3. Oktober 2020
Einsam schlurfe ich durch die Nacht. Wie ich mich bewege, diktiert bereits fehlende Kraft, die empfundene Isolation ist selbst gewählt. Könnte Kontakte suchen, alle paar Sekunden, wenn mir jemand entgegen kommt, ich einen Geher überhole oder von Schnelleren überholt werde. Doch welchen Sinn hätte es zu reden? Helfen kann mir niemand, mich aufmuntern auch nicht. Wie lange bin ich schon unterwegs, wie viele Stunden liegen noch vor mir? Meist unterdrücke ich den Impuls auf die Uhr zu sehen. Unentwegt Schritte zu setzen fällt mir schwer genug, physisch und mental. Da brauche ich nicht noch den Keulenschlag der gewaltigen Zeitspanne, die an zwölf Stunden fehlt ... So oder so werde ich die "Kiste" laufend zu Ende bringen. Weil es dazu keine Alternative gibt - keine die ich akzeptieren könnte. Weil ich weiß, dass ich es kann, auch wenn es sich nicht so anfühlt. Und, weil ich zwölf am Stück gelaufene Stunden unbedingt brauche ...
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Wie Obdachlose, die ein ungnädiges Wachregime von ihrem trockenen Schlafplatz verscheuchte, schleppen wir unsere Habseligkeiten vom entferntesten der Parkplätze in Richtung Stadion, mein Freund Mike und ich. Mikes Frau Natascha "leistet Beihilfe": Trägt "Mike-Diverses" in der einen und meinen, von mitdenkenden Designern mit einem Tragegriff veredelten Klapptisch in der anderen Hand. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Vermutlich weiß der kluge Russe nicht, dass es so etwas wie 12- oder 24-Stundenläufe gibt. Und ganz sicher war er sich auch nicht darüber im Klaren, wie viele Lebenssituationen sein Wort auf den Punkt bringt. Die Parkplätze direkt vorm Sportbereich sind nur über Teile der Laufstrecke anfahrbar; daher jetzt, bei laufendem 24 Stunden-Wettbewerb, unerreichbar. Im schwachen Laternenlicht rings um das Oberstufenzentrum der Stadt Bernau bewegen sich schemenhaft Gestalten. Traben oder gehen, die meisten auf sichtbar müden Beinen; dynamischer Dauerlauf sieht anders aus. 20 Uhr. Wer hier kreist hat schon zehn Stunden in den Knochen, weitere vierzehn vor sich. Wer wollte diesen Läufern ihre defensive, Reserven schonende Weise der Fortbewegung verdenken?
Meine Lauftasche links geschultert, die nicht gerade kleinvolumige, bis zum Rand mit "Equipment" bestückte Kiste am langen rechten Arm tragend bin ich bemüht keinem der Läufer in die Quere zu kommen. Der lange rechte Arm wird lang und länger. Ich wechsele auf links und provoziere Mitleid. "Pack doch deine Kiste obendrauf!" Obendrauf auf Mikes mit kleiner "Sackkarre" bewegten "Turm". Den kommentiert der zufällig vorbei joggende Jörg Stutzke - Veranstalter und selbst Teilnehmer - scherzhaft, wohl aber mit ernstgemeintem Unterton so: "Und das alles für 12 Stunden? Da reicht mir eine Trinkflasche ...!"
Ich bin dem Freund dankbar, hätte die schwere Kiste sicher ein paarmal absetzen müssen, bis wir endlich unseren Platz - Murphys Gesetz erfüllend - im entlegensten Eck beziehen. Einträchtig stehen unsere Tischlein-deck-dich nun nebeneinander, rechts und links einer provisorisch senkrecht neben der Laufbahn montierten Leuchtröhre. So weit, so gut, was jetzt? Routine hilft heute Abend wenig. Im Dunkeln, noch in Straßenkleidung und mit der Absicht mich auf einen Wettkampf vorzubereiten stand ich noch nie neben einer Laufbahnn. Also was jetzt?
Startnummer abholen, immer die erste Läuferpflicht! Umziehen und alles weitere anschließend. Also mache ich mich auf die Suche nach Versorgungsbereich "C". Um Läuferansammlungen vorm Büffet zu vermeiden, entschied man sich für mehrere kleine Verpflegungsstände, an denen auch die Startunterlagen bereitliegen. So steht es geschrieben, nur finde ich "C" nicht. Am einen Ende "A" weiter hinten auch "H" aber nirgendwo "C". Der Logik gehorchend sollte "C" zwischen "A" und "H" liegen; doch, wen der im Dunkeln kaum auszumachenden, mehrheitlich hockenden Gestalten ich auch frage, keiner hört auf den Namen "C". Ich überquere den Sportplatz frage diesen oder jenen - Fehlanzeige. Schließlich nimmt mich jemand "an die Hand", liefert mich beim Sprecher Stefan ab. Bei dem war ich eigentlich schon. Als ich nun offenbar immer noch hilflos umherirrend zum zweiten Mal bei ihm auftauche, fasst er sich ein Herz, legt das Mikro zur Seite und unternimmt mit mir eine Wanderung entlang der Laufbahn ... Des Rätsels Lösung: Herr oder Frau "C" hat seinen/ihren Job beendet, weil er/sie arbeitslos war. Fortbestehendes Rätsel: Wo ist meine Startnummer? Bisschen suchen noch, dann finden sich ein paar versprengte Umschläge auf einem Nachbartisch, darunter auch einer mit meinem Namen ... Hurra!
Nun umziehen im Stehen bei spärlichem Licht. Keiner sieht die Verärgerung in meinem Gesicht, dazu ist es zu dunkel. Und hören kann mich auch niemand; ich fluche lautlos, bis der Balanceakt inklusive einiger Pannen irgendwann vollbracht ist. Schließlich noch die Straßenklamotten in der Sporttasche verstauen, die Kiste aufräumen (damit ich im Falle jedes denkbaren Falles auf Anhieb finde, was ich brauche), die Tasche ins Auto schaffen ... schlussendlich bin ich bereit. Mal sehen, was die Brandenburger Nacht mir bringen wird ...
