12. Dezember 2021

Blaupause? - 6. Marathon über Esslingen

Die Abläufe gleichen sich: Auch letzte Woche Mittwoch zuckelte ich über die A8 in Richtung Stuttgart, parkte mein Auto als Versorgungsbasis an der Strecke und begann den Wettkampf zu einem mir genehmen Zeitpunkt. Heute stehe ich am Ortsrand von Esslingen. Allerdings nicht drunten im Neckartal, sondern in der Höhe, an dessen Nordrand, quasi "über Esslingen". Die Ortsbestimmung stand Pate bei der Namensgebung: Als "Marathon über Esslingen" steht der Lauf im Veranstaltungskalender des 100 Marathon Clubs. Übrigens nur dort, so dass ich den Wettkampf erst kürzlich "entdeckte", obwohl er schon zum sechsten Mal stattfindet.

Sonntag, gegen 9:30 Uhr: Auf öffentlichem Parkplatz hinter einem Hotel, zugleich Wendeschleife der lokalen Buslinie, erwische einen der letzten freien Plätze. Selbst wenn alle der laut Veranstalter gemeldeten 30 Teilnehmer mit eigenem Auto angereist sein sollten*, erklärt das nicht einen solchen Aufgalopp geparkten Blechs. Außerdem geht's hier zu wie im Taubenschlag. Während ich vorm Start letzte Hand an mich lege - Brillen- und Schuhwechsel, Handschuhe, Mütze - füllt sich der Parkplatz weiter. Menschen in Laufbekleidung erspähe ich ringsum mehrere, mutmaßlich nicht nur Teilnehmer am Marathon über Esslingen. Ich bilde mir ein Marathonis, vor allem die "Sammler" unter ihnen, mit geringer Fehlerquote von anderen Läufern unterscheiden zu können. Nicht instinktiv oder hellseherisch, vielmehr an Haltung, Auftreten, Gehabe, teils auch an ihrer Kleidung.

*) Die Ergebnisliste erfasst vier Frauen und 21 Männer.

Die Strecke kenne ich lediglich von einer Kartendarstellung im Internet, weiß also nur grob in welche Richtung ich mich zum Auftakt wenden muss. Ohne den vom Veranstalter bereitgestellten gpx-Track müsste ich einen mutmaßlichen Teilnehmer ausfindig machen und nachfragen; oder so lange suchen, bis ich die Startmarkierung finde. Orientierungsvermögen kombiniert mit der Trackdarstellung auf der Uhr lassen mich jedoch von mehreren möglichen Wegen auf Anhieb den richtigen einschlagen. Ich drücke meine Uhr ab und überlaufe 30 Meter weiter die Startlinie. Wald nimmt mich auf, der dem von letzter Woche am Frauenkopf in Stuttgart zum Verwechseln ähnlich sieht: Buchen jeden Alters dominieren, überwiegend kahle Bäume, nur in Bodennähe hielten sich welke Reste der Belaubung. Braun in allen Schattierungen, teils mit Rotstich, wohin ich auch blicke.

Erste Schritte auf nahezu flachem Geläuf. Schmelzwasser des vor Tagen hier gefallenen Schnees weichte den Boden auf. Verbacken mit festgetretenem Laub eine mal klebrige, bald schmierige, da und dort auch leicht matschige Laufbahn. Abschnittsweise tippele ich auch über steinharten, noch vom Nachtfrost gefrorenen Boden. In mir drin regt sich Widerstand gegen die Absicht zu joggen. Wer da genau gegen wen rebelliert und wieso, müsste mir ein Mediziner erklären. Jedenfalls dauert es einige Zeit bis der Motor anspringt. Ich zügele meine Schritte bis der tote Punkt überwinden ist. Diesen "toten Punkt" kenne ich bereits seit Jahren. Als quälende Anfangshürde empfinde ich ihn allerdings erst seit meinem leichten Infarkt im Sommer. Genauer gesagt: seit ich Medikamente einnehme, die Herzfrequenz und Blutdruck hemmen. Drei, vier Minuten, dann komme ich langsam in Schwung. Mehr Tempo springt dabei nicht raus, aber die Schritte fallen mir jetzt leichter.

