26. September 2020

Apocalypse soon  -  Borderland Ultra K50 2020

"Ich will das einfach hinter mich bringen!" - Einer spricht es aus, andere stimmen zu. Der eine bin ich, zwei der anderen, Cornelius und einer seiner Lauffreunde, reisten aus der Ecke Rheinpfalz hierher ins südwestliche Thüringen, nahe der Grenze zu Bayern. Was ich da sage, mehr noch wie ich es sage, verleiht Unlust und dunklem Unbehagen Ausdruck. Letzteres schoss ins Kraut seit sich abzuzeichnen begann, dass das schöne Spätsommerwetter unter einem Tief mit Regen und arktischer Kaltluft zusammenbrechen würde. Seit Tagen nun schon unbeständiges Wetter, gestern Regen und der Samstag - also heute! - soll witterungstechnisch am übelsten ausfallen. In den Alpen soll es sogar schneien ...

7:45 Uhr: Wir stehen auf dem Sportgelände in Gleichamberg, noch eine Viertelstunde bis zum Start. Solltest du Gleichamberg auf der Karte suchen, muss dir eine Portion Glück zum Erfolg verhelfen. Auch wenn "Softwähriges" von Guggel per se meinen Argwohn weckt, schlage ich dir ausnahmsweise vor: Frag Guggel-Mäpps, dann bekommst du flugs eine Vorstellung davon, wo wir gerade stehen und frösteln. Frösteln, bei vielleicht sechs, sieben Grad Celsius und leichtem Wind. Auf der Fahrt vom Hotel hierher nieselte es aus tief hängenden Wolken. Vermutlich die Ouvertüre des vom Wetter eingeleiteten Weltuntergangs, dessen eigentlichen Beginn ich praktisch sekündlich erwarte. Das Nieseln hörte wieder auf, als ich das Gelände des hiesigen Sportvereins betrat. Was blieb, mich weiterhin depressiv verstimmt, ist die drohende Düsternis eines dick wolkenverhangenen Himmels.

Wir stehen rum, quatschen übers Laufen, warten. Auf den Start und auf die Sintflut von oben: Apocalypse not now but soon! - Natürlich übertreibe ich, du darfst mich auch gerne der Schlechtwetter-Hysterie bezichtigen. Doch bedenke: Es ist nicht meine Aufgabe das Geschehen dieses Samstages objektiv darzustellen. Die Aussicht mir 50 Kilometer im Gelände, teils auf steilen Trails, in Kälte und strömendem Regen abzutrotzen, empfinde ich nun einmal als absolut grauenhaft. Im Moment geht es, ich friere nicht mal. Überraschend genug, trage ich doch nur Kurztight, dünnes Hemd und Armlinge am Leib. Vielleicht liegt es am Laufrucksack, der mir den Rücken wärmt. Oder am Halstuch. Möglicherweise halten auch die dicken Fleecehandschuhe genug Wärme im Körper. Eine dünne Laufjacke wartet im Rucksack auf ihren Einsatz, von dem ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgehe.

Ein bisschen musikalisches Brimborium begleitet von künstlichem Rauch, dann geht's endlich los. Und wieder denke ich als eine Art Durchhalteparole: Bring's einfach hinter dich! Erste Schritte, noch mal die Ausrüstung kontrollieren, dabei die Gedanken sortieren. Dabei fällt mir auf, dass der Himmel seine Schleusen noch geschlossen hält. Also nehme ich die vorsorglich aufgesetzte, ungeliebte Schildkappe wieder ab und verstaue sie im Hosenbund. Griffbereit, es kann ja nicht mehr lange dauern, bis ...

