Liwa-Laufevent

Marathon eins,  (Montag 19. April)

Marathon zwei, 10,5 km für Ines und Roxi,  (Montag 26. April)

Marathon drei,  (Freitag 30. April)

 

 


19. April 2021

Marathon eins:    Viel Gegend, (fast) keine Läufer

Genervt vorm Start: Eine blöde Umleitung bei der Anfahrt kostete unnötig Zeit, vom hoffnungsvollen Wetter daheim "beamte" ich mich in ergiebigen Regen und nun kaut mir auch noch diese Schwäbisch schwätzende Labertasche ein Ohr ab. Auf dem Parkplatz vorm Bürgersaal von Lichtenwald: Heckklappe meines Autos steht offen, ich dahinter, will meine Laufvorbereitung abschließen. Es sind jene wichtigen vielleicht fünf Minuten vorm Start, in denen ich voll fokussiert alles ringsum ausblenden und die gedankliche Checkliste nötiger Ausrüstung abhake. Mir darüber hinaus noch einmal alles Unerlässliche durch den Kopf gehen lasse. Innere Versenkung, die mir meist recht gut gelang. In jedem Gedränge, sogar eingesponnen in den Kokon tausendstimmigen Murmelns eines startbereiten Läuferfeldes. Doch diese Frau schafft mich. Ihre sägend, in getraaaagenem Schlafwagen-Schwäbisch vorgebrachten Sätze machen mich nervös. Sagt sie wäre Mitglied beim AST Süßen und nur mal eben hergefahren, um zu "schauen", wie das hier so sei. Aber sie verstünde das Ganze nicht. Also mache ich einen Versuch ihr zu erklären, was auf der Internetseite des Liwa-Laufevents schlüssig erklärt steht:

Vorstehende Fakten widme ich dem noch unkundigen Leser meines Berichts. Der Frau gegenüber komme ich über den ersten Satz nicht hinaus. Das wisse sie alles, fände sich dennoch nicht zurecht. Ich deute in Richtung der unübersehbaren Start-/Zielmatte, wonach sie jedoch immer noch ratlos dreinblickt. "Un' wooo gääääht's na' waiidaaa?" Leidet die Frau unter Wahrnehmungsdefiziten? Demenz? Unübersehbar weisen mit orangefarbener Sprühkreide ausgebrachte Pfeile in Richtung Straße. Mir reicht es jetzt. Ich wende mich wieder dem Inhalt meines Kofferraumes zu, entschlossen mich nicht mehr ablenken zu lassen. Doch die Nervensäge umschleicht mich mit Corona-Abstand wie der Wolf die sichere Beute, gibt keine Ruhe: "Waas laufet sie nacha?" Ich quetsche ein leises "Marathon" zwischen den Zähnen hervor und lasse es extrem genervt klingen. "Waas, Maaaradon!? Naa, des isch mir zu weid! Un' i will eigentli a it regischtriert werra!" Endlich scheint die Frau zu merken wie nahe sie dem Tode ist und spricht ihren Schlusssatz: "Aba i will sie ja ned aufhalde!"

Keine Minute später bin ich bereit, marschiere die paar Meter zum Start, drücke meine Uhr ab und überschreite die Messschleife: Zeit läuft! Fünf Laufschritte begleitet von kaltem Lufthauch und ... Mist! Handschuhe vergessen. Verdammte Labertasche!!! Also Einkehrschwung zum Auto, Handschuhe über und ab ... Zum Auftakt entlang der Straße, die Lichtenwald mit Lichtenwald verbindet. Ortsteile, zwischen denen sich Sportbereich und Bürgersaal befinden. Die himmlische Brause tröpfelt inzwischen nur noch - möge sie bald versiegen. Die Kälte (4°C) setzt mir mehr zu. Vor allem, weil sie mich mitten im Frühling zu winterlicher Verpackung nötigt. Zusätzlich eingeschnürt vom Laufrucksack fühle ich mich nur eingeschränkt lauftauglich.

Unbeirrt folge ich den Pfeilen entlang des Radwegs und passiere alsbald einen Lichtenwald-Ortsteil (Hegenlohe). Erstes Kunstwerk ("Blauer Ammonit") vorm Bürgerzentrum, erstes Foto. Nur Minuten später, jetzt auf freier Strecke, eine zweite Skulptur ("Augenblick"). Weder das eine noch das andere Werk vermag mir zu diesem Zeitpunkt das "Herz zu wärmen". Noch ringe ich mit den Umständen und mir selbst, versuche so gut es geht auf Touren zu kommen. Alsbald senkt sich der asphaltierte Radweg dem Tal entgegen und wenig später biege ich linkerhand in den Wald ab.

Und damit beginnt mein Problem! Kein läuferisches, sondern das des Berichtschreibers in eigener Sache. Grob geschätzt 80 Prozent der Strecke verstecken sich in den ausgedehnten Forstrevieren der Gegend. Überwiegend noch kahler Laub-, gelegentlich Mischwald. Der Läufer erlebt den Forst in wechselnden Ansichten, da kommt optische Tristesse erst gar nicht auf. Erginge ich mich in wiederholten Schilderungen der Waldlandschaft, niemand läse den Bericht bis zum Ende. Daher die Bitte an den verehrten Leser: Denk dir Wald in all seinen Erscheinungsformen dazu, wo ich ihn nicht gesondert beschreibe.

Forstwege: Abwärts, wieder aufwärts, mehrfache Richtungswechsel, irgendwann vorbei an beladenem Holz-Lkw, dessen Fahrer gerade dabei ist die Ladung mit Gurten zu sichern. Vorbei auch an einer "Instanz" der Zeitmessung. Unterwegs "überwacht" zu werden, damit hätte ich nicht gerechnet. Schon gar nicht an dieser Stelle, nach nur drei Kilometern und mitten im Wald sozusagen. Lange abwärts, sicher geführt von Pfeilen und üppig aufgepflanzten Schildern. Noch decken sich die Routen der drei möglichen Streckenlängen 10km/HM/Marathon. Mutterseelenallein im Wald überlasse ich nichts dem Zufall und ziehe im Halbminutentakt auch den Strecken-Track zu Rate, den ich mir auf die Uhr lud. Völlige Übereinstimmung zwischen Markierung, Track und meinem Laufweg bisher (und das wird auch ausnahmslos in den folgenden Stunden so bleiben ...).

Erst lange abwärts, nun ewig weit aufwärts in recht moderater Steigung. Letztlich ein Kilometer Steigung, bis sich die Route wieder senkt. Derzeit registriere ich noch akribisch Streckendetails, weil ich mit meiner Frau Ines wiederkommen möchte. Sie wird die 10 km-Strecke unter die Füße nehmen. Nach siebeneinhalb Kilometern ist es dann soweit: Streckenteilung. HM- und Marathonläufer nach rechts und bergab ... immer weiter bergab ... sehr lange bergab. Auch als der Wald mich auf einen von Streuobstwiesen gesäumten Feldweg entlässt noch immer talwärts. Nehme es mit Gleichmut, auch wenn ich mir jeden verlorenen Höhenmeter demnächst wieder werde erkämpfen müssen. Vom Schotterweg auf Asphalt mit zunehmendem Neigungswinkel. Nach etwa 9 Kilometern erreiche ich den vorerst tiefsten Punkt des Kurses.

Die Route wendet sich sofort wieder ab vom Tal und damit auch vom Lärm einer nahen Bundesstraße. Schritt um Schritt, sofort wieder in minimaler Steigung, dringe ich in ein enges Seitental vor, das man mir alsbald auf einer Tafel als "Kirnbachtal" vorstellt. Minutenlang begleitet mich das Plätschern des Kirnbachs. Höre ich es wirklich oder bilde ich mir das nur ein, weil über Steine talwärts rinnendes Wasser nun mal solche Geräusche erzeugt? - Der Weg gewinnt an Steigung, teilt sich, teilt sich kurz darauf nochmal. Pfeile, Tafeln, Track auf der Uhr: Rechts rum, links rum, Orientierung leicht gemacht, ich muss nur laufen. Was mir nach erst 13 Kilometern noch mit erträglichem Kraftaufwand vom Fuß geht.

Das Lauftempo überlasse ich der "motorischen Automatik", man könnte auch sagen meinem Laufgefühl. Wer in profiliertem Terrain, in stetem Auf und Ab, nicht intuitiv und von Beginn an ein der Tagesform angepasstes Tempo wählt, wird später eingehen wie die sprichwörtliche Primel im Winter. - Etwa viereinhalb Kilometer Steigung liegen hinter mir, als ich den Waldrand und mit ihm den Sattel eines Höhenrückens erreiche. Kurzer Weitblick, der sich im regenfeuchten Dunst verliert, zudem von der nötigen Aufmerksamkeit beim Überqueren einer Straße beendet wird. Und drüben tauche ich auch gleich wieder zwischen Bäumen unter ...

Nicht zum ersten Mal denke ich an meine vorab deponierte Trinkflasche. Mit dem Auto steuerte ich einen Streckenpunkt neben einer Straße an, den ich grober Schätzung zufolge nach etwa einem Marathondrittel erreichen sollte. Wie das so ist mit groben Schätzungen, sie können auch grob fehlerbehaftet sein. Nach 16 Kilometern trotte ich immer noch zwischen Bäumen einher, von einer Straße weit und breit nichts zu sehen. Das ändert sich Minuten später, als ich links abbiege und parallel zu besagter Straße am Waldrand weiter laufe ...

