Leiter der genehmigenden Behörde gleich dazu!

Über einen abschüssigen Feldweg verlasse ich den Ort des desorganisierten Treibens. Ich arbeite den nächsten jener Abschnitte ab, in die mein Geist die Runde ganz automatisch einteilt. Nach erfolgreichem Vollzug setze ich einen Haken und feiere auf diese Weise viele kleine Siege vor dem großen, letzten. Auf solche Ablenkung greift mein cleverer Geist immer zurück, wenn mich hässliche Gefühle bedrängen. Der Streckenschnipsel vom Ort des "Wimmelns" bis zur nächsten "Raserstraße" misst etwas mehr als einen halben Kilometer. Haken dahinter! Straßenquerung überlebt, jetzt beginnt ein zweiter Waldabschnitt; den mein Geist wiederum in kleinere Etappen einteilt, die zu beschreiben allerdings keinen Sinn ergäbe ... Fordernd aufwärts, länger abwärts, wieder aufwärts, wieder abwärts, dabei stets beschirmt vom frischen Blattkleid. Wieder stelle ich fest: Im Wald ist es kühler. Ich hatte nicht erwartet dem grünen Sonnenschirm heute schon so viel Dankbarkeit entgegen zu bringen. Noch drei Kilometer bis zur nächsten Flasche ...

Mein Körper narrt mich. Zum wiederholten Mal signalisiert die Blase Entleerungsbedarf. Zum zweiten Mal komme ich der Aufforderung nach und stelle mich an den Wegrand. Zum zweiten Mal breche ich das Manöver erfolglos und genervt ab. Entweder entspringt die Empfindung dem erschöpften, nach Pausen lechzenden Unterbewussten oder mein Nervensystem missdeutet die allgemeine Schmerzsituation in der Hüftregion.

An einer Wegkreuzung schere ich zum nahen Abfalleimer aus. Der steht neben einer frisch gegossenen Betonplatte. Auf dem Fundament soll offenbar ein neuer Unterstand errichtet werden. Der alte, der Wanderern im letzten Jahr noch Unterschlupf bot, wurde abgerissen. Den Unterstand brauche ich nicht, dafür den Mülleimer, dem ich das letzte, gerade geleerte Geltütchen überantworte. Labsal Ende, es folgt das Loslauf-Ritual. Ich erinnere mich, dass mir das an dieser Stelle schon mal schwerer fiel. Weil ich erschöpft war und hier der längste Aufstieg in diesem Waldstück beginnt. Heute empfinde ich anders. Schon in Runde eins und zwei wunderte ich mich über die Harmlosigkeit der Steigung. So auch jetzt. Kraft ist noch da, tatsächlich bin ich noch immer weit davon entfernt beim Aufstieg gehen oder kurz pausieren zu müssen. Und das, obwohl sich mein Bewegungsapparat total zerschlagen anfühlt. Wer vereint mir diesen Gegensatz?

Auf halber Höhe aufwärts erfasst mein Blick einen weitgehend verrotteten Haufen aufgeschichteter Äste unmittelbar am Wegrand. Ich mag von sieben mit Laufen verbrachten Stunden angezählt sein wie ein Boxer vom Ringrichter, ringe mir dennoch ein freudiges Schmunzeln ab. "Tock, tock, tock ..." klopfte es von diesem Haufen her in der ersten Runde. Ein großer, schwarzer Vogel saß auf armdickem Ast und hämmerte unbeeindruckt von meinem Erscheinen weiter: "Tock, tock, tock ...". Der oder die Gefiederte ließ sich nicht stören, obwohl ich keine drei Meter von ihm/ihr* entfernt abrupt stehenblieb: "Tock, tock, tock ..." - Hieb auf Hieb versetzte der Vogel dem Holz mit seinem Schnabel. Rabengroß, pechschwarz, roter Federschmuck am Hinterkopf - unzweifelhaft ein Schwarzspecht, der vermutlich leckeren Holzbewohnern nachstellte. Als ich die Kamera hob, siegte dann doch die Vorsicht über den Hunger und mein Highlight des Tages flatterte davon ...

*) Es handelte sich vermutlich um ein Weibchen, weil die Rotfärbung des Gefieders nur am Hinterkopf ausgeprägt war.

Am Ende der Steigung, zugleich Waldrand, lauert neuerlich Gefahr, der Wanderweg kreuzt die nächste stark und vor allem rasant befahrene Straße. Ich lasse eine Kolonne passieren und bringe mich dann auf dem Feldweg gegenüber in Sicherheit. Ab dieser Stelle bis ins Ziel kein Schatten mehr! Überhaupt sollte man den Wasserbedarf auf der Runde um Rutesheim bei warmem Wetter und Sonnenschein nicht unterschätzen. Dieser Fehler bescherte mir im letzten Jahr, anlässlich meines Debüts auf der Strecke, das übelste Dursterlebnis meines Läuferlebens. Heute steht das Quecksilber zwar nicht so hoch wie seinerzeit, trotzdem lässt mir die schwüle Witterung beständig die Zunge am Gaumen kleben.