Nahezu flacher Beginn auf Feldwegen, einmal auch am Rand einer gemähten Wiese. Den deutlich schnelleren Cornelius verliere ich rasch aus den Augen. Mehrmals überprüfe ich mein Tempo, einzig dem Zweck huldigend nicht zu schnell anzulaufen. Will ausreichend Reserven vorhalten, um Kälte und Regen bis zum fernen Schluss trotzen und die "Sache" möglichst ungeschoren überstehen zu können. Die Wegbeschaffenheit schwankt zwischen brauchbar und erträglich. Mehrfach dämpft Gras die Schritte, verzehrt Kraft im Übermaß. Aber besser Gras als lockeres Geröll oder jenes knubbelige, wahrscheinlich im frühen Mittelalter verlegte Pflaster, das auf Feldwegen im deutschen Osten schon mehrfach meine Füße malträtierte. Der eigentlich reizvollen, sanft modulierten, überwiegend von abgeernteten Feldern und Wiesen dominierten Landschaft vermag ich wenig abzugewinnen. In Wärme und Sonne getaucht wäre das vermutlich ganz anders. Misstrauisch, daher in kurzen Abständen mustere ich das zerrissene Grau des Himmels. Mal heller, bald dunkler in kurzem Takt pulsierend als drehte ein nervös unentschlossener Petrus am himmlischen Dimmer. Dann sind zwanzig, rasch dreißig Minuten um und ich bin immer noch trocken. Zeit mein Unken einzustellen und das Ausbleiben des Regens zu genießen - so lange es eben währt. Motto: Was von oben kommt, kann ich ohnehin nicht ändern! Ein Quäntchen Dankbarkeit widme ich dem, der die Prognose meiner Wetter-Äpp und anderer Auguren schon seit einer halben Stunde widerlegt (bescheidene Dankbarkeit kommt beim Lenker menschlicher Schicksale bestimmt gut an!).

Kein guter Tag für Udo. Während die Aufhellungen im Oberstübchen mit jeder regenfreien Minute zunehmen, verharrt seine Physis in ungewiss dunklem Abgrund: Von Beginn an zähe Schritte und es will partout nicht besser werden. Schon ein paar Schritte aufwärts oder über Graspolster verstärken das Empfinden müder Beine. Das kann vielfältige Ursachen haben, die sicher zu bestimmen unmöglich ist. Die wahrscheinlichste meiner Vermutungen gibt der Kälte die Schuld. Immerhin weiß ich aus unzähligen Trainingserfahrungen, dass meine Ausdauer eklatant leidet, sobald die Temperatur 10°C unterschreitet. Letztlich messe ich der bescheidenen Tagesform jedoch keine Bedeutung bei. "Nur" 50 Kilometer zu laufen! Anzukommen gilt mir als sicher und nicht einmal das herbe Profil der letzten 20 Kilometer vermag daran etwas zu ändern.

Nach sechseinhalb Kilometern setze ich meinen Fuß auf den so genannten Kolonnenweg. Ab jetzt laufe ich exakt entlang des einstigen Grenzstreifens, der bis vor dreißig Jahren Deutschland mit Zäunen, Gräben, Stacheldraht, Minen, Selbstschussanlagen und unter Androhung des Schusswaffengebrauches teilte. Flüchtlinge, die bis in den schmalen, damals von jeglicher Vegetation freigehaltenen Streifen rechts von mir vordrangen, hatten den Tod vor Augen. Lässt man diese unmenschlich brutale Wirklichkeit vor dem geistigen Auge wiedererstehen, kommt einem der heutige, an Harmlosigkeit nicht zu überbietende Zustand des Grenzstreifens fast unerträglich vor. Beweidetes Gras oder nach Abbau der Grenzbefestigungen gepflanzter Wald gaben dem "Borderland" seinen Frieden zurück. Womit auch geklärt wäre, wie dieser Ultralauf zu seinem Namen kam. Allerdings fragte ich mich schon 2016, erstmals auf diesem - ganz bewusst so formuliert: - blutigen Pfad der jüngeren deutschen Vergangenheit joggend, wieso man zur Namensgebung unbedingt einen Anglizismus rekrutierte. Hätte es die Vokabel "Grenzland" nicht auch getan? Klänge "Grenzland Ultra" weniger attraktiv? - Wobei ein Adjektiv wie "attraktiv" vorm geschichtlichen Hintergrund des "Borderlands" mir durchaus Schauer über den Rücken jagt.