... weiter laufe und mich kurz danach einer unüberwindlich wirkenden Walze aus tausend Leibern gegenübersehe. Vorneweg der Schäfer mit zwei Hunden, dahinter auf breiter Front - von Waldrand zu Waldrand über Weg und Straße - die Herde, dicht an dicht. Schafe weichen aus, das weiß ich von früheren Begegnungen. Drei, vier eingeschlossene, von wolligen Leibern umflutete Autofahrer ziehen es dagegen vor, die Heimsuchung stehend abzuwarten. Ich brauche mein Tempo nicht mal reduzieren, mache mir einen Spaß daraus randseitig einen Keil ins unablässige "Mäh!" zu treiben. Viel zu schnell endet das willkommene Intermezzo: Mit lauten Kommandos und Pfiffen treibt ein zweiter Schäfer säumige Tiere am Endes des Korsos vor sich her ...

Kilometer 17: Flasche gefunden, daraus getrunken, mit dem verbleibenden Rest eine der Rucksackflaschen nachgefüllt. Die leere, flache Flasche deponiere ich in einer großen Rucksacktasche, um sie nach dem Lauf nicht noch bergen zu müssen. Das Auftanken kostete enorm Zeit. Zeit, die bei normalem Austragungsmodus des Marathons nicht anfiele. Doch welche Rolle spielt schon Zeit in diesen Monaten des pandemischen Ausnahmezustandes, wo so vieles Selbstverständliche gar nicht mehr oder nur auf Umwegen erhältlich ist? - Ich nehme wieder Fahrt auf und reiße mir spontan die Schildkappe vom Kopf. Es hat aufgehört zu tröpfeln - hab ich gerade eben für mich entschieden. Im Wesentlichen stimmt das wohl auch, wenngleich meine Brillengläser dann und wann noch ein paar Spritzer abbekommen. Endlich ohne Kappe! Mitunter hellt sich der konturlos weiße Himmel auf, dann blendet gleißendes Licht meinen forschenden Blick. Blinzelnd wünsche ich mir Blau statt Weiß dort oben. Ein Wunsch, der noch eine ziemliche Weile unerfüllt bleiben soll ...

Kilometer 20: Der Wald wird lichter, ein Hain junger Birken sorgt für optische Abwechslung. Nur einen halben Kilometer weiter geschieht, was ich längst erwarte: Ich lasse den Wald hinter mir und halte zwischen Wiesen auf den Ortsrand von Lichtenwald zu. Zum ersten und - wie ich Stunden später resümieren werde - auch einzigen Mal erkenne ich voraus zwei Läuferinnen. Letzte Unsicherheit Teilnehmerinnen am Liwa-Event vor mir zu haben vertreibt ein Blick auf ihre gelbe HM-Startnummer als ich die Damen grüßend überhole. Erste Sichtung der Läuferinnen und Überholmanöver liegen nicht nennenswert auseinander. Anscheinend haben die beiden ihre Akkus bereits vollständig entleert, jedenfalls wandern sie in gemütlichem Tempo dem Ziel entgegen.

Ich durchquere einen Ortsteil von Lichtenwald (Thomashardt) ohne nach Sehenswertem Ausschau zu halten. Auch den zwischen Anwesen hoch aufragenden, rund um den oberen Rand mit blauem Überlauf und Tropfen bemalten Wasserturm nehme ich nur flüchtig wahr. Ich bin auf Markierungen und meinen Track fokussiert, denn in Kürze wird sich die Strecke spalten. Kurz davor werde ich ein weiteres Mal kontrolliert, trabe an einer Instanz der Zeitmessung vorbei. Dann ist es soweit, Pfeil, Schild und Track schicken mich nach rechts und wieder aus dem Dorf hinaus.

Hinaus und vor die nächste Skulptur. Beim fälligen Fototermin halten sich Erkenntnis und Nichtverstehen die Waage: "Perle der Erinnerung" heißt die mannshohe, mit kleinen Mosaiksteinchen und goldenen Noppen bestücke "Zwiebel". Offenbar entstammt sie denselben Händen, die schon die auf Kilometer eins gesichteten Kunstwerke schufen. Die äußere Form vermag ich vielleicht noch mit einer "Perle" zu assoziieren, welche Rolle "Erinnerung" bei der Namensgebung spielte, wird mir als Kunstbanause wohl für immer verborgen bleiben. Am ehesten "erinnert" mich die Skulptur an einen gefährlichen Winzling, der aktuell und über Lichtenwald hinaus die ganze Welt in Atem hält.

Seit der Streckenteilung gebe ich Höhe auf, kurz hinter der "Perle" dann wieder im Wald. Abwärts, unaufhaltsam abwärts. Gut laufbare Wege bisher und doch setzte bereits all überall in meinen bewegten Körperteilen ein vernehmliches Zwicken ein. Am störendsten gebärdet sich die Lendenwirbelregion und davon ausgehend meine Pomuskulatur links. Das "Kreuz" - der untere Rücken - war schon immer meine Problemzone, die ich seit Jahren mit Krafttraining in Schach halte. Von Zeit zu Zeit meckert sie trotzdem, so auch jetzt. Ich führe das frühe Einsetzen der Beschwerden auf mangelndes Training in profiliertem Gelände und unebenem Geläuf zurück. Dass es mich hier, auf fordernd abschüssigem Terrain, stärker belästigt, scheint mir nicht unnormal. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich trotzdem ...

Nach zwanzig Minuten Schussfahrt mündet der Forstweg ins "Katzenbachtal", dessen Bezeichnung ich einer geologischen Schautafel entnehme. Ein darüber angebrachtes Schild stellt die ab hier zu laufende Piste als "Bannmühletalweg" vor. Wieder folge ich einem munter dahin glucksenden Bach, diesmal talwärts. Meine vom Wegnamen aufgeladene Erwartung wird nicht enttäuscht: Zunächst komme ich an einem alten, aus dunkelbraunem Sandstein gefertigten Brücklein vorbei. Beidseits verwehren Gatter den Zutritt, ein Schild erläutert den Grund: Einsturzgefahr! Ein paar Minuten weiter dann die erhoffte historische Mühle, zwei fein restaurierte Fachwerkhäuser, malerisch in einem Talkessel errichtet. Nur Schritte davon entfernt geben zwei brusthohe Stelen (Wegsteine?) unleserliche Auskunft. Die Schrift unter Tierreliefs, links Reh (Hase? Wildschwein?), rechts Hirsch, ist in Sütterlin gehalten, das ich zwar in Kindheitstagen als Schmuckschrift erlernte, seither aber komplett wieder vergaß.

Noch immer bin ich talauswärts unterwegs, wenngleich in kaum noch wahrnehmbarem Gefälle. Alsbald geht das inzwischen asphaltierte Waldsträßchen in der Hauptstraße auf. Ich nutze den parallel geführten Radweg und nähere mich dem Stadtrand von Reichenbach an der Fils. Straße und Stadt durchfuhr ich bei der Anreise. Nur noch wenige Meter trennen mich von der zweiten deponierten Trinkflasche. Ich passiere das Ortsschild und lasse kurz dahinter verdutzt eine laser-/lichtschrankenbasierte Geschwindigkeitsmessung über mich ergehen. Zwischen Bäumen, in Tarnfarbe gehalten und damit so gut wie unsichtbar, grinst mich ein Blitzer an. Überrascht blicke ich mich um und suche das zugehörige Messfahrzeug. Allein: Es gibt keins! Schlussfolgerung: Die Messstation gehört offenbar der Stadt und lauert hier - vielleicht nicht ortsfest aber sicher über mehrere Stunden - auf rasante Beute. Als ich Stunden später die Stelle mit dem Auto passiere, strecke ich dem elektronischen Wegelagerer die Zunge raus (unfein aber immer noch besser als ein himmelwärts gerichteter Mittelfinger).

Steinwurfweit hinterm Blitzer rechts ab, über den Katzenbach, hin zu meiner Trinkflasche - die ich im Grunde nicht bräuchte, weil mein Wasservorrat im Rucksack für die verbleibenden vielleicht 15 Kilometerreichen wird. Zur Sicherheit trinke ich dennoch reichlich vom bevorrateten Nass, lege die Flasche danach zurück. Abholen nicht vergessen!! - Von nun an geht's bergauf. Das Ziel in Lichtenwald liegt dort oben hinterm Wald und ich stehe jetzt ganz unten, an der tiefsten Stelle der Route. Also hinan, dem bisher steilsten, zugleich schlechtesten Wegstück folgend. Erst schlüpfriges, von blank lehmigen Stellen durchsetztes Gras unter den Füßen. Danach bleibt die Piste haarig. Will heißen: Steil und obendrein vielfach schrundig uneben. Es gilt mehrere, von gigantischen Holzerntemaschinen ramponierte Kilometer zu überstehen. Hundert, bald tausend und mehr Festmeter entastete Stämme, in der Mehrzahl Buchen, säumen den Weg. Wer den Liwa-Marathon finishen will, sollte sich ausreichend "Körner", am besten eine ganze "Kornkammer", fürs letzte Drittel aufheben.