Vor mir erstreckt sich eine sanfte Mulde mit Streuobstwiesen. Ein riesiger, leuchtend grüner Teppich, Labsal für die Augen. Vielleicht hat es mit meinem Alter zu tun, dass ich diesem Frühjahrsgrün mit solcher Freude, um nicht zu sagen: Gier, begegne. Erst vor wenigen Tagen streifte Mutter Natur sich ihr Frühlingskleid über - sehr spät im Jahr, zu spät für mein Dafürhalten. Mit Kälte und Wind komme ich als Läufer immer schlechter klar, mental vor allem, aber auch physisch. "Vor Kälte kann ich mich mit Bekleidung schützen, bei Hitze bin ich machtlos" hörte ich jüngst einen Läufer argumentieren. Ein Grundsatz, der sich für mich ins Gegenteil verkehrt. Mit Hitze auch über 30 Grad komme ich klar, setze mich ihr gern aus, fühle mich wohl. Doch egal wie "fett" ich mich bei Kälte auch einkleide, früher oder später friere ich. Wobei "später" bei Läufern, die für Marathon oder Ultra trainieren, notwendigerweise häufiger vorkommt.

Kurze, steile Buckel verzögern meinen Anmarsch in Richtung Rutesheimer Stadtrand. Vom Grün ringsum bekomme ich nicht mehr viel mit, längst sank der Kopf auf die Brust, fixieren die Augen den Boden vor meinen Füßen. Da auch hier asphaltiert, fordert die Piste noch immer nicht grenzwertig. Auch nicht auf vielleicht 50 Metern eines Himalaya-steilen Anstieges vor einer Brücke über die Umgehungsstraße. Wieder werde ich mit dem Paradoxon konfrontiert auch steil aufwärts genug Power für Trab- oder Tippelschritte mobilisieren zu können, die davon ausgelösten, extrem hässlichen Empfindungen jedoch kaum noch ertragen zu können.

Ich bewege mich entlang der Rutesheimer Peripherie, zunächst in einem Gewerbegebiet. Rein gar nichts von dem, was es hier zu sehen gibt, unterscheidet sich von Gewerbegebieten irgendwo sonst in der Republik. Werkshallen zu meiner Linken, Discounterläden für Lebensmittel, Bekleidung und Drogeriebedarf rechts. Natürlich schaue ich längst nicht mehr hin, starre unentwegt aufs Trottoir. Ich quere eine Rutesheimer Ausfallstraße, bringe mich so rasch es noch geht vor nahenden Autos und Motorrädern in Sicherheit. Weiter am Stadtrand und nach fünf Minuten schere ich endlich zu meiner Trinkflasche aus. Ich hinterlegte sie im Buschwerk eines Kinderspielplatzes. An dieser Stelle leider nur eine Flasche, weswegen mir nur eine Neige bleibt, um meinen Durst zu bekämpfen. Ich nehme die Flasche mit und trinke sie gehend leer. Jeden Schluck mit Andacht zelebrierend, als machte ich mich bereit die Wüste Gobi zu durchqueren ...

Die leere Flasche schiebe ich am Rücken unter den Hosenbund, will sie später nicht abholen müssen. Ich beschleunige meine Gehschritte, werde schneller, denke befehlend "Lauf los!", tippele steif voran, werde sogleich wieder vom Dämon der letzten Stunden angesprungen. Leicht abwärts zwischen Feldern, auf denen üppig das Getreide sprießt, schließlich zu einem Pferdehof hin abbiegen. Neuerlich hinan, vorbei am Pferdehof, den ich keines Blickes mehr würdige, rechts ab und parallel zum Rauschen der nahen Autobahn wieder auf den Rutesheimer Ortsrand zu. Ein paar Minuten verbringe ich in leichter Steigung, die mich bremst aber nicht aufhalten kann.

Vor den ersten Häusern weist Rutesheim mich ab, schickt mich am Rand einer weiteren Ausfallstraße in südliche Richtung. Ein paar Meter nur, dann nehme ich die letzte Überquerung der A8 an diesem Tage in Angriff. Wie alles andere, was ich nun noch tun muss, um endlich! anzukommen von totaler Gleichgültigkeit begleitet. Ich habe noch Kraft mich vorwärts zu bewegen, investiere aber keinen Funken davon in Wahrnehmung oder Interesse. Ganz gleich wofür. Jedenfalls würde ich das von mir behaupten, so mich in diesen Augenblicken jemand danach fragte. Noch drei Kilometer. Auf dem Ersten stetig abwärts, dabei ein Wohnviertel streifend. Mannshohe Hecken und Zäune, nichts zu sehen, und ich will auch nichts mehr sehen. Setze über eine einmündende Straße, komme an einem Spielplatz vorbei, Vater mit Kind. Uninteressante Wahrnehmung. Wenn ich sie erwähne, dann wird sie wohl Bedeutung erlangen. Ein paar Schritte weiter: Frau strampelt mir auf Fahrrad entgegen, sorgenvoller Blick. Sorge nicht meinetwegen, Sorge um ein "schwarz gekleidetes Mädchen auf einem Fahrrad". Ob mir so ein "Mädchen" begegnet wäre, will sie wissen.