Nun ist es raus: Ich war schon mal hier. Damals wählte ich unter mehreren Streckenangeboten den "Borderland Ultra extrem" mit 111 Kilometern. Der setzte sich aus zwei Teilstrecken zusammen, einem um Mitternacht gestarteten Nachtmarathon und einer zweiten Ultraschleife mit 69 Kilometern. Der Marathon führte mich über die beiden Gleichberge, die heute abschließend (als "K20") auf dem Programm stehen. Die Veranstaltung verschwand irgendwann aus dem Veranstaltungskalender, um in diesem Jahr wiederbelebt zu werden. Alter Name, neuer Veranstalter, neuer Start-/Zielort, geänderte Strecken. Zur Wahl standen K20, K30 und K50 (K = Kilometer). Der K50 ergibt sich aus der Addition von K30 plus K20, in genannter Reihenfolge.

Ich war schon mal hier, aber nicht auf diesem Abschnitt des Kolonnenweges. Und trotzdem erkenne ich den in Form verlegter Betonplatten vorangetriebenen Weg unschwer wieder. Kurze Erklärung für den mit einschlägigem Vokabular der Sperranlagenerbauer nicht vertrauten Leser: Kolonnenweg nannte man den in gleichmäßig geringem Abstand zur eigentlichen Grenze verlaufenden Fahrweg, auf dem bewaffnete Streifen mit Fahrzeugen patrouillierten. Ein paar hundert Meter weit bin ich überrascht. Ich hatte "eklige" Lochplatten erwartet und finde massive Platten vor. Muss ein Versehen der NVA-Grenztruppen gewesen sein! Das DDR-Regime konnte sich zwar ungestraft Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlauben, infolge klammer Kassen aber keine Materialverschwendung. Das "Versehen" endet am Fuß einer Steigung. Schluss mit Vollbeton und lustig. Ab hier gilt es, sich vor viereckigen, gottlob nur etwa einen halben Fuß breiten Aussparungen im Beton in Acht zu nehmen. Auf den nächsten fünf Kilometern besteht beständig die Gefahr an einer Kante hängenzubleiben oder umzuknicken.

Anfangs und einigermaßen fordernd bergan verstehe ich meine Sorge nicht: Die Füße auf den Stegen zwischen den Aussparungen oder dem etwas breiteren Rand der Platten zu platzieren stellt mich koordinativ vor keine Probleme. Dabei hatte ich genau die in Erinnerung. Damals fand ich auf den Platten keinen Laufrhythmus und fluchte wie ein Rohrspatz. War ich seinerzeit, nach durchlaufener Nacht und etlichen Kilo- wie auch Höhenmetern, einfach schon zu müde? Mit Erreichen der flacheren Hügelkuppe, infolgedessen nun wieder höherem Tempo also auch längeren Schritten, bekomme ich meine Antwort: Was ich auch anstelle, welche "Spur" ich auch wähle, Stege oder Ränder auf Dauer sicher zu treffen will mir nicht gelingen. Ich finde keinen Laufrhythmus, der meine "natürliche Spurbreite" mit den Loch-Steg-Dimensionen der Platten in Einklang brächte.