Mich bringt der elend lange Anstieg ans Limit. Warum das so ist, darüber kann ich nur spekulieren. Der Marathon am Frauenkopf in Stuttgart ist immerhin schon sechs Tage her, den sollte ich zwischenzeitlich verkraftet haben. Auch an der Summe der Höhenmeter (ca. 680) kann es nicht liegen. Entweder ist die Konzentration der An- und Abstiege auf zwei Täler ausschlaggebend oder ich laufe meiner Form noch immer gewaltig hinterher. Wie stets ein Rätsel ohne eindeutige Lösung, weshalb mir die Freiheit bleibt mich fürs mental Erträglichste, die Härte des Kurses, zu entscheiden.

Zuletzt über schlüpfrige Fahrspuren, in steilem Aufschwung auf den längst ersehnten Waldrand zu. Asphaltiert geht es dort weiter, endlich auch Fernsicht gewährend. Fernsicht über Wiesen und Höhen unterm inzwischen erfreulich blau-weißen Himmel. Für Minuten jogge ich durchs Wohngebiet eines (für mich) namenlosen Dorfes (Baltmannsweiler). Meine Augen folgen dem von oben hörbaren Jauchzen einer Kinderstimme zu einer Dachterrasse mit Trampolin. Ein (sicher Home-Schooling-geschädigter) Junge hüpft auf und ab, lässt in raschem Takt mal nichts, dann wieder Kopf und Brust erkennen. Als ich der Szene den Rücken kehre, wechselt er vom Jauchzen zu einem Mantra, im Sprungrhythmus gesprochen und dem enteilenden Läufer gewidmet: "Du-schaffst-das-du-schaffst-das-du-schaffst-das ..."

Dorf verlassen, abschüssiges Sträßchen, ländliche Idylle, immer wieder auch Schritte im Sonnenschein. Weideland ohne Viecher, weiter unten am Hang eine Koppel mit zwei Pferden. Auf die fehlenden Rindviecher treffe ich nach abruptem Richtungswechsel in Höhe ihres Stalls. Und die zwei Zossen in von blühenden Obstbäumen gesäumter Koppel bleiben nicht die einzigen. Ich überhole ein ungleiches Trio: Töchterchen im Reiterdress, daneben Mama, die einen Braunen am Zügel führt. Unzweifelhaft wird dieser blond gelockte Zwerg demnächst das vergleichsweise gigantische Ross besteigen. Vielleicht hat die Kleine ihre Reitstunde auch schon hinter sich. Wie auch immer: Wäre ich nicht Vater einer reitenden Tochter und Großvater zweier reitender Enkelinnen mit ähnlicher Statur, ich müsste mich kopfschüttelnd fragen, wie man ein so zerbrechlich wirkendes, kleines Wesen auf ein Pferd setzen kann. So aber durfte ich schon vor Jahren erleben wie kleine Mädchen an ihrer in jeder Hinsicht "großen" Aufgabe wachsen, sie mit Begeisterung und erstaunlichem Geschick bewältigten.

Weitere Wiesen, weitere Koppeln mit Pferden, weiter sanft hinab. Von Letzterem bin ich "not amused". Weil mein Ziel jenseits des Tales liegt, von hier gut zu sehen und höher droben. Jeden preisgegebenen Meter werde ich auf müden Beinen neuerlich erobern müssen. Zum Beispiel jetzt, auf einem Nebensträßchen, das am Dorfende in eine lebhaft befahrene Straße mündet. Den begleitenden Radweg nutze ich gemeinsam mit ein paar Passanten, die vom nahe gelegenen nächsten Ort entgegen kommen oder dorthin unterwegs sind. Ich durchmesse den kompletten Ort (Hohengehren) am Rand der Dorfstraße. Mit jedem Schritt voran gewinne ich auch minimal an Höhe. Was ich inzwischen, nach 37 Kilometern, mit ziemlichem Willenseinsatz unterstützen muss. Auf eine seltsame Weise fühle ich mich "blockiert". Von wachsender Schwäche, vor allem aber von diesem bei jedem Schritt spürbaren Ziehen im unteren Rücken, ausstrahlend bis in die Pobacke. Kein einschneidender Schmerz, auf Dauer aber doch ziemlich lästig. Genauso lästig wie die "fette" textile Verpackung, zu der dieser Frühling, der kein Frühling ist, mich wieder einmal verdonnerte. Irgendwann im Anstieg entblößte ich meinen Kopf. Auch Rucksack und Jacke, beides inzwischen überflüssig, würde ich mir gerne vom Leib reißen und in hohem Bogen wegwerfen.

Ein paar Jungs spielen lärmend auf einem Grundstück an der Straße. Der Vorlauteste (Mutigste? Frechste?) von ihnen fragt: "Laufen Sie einen Marathon?" - Nicht empathisch motiviertes Interesse leitet den Knaben: Statt eines aufbauenden Kommentars verfolgt mich nachplappernde Unreife: "Sport ist Mord, Sport ist Mord, Sport ist Mord, ... !" Schnappte er die Formel von bierbäuchig faulen Vorbildern auf oder woher stammt seine "Weisheit"? Sir Winston Churchill, den bereits 1965 verstorbenen ehemaligen Britischen Premierminister und Urheber des Spruchs, kennt er sicher nicht. Auf jeden Fall hört er gern den Klang seiner Stimme, die mich noch eine Weile begleitet.

Auf den Wald zu und geradeaus hindurch. Tatsächlich reihe ich fortan, auf den finalen Kilometern, schnurgerade, gottlob kaum noch mit Anstiegen gewürzte Abschnitte wie Perlen an einer Schnur aneinander. Waldende, ab hier parallel zur Straße weiter ... lange, sehr lange ... zu lange für meinen Geschmack. Ich will jetzt nur noch ankommen. Nach gefühlt einer Stunde, in Wahrheit nicht mal ein Viertel davon, biege ich letztmalig ab und halte auf Lichtenwald zu - meiner Schätzung zufolge noch etwa zwei Kilometer bis ins Ziel. Radweg, dann Feldsträßchen, alles asphaltiert, stückweit auch betoniert. Angebotstafeln weisen auf einen Hofladen hin, preisen Holzofenbrot, Hefezopf, Hausmacher Dosenwurst, Landjäger und Bärlauchpesto ... demnächst soll es zudem frische Maultauschen geben.

Hunger? Fehlanzeige, wie stets unterwegs auf langer Strecke. Der kommt später, vermutlich erst beim Abendessen. Besagter Hof mit Hofladen bleibt hinter mir zurück. Ich richte den Blick auf den bemalten Wasserturm und alsbald auf das kleine Rathaus des Ortes. Daran vorbei, einmal mehr auch an der Kiste der Zeitmessung und endlich an der HM-/M-Weiche in Richtung Ziel. Ein paar hundert Schritte noch im Ort, zuletzt dem außerhalb gelegenen Sportareal zustrebend. Und dann ist es vollbracht: Nach 5:06:15 Stunden und 43 (offiziellen) Kilometern bleibt die Uhr für mich stehen.

 

 


 

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26. April 2021

Marathon zwei  &  Ines' 10,5 km-Lauf:    Im Paralleluniversum?

Kein Zweifel angebracht: Ort und Strecke sind dieselben wie vor einer Woche. Und doch kommt es mir vor, als steuerte ich unser Auto in ein Paralleluniversum: Eine Welt wärmenden Sonnenscheins aus ungetrübtem Azur, in der kräftig sprießendes Blattgrün und blühende Obstbäume vom explodierenden Frühling künden. Eine ungemein heitere Sphäre, die mir das trübe, regnerische Grau letzter Woche an gleicher Stelle wie eine Fälschung meiner Erinnerung erscheinen lässt. Doch nicht nur das Wetter verändert den äußeren Rahmen an diesem Montag. Meine Frau begleitet mich. Nach jahrelanger, verletzungsbedingter Wettkampfabstinenz meldete sie spontan für die 10,5 km-Strecke. Die deckt sich auf den ersten 7,5 Kilometern mit dem Marathonkurs. Somit werden wir den Auftakt gemeinsam erleben, zum Trio ergänzt von unserer Hündin Roxi.

Wenn ich angesichts solcher Rahmenbedingungen nicht abhebe, dann liegt das an meiner Tagesform. Die weicht eklatant von der körperlichen Verfassung vor Wochenfrist beim ersten Liwa-Marathon ab: Heute bin ich müde, noch bevor der Schritt über die Startlinie die Zeitmessung in Gang setzt! Ursache: Das gestrige Finish beim Naabtal Ultra (50 km, zweite Teilnahme). Manchen (auch laufenden) Zeitgenossen mag jemand, der sich an zwei aufeinander folgenden Tagen zwei so lange Distanzen zumutet wie ein Narr vorkommen. Meinem Tun liegen jedoch weder Torheit noch Übermut zugrunde. Auch gelten in diesem von Sonne gefluteten Paralleluniversum identische Gesetze für Massenträgheit und Gravitation - stets meine unerbittlichsten Gegner auf jeder Laufstrecke. Mich der doppelten Keule "Ultra plus Marathon" auszusetzen ist Ausdruck meines (ultra-) läuferischen Überlebenswillens. Klingt in hohem Maße widersinnig, hat aber Methode, denn: In all meinen Ultra-Jahren seit 2006 stellte nichts die Langzeitausdauer so verlässlich auf die Beine wie zwei lange Kanten, getrennt lediglich von der unvollständigen Regeneration einer Nacht.