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Der Start erfolgt außerhalb des Stadions, um den Teilnehmern eine bestlistenfähige 100 km-Zeit attestieren zu können. Dafür sind 54 Runden à 1.844 und eben dieses Schnipsel von 424 Metern nötig, das wir nach dem Startkommando bis zur Messlinie überbrücken: Durchs offene Tor in den Sportbereich der Schule laufen, nach einer Rechtskurve an der dunkel abseits liegenden Sporthalle vorbei und in Höhe der Nordkurve die Tartanbahn betreten. Entlang der Gegengerade die Parade der Versorgungsstände abnehmen, an deren Ende einen kurzen Blick zum einträchtig nebeneinander stehenden Tisch-Doppel "Mike-Udo" werfen; die Kurve auslaufen und auf der Zielgerade einen Toilettenwagen von gewaltigen Ausmaßen passieren; vom sanft leisen "Bong" der Zeitmessung begrüßt werden und durchs Tor den Sportbereich mit (noch) ungewissem Ziel wieder verlassen ...
Wie immer nutze ich die ersten Runden zum Ausloten von Strecke, Randbedingungen und initialer eigener Befindlichkeit. Zu Letzterer schweige ich einstweilen, da mentale wie physische Echos in der ersten halben Stunde erfahrungsgemäß trügen können. Die Randbedingungen setzen mir weniger zu als befürchtet. Die Bernauer Samstagnacht folgt auf einen sonnigen, warmen Bernauer Tag, von dem noch windstille 16°C übrig sind. Warm genug, um in "Unten-kurz-oben-kurz-plus-Armlinge-Montur" nicht zu frieren. Der Rundkurs ist nicht üppig, jedoch überall ausreichend beleuchtet. Auf eine Stirnlampe zu verzichten birgt kein Risiko.
Ostwärts, knapp über den Bäumen, am überwiegend wolkenlosen Himmel, steht der fast noch volle Mond. Kein Anlass sich romantischer Gefühlsduselei hinzugeben, aus zweierlei Gründen aber immerhin erwähnenswert: Die helle Scheibe verrät eventuell aufziehende Wolken. Für zwei Nachtstunden vorhergesagter, leichter Regen wird mich folglich nicht überraschen können. Darüber hinaus nehme ich den leuchtenden Trabanten am Nachthimmel zum Anlass mir eine ebenso helle Nacht in Griechenland vorzustellen: In vier Wochen auf dem Peloponnes, unterwegs auf der "Straße der Unsterblichen", wenn wieder Vollmond angesagt sein wird und der Himmel hoffentlich wolkenlos.
Höchstens zwei Runden gelingt es dem Kurs seine wahre Natur im Halbdunkel zu verbergen, dann geht mir zu den schon vorhandenen Laternen ein Licht auf: Die Strecke besitzt Steigung! Nach dem Verlassen des Sportbereiches, beim Passieren des ausgedehnten Parkplatzes sowie des ersten Schulgebäudes, auf mehr als einem halben Kilometer, gewinnt die Route unentwegt an Höhe. Wenige Höhenmeter nur, unter ausgeruhten Füßen kaum spürbar. Wer genau hinschaut entdeckt jedoch an drei Stellen leichte Buckel (siehe Streckenskizze). Hinter "Hügel" Nummer drei sollte, wer gerade eins hält, sein Schläfchen unterbrechen und auf die beiden einzigen Stolperfallen achten: Rote Sprühfarbe warnt vor einer tückischen, kaum sichtbaren Kante und nur wenige Schritte weiter, vor einem Rondell, muss ein Randstein abwärts genommen werden.
Manche klagen über den engen Radius des Rondells. Mein Laufrhythmus bleibt davon unbeeinträchtigt, wahrscheinlich bin ich einfach zu langsam. Ums Rondell, nun vorbei am Haupteingang des Bauhaus Denkmals Bernau*, durch eine Schlucht zwischen Gebäuden und zurück auf die Pendelstrecke Parkplatz-Sportbereich. Damit ist die Strecke hinreichend genau beschrieben. Optische Reize ergeben sich aus der Bausubstanz, insbesondere des Bauhaus Denkmals. Aber nicht in der Nacht und selbst im Licht des vergangenen sonnigen Tages musste der vom historischen Ort ausgehende "Thrill" nach wenigen Umläufen verpuffen. Tatsächlich frage ich mich, wie viele der Läufer überhaupt wissen, an welchen Fassaden sie da stundenlang vorbei defilieren. Wäre ich nicht im Mai schon mal hier gewesen und von der damaligen Streckenbeschreibung explizit auf das Bauhaus Denkmal hingewiesen worden, mir wär's wohl auch verborgen geblieben.
*) Wie Oberstufenzentrum und Bauhaus Denkmal im Detail baulich miteinander verwoben oder kongruent sind, konnte ich nicht recherchieren.
Die Stadionrunde offeriert Möglichkeiten: Verpflegung am offiziellen und privaten Tisch, Toilettenbesuche und kurz vor der Vollendung des Tartanovals Zeitnehmung und Anzeige der Zwischenstände. Lange, sehr, sehr lange interessiere ich mich nur für meine gerade abgeschlossene Runde: Wurde sie gezählt? - Im Erfolgsfall erscheint meine Zeile in der unteren Hälfte des linken Monitors (24h-Anzeige rechts) mit aktualisierten Werten (Rundenzeit, Rundenzahl, Kilometerstand). Anfangs schaue ich lediglich auf die Rundenzeit, um mein Tempoempfinden zu kontrollieren. Fast auf die Sekunde genau 12 Minuten für eine Runde entsprechen einer Pace 6:30 min/km. Gemächlicher Trab, den ich mir zu Beginn verordne und bis in die frühen Morgenstunden konservieren möchte. Abzüglich vieler Stopps zum Ver- und Entsorgen versteht sich. Tatsächlich bleibe ich auf den ersten Runden mühelos ein paar Sekunden unter Soll, überziehe allenfalls geringfügig, wenn ich zum Trinken oder für ein Gel kurz pausiere.