Unentwegt begegne ich Spaziergängern, Gassigehern und Joggern. Kein Wunder, dass die Waldpromenade in stattlicher Breite platt getreten und der Parkplatz so voll ist. Offenbar laufe ich hier im Esslinger Naherholungsgebiet. Ein Joggerrevier, auch infolge fußläufiger Stadtnähe und Busanbindung stark frequentiert. Alle paar Sekunden luge ich zu meiner Uhr, um Deckungsgleichheit zwischen mir (kleine Pfeilspitze) und dem vorgesehenen Track (dürre Linie) zu überprüfen. Eigentlich überflüssig, der Kurs wurde eindeutig mit blauen und weißen Sprühpfeilen markiert, fordert die Orientierung zudem nur selten mit Richtungsänderungen heraus. Im Grundsatz entspricht die Runde einer "8", einer extrem plattgedrückten, gekrümmten, da und dort auch verbeulten allerdings. Nach jeweils etwa fünf Kilometern schließt sich eine Schleife der "8", bietet sich Gelegenheit zur Verpflegung am Auto. Eine vollständig gelaufene "8" entspricht einem Viertelmarathon, ist infolgedessen viermal zu absolvieren.

Ich habe mir vorgenommen mich nach jeder halben "8", also nach jeweils 5,x km, zu trinken und ein Gel einzuwerfen; auch wenn das übertrieben scheint und mich viel Zeit kostet. Doch Zeit ist derzeit die einzige Ressource, die mir im Wettkampf in ausreichendem Maß zur Verfügung steht. An Ausdauer gebricht es mir erheblich, was sich übrigens schon in dieser ersten Viertelstunde abzeichnet. Meine eigentlich ausgeruhten Beine fühlen sich schwerer an, als sie dürften. Insgesamt sieben Gels werden den Kräfteverfall hoffentlich bremsen, damit ich den kompletten Marathon als Läufer erlebe.

Mehrfach staune ich über die Vielzahl wettkampfferner Jogger. Sonntagvormittag rennt sich in diesem Wald offenbar halb Esslingen die Lunge aus dem Hals. Läufer-Nettiquette lässt mich zu jeder und jedem Blickverbindung suchen und den im Geiste Verbundenen kurz zunicken. Zuweilen brumme ich auch ein verhaltenes "Hallo!" als Antwort auf einen Gruß. Klingt schon jetzt wie das Nebelhorn eines in die Jahre gekommenen, rostigen Dampfers, verschämte Antwort aufs wohlklingend sonore "Tuuut!" elegant vorbei ziehender Kreuzfahrer. Wie lange werde ich das verbale oder non verbale "Tut!" durchhalten? Erfahrungsgemäß stelle ich Höflichkeiten mangels Kraft komplett ein, sobald es wirklich hart wird. Stiere sodann auf einen Fleck vor meinen stoisch trottenden Füßen, alles Leben ringsum komplett ignorierend.

Zwei Kilometer auf der Uhr, ein breiter Weg mündet in spitzem Winkel ein. Zu früh für eine Richtungsumkehr. Ein Blick zum Handgelenk bestätigt die Vermutung, erst einen halben Kilometer weiter biege ich links ab, zweifelsfrei geschickt vom Track auf der Uhr und Wegmarken auf dem Boden. Zusätzlich prangt ein blauer Pfeil unübersehbar auf einem Baumstumpf inmitten der Wegkreuzung. Der neue Weg senkt sich in einen unter Naturschutz stehenden Geländeeinschnitt, ich verliere zusehends an Höhe. Mit gemischten Gefühlen, weil jede Schussfahrt auf Rundkurs alsbald mit dem Schweiß eines Anstieges gesühnt werden muss.