Ich bin nicht der einzige, den die Platten nerven. Zwei nahebei trabende Amazonen verleihen ihrem Unmut über die schikanöse DDR-Plattenproduktion unüberhörbar Ausdruck. Was mich betrifft, so gehe ich mit dem Anschlag auf die Fußgesundheit heute geradezu lässig um. Das liegt vor allem am absehbaren Ende des Abschnitts und daran, dass ich noch über genug Kraft verfüge, um konzentriert zu laufen. Vor vier Jahren war die Lochplattenstrecke deutlich länger, zudem in der zweiten Hälfte eines mehr als hundert Kilometer weiten Weges zu bewältigen. Dagegen ist das hier ein Kinderspiel ... Upps! Doch kein Kinderspiel, fast hätte ich - umknickend - das Gleichgewicht verloren ... und noch mal Upps!: Steil ansteigend erhebt sich voraus eine "Lochplattenwand". Nicht allzu hoch und allenfalls sechzig, siebzig Meter Distanz, die es aber mit etwa zwanzig Prozent Steigung in sich haben. Am Fuß des steilen Tritts bleibe ich stehen, bücke mich, halte die Kamera nur knapp über den Boden, schieße aus dieser Position ein Bild vom Vorauslaufenden. Meine dabei erschöpft bis krank, auf jeden Fall aber merkwürdig anmutende Körperhaltung provoziert Fragen. Brav erläutere ich einem Verfolger den perspektivischen Sinn der Übung, dass von tief unten fotografiert die Steilheit des Weges erst richtig zur Geltung kommt. "Der Buckel ist aber doch schon so steil genug ..." meint der daraufhin und ergänzt: " ... der muss gar nicht steiler aussehen!"

Vor vier Jahren reihten sich mehrere solcher "Eigernord-Plattenwände" aneinander, brachten mich schier zur Verzweiflung und ans Limit. Ein ähnliches Schicksal bleibt mir heute erspart. Ein wenig Auf und Ab hat der Kolonnenweg noch zu bieten, jedoch nichts, was mit der vorhin überwundenen Steilstufe vergleichbar wäre. Länger als für einen Wimpernschlag traue ich mich nicht den Blick vom Boden zu lösen. Doch schon diese stoboskopisch abgehackte Wahrnehmung der Umgebung beschert mir idyllische Eindrücke. Zunächst von einer an Obstwiesen oder Wachholderheiden erinnernden Landschaft, alsbald weit hinaus ins bayerische (rechts des Weges) und thüringische Land (links des Weges). Dass es immer noch nicht regnet, nach nun schon eineinviertel Stunden brauche ich nicht zu sehen, ich spüre es. Vermutlich steuert diese Tatsache mehr zu meiner inzwischen erstaunlich guten Laune bei, als alle Bilder und sonstigen Umstände zusammen.

Der Kolonnenweg fällt steil zu einer mit Feldern und Wiesen bedeckten Ebene hin ab. Dem Schutz des Waldes beraubt spüre ich den wirklich eisigen Hauch des Windes. Halstuch, Handschuhe und Rucksack verhindern, dass ich auskühle. Zur Not könnte ich den Kopf mit einem weiteren Schlauchtuch bedecken und die dünne Windstopperjacke überziehen. Doch seltsamerweise scheinen sich Wärmeerzeugung und -verlust die Waage zu halten. Ich schwitze kaum und von gelegentlichem Frösteln bei kurz auffrischendem Wind abgesehen, ist mir auch nicht kalt. Das klingt nach nahezu idealem Laufwetter. Möglicherweise für andere, jedoch nicht für mich. Zehn Grad mehr wären leistungsfördernd, brächten mich überdies meiner Wohlfühlzone ein gutes Stück näher ...

Für meinen Geschmack habe ich mittlerweile ausreichend "Borderland" und Lochplatten besichtigt. Weit kann es nicht mehr sein, bis der Weg in Richtung Thüringen abbiegt. Alsbald wieder im Wald und hinter Mitläufern her hoppelnd, stolpernd, staksend* absolviere ich noch ein paar Richtungswechsel des Kolonnenweges. Dann, kurz hinter einer Wegbiegung, ist das Intermezzo arhythmischen Laufens für diesmal zu Ende: Ich biege im spitzen Winkel ab und flitze im Gefälle eines feuchten, erdigen (rutschigen?) Pfades durch ein Waldstück. Zum ersten Mal schlage ich aus dem Umstand mich für Trailschuhe entschieden zu haben Kapital. Trailschuhe, die ich übrigens nur deshalb wählte, weil in der Rubrik Pflichtausrüstung "profilierte Schuhe" verzeichnet standen. Trailschuhe, die ich verglichen mit meinen übrigen Tretern als hart und unbequem empfinde und deshalb nur selten trage.