Trinken: Den mir vom Veranstalter zugedachten "Versorgungsbereich C" gibt es nur noch als "Ruine": Ein verwaister Biertisch mit leeren Flaschen und Kästen darauf, dahinter, darunter. Am Stand daneben harrt eine Dame aus, gegen nächtliche Kälte gut verpackt und mucksmäuschenstill. Sobald ich ihr Büffet ansteuere, kommt Bewegung in sie. Vorm Start nach Labsal suchend habe ich ihren Tisch kurzerhand zu meinem erkoren. Dafür reichte eine Bitte und als symbolischen Akt den mit meiner Startnummer beschrifteten Becher bei ihr abzustellen. Sie siezt mich. Für Läufer ein untrügliches Zeichen, dass die Helferin/der Helfer Laufveranstaltungen bisher nur vom Hörensagen kannte. Aus Respekt vor ihr vermeide ich die ganze Nacht über Anreden, die ein vertrautes "du" erfordern würden; begegne ihr also "unpersönlich", aber mit aller Liebenswürdigkeit, zu der ich unter zunehmend unguten Umständen überhaupt fähig bin. Alles andere als selbstverständlich für mich, wenn sich Menschen zu Diensten bereitfinden, von denen sie selbst kaum mehr als in Form eines guten Gefühls profitieren. Das gilt besonders in der Nacht, in der ein Mensch eigentlich ins Bett gehört ...
... ins Bett, nicht hinter einen Versorgungstisch und schon gar nicht als Läufer auf eine Laufstrecke. Die Nacht war noch nie meine Freundin und ich spüre praktisch von Beginn an, dass sich auch diesmal keine Liaison entwickeln wird. Gegen zwei Uhr und etwas mehr als 36 gelaufenen Kilometern drifte ich in die erste Krise. Binnen ein, zwei Runden übermannt mich eine Art Kontrollverlust. Meine Beine entwickeln ein Eigenleben, verweigern den Füßen präzise Ansteuersignale. Gelegentlich habe ich das Gefühl zu torkeln. Es vergeht eine gewisse Zeit, in der ich meinen Verdacht verifiziere: Ich bin müde! Nicht "ausdauermüde", sondern "schlafmüde". Das ist einerseits lästig, weil es natürlich mein Traben erschwert und verlangsamt. Andererseits auch tröstlich, weil ich weiß, dass es vorübergehen wird. Allerdings widerfuhr mir Ähnliches bisher zu selten und unter sehr unterschiedlichen Bedingungen (z.B. beim Spartathlon oder im selben Jahr auf dem Kölnpfad), als dass ich vorhersagen könnte, wie lange mich das Schlafbedürfnis drangsalieren wird.
Mein zuvorkommender, dienstbarer Geist schüttet Cola (in den ersten Stunden ausschließlich) in meinen Trinkbecher. Während pure Kälte durch meine Kehle rinnt, halte ich mich am Pfosten des Pavillons fest, beklage meine Müdigkeit und erhalte ein Versprechen: Nach dem nächsten Umlauf wird Kaffee in meinem Becher bereitstehen. Eine Frau, ein Wort: Keine Viertelstunde später schnappe ich mir dankend das Gefäß, trinke Schluck um Schluck des starken Gebräus und bewege mich dabei gehend vorwärts. Ich könnte die pechschwarze, nur noch lauwarme Brühe wie zuvor Cola runterschütten. Davon würde mir aber unter Garantie schlecht werden. Also mit Bedacht trinken, danach ganz vorsichtig antraben und die Runde mit leerem Becher in der Hand vollenden ...
Ob der Kaffee meiner Müdigkeit abhalf, wüsste ich nicht eindeutig zu sagen, in welcher Zeitspanne schon zweimal nicht. Irgendwann hört das Torkeln auf und mein Tempo gleicht wieder dem der ersten Stunden. Ziemlich lästig gebärdet sich meine Blase, schickt mich in Stundenintervallen mehrfach in den Toilettenwagen. Der Aufenthalt in diesem Gelass ist nicht nur lästig, sondern extrem nervtötend. Denn dort drin verletzt "Gute-Laune-Musik" den unschuldigen Musikgeschmack. Vom Band läuft und dröhnt das Übelste vom Üblen! Stücke, die nur komasaufend am Ballermann, nach zwei bis auf den Grund geleerten Eimern Sangria überhaupt auszuhalten sind.
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Die "DUV-Challenge" über 24/12/6 Stunden wurde aus der Not geboren. Aus der Not vieler Pandemie-bedingt ausgefallener Laufveranstaltungen. Ursprünglich sollte die Deutsche Meisterschaft im 24 Stundenlauf im bayerischen Schwindegg stattfinden. Die Veranstaltung wurde frühzeitig abgesagt und so ging man zunächst mit der Absicht schwanger die Meisterschaft nach Bernau zu holen. Wohl schon im Mai signalisierten örtliche Behörden und der Eigentümer der zu nutzenden Anlagen Zustimmung. Es folgte die Absage aller Deutschen Meisterschaften durch DLV und DUV für 2020. Aus der geplanten "DM" wurde eine "Challenge". Für mich nicht unbedingt ein Grund die weite Anreise nach Bernau in Kauf zu nehmen, überdies zum zweiten Mal in diesem Jahr. Im Mai nahm ich am "Barnim Doppel" teil, nebenan in Wandlitz, das derselben Lauf-Ideenschmiede entsprang: Silke und Jörg Stutzke. Ein paar hundert Meter der damaligen ersten Etappe decken sich übrigens mit der heutigen Stundenrunde.