Ein Mitläufer nähert sich von hinten, überholt mich kurz darauf leichtfüßig gesetzten Schrittes. Sein erstickend leiser Gruß schließt akustisches Wiedererkennen aus. Und doch glaube ich die vorbei gleitende Gestalt zu kennen: Issers oder issers nicht? Schrift und Logo der "LG Ultralauf" auf seinem Rücken geben den Ausschlag: "He! Hallo Klaus!" - Ein "Klaus im Tunnel" mutmaße ich, ansonsten hätte er mich erkennen müssen. Immerhin lief mir kein zweiter "Marathonsammler" in diesem Jahr häufiger über den Weg ... Wir wechseln ein paar Sätze Läuferlatein: Wohl und Wehe, gewesen und geplant, ... zwei, drei Minuten Seite an Seite trabend, dann trennen sich unsere Wege wieder.

Seit ich ihn kenne erreichte Klaus stets vor mir das Ziel. Dass der Abstand zwischen uns nun so zügig wächst, betrübt mich dann doch ein wenig. Weil es verdeutlicht wie weit ich der Form des ersten Halbjahres hinterher laufe. Den bevorstehenden Winter über wird sich daran auch nicht mehr viel ändern. Im kalten Halbjahr fühlte ich mich von jeher blockiert und unfähig ambitioniert zu trainieren. Je älter ich wurde, umso mehr Antrieb geht allein fürs pure "Überleben" in unwirtlicher Umgebung drauf. Wobei ich nicht zu ergründen weiß, ob dieser "Weicheieffekt" überwiegend physische oder doch mehr mentale Ursachen hat. Andere blühen auf, wenn der Frost Einzug hält, ich gehe ein wie die sprichwörtliche Primel im Winter. Zu meinem Leidwesen gilt: Im Winter bin ich läuferisch nur die Hälfte wert!

Etwa einen Kilometer weit weist der feste, offenbar kaum benutzte Wirtschaftsweg so gut wie keine Höhenunterschiede auf. Dann wandelt er sich zur moderat ansteigenden Rampe. Zu allem Überfluß geht das bisher fußschonende, weitgehend plane Geläuf in eine Art Pflasterstraße über. Wohin die Füße setzen? Bis zu faustgroße, bombenfest verankerte Brocken ragen aus dem Boden. Nach wenigen Schritten erfasst mich Reue: Falsche Schuhwahl! Schmierigen Morast hatte ich erwartet, deshalb eines meiner ältesten Schuhpaare unter die Sohlen geschnallt. So weit, so richtig. Nur leider mangelt es den Tretern altersbedingt an Sohlendämpfung. Normale Unebenheiten gleichen sie aus, nicht jedoch solche Killersteine.

Nach 4,5 Kilometern und endlich der Fußfolter entronnen, kreuzt der Kurs einen Hauptweg. Hier muss ich links abbiegen, um die erste, die "Kopfschleife" der "8" zu vollenden. Vollendung in fordernder Steigung, immerhin "versüßt" von glattem, bombenfest gewalztem Boden. Puls steigt, Atem geht tiefer, ich lasse es langsam angehen, richte mich in erhöhter Anstrengung ein. Stimmen hinter meinem Rücken wecken Neugier. Kurzes Verharren in Tateinheit mit Umwenden: Zwei Läufer verkürzen rasch die Distanz. Wenig überraschend für mich, da irgendwann heute erwartet, identifiziere ich Ramin als einen der beiden. Die Absicht hier zu laufen äußerte er bereits letzte Woche, als wir uns auf dem Frauenkopf in Stuttgart trafen.