Pandemisch motivierte Selbstbetrachtung: In diesem Jahr hing ich sehr lange durch. Baute Ausdauer ab und viel überflüssige Körpermasse auf. Woche um Woche ging ins Land, bis ich endlich die im Unterbewusstsein wurzelnde Blockade als solche erkannte: Wozu trainieren? Covid-19-bedingt wird noch lange kein normaler Wettkampf möglich sein! - Die Antwort mag stimmen, rechtfertig jedoch nicht die unzulässige Frage! Unzulässig für jeden Läufer, ganz besonders aber für jene, die ihre Leidenschaft auf langen Strecken ausleben möchten. Wir müssen in Bewegung bleiben, Voraussetzungen schaffen, die Ausdauerbasis konservieren. Wie gesagt: Das gilt für jeden Läufer. Umso mehr aber gilt es für ältere Läufer wie mich. Weil für Senioren unter den Läufern der Weg aus dem dunklen Keller ins lichte Obergeschoss mit unsäglichen Mühen verbunden ist.

Während Phase eins erkannte ich die mentale Blockade. Dazu brauchte es den einen oder anderen Pseudo-Wettkampf*. Am Neckar in Stuttgart, im Schwarzwald, im Naabtal (erste Teilnahme). Endlich begann ich - in Phase zwei - Kalorien zu verknappen und Laufumfänge zu steigern. Bis ich (hoffentlich!) so weit war, mir diesen Doppelschlag zuzutrauen und damit in Phase drei - jetzt! - den Weg aus dem Kellerverlies ans Licht anzutreten. Gelingt mir das heutige zweite Liwa-Finish mit "Würde", darf ich von der Wiederauferstehung als Ultraläufer ausgehen. Einen Marathon "würdevoll" durchstehen bedeutet für mich vor allem eins: Möglichst alles laufen, auch jene etwa 12 Kilometer, auf die sich knapp 700 Höhenmeter hauptsächlich verteilen.

*) Mit "Pseudo-Wettkampf" bezeichne ich den Umstand, dass die von der Pandemie bestimmten Ausnahmeregeln der Laufveranstaltungen keinen echten bzw. fairen Leistungsvergleich zulassen.

Rasch noch ein Gruppenfoto "Läuferpaar mit Hund", dann drücken wir die Uhren ab und gehen mit "Piep" auf die Strecke ... Meinerseits wie erwartet auf schwachen Beinen, jedoch vom ersten Meter an mit frohem Gemüt. Heiterkeit, die auf das Konto der Frau an meiner Seite geht. Es ist unendlich lange her, dass Ines und ich in einem offiziellen Lauf Seite an Seite unterwegs waren. Ich hab nachgesehen: Ziemlich genau vor drei Jahren war das, beim Linz Marathon. Über Wiesen und Baumspitzen reicht der Blick weit ins Land, im Südwesten bis zur Abbruchkante der Schwäbischen Alb, dem Albtrauf. Fernsichten, die mir letzten Montag verwehrt blieben. Herrlich! Landschaft und Kunst gemeinsam erleben: Ines posiert vorm "Augenblick", einer monumentalen, farbenfrohen Plastik eines ortsansässigen Künstlerehepaares. Halbe Minute Fotoshooting und weiter ... Ein Halbmarathonläufer - jung, ausgeruht, vor beneidenswerter Ausdauer nur so strotzend -, fliegt an uns vorbei, als wären auch wir immobil aufgestellte Skulpturen. Mit Roxi voraus biegen wir in den Wald ab und verlieren an Höhe.

Ach ja, Roxi! Meist geriert sich unser Hund als das, was er ist: Eine erfahrene alte Hundedame, die bei Läufen längst jede Eile vermissen lässt, nicht selten nach Schnüffelexzessen auch mal hundert Meter aufholen muss. Die obendrein weiß: Das Rudel wartet auf mich, das war schließlich immer so! Diese Seniorenattitüde streifte sie in dem Moment ab, als sich die Heckklappe des Autos vor ihrer Nase hob, sie tausend unbekannte Gerüche aus der Parallelwelt von überall her einsaugte. Natürlich folgt ihre Nase jetzt auch der Spur der vielen fremden Läufer, die diesen Weg in neun Tagen, seit Beginn des Liwa-Laufevents am 17. April, einschlugen. Neugierig und lauffreudig wie in Jugendtagen trabt sie vor uns her, verharrt nur kurz wo Artgenossen Marken hinterließen oder Waldtiere Fährten legten. Sie hat's noch immer drauf, wenn sie will oder Umstände sie motivieren. Gut das wieder einmal so eindeutig vor Augen geführt zu bekommen!

Lange abwärts im lichtdurchfluteten Laubwald, nun wieder sanft hinan. Helles Grün sprießt an vielen Ästen, wovon vor einer Woche noch nichts zu sehen war. Wie denn auch im kältesten April seit Jahren? Ines ist entzückt von Strecke und Natur. Auch von den putzigen Holzfiguren, die irgendwer zur Freude von Spaziergängern an Baumstümpfen hinterließ: Den Anblick von Marienkäfer und Igel wandelt meine Frau in Anweisungen um: Mach ein Foto!

Wieder abwärts, mehrere hundert Meter weit. Schließlich scharf links und dann kommt, was kommen muss, eine überaus lange Steigung. Hab's in der Vorwoche auf der Uhr abgelesen: Ein Kilometer sanft bergan. Zeit meine Frau ein bisschen zu motivieren: "Die Hälfte hast du jetzt!" Das Echo hält sich in Grenzen, Ines kämpft sich bergauf, da bleibt wenig Luft zum Sprechen. Weiter als acht Kilometer in meist flachem Terrain lief sie so gut wie nie in den letzten Monaten. Praktizierte Laufen aus Spaß an der Freude, absolvierte nur selten ein paar fordernde Kilometer. In meinen Augen betreibt sie das Hobby so, wie es alle Läufer handhaben sollten: Stets laufen, wonach einem der Sinn steht!

"Oben angekommen" ist in dieser Landschaft kein Zustand von Dauer. Flotter wieder hinab, zeitweise auf demselben Waldweg wie vorhin, nur in entgegengesetzter Richtung. Viel zu schnell vergeht die gemeinsame Zeit, auch wenn wir gemächlich unterwegs sind. Schon sieben Kilometer um und ich bereite mich gedanklich auf die Trennung vor. Dann ist es so weit: Ines rote Markierung schickt sie halblinks weiter, meine blaue verweist mich scharf nach rechts, weiter bergab. Gegenseitige gute Wünsche und Winken zum einstweilen Abschied ... Ich war gespannt wie sich Roxi verhalten würde ... Sie ist halt doch ganz erfahrene Hundedame! Weiß instinktiv, dass Frauchens Weg der kürzere sein wird und sie schneller zur Belohnung führt. Und damit bin ich abgemeldet, werde nicht einmal von einem kurzen, verwirrten Innehalten samt "bedauerndem" Hundeblick verabschiedet ...

Gut acht Kilometer, der Wald bleibt zurück, vor mir erstrecken sich Streuobstwiesen. Der Feldweg behält seine Orientierung bei: Talwärts voran. Kraftsparend voran, was mich jedoch nicht über das Limit meiner Tagesform hinwegtäuschen kann. Bei jedem Schritt abwärts gilt es zusätzliches Gewicht auf leicht "wabbeligen" Beinen abzufangen. Muskuläre Wahrnehmungen, die mich nicht beunruhigen. Wenn es sein musste, hielt ich auf ähnlich schwachen Beinen auch mal viel länger durch, als die verbleibenden 35 Kilometer. Auch der Umstand den gestrigen Ultra ohne nervende Zipperlein weggesteckt zu haben, stärkt meine Zuversicht. Bald werde ich kämpfen und leiden müssen, weiter nichts. Na ja, im Grunde hat das mit dem "Kämpfen" schon begonnen ...

Kilometer 9, Ende der Schussfahrt, 180°-Kehrtwende, hinein ins Kirnbachtal und wieder bergauf. Das wird meiner Erinnerung nach nun fünf Kilometer so weitergehen, bis die Plateauhöhe, auf der letztlich auch Start und Ziel liegen, wieder erreicht ist. Ich passe mein Trabtempo der sanften Steigung an, entschlossen auch heute jeden Meter im Laufschritt zu erobern. Ob mir das gelingen wird, weiß ich nicht abzuschätzen. Zu Energiegel - fünf Päckchen stecken im Rucksack - werde ich nur im Notfall greifen, wenn Entkräftung so weit fortschreitet, dass ich nur noch "schreitend" vorankäme.

Erster Kilometer hinan, irgendwann der zweite. Dann Rechtskehre und steiler bergauf. Passagen mit derart fordernder Steigung weist die Route zum Glück nur wenige auf. Zudem bleiben sie (mit einer Ausnahme) jeweils recht kurz. Drei Kilometer um und kein Ende der Schufterei in Sicht. Aber auch kein spürbar sich näherndes Ende meiner Ausdauer. Es bereitet mir Mühe Energie zu mobilisieren und sie fließt der Muskulatur spärlicher zu als unter normalen Umständen. Aber sie fließt und nur das zählt.