Um mir 12 Stunden überwiegend nächtlichen Kreisens mit dem Unterhaltungswert eines Telefonbuches anzutun, brauche ich einen stichhaltigen Grund. Den gibt es, unter dem klangvollen Namen Dromos Athanaton oder auch Immortal's Race. Der Lauf wird Ende Oktober stattfinden - falls er nicht wie viele andere Läufe in Griechenland der Pandemie zum Opfer fällt. Heftige 140 Kilometer, etwa 3.000 Höhenmeter und mehr als 12 Stunden Dunkelheit auf der "Straße der Unsterblichen" erklären hinreichend, warum ich hier so lange, vor allem so lange durch die Nacht laufen will. Legt man das jeder Trainingsanstrengung innewohnende, kausale "wenn-dann" zugrunde, ließe es sich auch so formulieren: Ich muss mir diese Nacht hier in Bernau um die Ohren schlagen, sonst habe ich keine Chance auf dem Peloponnes zu finishen.
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Im Schnitt alle fünf Kilometer werfe ich ein Gel ein. Mal etwas früher, mal später, je nach vollendeter Runde. Nach Abschluss der Anschlussrunde trinke ich. Cola, später, als sich ein gewisses Unbehagen im Magen breit macht, Wasser zur "Verdünnung". Wasser war stets ein probates Mittel, um der Bildung eines explosiv-eruptiven Gemischs im Magen vorzubeugen, so auch heute Nacht. Nur leider ist der Magen nicht das einzige Glied in der menschlichen Verdauungskette. Dahinter - wenn er läuft: darunter - im Bauch arbeitet des Menschen Darm. Und mein Darm kann mich heute so gar nicht leiden. Vielleicht verabscheut er auch nur eine der Zutaten, die der italienische Koch meiner abendlichen Pasta beimengte. Wie auch immer: Da unten herrscht Unordnung. Nicht in einer Weise, die auf baldige Entladung hindeutet. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Es fühlt sich an, als hätte jemand alle Organe entfernt und meinen Bauchraum zubetoniert. Stunde um Stunde ein Gefühl unangenehmer Verhärtung, gelegentlich von einem schmerzhaften Ziehen begleitet ...
Trotz allem bleibe ich Optimist, rede mir gut zu: Lauf einfach immer weiter, der Rest findet sich. Und wenn es hell wird, bist du aller Sorgen ledig und fast schon durch ... Wann wird es hell? Gegen sieben sollte Sonnen- das Kunstlicht bereits überflüssig machen. Mehrmals denke ich: Gegen sieben wird es hell! Nur um jedes Mal verdrossen festzustellen, dass bis dahin noch elend viele Stunden unablässig trabend zu überstehen sind. Doch wie gesagt: Ich bleibe Optimist, lasse mich nicht unterkriegen, auch nicht vom stärksten aller Widersacher, von diesem schwarzmalenden A...loch in meinem Kopf.
Mike trabt vorbei. Erkenne ihn schemenhaft, wie durch Milchglas im letzten Moment. Längst schaue ich vorbei trottenden Gestalten nicht mehr bewusst entgegen. Sprachlos, wie seit Stunden, tippeln wir aneinander vorbei. Erheben kurz die Hand zum Gruß, mehr nicht. Und das sind schon 100 Prozent mehr Aufmerksamkeit, als ich den meisten anderen zukommen lasse. Ich sollte mich sorgen um den Freund! Er überholt mich nicht!! Also tippelt er allenfalls im selben Tempo wie ich im Rund!!! Und das ist nicht "normal"!!!! - Mike ist jünger und schneller als ich. Rein "lauf-theoretisch", von seiner Physis her, sollte er wie aufgezogen rennen können. Dass er es nicht tut, hängt vermutlich mit der erlittenen Enttäuschung zusammen. Über Monate trainierte er wie besessen, unterzog sich überdies zwei Trainingslagern, um seinen Traum vom Spartathlon-Finish einmal mehr wahr werden zu lassen. Drei Wochen vor Tag X ereilte ihn die Absage. Jeder ambitionierte Ultraläufer kann sich ausmalen, wie schmerzhaft sich ein solcher Tritt in den Hintern anfühlt. Und deshalb hat Mike keine Lust in dieser Nacht flotte Runden zu drehen. Es geht ihm wie mir, wenn auch aus anderen Gründen.
Langsam aber sicher entwickeln wir eine Beziehung zueinander, die gute Fee am Versorgungsstand und ich. Wenn ich bei ihr einkehre, kümmert sie sich rührend um mich. Wenn ich vorbeitrabe, dabei mit sparsamer Geste grüße, schenkt sie mir ein Lächeln. Zumindest in diesem Moment des freundlichen Wahrgenommenwerdens fühle ich mich weniger verloren. Das ist "da draußen", im weiten Rund der Strecke, anders. Umso mehr als es immer schwerer, schließlich unmöglich wird, das Tempo auf dem anfänglichen Niveau zu halten. Viel zu früh werden mir die Beine schwer und ich weiß nicht einmal warum.
Vorm Lauf zu meiner Zielvorstellung befragt hätte ich ohne zu zögern "100 Kilometer plus x" geantwortet. Selbst nächtens und nicht in Bestverfassung hegte ich keinen Zweifel in 12 Stunden mindestens 100 Kilometer abspulen zu können. Noch dazu unter den "Laborbedingungen" eines Stundenlaufes, mit der Möglichkeit im Viertelstundentakt auf alles zuzugreifen, was das Läuferherz begehrt. Und nun das: Schwere Beine nach gerade mal fünf Stunden, die mir unmissverständlich befehlen: Tempo rausnehmen!
Eine ganze Weile träume ich weiter von 100 Kilometern. Der Traum zerplatzt als ich hinter der Hälfte der Distanz einen Haken setze, ziemlich genau vier Minuten vor Halbzeit. Ich bin zu sehr Realist, um mir etwas vorzumachen: Meine Ausdauerkurve sinkt stetig gen "schlapp". Und selbst, wenn ich den Schwund stoppen und mich stückweit erholen sollte, zum Phoenix aus der Asche werde ich mich nicht aufschwingen können. 50 Kilometer in den verbleibenden sechs Stunden und vier Minuten wären reine Utopie.