Ich falle wieder in angestrengten Trab, Sekunden später holen die beiden mich ein. "Und wie geht's dir heute?" - Ramins Frage stellte ich mir nach dem Einlaufen mehrfach selbst. Die Beine waren von Beginn an schwer und daran hat sich im Grunde wenig geändert. Sollte mir heute dasselbe Ausdauerschicksal winken wie zuletzt beim Frauenkopf Marathon, als ich mir im Zustand "mausetot" auf der finalen Runde Gewalt antun musste? - "Leider fühle ich mich von Anfang an schon müde!" - Meine in Selbstmitleid badende Antwort entspricht zwar der Wahrheit, fordert wohlwollenden Zuspruch aber geradezu heraus: "Das wird schon noch besser werden!" lässt sich Ramin infolgedessen ein und sein unbekannter Begleiter murmelt etwas Unverständliches, das nach Bestätigung klingt. Den mir auf der Zunge liegenden Widerspruch schlucke ich runter, auch wenn ich nicht wirklich dran glaube, dass die Lähmung im Gebein noch weichen wird.

Der Parkplatz kommt in Sicht, die Strecke führt stückweit daran vorbei. Einstweiliger Abschied von Ramin und etwa 50 Meter Abstecher hin zum Auto. "Früher" hätten mir diese 2 mal 50 Extrameter Bauchschmerzen verursacht, ebenso der Aufwand fürs nun folgende Verpflegungsritual "Gel plus Wasser" am offenen Kofferraum. Vermutlich hätte ich die "Verschwendung" von alles in allem etwa zwei bis drei Minuten nicht über mich gebracht. "Früher" kalkulierte ich zum Verpflegen in Sekunden, fünf, allenfalls zehn: Gel bei der Annäherung schlucken, Tempo vermindern, Trinkbecher schnappen und in der Bewegung hinter die Binde kippen ... "Früher" ist vorbei! Besonders in den letzten Jahren veränderte sich meine Laufwelt dramatisch. Vor nur fünf Jahren war ich noch imstande 246 Kilometer von Athen nach Sparta zu laufen, nun muss ich all meine Energie darauf verwenden einen Marathon zu überstehen; möglichst ohne bei diesem Versuch völliger Entkräftung anheim zu fallen. Sieben Gels, eins bei jedem Passieren des 8er-Knotens, werden helfen. Ebenso oft werde ich trinken. Bei Temperaturen wenig über dem Gefrierpunkt weit mehr Flüssigkeit als erforderlich. Doch lieber ein paar Mal in die Büsche (noch mehr Extrazeit), als dehydriert ein erhöhtes Thrombose-Risiko eingehen. Ein Risiko, an das ich übrigens nicht ernsthaft glaube, das ich als folgsamer Patient eines ausgezeichneten Arztes (der meist richtig lag mit seiner Einschätzung) dennoch zu vermeiden trachte.

Zeit spielt also auch heute keine Rolle. Während ich aufbreche und auf den mit Pfeilen "unverlaufbar" markierten Pfad zurückkehre, ignoriere ich ganz bewusst die Uhr. Vermutlich werde ich auch heute mehr als fünf Stunden auf Marathondistanz unterwegs sein. Und wenn schon! Mehr Wert lege ich auf die Absicht jeden der 42.195 Meter zu laufen. Wenigstens das sollte mir gelingen! Ein an die Vierdimensionalität der Strecke - Länge, Breite, Höhe, Zeit - anknüpfender Gedanke kommt mir in den Sinn: Die "vorläufigen" Abschiede, erst von Klaus, später von Ramin, waren wahrscheinlich endgültiger Natur. Es ist kaum davon auszugehen, dass einer der beiden mich überrunden wird. Beide hatten bei der ersten Begegnung mindestens einen Umlauf absolviert. Bevor sie weitere 10,5 km einer Runde aufholen können, werden sie bereits ihr Ziel erreichen.