*) Hiermit lobe ich einen Preis für denjenigen aus, der das treffendste Verb fürs "Lochplatten-Joggen" findet!

Am Waldrand entlang, bald auf einem Feldweg, jetzt in umgekehrter, nördlicher Richtung. Zur Richtungsfeststellung brauche ich weder Kompass noch Karte. Bisher wehte mir der Wind kalt ins Gesicht, nun laufe ich überwiegend mit dem Wind und das Frösteln hat ein Ende. Als nächstes Zwischenziel visiere ich betonierte Hässlichkeit an: Ein ehemaliger Wachturm, noch über einen Kilometer entfernt und nur als graue Silhouette auszumachen. Ein Wachturm, der von der eigentlichen Grenze mehr als einen halben Kilometer entfernt errichtet wurde? Nicht der erste derartige Turm, den ich sehe. Mehrmals im Jahr düse ich in Steinwurfweite auf der A72 an einem ähnlichen Spargel vorbei und entlang der Strecke des Mauerweglaufes (100 Meilen Berlin) blieben gleichfalls diverse Grenztürme zu Denkmal- und Museumszwecken erhalten. In jeden Fall stehen die Türme unmittelbar an der zu überwachenden Sperranlage. Also sollte ich mich wundern, während ich auf dieses Exemplar zuhalte und immer mehr Details der Anlage erkennbar werden.*

*) Es handelt sich um einen zurückgesetzt errichteten Führungsturm der DDR-Grenzsicherung mit angebautem unterirdischem Bunker.

Doch der Groschen fällt nicht. Auch nicht, als ich mir am Verpflegungspunkt, der am Fuß des Turms aufgebaut wurde, Cola und Wasser in den mitgeführten Becher einschenken lasse. Ein letzter schaudernder Blick auf das Mahnmal ewiger menschlicher Dummheit*, dann setze ich meinen Weg auf einem Feldweg fort. Mein Entfernungsmesser meldet 16 Kilometer, die Uhr 1:50 seit dem Start verstrichene Stunden und noch immer fiel nicht ein Tropfen Wasser aus regenschwangerem Himmel.

*) Millionen Menschen unter dem Vorwand einer unmenschlichen Staatsdoktrin in das größte, je auf deutschem Boden errichtete KZ einzusperren ist zweifellos Ausdruck von Dummheit. Die Tat wurde von Menschen an Menschen begangen, deshalb menschliche Dummheit. Ewige menschliche Dummheit, weil weltweit weiterhin Zäune und Mauern auf den Abriss warten. Und nicht nur das: Immer wieder werden neue errichtet. Barrieren, die Menschen am Überschreiten von Grenzen hindern sollen - siehe Korea, USA, Europäische Union und Israel. Handeln, das noch immer menschliches Leid erzeugte und letztlich nutzlos war. Zäune und Mauern zementieren Konflikte, zur deren Lösung taugen sie nicht.