Irgendwann später scheint mir jemand komplett das Licht ausblasen zu wollen: Zur Schwäche gesellt sich einmal mehr Schlafmüdigkeit. Wieder dieser verdammte, sich wie Torkeln anfühlende Kontrollverlust. Wahrscheinlich sieht es nicht danach aus, aber es fühlt sich so an. Komme mir vor wie ein Blatt, das der Wind vor sich herweht, bald hierhin, bald dorthin. Der Wind hat in der Nacht etwas aufgefrischt, lässt mich zuweilen frösteln. Völlig aus der Luft gegriffen ist der Vergleich also nicht.
Bedrängt von Erschöpfung, Schlafentzug und der peinigenden Geißel Lustlosigkeit vor mich hin trottend bin ich meinem Schicksal dann doch in einem Punkt äußerst dankbar: Dass es mir die immer mal wieder erwogene Ummeldung von 12 auf 24 Stunden und die in diesem Fall vorprogrammierte Katastrophe ersparte. Was für eine vermessene, grob unvernünftige Idee, ohne adäquate Vorbereitung 24 Stunden laufen zu wollen! Wie töricht von einem mit meiner Erfahrung gedacht, einem der längere Pausen und Gehen als Fortbewegungsart kategorisch ablehnt; der sein läuferisches Glaubensbekenntnis gegen Ende der Mühen einem anderen 12-Stundenläufer mit folgenden Worten unterbreiten wird: "Warum soll ich mich für 12 Stunden anmelden, wenn ich unfähig bin 12 Stunden zu laufen!"
Das anspruchsvolle Ziel aufzugeben hat auch was für sich: Es erleichtert mir den Entschluss ein paar Minuten Laufzeit zu opfern und mich obenrum neu einzukleiden. Schweißfeuchte Shirts und Armlinge wandern in die Wäschetüte, dafür streife ich ein langärmliges, warmes Unterhemd über und verpacke Udo zusätzlich in eine hauchdünne Jacke. Was für eine Wohltat! Endlich mollige Wärme auf der Haut und für zwei Umläufe auch trockene Textilien. Bis die luftdichte Verpackung meine Poren zu erhöhter Pumpleistung animiert und ich den Reißverschluss der Jacke wieder ein Stück weit öffnen muss.
Zwischen eins und drei in der Nacht sollte es leicht regnen - weissagte die Wetter-App gestern Abend. Zwischen eins und drei erfreute mich jedoch meist der Mond mit voller Rundung, nur gelegentlich von einer Wolke verdeckt. Kein Nachthimmel aus dem es regnen könnte. Lange vor Tagesanbruch lege ich das Thema zu den Akten, würdige den Himmel fortan keines Blickes mehr: Es wird nicht regnen! Gegen fünf Uhr früh kommentiert Petrus meinen voreiligen Schluss: Erste Tropfen fallen vom Himmel. Dicke Tropfen, minutenlang vereinzelt; dichter schließlich, als ich am weitesten von meinem Tisch entfernt bin. Endlich dort angekommen, ist der Spuk wieder vorbei. Nerven bewahren, auch während der weiteren zwei Mal, die Petrus mich neckt und ein paar Spritzer in die Landschaft schleudert. Die Kappe als Brillenschutz bleibt in der Box, das war's dann an Wasser von oben.
‚Wenigstens das bleibt mir erspart, wenn schon sonst nix!', jammere ich lautlos vor mich hin. Na ja, obwohl ... es liegt wohl in der Natur der Menschen allgemein und in meiner besonders hervorzukehren, was einem querkommt und Gutes geringzuschätzen. Ja, es ist dunkel und ich hasse es im Finstern zu laufen. Ja, es ist kalt und gelegentlich fröstele ich. Ja, ich bin schlafmüde und laufe nun auch seit Längerem schon auf dem Zahnfleisch. Ja, mein Bauch fühlt sich an wie der vom Wolf, nachdem die Muttergeiß dort die Wackersteine eingenäht hatte ... alles wahr, alles real. Aber immerhin laufe ich noch, die Bedingungen sind insgesamt erträglich und vor allem: Orthopädisch zwickt es nirgendwo!
Zweite Schlafmüdigkeit, zweiter Kaffee von meiner guten Fee. Hatte dafür meinen verschließbaren Kaffeebecher der Box entnommen, eine Runde spazierengetragen und ihr dann aufs Büffet gestellt. Doch diesmal bleibt es bei wenigen, im Stehen genossenen, warmen Schlucken. Die Mixtur im Magen wird kritisch, Kaffee scheint er nun nicht mehr zu goutieren. Kein Wunder, nachdem ich ihn stundenlang mit kalter Cola, Wasser und widerlich süßem Gel bombadierte.
Wieder einmal huscht der mutmaßlich beste Läufer des Feldes vorbei, Stu Thoms. Ehedem Deutscher Meister im 24-Stundenlauf und Sieger des Spartathlons im Hitzejahr 2012, in dem nur 72 Teilnehmer überhaupt das Ziel erreichten. Heute Nacht fiel er mir nur sporadisch auf. Vor der Anzeigetafel bleibe ich kurz stehen - auch diesen Luxus leiste ich mir inzwischen -, um Stu Thoms' Kilometerkonto einzusehen. Wie erwartet führt er das Feld der 24 Stundenläufer an. Als ich den Blick schon abwende fällt mir auf, woran ich bisher keinen Gedanken verschwendete: Es gibt auch eine 12-Stunden-Rangliste. Auf der belege ich - zu meiner großen Überraschung* - den dritten Platz. Der nächste Blick gilt der Zeile unter meiner: In der steht Mike, mit ungefähr drei Kilometern weniger auf der Habenseite. Nachdenklich trabe ich weiter, bezeichnenderweise ohne nachzusehen, wer mit welcher Leistung auf den Plätzen eins und zwei vor mir rangiert. Das interessiert mich ebenso wenig, wie meine eigene Platzierung. Jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, da ich davon ausgehe, bald nach hinten durchgereicht zu werden.
*) Wirklich um Platzierungen ringend wäre meine Überraschung kleiner ausgefallen, da nur elf Bewerber im 12 Stunden-Rennen unterwegs waren.