Pfeile am Boden und Track auf der Uhr leiten mich verlässlich. Schmierig, klebrig gebärdet sich der Pfad nur zu Beginn der "Bauchschleife" der "8". Auf überwiegend festem Geläuf komme ich gut voran, auch wenn Steigung und Gefälle nun beinahe unablässig wechseln. Keine großen Höhenunterschiede, in der Summe dennoch belastend. Ich jogge an einem Flugplatz vorbei. Kurz geschorene Wiesen als Lande- und Rollpisten zu meiner Linken, rechter Hand eine hölzerne "Scheune". Die Bezeichnung "Flugzeughalle" will mir gedanklich nicht recht über die Lippen kommen. Was vermutlich daran liegt, dass ich als ehemaliger Luftwaffensoldat in domhohen Flugzeughallen stand, die diesem hölzernen Schuppen eher den Status einer Hundehütte zuweisen. Ich lasse den Blick übers leere, für Dezember unerwartet grüne Flugfeld schweifen. Kurz verweilt er am rot-weißen, zu meinem Erstaunen geblähten Windsack. Der hält sich fast in der Waagerechten, obwohl ich bisher so gar keinen Luftzug verspürte. Vom Windsack schießt mein Blick steil in den Himmel, gerade so, als wollte er dem Looping eines imaginären Kunstfliegers folgen ... Während der Herfahrt und noch zum Start schien völlig überraschend und von der gestrigen Wetterprognose geleugnet die Sonne. Von diesem Segen sind da oben nur noch ein paar blaue Flecken übrig. Schichtwolken schieben dem sonnigen Wetter unaufhaltsam einen Riegel vor.

Gefälle beschleunigt meine Schritte, erst moderat, zuletzt immer rasanter. Während rechts in spitzem Winkel mein Rückweg einmündet, trudele ich weiter abwärts, einem noch unbekannten, hinter einer Linkskurve verborgenen Wendepunkt entgegen. Als "Wendestein" erwähnt ihn die Streckenbeschreibung. Diesen Stein gibt es wohl auch, am Rand eines Parkplatzes ... oder etwa nicht? Ein blauer, auf den Boden gesprühter Punkt samt Wendepfeil enthebt mich jeglicher Spekulation. Kehrt marsch und zurück, nun wieder aufwärts und dem spitzwinklig einmündenden Weg folgen ...

Im unablässigen, wenngleich gemäßigten Auf und Ab des Weges wird mein Job "Marathon über Esslingen" nicht leichter. Ich mag mich irren, doch die zweite Schleife der "8" scheint den Löwenanteil der Höhenmeter auf sich zu vereinigen. Entgegen lange schwelender, schwacher Hoffnungen widerfährt mir kein "spätes Erwachen". Da war nichts blockiert, nichts kann sich lösen, es fehlt mir schlicht an Ausdauer. Das ist aber kein Grund die Flinte frühzeitig ins Korn zu werfen. Schwere Beine, körperliche Unbill - ich kann sie lange ertragen.

Mehr Höhenmeter, dafür zum größten Teil fester, ebener Untergrund. Ein Blick auf den Track kündigt den letzten halben Kilometer vor Vollendung der ersten Runde an. Stückweit noch bergab, voraus erkenne ich einen quer verlaufenden Weg, dem ich nach rechts werde folgen müssen. Schon jetzt ist mir klar, was mich nach dem Abbiegen zum Rundenfinale erwartet: Steigung! Und das nicht zu knapp, wie ein Blick voraus, entlang des schnurgeraden Wirtschaftsweges beweist. Christopher Greenaway, der Veranstalter, ist ein Mann mit Humor: "We love hills" sprühte er auf den Boden. Für mich eher Galgenhumor, weil einsetzende Schnappatmung nicht mal ein Lächeln zulässt. Denn laufen will ich, laufen muss ich, keinen Meter werde ich gehen! Kleine Tippelschritte, Kraft sparen, weitere dreimal muss ich hier noch rauf ...