Südwärts überwanden wir den Höhenrücken auf dem "beton-löchrigen" Kolonnenweg, laufbehindert aber letztlich kraftsparend. Jetzt, in Gegenrichtung und um einige hundert Meter ostwärts versetzt, muss ich mehr Energie aufwenden, weil der Höhenrücken sich in zwei Riegel aufspaltet, von einer nicht allzu tief eingeschnittenen Mulde verbunden. Mehr Energie mobilisieren, insbesondere beim trailigen zweiten Anstieg im Wald. Verbrauche auch anschließend vermehrt Körner auf dem welligen, nur von Fahrspuren erschlossenen Hügelrücken. Die Strecke vollführte in der Mulde einen ausladenden Schlenker, hält unterdessen jedoch wieder auf die ehemalige Grenze zu. Ich überhole einen Mitläufer, dem unübersehbar bereits die Beine schwer werden und schwenke Sekunden später wieder auf den Kolonnenweg ein. Ab jetzt geht es auf bereits bekannter Route zurück in Richtung Zielbereich. Etwa zweieinhalb Stunden sind um und etwas mehr als 21 Kilometer gelaufen. Und das Schönste? Korrekt: Bisher kein Regen!

Ich wickele den Kurs rückwärts ab, weiß also auf Schritt und Tritt, was mich erwartet. Was ich nicht weiß: Wann werde ich meine Frau Ines treffen. Mit ungewisser Wahrscheinlichkeit hoffte ich schon sie am Grenzturm zu sehen. Dafür war aber wohl die Zeit zu knapp. Zu knapp, um mich zum Start zu chauffieren und anschließend selbst ein Trainingsläufchen in Begleitung unserer Hündin Roxi zu absolvieren. Alsdann im Hotel zu duschen, zu frühstücken und für die Fahrt zum Turm. Nächste Rendezvous-Chance: Beginn des Kolonnenweges vor dem Weiler Linden. Doch auch hier keine Spur von Ines. Bis zum Start-/Zielbereich fehlen noch etwa gut sechs Kilometer. Wahrscheinlich wartet sie dort auf mich ...

Das schmale, moderat abfallende Sträßchen durchschneidet Grasland, darauf glückliche, schwarz-weiß gefleckte Rindviecher. Glück der grundsätzlichen Art, weil die Tiere ihr Leben artgerecht unter offenem Himmel fristen dürfen. Würde die Wiederkäuer gerne fragen, ob sie nicht vielleicht doch ein gemütliches Plätzchen im Stall der Schafskälte und baldigem Regen hier draußen vorzögen. Rechts das Becken eines schmucklosen Schwimmbades. In seiner Tiefe intensiv blau leuchtend, als wölbte sich darüber ein wolkenfreier Himmel mit strahlender Sommersonne. Die ersten Häuser des Weilers Linden rücken näher. Noch ehe ich sie erreiche endet vorm schon bekannten Feuerwehr-Streckenposten das Wohlgefühl meiner Füße. Rechts ab auf einen ansteigenden, geschotterten Feldweg ...

Wildes Winken etwa 50 Meter voraus: Da vorne, leicht erhöht, steht Ines! Freude wallt auf, die meine Innenwelt in krassem Gegensatz zur Außenwelt in strahlenden Sonnenschein taucht. Heute ohne versorgende "Funktion" steht Ines lediglich da, applaudiert, strahlt mir entgegen, beschenkt mich mit ihrer Gegenwart. Spitzes Küsschen, Kurzbericht. Tenor: Körperlich mieser Tag, aber alles gut, so lange es nur nicht regnet! Gute Wünsche empfangen und weiter. Auf der Kuppe drehe ich mich noch einmal um, will meiner Frau ein letztes Mal zuwinken. Zwar steht sie noch da unten, hat aber keinen Blick mehr für mich, feuert gerade frenetisch vorbei defilierende Mitläufer an. Wahrscheinlich haben die ihren Beistand ebenso nötig wie ich ...