Aus grenzdebiler Versunkenheit auftauchend muss ich mich erst sammeln, Hören, Denken, Verstehen, Interesse entwickeln, im Kurzzeitgedächtnis kramen. Flüchtig dort Abgebildetes rasch sichern, bevor es im Vergessen ertrinkt. Doch wonach genau suche ich? Was bedeutet denn "Mädchen"? Parallel zum Denken stoppe ich abrupt, als prallte ich gegen eine Mauer. Meine Gegenfrage mag ihr blöd vorkommen: "Wie alt war das Mädchen denn?" - Bevor sie antworten und ich ihrer Antwort entsprechend nach Erinnerungsfetzen suchen kann, mischt sich der Vater vom Spielplatz aus ein: "Ich hab sie gesehen! Die ist hier abgebogen und in die Siedlung gefahren!" - Mit bereits wieder erlöschendem Interesse vernehme ich noch die Verwunderung der Frau - "Hier? Hier abgebogen??" -, dass sie sich bedankt und weiterradelt. Mir hat sie Geschenk und Schaden zugleich beschert: Ich durfte schmerzlos pausieren und muss nun wieder in die Gänge kommen. Wie gehabt: Losgehen, schneller gehen, noch schneller, erste schmerzhafte Tippelschritte ...

... die sich auf abschüssigem Bürgersteig noch ekliger anfühlen als ohnehin. Hinab, minutenlang, bis zum tiefsten Punkt der Strecke. Dort wende ich mich einer von einem Radweg erschlossenen Talenge zu. Noch zwei Kilometer, samt und sonders bergauf. Egal, das packe ich auch noch, denn danach bin ich von allem Übel erlöst - Amen! Blick ins Bachbett zu meiner Linken. Jetzt fließt dort Wasser, auf zwei Runden zuvor war das Bett so gut wie trocken gefallen. Anders als im letzten Jahr vermag ich in dieser Beobachtung nichts "Geheimnisvolles" mehr zu erkennen. Kurz vorm Ziel gibt es eine Kläranlage und ich reimte mir schon damals zusammen, dass der Bach nur dann Wasser führt, wenn die Automatik dort oben ein Klärbecken leert. Dabei verfüge ich nur über schwache Indizien für diesen Hergang, die leicht zu erschüttern wären. Es ist mir - Klartext geredet - aber gerade piepegal, wieso jetzt Wasser fließt, wo vorher Trockenheit herrschte. Ich will einfach nur noch da rauf und nicht mehr laufen müssen.

Wunderschöne Blumenwiesen säumen meinen Weg, als ich erst dem Talgrund folge, dann ein letztes Mal abbiege und die finalen vielleicht 800 Meter Steigung in Angriff nehme. Bilder kann man auch bei fortgeschrittener Erschöpfung noch genießen. Genauer: Ich kann das. Fotos sammelte ich während der ersten Runde ein, ließ die Kamera danach im Auto. Schrittchen um Schrittchen aufwärts. Mehrmals auf der Schlussrunde kalkulierte ich meine Ankunftszeit. Nur so, nicht in der Absicht mir eine Endzeit vorzugeben. Musste mich jedes Mal korrigieren, kam dabei den acht Stunden immer näher. Und nun drohe ich sogar die Acht-Stunden-Latte zu reißen. Das darf nicht sein! Ist in solcher Haltung überwiegend Unbeugsamkeit verbaut oder doch mehr Idiotie? Man (-n)/frau mag es mir glauben oder nicht: Ich beschleunige meine Schritte und das bergauf, bewusst verstärkten Schmerz in Kauf nehmend, einzig um das vollkommen sinnfreie Acht-Stunden-Limit zu unterbieten.

Die Autobahnbrücke rückt näher, der Schmerz wächst, totale Erschöpfung kündigt sich an. Noch immer keine Gewissheit, ob es zu schaffen ist, weil ich die verbleibende Entfernung nur grob zu schätzen vermag. Ein paar Steinwürfe vor der Autobahnbrücke überhole ich den gehenden, bereits zweimal kontaktierten Mitläufer, der gleichfalls dem Ende seines Wettkampfs zustrebt. "Wir haben's gleich geschafft!" ruft er mir zu. Ich finde Worte der Bestätigung. Keine Ahnung welche, vielleicht nur ein Brummen. Mein Blick wischt im Sekunden-Takt zwischen Uhr und Zielbereich hin und her. Unter der Brücke, über mir das Dröhnen von Fahrzeugrädern ... noch drei Minuten und allerallerhöchstens dreihundert Meter. Es wird klappen! - Letzte Schritte auf mein Auto zu, dann das ersehnte Antippen der Stopptaste und das noch ersehntere Stehenbleiben. Nach genau 7:58:35 Stunden beendet der Hornochse seine Ochsentour.

 

Fazit zur Veranstaltung

Siehe meine Ausführungen aus dem letzten Jahr.

 

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