Die zweite Runde unterscheidet sich wenig von der ersten. Sowohl hinsichtlich meines Empfindens, als auch die äußeren Umstände betreffend. Etwas wärmer ist es geworden, so dass die vorhin noch gefrorenen Wegstücke auf den ersten zwei Kilometern nun auch klebrig unter den Sohlen "schmatzen". Noch mehr Naherholungssuchende vertreiben sich jetzt, am späten Vormittag, hier die Zeit. Gehen spazieren, alleine, im Zwiegespräch oder im familiären Kreis. Joggen, mir entgegen oder mich überholend. Mittäter bleiben weiterhin die Ausnahme und da sie sich meiner Mittäterschaft nicht sicher sein können auch stumm wie die Fische drunten im Neckar. Gassigeher begegnen mir zu Hauf. Alle paar Minuten darf ich neue Rassestudien anstellen. Von Dobermann, über Dackel oder Retriever, bis hin zum Border Collie und undefinierbaren Promenadenmischungen ist alles vertreten. Entlang matschiger Wege erwecken die Hundeführer mein Mitleid. Erste Handlung zu Hause wird sein - als Hundebesitzer mir durchaus vertraut - den Vierbeiner vom Dreck zu befreien. Dabei gilt: Je länger die Fellhaare, umso pampiger! Die augenscheinlich schmutzigsten Lebewesen sitzen heute allerdings auf Mountainbikes. Bis zum Stehkragen mit Schlammbatzen besprenkelt pedalieren sie an mir vorbei. Dreckspritzer auf schwarzer Radbekleidung kommen optisch sehr vorteilhaft zur Geltung!

Schon im zweiten Umlauf ist mir die Strecke vertraut. Es müsste sich schon ein Elch zwischen Bäumen zeigen oder ein Ufo vor meinen Füßen landen, mich aus einsetzender Lethargie zu reißen. Ein bisschen (lautloses) Fluchen auf dem mit groben Steinen gepflasterten Abschnitt. Einmal mehr das Schnaufen auf langer Rampe vorm Parkplatz. Neuerlich der Umweg übers Auto. Zum dritten Mal Gel und Wasser. Mit gewisser Wahrscheinlichkeit verlängert solches Handeln meine Reichweite, ganz sicher aber zwingt es mich demnächst wieder mit geöffneter Hose an den Streckenrand. Kofferraum zu und ab ... beinahe übergangslos schlüpfe ich zurück in den mentalen Tunnel.

Man denkt was, wenn man so vor sich hin trottet. Nichts, dessen Bedeutung über den Moment hinaus reichen würde. Wie könnte ich mir folglich merken, welche Sandkörner da so durch meine Hirnwindungen rieseln. Erhöhte Innen-, zugleich vernachlässigte Außenwahrnehmung im Läufertunnel. Und so kommt es, dass ich mich verlaufe. Nicht sonderlich weit, vielleicht 50 Meter, bis die Erkenntnis durchgesickert ist: Hier war ich vorhin nicht! Ich bleibe wie vom Blitz getroffen stehen, mein Blick saugt sich an der Uhr fest. Ich hätte abbiegen müssen bedeutet mir der Track! Zurück und Laufrichtung korrigieren, kaum mehr als eine Minute Zeitverlust.

Flugplatz, dran vorbei, rauf, runter, rauf, zur Wende und wieder zurück. Klingt einfach, ist es aber nicht. Es kostet Mühe. Gottlob fühlt es sich nicht so an, als könnte ich diese Mühe nicht weitere zweimal aufbringen. "We love hills" - finaler Anstieg und nächster Verpflegungsstopp.

Runde drei ist Routine und Kampf. Mehr Kampf als Routine, mit immerhin schon mehr als einem halben Marathon in den Beinen. Steiles fühlt sich noch steiler an, was jedoch mutmaßlich nicht bedeutet, dass ich langsamer werde. Noch bin ich von "grenzwertig" stückweit entfernt. Weder am Parkplatz noch unterwegs begegne ich weiteren Bekannten. Klaus und Ramin werden die einzigen bleiben, so viel sei vorweg genommen. Und wie erwartet, werde ich auch diesen beiden nicht mehr begegnen.