Doch, was ist mit Mike? Tatsächlich ist es eine ziemliche Weile her, dass ich ihn zuletzt wahrnahm. Für eine Weile mustere ich alle Entgegenkommenden etwas aufmerksamer, suche nach Mikes Konterfei. Als er mir dann nach geraumer Zeit begegnet, bringe ich nach langen Stunden des Schweigens den ersten zusammenhängenden Satz zu Gehör: "Was ist los, Mike? Geht's dir schlecht?" Doch körperlich, da kann er mich beruhigen, ist alles in Ordnung. Wie schon beschrieben fehlt ihm einfach der Antrieb seine physischen Möglichkeiten auszuschöpfen.
Gegen sechs überzieht sich der Himmel mit einem Schimmer von Dämmerung und päppelt mein verkümmertes Pflänzchen Zuversicht wieder auf. Bald wird es hell und anscheinend haben sich die Regenwolken verzogen! Physisch habe ich mich inzwischen mit der bleiernen Schwere meines Körpers arrangiert, mental im Aushalten eingerichtet. Statt der ursprünglich 100 gelten mir jetzt bescheidene 90 Kilometer als Schamgrenze. Mehrfach kalkuliere ich meine Chancen die Marke zu schaffen. In den Stunden 7 bis 9 reichen meine Hoffnungen noch bis 95 und darüber hinaus. Allerdings verliere ich durch mehrmalige, immer länger werdende Boxenstopps viel Zeit beim Ver- und Entsorgen (doofe Blase!). Trotzdem: "90 plus ein kleines x" sind nicht in Gefahr. Tröstlich auch folgende Überlegung - ohne mir den verheerenden Tempoeinbruch schönreden zu wollen: Ob 100 oder 90 Kilometer, die zurückgelegte Distanz spielt eine untergeordnete Rolle. Für die erhoffe Trainingswirkung ist entscheidend volle zwölf Stunden ohne Unterbrechung durchzuhalten und die lange Dunkelperiode mental zu überstehen. Beides werde ich - so Covid-19 und seine Folgen es zulassen - in Griechenland brauchen.
Es wird heller aber nicht wärmer. Langsam belebt sich das über Nacht ziemlich ausgestorbene Rund. Vielleicht betrifft die "Belebung" aber auch mehr meine Wahrnehmung. Zunehmend spüre ich wie die Last der langen Dunkelheit von mir abfällt. Das ist ein bisschen wie aufwachen. Aufwachen und alle Bekannten um sich versammelt sehen. In diesem Moment flitzt Claudia vorbei; kennengelernt beim Barnim Doppel, wieder gesehen auf der 115 Kilometer-Runde an der Ostsee. Einmal mehr überhole ich Michael Brandt, das Spartathlon-Urgestein, grüße die Burger Zwillinge, Rüdiger und Frank, mit Handzeichen. Von vorne nähert sich Helga, wenig später überhole ich Steffen. Bernd, der mit über 75 Lenzen älteste Teilnehmer, schleicht mir entgegen. Immerhin läuft er noch - was für eine Leistung! Auch Mike sammelt weiter Kilometer, wenngleich er den Rückstand zu mir nicht aufholen konnte (oder wollte). Selbst nach meinem langen Aufenthalt im Toilettenwagen, beträgt sein Abstand zu mir immer noch zwei Kilometer.
Ich wache auf und die düstere Versunkenheit der Nachtstunden wandelt sich zügig in fröhliches Ausschauhalten. Verrückt! So extrem gegensätzlich habe ich das noch nie erlebt. Alsbald frohgemut, obwohl ich nach wie vor nur mühsam Schritt an Schritt zu reihen vermag. Natürlich hängt der Stimmungswandel mit dem inzwischen absehbaren Ende der Tortur zusammen. Keine zwei Stunden mehr. Als in der Hauptsache verantwortlich gilt mir jedoch der helle Tag und die Aussicht bald die Sonne im Gesicht zu spüren.
Noch anderthalb Stunden. Es wird Zeit die Kamera auf die Strecke mitzunehmen und die Runde im Hellen zu dokumentieren. Da jede Unterbrechung ein Wiederantraben nach sich zieht, was mir zunehmend schwerer fällt, will ich den Griff nach der Kamera mit dem nächsten fälligen Gel kombinieren. Demnächst eine weitere Ration pappsüßen Glibber schlucken zu wollen, verursacht mir allerdings heftigen Widerwillen. Brauche ich das Zeug unbedingt noch? Es geht nur darum bedächtig die letzten Runden runterzutraben, die zwölf Stunden voll zu machen. Das sollte ich anderthalb Stunden lang auch ohne Zuckerkalorien überstehen. Zur Not nehme ich eben noch mehr Tempo raus ...
Ich lichte alles ab, was mir vor die Linse kommt. Nach und nach auch einen Teil meiner Mitläufer. Den blinden Anton Luber zum Beispiel, der sich von wechselnden Begleitern durch die Runden geleiten ließ. Auch in der Nacht übrigens, was meinen gewaltigen Respekt vor seiner Leistung weiter anfachte. Aus den falschen Gründen zunächst, bis ich begriff, dass Tag oder Nacht für ihn weniger Unterschied macht als für uns mit intakten Augen. Ewige Dunkelheit - allein die Vorstellung bedrückt mich. Anton war schon immer mein ganz persönlicher Held. Wo ich den überall habe laufen sehen! Auf anspruchsvollen Wegen, die schon für Sehende nicht ohne waren. Stundenlang übellaunig in der Nacht schwieg ich Anton an. Wohl auch, weil ich fürchtete, stimmlich keine Resonanz bei ihm auszulösen. Etliche Monate (einige Jahre?) sind vergangen, seit wir zuletzt aufeinander trafen; ich weiß nicht einmal mehr, wann das war ... Jetzt bei Tag, als "Wiederbelebter", kann ich nicht mehr an mich halten, grüße Anton und beglückwünsche ihn zu seiner Leistung. "Du bist der Udo, oder!?" Dieser ohne Zeitverzug geäußerte Satz macht mich dann doch für ein paar Minuten wieder sprachlos ...*
*) Am Ende stehen für Anton Luber unglaubliche 165,089 km zu Buche.