Fünf Kilometer Tippeltrab und immer noch kein "Gipfel" in Sicht. Schicksalsergeben finde ich mich mit der Tatsache ungenauer Erinnerung ab, weit kann es nicht mehr sein. Die vorläufige Erlösung - Waldende gefolgt von kurzzeitiger Aussicht über Streuobstwiesen - erreiche ich nach weiteren 500 Metern. Ich überquere achtsam eine Straße - vor Sekunden donnerte ein Zig-Tonner-Lkw vorbei - und tauche gegenüber wieder zwischen Bäumen ab. Mehr als 14 Kilometer geschafft. Einstweilen tippele ich verhalten voran, um Erholung nach der Endlossteigung bemüht. Auf den nächsten etwa sechs Kilometern wird mir keine nennenswerte Vertikale, nicht rauf noch runter, den Weg erschweren. Dennoch registriert meine heute hypersensible Sensorik bereits minimale Neigungswinkel - Gelenke belastend abwärts, muskulär anstrengend aufwärts. Und immer wieder einmal erweckt, was ich spüre, den Anschein als ginge mir demnächst der Treibstoff aus. Vielleicht kommt es so, vielleicht aber auch nicht ...

Im Wald stehen Bäume. Viele Bäume. In dieser Gegend überwiegend Laubbäume. Da ich fast ausschließlich im Wald laufe und niemandem begegne, dessen Anwesenheit in meinem Gedächtnis Spuren hinterließe, weiß ich von den bereits erwähnten sechs Kilometern weiter nichts zu berichten. Irgendwie ringe ich sie mir ab. Das zeitweise Schwäche-Orakel bewahrheitet sich nicht, keiner drehte und dreht mir den Saft ab. Ich tippele verhalten vor mich hin und verschwende an etwaiges Scheitern keinen Gedanken mehr. Stattdessen freue ich mich über die strahlende Erscheinung da oben, die mich sogar im Wald dann und wann wärmt. Was ich mir nur zu gern gefallen lasse, denn der Tag bleibt kalt. Mehrfach konnte ich mich eines Fröstelns in kaltem Luftzug nicht erwehren und die anfängliche Hoffnung auf "Marscherleichterung" erfüllte sich nur teilweise: Kopf entblößt, Arme bleiben mit Armlingen verhüllt.

Waldende, der Lichtenwalder Ortsteil Thomashardt schiebt sich ins Blickfeld. Darauf zu, den bemalten Wasserturm vor Augen, alsbald das kleine, alte Rathaus. Nun kann es nicht mehr lange dauern, bis ich meine Frau Ines treffe. Sie wird mir Wasser reichen, um meine Rucksackvorräte zu ergänzen und unerwarteten Durst zu stillen. Durst, trotz mäßiger Lufttemperatur und überaus moderatem Tempo. Offenbar war unter ungefilterter Sonne der Schweißverlust größer als seltene Schweißtropfen mich glauben machten.

Ich erwarte Ines in Höhe der "Perle der Erinnerung". Die übermannshohe Skulptur - gleichfalls geschaffen vom bereits erwähnten, ortsansässigen Künstlerpaar - beschrieb ich ihr als idealen Ort, um auf einer Ruhebank meine Ankunft abzuwarten. Deshalb bin ich überrascht, als ich sie schon kurz hinterm Rathaus auf einer Bank sitzen sehe. Großes Hallo, akustisch vor allem "umrahmt" von Roxi, deren lautes Gebell durch die mittäglich stille Dorfgasse hallt. Ich lasse mir Zeit, den Streckenrekord gefährde ich heute eher nicht ... Kurzer gegenseitiger Situations- und Erlebnisbericht, meinerseits noch ein paar Hinweise auf Besuchenswertes im Ort, dann endet der Vier-Minuten-Boxenstopp.

Die "Perle der Erinnerung" erzwingt kurz darauf einen neuerlichen Halt, um bereits vorhandene Fotos zu wiederholen. Letzten Montag stumpfe, matte Farben, heute Sonnenreflexe auf goldglänzenden Noppen und schillernden Mosaiksteinchen. Darüber der azurblaue Himmel, ringsum kräftiges Grün und ein Meer von Blüten. Es ist mir nicht fremd und doch bin ich immer wieder vom optischen Mehrwert überwältigt, den Sonnenlicht jeder Ansicht verleiht!

Es folgen sechs quasi "geschenkte" Kilometer, da samt und sonders bergab. Trotzdem will jeder Schritt ausgehalten werden, fährt durch alle Fasern, markiert überanstrengte Bezirke. Es zieht im unteren Rücken - wie erwartet. Erfreulicherweise jedoch weniger lästig, als befürchtet. Gemessen an meiner chronisch desolaten Wirbelsäule, fortgeschrittenem Lebensalter und der Tatsache gestern Ultra gelaufen zu sein sogar bemerkenswert wenig. Im Zusammenleben mit seiner physischen Instanz darf mein Geist auf zwei Umstände bauen. Zunächst den, dass mich der Körper nicht im Stich lässt, wenn es drauf ankommt. Darüber hinaus auf jenen der Unberechenbarkeit orthopädischer Schmerzzustände. Sie gestern zu spüren muss keineswegs bedeuten heute neuerlich von ihnen belästigt zu werden. Natürlich kenne ich auch die Umkehrung: Heute hui, morgen vielleicht pfui ...

Ich trudele bergab, immer auf Schonung meiner Energiereserven bedacht. Wo es sich lohnt - Katzenbach, Teich, alte Steinbrücke, historische Mühle - bleibe ich kurz stehen und fange bereits abgelichtete Motive im akutell besseren Licht ein. Meine Gedanken eilen mir allerdings voraus, ans Ende des Radweges, auf den ich bald am Straßenrand stoßen werde. Dort, ungefähr bei Kilometer 28, liegt eine Wasserflasche und dort beginnt der härteste Teil dieser Marathonrunde. Mehrere Kilometer Anstieg auf teils miserablem Geläuf und mehrfach ziemlich steil. So steil, dass ich das Adjektiv auch im Vollbesitz meiner Kräfte gebrauchen würde. Gleich werde ich wissen, was noch geht!

Es geht noch! Sehr langsam, nur mit vollem Einsatz, aber ich packe die anfänglich überharte Prüfung. Einen ersten Buckel, dreihundert Meter anspruchsvolle Wegstrecke, gefolgt von gottlob nur etwa dreißig Meter Erdhang mit Eiger-Nordwand-Charakter. Schnaufend arbeite ich das darauf folgende, moderate Gefälle auf leider vom Holzeinschlag arg ramponiertem Untergrund ab. Herzfrequenz und Atmung beruhigen sich ... Dann die nächste Steilwand, zugleich die längste und härteste Prüfung, die mir bevorsteht. Zweimal halte ich kurz inne, schöpfe neuen Mut: So schlimm ist das nicht, das packst du! Fünf, sechs Minuten später setze ich im wahrsten Sinne aufatmend auch hinter diese Passage einen Haken. Hab's komplett tippelnd geschafft, was den Glauben nährt auch die restlichen 12 Kilometer samt weiterer fieser Buckel in ähnlicher Manier zu überstehen.

Bin ich ein Esel, weil ich alles laufen will? Keinen Pardon mit mir selbst in dieser Hinsicht kenne? Für mich (und nur für mich!) auf dem "Läufer laufen, wer geht, ist Geher!" beharre? Das Schild am Baum jedenfalls lässt kein gutes Haar an Passanten. Vor allem nicht an solchen, die an sich zweifeln. "Eselweg" steht da. Na gut, dann bin ich eben ein Esel. Wen kümmert's? Von jeher ließ ich mir nur zwingend notwendige Gehschritte durchgehen - zum Verpflegen etwa oder zur Korrektur der Ausrüstung. Natürlich auch dort, wo nichts anderes mehr geht als gehen, weil schlichtweg zu steil, zu unwegsam oder die Kraft nicht mehr reicht. Letztlich auch lange vorm Kräfteversagen Gehschritte, allerdings verbunden mit schlechter Laune, wenn die Taktik "alles laufen" mit großer Sicherheit das vorzeitige Aus bedeuten würde. Beispiel: Einen Olympian Race (in Griechenland) - 180 Kilometer auf teils schlechten Pisten und über mehrere tausend Höhenmeter - steht nur die Spitze der Ultraathleten durch ohne zeitweilig bergauf zu gehen.

Nach weiteren Höhenmetern entlang vielleicht anderthalb Kilometern "Eselsweg" wittere ich Morgenluft am Nachmittag, das Ende des brachialen zweiten Anstieges! Dazu kehre ich dem Wald den Rücken, tippele schon auf Asphalt voran, noch steil, bald weniger steil, schließlich auf flachem Sträßchen zwischen Feldern. Ein paar hundert Meter flache Dorfstraße folgen, dann schlage ich einen rechten Haken und gebe zwischen Viehweiden und Stallungen neuerlich Höhe auf. Hier, zwischen blühenden Obstbäumen, begegne ich dem Frühling, fühle dann und wann Wärme, wische mir bisweilen sogar Schweißtropfen aus der Stirn. Die Armlinge runterzustreifen unterlasse ich trotzdem. Mehrere waldlose Kilometer stehen bevor und schon die nächsten Windstöße werden meine Illusion vom lauen Frühling wegpusten. Lieber jetzt ein bisschen schwitzen, als nachher wieder frösteln. Zwar geht mein Wasservorrat rasch zur Neige, die restlichen neun Kilometer werde ich aber auch so überstehen.