Es ist noch wärmer geworden, vielleicht 6 oder 7°Celsius Lufttemperatur. Längst bin ich in klatschnassen Klamotten unterwegs. Doch erst gegen Ende der dritten Runde wird vermehrtes Schwitzen das mehrfache Blasenentleeren verhindern. Der Erwähnung wert ist es mir, weil es meinem Doc beweist wie brav Udo auf Marathonpfaden der Rehydrierungsanweisung folgt. Und weil ich mir am Ende durch Subtrahieren "verschwendeter Zeit" mein Ergebnis schöner rechnen will ...

Ein Laufpaar, das ich schon vorzeiten ins Visier nahm, bisher aber nicht einzuholen vermochte, läuft zu zwei gehenden Männern auf. Man kennt sich, hält zu viert ein Schwätzchen. Kurzes Verweilen, dann wendet man sich zum Gehen. Ich überhole das Quartett und grüße, was die vier, ins Palavern vertieft, offenbar nicht einmal wahrnehmen. Mein Gruß verhallt ohne Echo zwischen den Bäumen ... "Noch zum Parkplatz, dann sind wir fertig!" verkündet einer der Männer. Stückweit enteilt drehe ich mich noch mal um: An der Fortbewegungsart "Gehen" des Quartetts hat sich nichts geändert. Offenbar bin ich nicht der Einzige, dem seine Laufzeit heute am Allerwertesten vorbeigeht.

Vierte und letzte Runde: Ich werde es schaffen auch alle Anstiege der Finalrunde im Trab zu nehmen. Auf längst "wachsweichen Stelzen" einher trottend käme mir vermessen vor, diese Einschätzung mit "ausreichend hoher Ausdauer" zu begründen. Daher so: Noch bin ich nicht schwach genug, in einem der verbleibenden Anstiege vollends zu erlahmen. Nach und nach reihe ich die inzwischen vertrauten "Wegeschnipsel" aneinander. Setze hinter jedem einen gedanklichen Haken, manchmal auch hinter Wegmarken. Persönliche Wegmarken, die vielleicht niemandem sonst auffallen, im Grunde ja auch für mich keine Bedeutung haben. Wie etwa die Stelle, an der eine solitär stehende Fichte den Boden mit zahllosen Astenden dekorierte. Als hätte ein brausender Sturmwind sie zerzaust. Vielleicht brachen die nicht mal unterarmlangen Spitzen des Nadelbaums aber auch unter zwischenzeitlich getauter Schneelast ab!?

Zum letzten Mal am Auto verpflegen, höchstens noch sechs Kilometer. Eigentlich eine Phase, in der ich gewohnt war schon an den Zieleinlauf zu denken. Heute kommt mir das nicht in den Sinn, was vermutlich den noch zu überwindenden Buckeln geschuldet ist. Beim Aufbruch am Auto komme ich nicht umhin den 36 auf der Uhr angezeigten Kilometern Tribut zu zollen: Nur sehr zögerlich und auf schmerzenden Füßen komme ich in die Gänge. Sicher eine Minute verwende ich darauf den unterbrochenen "Tippeltrab" zu restaurieren. Und nun werde ich bis zum guten Ende nicht mehr stehenbleiben! Das ist mehr als vage Absicht. Es hat den Charakter einer Verpflichtung. Mir selbst versprochen, weil jede Unterbrechung das finale Leiden unnötig verlängern würde. Überwacht wird das Versprechen von einer gnadenlosen "inneren Kontrollkommission", meinem Läufergewissen. Allenfalls Naturkatastrophen vom Range eines Erdbebens, Vulkanausbruchs oder Blitzeinschlags könnten mich nun noch zum Halten zwingen.