Gemächlich müden Schrittes trabe ich einher, verkürze allmählich den Abstand zu Stu Thoms' ganz in Schwarz gehüllter Rückfront. Der inzwischen gut gelaunte, deshalb jedoch nicht minder zähe Strudel meiner Gedanken braucht eine Weile, um das Außerordentliche des Vorgangs an die Oberfläche zu spülen: Ich bin im Begriff einen der vor kurzem noch besten Ultraläufer dieser Welt zu überholen. "Schon dafür hat sich die weite Anreise gelohnt!" gebe ich zu Protokoll, als ich an ihm vorbeilaufe. "Auch wenn der Spartathlonsieger in einem anderen Wettbewerb unterwegs ist!"
Bald ist es vorbei. Zeit für ein vorläufiges Fazit: Die "100" blieben mir versagt, was ich mir nicht so leicht vergebe. Vielleicht mag ich Stundenläufe auch aus diesem Grund immer weniger: Ich gebe mir nach nüchterner Analyse ein Ziel vor, setze alles daran es zu realisieren, um dann aus (teils) unerklärlichen Gründen zu scheitern und stundenlang als "Untoter" zu kreisen. Siehe die sechs Stunden von Steyr in Österreich, siehe heute. Manch anderer beendete das böse Spiel vorzeitig, was für mich nur äußersten Falls in Frage käme. Aus eigenem Antrieb abzubrechen würde ich mir noch viel weniger verzeihen. Bis zum - körperlich - immer bitter werdenden Ende durchzuhalten ist folglich alternativlos. Welche Bedeutung hat dieser dritte Platz in der Gesamtwertung? Von dem nur Mike mich verdrängen könnte, der jedoch keinerlei Anstalten macht nach dem Lorbeer zu greifen, der eigentlich ihm zustünde. Dritter in einem Feld von kaum mehr als zehn "Zwölfstündern" mit einer grottenschlechten Leistung von "90km plus x"? Na wenn schon! - Aus dieser Einschätzung spricht keine Geringschätzung der eigenen Leistung. Ich anerkenne durchaus, welche Härte ich mir antun musste, um die inzwischen mehr als elf Stunden durchzuhalten. Aber ich weigere mich mir die mäßige Leistung schönzureden.
Den Erfolgen anderer schenke ich mehr Aufmerksamkeit als den eigenen Mühen. Mit einiger Spannung verfolge ich das Duell zwischen Stu Thoms und seinem Verfolger Martin Armenat. Just im selben Moment als ich mal wieder Seite an Seite mit Stu trabe, schießt der Konkurrent vorbei und verbreitet die Mär von "Friede, Freude, Eierkuchen": "Ich muss nochmal laufen!" ruft er aus. Als hätte er dazu in den fast 24 Stunden keine Gelegenheit gefunden, um dann beschwichtigend hinzuzufügen: "Aber keine Angst ich hole dich nicht ein!" - Stu, zu diesem Zeitpunkt wohl nur noch diese eine Runde in Front liegend, riecht den Braten und heftet sich an die Fersen des Herausforderers. Seine dabei an den Tag gelegte Leichtfüßigkeit nach immerhin fast einem mit Joggen verbrachten Tag lässt keinen Zweifel aufkommen: Er wird das Duell für sich entscheiden.
Tatsächlich überrundet er mich bald darauf ein weiteres Mal. Gelegenheit seinen zum Niederknien flüssigen Laufstil zu studieren und mit einem Kompliment nicht hinter dem Berg zu halten: "Ich hab' dir das schon einmal gesagt* - ich kenne keinen Läufer, der einen derart hinreißenden, zugleich ökonomischen Laufstil hat wie du!" Der mit Lob Bedachte meint relativieren zu müssen: "Na ja, zu diesem Zeitpunkt wohl nicht mehr!" - Solche Bescheidenheit ehrt den Mann, entbehrt jedoch jeglicher Realität. Stu Thoms' Laufstil lässt nicht das mindeste Anzeichen von Ermüdung erkennen. Keine veränderte Körperhaltung, kein Schwanken, keine ansatzweise schweren, eckigen Schritte. Nach wie vor scheint er zu schweben, vor mir her und von meinen neidvollen Blicken verfolgt ... Am Ende wird es eng, aber nur scheinbar: Stu Thoms siegt mit 228,209 km und einem Vorsprung von nur etwa 400 Metern. Der Schein trügt, da bin ich sicher: Stu Thoms ist ein erfahrener Wettkämpfer, der gab, was er geben musste. Hätte ihm der Gegner mehr abverlangt, er hätte mehr Leistung abrufen können.
*) Im Mai auf der zweiten Etappe des Barnim Doppel: Die Schnelleren starteten mit einer Stunde Verspätung, weswegen Stu Thoms mich auf nicht mal halber Strecke leichtfüßig "tänzelnd" überholte.
Zum eigentlichen Star dieser DUV-Challenge wird jedoch eine Frau: Diana Dzaviza. Die für einen Wiener Verein laufende, anscheinend in Österreich lebende Lettin fiel mir schon die ganze Nacht über auf, was einzig daran lag, dass sie mich zigfach überholte. Nicht überraschend also, sie mit 228,962 Kilometern die Tagesbestleistung* abliefern zu sehen. Natürlich gratuliere ich ihr auf einem der letzten Umläufe. Da hat Diana ihr Tempo längst so weit reduziert, dass es mir unter Aufbietung letzter Reserven gelingt sie zu überholen und ein Foto von der überglücklichen Siegerin zu schießen.
*) Ein gewaltiger Sprung, bedenkt man ihre bisherige persönliche Bestleistung von "nur" ca. 190 km. Möglicherweise waren wir dabei, als in Bernau ein neuer Stern am Himmel der 24-Stundenläufer aufging.