War dieser grob geschotterte Weg vor einer Woche auch schon so steil? Ich überhole eine Spaziergängerin, Minuten später eine zweite. Ob sie mitbekommen, wie "kaputt" ich bin? Sieht man mir an, was ich unzweifelhaft spüre? Dass es mir nur noch mit Mühe gelingt die Füße zu heben und sicher auch nur millimeterhoch? Dass ich mehr schlurfe als gehe? - Und wenn schon, meine Startnummer weist mich als Jünger der Sekte Marathon aus. Und nach 34 Kilometern darf "Udo der Läufer" nicht nur erschöpft sein, er darf auch so aussehen!

Raus aus dem Dorf, weiter auf leicht abfallendem Radweg. Bevor ich übermütig werde, da mich nur noch sieben Kilometer vom ersehnten und nun fast sicheren Finish trennen, geht's wieder hinan. Erst auf dem Radweg, dann durch ein weiteres Dorf. Eins, dem ich schon beim ersten Mal meine Sympathie versagte, da zur Gänze an einen Hang gebaut, überdies kein Ende nehmend. Unentwegt rauf, rauf, rauf ... , dann und wann von überraschten Blicken der Anwohner verfolgt.

Alles hat ein Ende, auch die Viecherei in der elend langen Ortschaft. Mit Kurs "Waldrand" lasse ich, ausnahmsweise flach einher trabend, beidseits Wiesen und Felder liegen. Noch sechs, dann in den Wald eintauchend nur noch fünf Kilometer; gut zwei langweilige davon zwingen mich auf einen Schotterweg parallel zu einer viel befahrenen Straße. Nahezu geradeaus tippelnd schien dieser Abschnitt schon vor einer Woche kein Ende nehmen zu wollen. Heute gerät die Passage zum Höllentrip. Jeder Schritt fordert immensen Willenseinsatz, ganz besonders auf der letzten markanten Rampe. Ach was "markant"!? Auf ausgeruhten Beinen verlöre ich kein Wort über das bisschen Steigung.

Irgendwie auch das geschafft und nun das lange Schlussstück. Mit Blick auf Lichtenwald ringe ich mir die letzten beiden Kilometer ab. Und wie schon mehrfach im Zustand weitgehender Erschöpfung spüre ich, dass in diesem Schneckentempo noch etliche Kilometer mehr möglich wären. Der läuferische Knockout lässt sich durch unbewusste Schrittverkürzungen endlos lange hinauszögern. Noch-laufen-können hängt in dieser Phase mehr von Willenskraft und Leidensfähigkeit ab, als von physischen Reserven.

Zum zweiten Mal vorbei am Wasserturm, mehr schlappend als laufend diesmal. Vorm Rathaus wende ich mich jetzt nach links, Kurs Sportanlage. Der Blick zur Uhr bestätigt Kalkulationen, die ich in der letzten halben Stunde mehrfach wiederholte: Ich werde ungefähr nach fünfeinhalb Stunden finishen. Absolut betrachtet eine miserable Zeit, gemessen an all den Drachen, die ich heute besiegen musste, dann eben doch ein Triumph. Den ich in den letzten Minuten genieße, physisches Leiden schlichtweg ausblendend. Ich blicke Richtung Ziel, versuche Ines zu erspähen. Sie hat es sich abseits der Zeitmessung auf einem Klappstuhl bequem gemacht ... Rufend erobere ich ihre Aufmerksamkeit und erreiche - begleitet vom schönsten Lächeln der Welt - nach 5:28:19 Stunden das Ziel.

 


 

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30. April 2021

Marathon drei:    Die Nagelprobe

Sonderlich ambitioniert steige ich nicht aus dem Auto. Was nicht daran liegt, dass ich mich zum dritten Mal binnen zwölf Tagen über dieselbe Strecke schicke. Nein, meine Unentschlossenheit ist wieder einmal dem viel zu kalten April geschuldet. 7°C, Himmel bedeckt und regnen soll es später auch noch. Dass mein Laufdoppel "Ultra im Naabtal plus Marathon hier vor Ort" erst vier Tage zurückliegt, dämpft die Erwartungen zusätzlich. Und doch verbinde ich mit der dritten Auflage des LIWA-Marathons zwei Hoffnungen. Die weniger wichtige betrifft meine persönliche Bestzeit (5:06:15 h) auf dieser Strecke, die ich heute unter fünf Stunden drücken möchte. Zwei Fliegen mit einer Klappe: Sollte mir das gelingen, dann wäre die andere, weit bedeutsamere Frage vermutlich auch beantwortet: Erfüllte der erwähnte Doppelschlag, insgesamt 93 Kilometer in zwei Tagen, seinen Zweck? Werde ich das Ausdauertief der letzten Monate endgültig hinter mir lassen?

Kälte und fehlende Sonne erodieren erfahrungsgemäß meine Leistungsfähigkeit. Physisch und mental, welcher Einfluss überwiegt, kann ich nicht sagen. Aus dieser Not versuche ich auf "taktische Weise" ein bisschen Kapital zu schlagen und fasse mit Blick in den bewölkten Himmel einen zeitsparenden Entschluss: Die Kamera bleibt im Rucksack! Während der beiden ersten Umläufe lichtete ich alles Interessante und Attraktive ab. Vor vier Tagen sogar bei strahlendem Sonnenschein. Genug Bildmaterial, um auch diesen Laufbericht zu dekorieren. Während ich vor der Bürgerhalle in Lichtenwald die Zeitmessung auslöse und mich auf den 43 Kilometer langen Weg begebe, verdichtet sich eine weitere Überlegung zur Pflicht: Nur stehenbleiben, wenn das zur Ver- oder Entsorgung unumgänglich ist! Zwei Wasserflaschen habe ich vorm Lauf ausgebracht, eine bei Kilometer 28, an derselben Stelle wie die beiden ersten Male. Flasche zwei auf der anderen Seite des Ortsteils Thomashardt, also gar nicht mal so weit von hier, bei Streckenkilometer 21. Zweimal werde ich folglich zum Trinken und eventuell zum Auffüllen meiner Rucksackflaschen stoppen müssen. Ansonsten in Bewegung bleiben!

Kilometer eins und zwei: Ich trabe über den Lichtenwalder Höhenrücken, mehr oder weniger achtlos vorbei an den Skulpturen "Blauer Ammonit" und "Augenblick", die mir heute nichts Neues zu erzählen wissen. Bergab und rein in den schönen Laubwald, dessen "Begrünung" in drei Tagen Abwesenheit weitere Fortschritte machte. Die kalten Apriltage können die Natur nur aufhalten, das Erwachen, die Erneuerung zu unterdrücken vermögen sie nicht. Auf der ersten langen Bergabpassage gebe ich ein wenig meiner gewohnten "orthopädischen Vorsicht" auf und investiere in forsche, lange Schritte. Abwärts wird es mir leichter fallen Zeit gegenüber den vorherigen Umläufen auf dieser Strecke gutzumachen. Es "spürt sich verträglich an", mein Rücken scheint die höheren Impulskräfte bei jedem Schritt gut wegstecken zu können. Wobei mir klar ist, dass ich mir das durchaus schöndenke: Es kann gut sein, dass mir die Summe der Abnutzung im zweiten Teil Schmerzen im "Kreuz" bescheren wird ...

Ich werde überholt. Dergleichen fühlt sich im Grundsatz schon nicht gut an. Wenn es sich jedoch um jemanden handelt, den ich vom Sehen kenne und deshalb zweifelsfrei meiner Altersklasse zuzuordnen weiß, dann nagt das am Selbstbewusstsein. Wir wechselten vorm Lauf zwei, drei Sätze, deshalb ist mir klar, dass er heute keinen Marathon läuft. Trotzdem frage ich: "Wie weit heute?" - Dass er den Halbmarathon vollenden möchte, richtet mein Ego nicht vollends wieder auf. Selbst für einen Halbmarathon tritt der alte Knacker ganz schön aufs Gaspedal. In einem Maße, wie mir das selbst schon seit Jahren nicht mehr möglich ist. Versehen mit guten Wünschen schrumpft seine Gestalt voraus zusehends - viel zu rasch, um ihm mit Wohlgefallen hinterher zu blicken, also fixiere ich lieber den Fleck zwei Meter vor meinen Füßen ...

Die ersten sechs Kilometer, mehrere Male auf und ab, liegen hinter mir. Gerade eben die längste der Auftaktsteigungen, moderat zwar, aber immerhin gedehnt auf einen Kilometer. Und diese lange Rampe hat mein Ego weitgehend wieder aufgerichtet: Allem Anschein nach verfüge ich heute zumindest über Normalform. Wie gut ich wirklich drauf bin, wird sich erst später zeigen. Es folgen drei Kilometer steten Gefälles, zunächst im Wald, zuletzt vorbei an Streuobstwiesen, bis die Talsohle erreicht ist. Seltsamerweise kommen mir die einzelnen Wegpassagen heute kürzer vor als beim ersten Mal, als ich ähnlich ausgeruht unterwegs war. Am höheren Tempo - ein paar Sekunden pro tausend Meter -, das ich zumindest bis hierher ganz sicher einschlug, kann das in dieser gefühlten Eindeutigkeit nicht liegen. Oder doch?