Ich kämpfe mich durch den Wald über Esslingen, die noch verbleibenden Anstiege gedanklich vorwegnehmend. Höhenmeter-Countdown: Noch vier Buckel, dann drei, irgendwann der letzte, allerdings schlimmste von allen. Will's mir erleichtern und diesmal nicht vorausblicken, mir nicht von stetig zunehmender Steilheit den Schneid abkaufen lassen. Bis ich dann doch Kopf und Blick hebe und das Ende der Tortur fixiere. Einfach, weil ich's noch kann. Weil ich zwar erschöpft aber immer noch stark genug bin, diese Rampe im Tippeltrab zu nehmen. Noch 50 Meter, 30, 10 ... schließlich liegt der Parkplatz vor mir. Noch eine letzte, "schikanöse" Attacke gilt es zu parieren. Der Streckenplan schreibt vor die Startlinie ein weiteres Mal zu überlaufen und die Richtung bis zur ersten Weggabelung beizubehalten. Dort kehre ich gemäß Anweisung um und überschreite wenig später in umgekehrter Richtung die Startlinie, jetzt als Ziellinie.

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Mit 5:18:32 Stunden war ich wie erwartet etwas schneller als zuletzt am Frauenkopf unterwegs. 200 Höhenmeter weniger (insgesamt 600) bei gleicher Distanz liefern dafür eine hinreichende Erklärung. Ansonsten waren Empfindung und Verlauf der Wettkämpfe weitgehend identisch: beide endeten in weitgehender Erschöpfung. Weshalb sich mir die Frage aufdrängt, ob das nun so bleiben wird. Habe ich diese beiden Auftritte in profiliertem Gelände als Blaupause für alle ähnlichen Wettkämpfe zu betrachten? Was den Laufspaß erheblich schmälert, ist das Empfinden schwerer, müder Beine schon auf den Anfangskilometern. Darüber hinaus treiben mich Zweifel um, ob ich je wieder (deutlich) weiter als Marathon werde laufen können. Zweifel, die auch die Erfahrung aus mehr als 300 Langdistanzwettkämpfen in fast 20 Jahren nicht aufheben kann. Um Weihnachten herum lag meine Ausdauer stets im "Koma", dennoch gelang es mir mich bis zum Sommer für längste Distanzen aufzubauen. Was die jetzige von der vormaligen Situation unterscheidet, sind im wesentlichen zwei Umstände: Medikamente, die ich einnehmen muss und meine nicht länger zu leugnende Abneigung mich wie früher für den Erfolg zu schinden. Es bleibt abzuwarten, ob mich die Sonne des neuen Jahres in dieser Hinsicht wiedererwecken wird.

Wo stehe ich? Fast 5:19 Stunden für einen Marathon klingt durchaus nach lahmer Schnecke. Bedenkt man insgesamt 7 Verpflegungspausen, viermal 100 Meter Umweg zum Auto, ein kurzes Verlaufen und diverse körperliche Notdurften, dann lassen sich etwa 20 Minuten heraus rechnen. Für einen flachen Marathon wäre ich derzeit etwa 4:40 bis 4:45 Stunden unterwegs. Nicht gut, aber nach Lage der Dinge akzeptabel für mich.

 

Fazit zur Veranstaltung

Die 10,5 km lange Runde des "Marathon über Esslingen" verläuft weitgehend windgeschützt im Wald, nutzt fast ausschließlich Wald- und Wirtschaftswege. Lediglich ein etwas ruppiger, von bis zu faustgroßen Steinen durchsetzter Abschnitt malträtiert die Füße. 150 Höhenmeter pro Runde (insgesamt 600) klingen harmlos, sollten allerdings nicht unterschätzt werden. Die Runde ist in Form einer "8" angelegt, wodurch man sich nach jeweils etwa 5 Kilometern, im Mittelpunkt der "8", verpflegen und die Ausrüstung korrigieren kann.

Rahmenbedingungen: Selbstverpflegung, individuelle Startzeit, Zeitnahme in eigener Regie und Nachweis der erbrachten Leistung über das GPS-Protokoll der Uhr.

Als Veranstalter fungiert Christopher Greenaway, der den Lauf über den Veranstaltungskalender des 100 Marathon Clubs jeweils rechtzeitig ausschreibt. Danke Christopher!

Fazit: Gerne wieder, auch wenn's hart war!

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