Diana hat ihr Tempo willentlich reduziert? - Das schickt mich gedanklich zurück in ins Laufjahr 2008, zum ersten eigenen 24 Stundenlauf. Da verzichtete ich in der abschließenden Wettkampfphase auch darauf alles zu geben, was vielleicht noch an Reserven in mir steckte. Nicht ahnend, dass ich im Begriff stand nicht nur die erste, sondern mit über 219 Kilometern zugleich meine beste 24 Stunden-Leistung abzuliefern. Schon gar nicht voraussehend, dass sich mir verletzungs- und altersbedingt (damals schon M55) keine weitere Gelegenheit bieten sollte, diese Marke auch nur annähernd wieder zu erreichen. Doch an diesem Punkt bin ich dann gedanklich wieder beim weiblichen Star der DUV-Challenge: Diana Dzaviza ist jung genug, um noch einige Jahrzehnte an ihrer Bestleistung feilen zu können ...
Das Beste kommt zum Schluss - nicht bei allen heute, schon gar nicht bei mir, augenscheinlich aber für Rüdiger Burger und Michael Vanicek*. Die beiden kreisen in der letzten Stunde mit einer Rasanz als hätte man ihnen frisch geladene Akkus eingesetzt. Dabei ist mir eigentlich gar nicht klar, was sie mit ihrer Schlussoffensive bezwecken. Andererseits: Gab ich nicht selbst in der Schlussphase von Wettkämpfen vielfach noch einmal Gas? Einfach so, aus Lust am Laufen oder, um mich nach hartem Lauf spüren zu lassen, dass ich es noch kann?
*) Michael Vanicek begegnete ich schon häufiger. Allerdings nahmen wir an diesem Tag erstmals Notiz voneinander und wechselten die ersten Worte. Zum Beispiel wurde "Vanni" 2008 Deutscher Vizemeister im 24h-Lauf. Just in jenem Wettkampf, dem ich meine Bestleistung (ca. 219 km, Gesamtplatz 4) und den Titel eines Deutschen Seniorenmeisters im 24h-Lauf verdanke. Übrigens derselbe Wettbewerb in dem ein blutjunger Florian Reus kaum über (für seine späteren Verhältnisse) bescheidene 187 km hinauskam. Jener Florian Reus, der 2015 das Kunststück fertigbrachte im selben Jahr die Weltmeisterschaft im 24h-Lauf (263,899 km) UND den Spartathlon (23:17:31 h) für sich zu entscheiden.
Die letzte Laufstunde beschäftigt meinen Geist mit gehäufter Arithmetik. Ein müder Geist, der dafür nicht mehr benötigt als die vier Grundrechenarten und enorm viel Zeit. Alle Hochrechnungen stimmen im Ergebnis überein: 92,x Kilometer gesamt. Eine halbe Stunde vor Schluss bin ich geneigt mit 92,x meinen Frieden zu machen. Bis zum Ende durchhalten hat Bedeutung, bis zu welcher Distanz spielt längst keine Rolle mehr. Doch es kommt anders. Ansatzlos, unerwartet, einfach so und wahrlich nicht zum ersten Mal in all den Jahren ergreift mich ein Anflug von Ehrgeiz. 93 sind möglich! Wenn ich nicht trödele und in den beiden Schlussrunden keine Pause einlege. Also verzichte ich aufs Trinken, halte stur meinen Trott und vollende gut drei Minuten vor dem Ende Runde 50 ... Im Vorbeiflug lese ich die erwarteten 92,6xx Kilometer ab ... Noch 400 Meter fehlen ... Raus aus dem Stadion und die Beine noch einmal in die Hand nehmen ... Einer der Offiziellen hat in Höhe der Schulgebäude Position bezogen und sagt die Zeit an: "Noch 30 Sekunden ... noch 20 ... !" Als er den Countdown beginnt halte ich nach einer Sitzgelegenheit Ausschau. Erspähe schließlich einen Findling am Wegrand, ... " ... 9, 8 ..." ... visiere ihn an ... " ... 5, 4 ..." ... und katapultiere mich mit kurzem Sprint zum wohlverdienten Ruheplatz. Jetzt und endlich! bricht der erlösende Schuss.
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Bei der anschließenden Siegerehrung dekoriert man mich als Drittplatzierten mit Medaille und überreicht mir eine Rose. Obschon ich dieser Platzierung keine Bedeutung beimesse, freue ich mich natürlich über die Geste, genieße den - wie ich glaube - versöhnlichen Abschluss eines ansonsten reichlich verkorksten 12 Stundenauftritts meinerseits. Der Glaube hielt nur ein paar Tage, dann tauchten die Ergebnisse der "Challenge" in der DUV-Statistik auf. Dort wurde ich plötzlich nur noch auf Platz vier geführt. Rang drei nimmt nun ein Läufer ein, der mit uns startete, jedoch in der Wertung des 100 km-Laufes "Nacht" mit 99,x km geführt wurde. Als einziger Starter übrigens. Was da falsch lief, weiß ich nicht. Vermutlich fehlten dem Mann mit 99,x km in den zur Verfügung stehenden 12 Stunden ein paar Meter, um die geforderten 100 km voll zu machen. Damit seine Leistung nicht komplett unter den Tisch fällt, hat man ihn wohl kurzerhand in die 12 Stundenwertung übernommen. Sportlich geht das völlig in Ordnung. Dass es niemand für nötig befand mich über den "Verlust der Bronzemedaille" in Kenntnis zu setzen, finde ich dagegen befremdlich. Wie dem auch sei: Nach feierlichem Zerreißen der überreichten Urkunde und diesen erläuternden Zeilen mache ich auch damit meinen Frieden.
Der Veranstaltungsort, das Oberstufenzentrum Bernau, bietet gute Voraussetzungen zur Durchführung von Stundenläufen, auch über Nacht. Mit Akribie und noch mehr Arbeit ist es gelungen eine trotz Pandemie stimmungsvolle Veranstaltung in Szene zu setzen. Mein Lob gilt vor allem den vielen Helfern vor Ort, nicht zuletzt meiner "guten Fee von Bernau", die mich die ganze Nacht über "bemutterte".
Fazit: Im Falle einer Wiederholung (?) empfehlenswert!
Bilder: Siegerehrung: Mike Hausdorf, übrige: Udo Pitsch