Wieder bergauf: Nach zuletzt genauer eigener GPS-Vermessung muss ich nun 5,5 Kilometer wechselnd anspruchsvolle Steigung überstehen. Das gelingt mir erfreulicherweise einigermaßen "flott" und trotzdem deutlich unterhalb meines Limits. Ich könnte sogar schneller laufen, fürchtete in dem Fall jedoch "hinten raus" dafür büßen zu müssen. Bis auf einen Autofahrer, der mich stückweit im Wald verfolgt, dann jedoch irgendwo zum Holzmachen, zur Wildhege oder wozu auch immer anhält, begegne ich niemandem auf dem langen Weg nach oben. Liegt auch an der Verknappung optischer Eindrücke, da ich meinen Blick kaum schweifen lasse. Ein Verhalten das von der heutigen Fokussierung auf Leistung diktiert wird. Meine Ohren scheinen sich sensorischer Ignoranz verweigern zu wollen. Hören zu, unterscheiden ungezählte Vogelstimmen. So oft, so viele, so glasklar und so laut, dass ich beginne mich der Unkenntnis der heimischen Vogelwelt zu schämen. Kuckuck, Zilp Zalp und des Spechtes Hämmern weiß ich gerade noch akustisch auseinander zu halten, das war's dann aber auch schon fast.

"Oben" angekommen, bald 15 Kilometer geschafft; die nächsten sieben weisen kaum Höhenunterschiede auf, verlaufen ihrerseits weitgehend im Wald. Inzwischen kenne ich die Route gut genug, um vor einer Wegbiegung schon zu wissen, was mich dahinter für Bilder erwarten. Auch auf diesem langen Abschnitt nichts, was mich meine Kamera auch nur einmal hätte "rauswursteln" lassen. Heute habe ich nur eines im Sinn: Diesen Marathon so schnell wie möglich hinter mich bringen! Das Wetter - bedeckt und kalt - nervt zwar, entwickelt sich jedoch mehr und mehr zum Verbündeten. Bisher habe ich nur alibihalber an den "Zitzen" meiner Trinkflaschen genuckelt, so was wie Durst scheint in weiter Ferne. Bis zu meiner ersten Ersatzflasche fehlen jetzt nur noch ein paar Minuten. Die werde ich weitgehend leer trinken und aufs Nachfüllen meines Rucksackvorrats verzichten. Spart ein, zwei Minuten! Es zeichnet sich sogar ab, dass ich insgesamt nicht werde nachtanken müssen. Denn Vorratsflasche zwei liegt nur sieben Kilometer weiter am Streckenrand. Sieben Kilometer, die darüber hinaus fast komplett bergab - "schweißfrei" - zu überbrücken sind.

Ich lasse den Wald für ein Weilchen hinter mir. Halblinks voraus der Ortsrand von Lichtenwald, noch etwa 300 Meter bis zur Flasche. Ich fische sie aus dem Graben am Wegrand und überwinde meine Abneigung gegen das kalte Wasser. Noch immer kein Durst, also zwinge ich mir die Brühe rein, trinke zwei Drittel der Flasche, schütte den Rest weg. Das leere Behältnis deponiere ich in einem Fach des Rucksacks und mache mich sogleich wieder auf den Weg. Ich hab's eilig! Mein anfänglich ohne wirklichen Nachdruck gefasstes Ziel - Sub5Stunden - weckte unterdessen das Untier "Ehrgeiz" auf. Das ist "echt ziemlich doof"! Ein "schwaches", halbwegs noch beliebiges Ziel zu verfehlen hinterlässt lediglich einen faden Nachgeschmack. Ein-, zweimal ausspucken, dann ist der weg. Wenn ich aber wahren Ehrgeiz mobilisiere, alle Kraft in das Bestreben lege, so wie jetzt, dann käme keinen Erfolg zu haben einer heftigen Niederlage gleich. Und die trüge ich als eine Art "Kainsmal" eine ziemliche Weile mit mir herum.

Entsprechend getrieben durchquere ich diesmal den Lichtenwalder Ortsteil Thomashardt, schenke dem schnuckeligen Rathäuschen nur einen kurzen Blick, halte es mit der Skulptur "Perle der Erinnerung" ebenso und stürze mich eilends, in zeitgewinnlerischer Absicht in den "gähnenden Schlund" des Katzenbachtales. Knapp drei Kilometer Schussfahrt, bis der an vielen Stellen stark abschüssige Zubringerweg in die gemächlich geneigte Talsohle münden wird. Bald 3.000 Schritte, ein jeder davon geeignet meine Lendenwirbel zu "irritieren". Doch so seltsam es sich auch anhören mag: Je höher Einsatz und organisches Wagnis, umso bereitwilliger scheint mein angejahrter Körper zu kooperieren. Ich spüre fast nichts im "Kreuz"! gebe infolgedessen einen Großteil der Seniorenvorsicht preis. Zustoßen wird mir ohnehin nicht wirklich etwas. Nicht so lange angespannte Muskulatur die Wirbelsäule stabilisiert. Und falls ich morgen Schmerzen in der LWS-Gegend verspüren sollte, dann ist das eben so. Dort ansässige Mitarbeiter der Abteilung Orthopädie meckern manchmal ganz ohne Anlass. Wenn die Wirbel morgen Wirbel machen, dann weiß ich wenigstens warum sie nörgeln!

Weite Schritte, volle Konzentration, möchte keinen Fehltritt provozieren. Falsche Hast wäre töricht, zudem überflüssig. Für die erste Hälfte der Strecke, bis vorhin in Höhe des Lichtenwalder Rathauses, brauchte ich erfreuliche neun Minuten weniger als beim ersten Marathon. Ich hatte die Zeit als Referenzwert (2:28 h) der damaligen GPS-Aufzeichnung entnommen. Heute erreichte ich das Rathaus bereits nach 2:19 Stunden. Über "Sieg oder Niederlage" wird letztlich der zweite brachiale Aufstieg entscheiden. In ein paar Minuten wird sich erweisen, ob ich auf den ersten knapp zwei Streckendritteln zu forsch zu Werke ging ...

Bis dahin sammele ich noch ein paar bauliche und naturidyllische Schönheiten ein. Infolge Tagesdauergrau am Himmel reizt jedoch keine der Attraktionen zu mehr als einem Seitenblick: Alter Teich, den die Altvorderen seinerzeit zur Fischzucht anlegten - glucksender, über Sandsteinformationen zu Tal rinnender Katzenbach - alte Sandsteinbrücke im baufälligen Original, Betreten daher verboten - Urwald im Bachgrund, sicher Lebensraum für seltene Flora und Fauna - die zwei bestens renovierten Fachwerkhäuser der alten Mühle - drei Stelen unweit der Mühle, deren Beschriftung auch beim dritten Umlauf als Rätsel zurückbleibt. Kaum noch Gefälle hinter der Mühle, dafür Asphalt, der flottes Vorankommen sichert.

Kilometer 28,x: Ich fische meine zweite Vorratsflasche aus dem Graben und trinke so viel und so rasch es Schluckwerkzeuge und Magen zulassen. 0,3 bis 0,4 Liter presse ich nach Art einer "Druckbetankung" in mich rein. Den Rucksackvorrat tastete ich nicht an, brauche daher auch nicht nachfüllen. Der wird für die verbleibenden 15 Kilometer bei kalter Witterung ohne Sonnenschein mehr als ausreichen. Ich schmeiße die Flasche ins Gras, werde sie nachher auf der Heimfahrt hier abholen ... und mache mich auch schon wieder auf den Weg, just im selben Moment als regenschwangeres Grau die ersten Tropfen plumpsen lässt. Die Eigenschaft "regenschwanger" hätte mir schon vorher auffallen müssen, ein Blick in den inzwischen düsteren Himmel spricht Bände. Okay, ab jetzt also Regen. Vielleicht habe ich Glück und komme eine Weile mit Nieseln und Schauern davon. Die Wetter-App ließ allerdings keinen Zweifel an der Tendenz: Ergiebiges Weinen des Himmels.

Ein paar Minuten ignoriere ich das Tropfen-Bombardement und erarbeite mir zügig Vorteile im Hinblick auf das glückliche Finish. Kraft fließt stetig und Hinweise, dass sich das bald ändern könnte, bleiben aus. Erste herbe Buckel auf schlechtem Geläuf, kurze erdige Steilwand, dann leichtes Gefälle auf mies ruppigen Waldwegen. Es geht und das nicht mal schlecht, was sich auch erweist, als sich der längste, der eklig steilen Anstiege vor mir erhebt. Diesmal werde ich die Rampe ohne jede Atempause nehmen! Ein Vorsatz, den ich als mentalen Riegel vorschiebe. Wenn ich so etwas tue, dann, a) weil die Aussicht hoch ist, es durchhalten zu können und ich b) die Absicht bislang stets vollendete!

Es regnet jetzt ergiebig. Längst zog ich die Schildkappe über das Schlauchtuch, das meine Rübe vor Auskühlung schützt. Erste Tropfen perlen bereits über den Schild der Kappe zu Boden. Einstweilen stört mich der Regen nicht, bergauf heizt Muskelwärme meine Gliedmaßen. Über den "Eselsweg" empor - mein kurzer Blick zur Hinweistafel am Baumstamm ist von keinerlei Emotionen begleitet. Das war vor vier Tagen, als ich hier hart am Limit vorbeischnaufte ganz anders. Heute schnaufe ich wieder, aber nur des vergleichsweise hohen Tempos wegen, das ich mir abringe. Weiter rauf, noch etwa ein Kilometer bis zum Waldrand.

Als ich den hinter mir lasse, bin ich bereits komplett durchnässt. Ich könnte wahrscheinlich weitere 1.000 Marathons laufen und begänge doch bei Nummer 1.001 einen ähnlich dämlichen Fehler wie ebenjenen heute: Die Regenjacke blieb im Auto zurück. Das ist allein meiner Leichtfertigkeit geschuldet, die mich gerne mal mit Susi-Sorglos-Sprüchen einlullt: Ein bisschen Regen zum Ende hin wird schon nicht so schlimm werden!

Wird er nach und nach aber doch. Weil ich klatschnass bin, an den Beinen nur mit Kurztight bekleidet und außer einer dünnen, langärmligen textilen nichts auf meiner Menschenhaut trage. Die Fleecehandschuhe saugen zunehmend Wasser an, rasch werden auch die Finger klamm. Und weil das noch nicht reicht, tritt einer meiner übelsten Widersacher zusätzlich auf den Plan: Eisiger Wind! Dem habe ich außer Vorwärtsbewegung nichts entgegenzusetzen. Bewegung, die ich nun schon deshalb nicht mäßigen darf, weil ich mir sonst den "Tod hole". Also gebe ich, was ich noch zu geben habe.

Haste endlich über den flachen Höhenrücken, dann durchs erste von zwei Dörfern; dahinter durch eine Senke mit Weiden und Stallungen, wo ich vor Tagen dem Frühling begegnete und voreilig alles Schlechtwetter überwunden glaubte. Haste weiter voran, schon zwischen Rinnsalen und Pfützen auf nun nassen Füßen. Keine Augen mehr für gar nichts, im Kopf nur noch das Ankommen-Wollen. Das aber noch dauern wird, volle acht Kilometer, mehr als eine Dreiviertelstunde im Württembergischen Eisschrank ...

Zweites Dorf, darin bergauf, endlos lange. Endlos kam es mir zuletzt vor, heute verkürzt Eile die Strecke in meinem Empfinden. Zum Glück, denn ich fände keine Worte, wollte ich die grauenvolle Kälte beschreiben, die Faser um Faser tiefer in meinen Körper kriecht. Und ich will raus aus dieser Kälte, bettele! sie möge bald ein Ende haben. Rechne Restzeiten aus. Weniger, ob ich das gesteckte Zeitziel erreichen werde, motiviert vielfaches Kalkulieren. Wie lange muss ich das noch aushalten? Darum geht es hauptsächlich. Eine weitere halbe Stunde mindestens ... mehrmals balle ich die Finger mit aller Kraft zu Fäusten, um ein paar Funken Wärme unter nassem Stoff zu mobilisieren. Ich spüre die Finger noch - immerhin.

Wieder im Wald, noch fünf Kilometer. Ich werde nicht mal 4:50 Stunden brauchen. Vorausgesetzt ich sinke nicht doch noch irgendwo erfroren zu Boden ... Waldende, Rechtsschwenk, nun gute zwei Sch...kilometer auf dem Feldweg parallel zu einer lebhaft befahrenen Straße. Ohne Unterlass brausen Autos vorbei, ziehen eine Schleppe aufgewirbelten Wassers hinter sich her. Gummibereifte Räder zischen übern Asphalt, als bewegte ich mich in gefährlicher Distanz zu einer endlosen Schlangengrube mit giftigen Vipern, Ottern, Nattern ... Fünf Minuten, zehn, dann endlich ist die Kreuzung in Sicht. Ich haste die letzte erwähnswerte Steigung empor. Es fühlt sich nach Hasten an, wie schnell ich tatsächlich noch bin, weiß ich nicht zu sagen. Auch nicht, ob die verfluchte Kälte mich nun real lähmt, also Zeit kostet, oder mir hilft, weil ich alles aus mir raushole, was noch da ist. Ich weiß gar nichts mehr. Da ist nur noch Sehnen nach Erlösung.

Lichtenwald in Sicht. Ich versuche so etwas wie einen lang gezogenen Schlussspurt zu inszenieren. Ein Rest von noch nicht in Kältestarre erstorbenem Laufgefühl will mir einreden, dass ich schneller werde. Was tatsächlich auch so ist, wie die spätere Auswertung der GPS-Aufzeichnung ergeben wird. Schneller schon, aber nicht erheblich. Was mich daran hindert wüsste ich gerne. Bin ich nur erschöpft oder bremst die Kälte? Ich werde es nie erfahren, es lässt sich nicht trennen, mein Körper verfügt über keine Sensoren dafür. Vorbei am Wasserturm, in Höhe Rathaus nach links, wo ich vorhin rechts abbiegen musste. Die letzten eisigen Minuten in strömendem Regen und widerlichem Wind. Ortsteil Thomashardt ist durchquert, nun Kurs aufs Sportgelände, noch zwei, ... noch eine Minute. Letzte Meter und endlich über die Zeiterfassung, die 4:43:20 Stunden für mich vermerkt.

 


 

Fazit zum Wettkampf

Auch wenn ich zuletzt infolge nachlässiger Dummheit eine Viertelstunde schlotternd im Auto saß, bleibt doch festzuhalten, dass ich mein Jahreszwischenziel erreicht habe, das salopp so zu formulieren wäre: Raus aus dem totalen Ausdauertief. Der Doppelschlag vom vorangegangenen Sonntag/Montag verfehlte seine Wirkung nicht. Obschon man nach einer solchen Anstrengung und nur drei Ruhetagen unmöglich vollständig regeneriert an den Start gehen kann, gelang es mir meine Bestzeit auf der Strecke um über 20 Minuten zu drücken. Um diese Zeit einzuordnen blicke ich auch ins Gesamtklassement mit mehr als 120 Marathonläufern, wo meine Leistung ziemlich genau die Mitte der Rangliste markiert. Auch diese Einordnung beweist mir auf dem richtigen Wege zu sein. Damit hoffe ich das lange Pandemie-Dolce-Vita unterlassener Trainingsanstrengungen endgültig überwunden zu haben.

 


 

Fazit zur Veranstaltung

Dass das LIWA-Laufevent im Hinblick auf die Teilnehmerzahlen ein Erfolg werden würde, konnte man unschwer vorhersagen: Wenn fast nirgendwo mehr was geht, greifen Läufer nach jedem Strohhalm. 122 Marathonfinisher, 243 auf der Halbmarathonstrecke und 234 Teilnehmer, die auf 10 km unterwegs waren, sprechen eine eindeutige Sprache. Diese Zahlen verschweigen Mehrfachteilnahmen, weil nur die beste eigene Leistung im Klassement direkt gelistet wird.

Zum Erfolg wurde die Veranstaltung aber auch, weil die Veranstalter den Mut zu einem bisher nie dagewesenen Format aufbrachten: Eine Zeitmessung über 16 Tage und Nächte in Betrieb halten und damit individuelle Starts für jedermann jederzeit (abzüglich Ausgangssperre) zu ermöglichen. Auch Mehrfachstarts wurden registriert und das für lediglich 12 Euro Startgebühr. Dass dieses Unternehmen - so weit mir bekannt - ohne Pannen realisiert wurde, verdient Dank und Anerkennung.

Dieser Erfolg sollte alle Veranstalter von Laufbewerben zu Überlegungen ermutigen, ob eine solche Vorgehensweise nicht hie und da auch ohne den Zwang einer Pandemie, also in "normalen" Zeiten eine Alternative darstellen könnte. Vielleicht auch zu einem anderen Zeitpunkt im Jahr und in Ergänzung zum üblichen Wettbewerb mit Massenstart. Letztlich ging es keinem der Teilnehmer um den Wettbewerb an sich. Und wenn doch, dann war das ein Spiel, das der Betreffende ganz für sich alleine und ohne Anspruch auf Gültigkeit gegen Unbekannte in einer Rangliste spielen musste. Tatsächlich gab es für Läufer, die sich auskannten (was bei mir als völlig Ortsfremdem schon nach dem ersten Umlauf der Fall war), unzählige Möglichkeiten abzukürzen und sich auf diese Weise in der Rangliste nach oben zu katapultieren. Ich behaupte jedoch, dass solcher Unterschleif, so es ihn gegeben haben sollte, für alle ehrlichen Teilnehmer völlig ohne Belang bleibt. Denn wichtig ist unter solchen Austragungsbedingungen nur zweierlei: Erstens kann ich befreit von Zwängen laufen, wann immer meine Terminlage es zulässt. Und zweitens zählt für mich nur die eigene Leistung, deren Zustandekommen ich kenne.

Fazit: Ein mutiger, ein sehr gelungener Versuch. Ich komme zurück nach Lichtenwald. So oder so!

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