Gras unter den Füßen, planerisch taktische Gedanken im Kopf: Noch etwa zwanzig Minuten trennen mich vom Zwischenstopp im Start-/Zielbereich. Danach wird die Route sofort dramatisch ansteigen, dem Gipfel des Großen Gleichberges entgegen. Dann sollten genügend Zuckermoleküle in meinem Blut zirkulieren, um mir die Schufterei zu erleichtern. Also jetzt ein Gel einwerfen und dann noch eins im Stadion. Das Hantieren mit Gelbeutelchen und abgestreiftem Handschuh gelingt mir noch ganz gut in der Bewegung. An sich ein gutes Zeichen. Nichts hat mehr Beweiskraft für vorzeitige Schwäche als die Notwendigkeit mich gehend oder stehend zu versorgen. Ein bisschen mangelt es mir aber doch schon an Konzentration und schwupps segelt mein Handschuh ins Gras. Während ich mich unter schmerzhaftem Protest meines unteren Rückens bücke, tippelt einer vorbei, den ich Sekunden zuvor überholte. "Zu blöd einen Handschuh festzuhalten!" kommentiere ich mein Missgeschick. "Ist halt manchmal so! Passiert jedem mal!" werde ich getröstet. Wieso ich ausgerechnet heute einen Dialog vom Zaum breche, noch dazu einen gänzlich überflüssigen, wo doch mein Mund bei ähnlichen Gelegenheiten wie zugenäht schweigt, verstehe ich selbst nicht recht. Abschließend meine ich ihm noch das alles Entscheidende Motto des Tages mit auf seinen Weg geben zu müssen: "Ist aber auch egal! Hauptsache es fängt nicht an zu regnen!"

Als ich nach Verpflegungsstopp im Start-/Zielbereich, knapp 30 absolvierten Kilometern und 3:30 Stunden zum "K20" aufbreche, scheinen die Wolken entschlossen den Waffenstillstand aufzukündigen. Ein paar Spritzer treffen mein Gesicht und "fettes" Gewölk ballt sich überm Dorf. Ich durchquere Gleichamberg und finde meine Idee, wie der Ort zu seinem Namen fand, so-"gleich" bestätigt: "Gleich am Berg" trabend reduziert mal mehr, mal weniger Steigung mein Lauftempo. Auf Asphalt zunächst, der alsbald in einen fest geschotterten Waldweg übergeht. Ungefähr dreihundert Höhenmeter trennen das Niveau des Sportgeländes vom Gipfel des Berges. Im Wald auf breiter, gepflegter Forststraße aufwärts. Hier war ich schon mal! Vier Jahre alte Bilder meiner nächtlichen "Bergbesteigung" steigen auf wie Luftblasen im Sumpf dichter Lauferinnerungen.

Ich tippele sehr langsam, Körner sparend aufwärts, überhole dabei einen, bald einen zweiten Kontrahenten. Bekanntermaßen geht es mir nicht um bessere Platzierung, sondern einzig darum meine immerwährende Absicht auch heute durchzuhalten: Alles laufen, niemals gehen! Zum ersten Mal sammelt sich Schweiß auf Stirn und an den Schläfen. Atem- und Herzfrequenz steigen, stabilisieren sich aber auf erträglichem Level. Es geht. Schwer. Aber es geht. Dankbar realisiere ich, dass den Spritzern vor 10 Minuten nun doch kein Schauer folgte. Es ist (und bleibt hoffentlich noch eine ziemliche Weile) trocken.

Vom breiten Forst- auf einen schmäleren Wirtschaftsweg, schlussendlich auf einen Wanderern vorbehaltenen Pfad wechselnd. Weiter bergwärts, auf immer noch passablem Untergrund. Womit man halt im Wald auf Trampelpfaden so rechnen muss: Da und dort ein paar Steine, Bruchstücke von Ästen, Laubpolster, zuweilen weiches Erdreich. Rechnen muss ich in diesen Minuten auch mit schnellen K20-Läufern auf Gegenkurs. Sie preschen zwar nur vereinzelt, dafür umso rasanter an mir vorbei zu Tal. Noch ein paar Minuten bis zum Sportgelände, dann haben die "Kurzstreckler" ihr Tagwerk vollbracht. Ein schmaler Hohlweg öffnet sich und fünfzig Meter weiter will der Stamm eines vom Sturm gefällten Baumes überklettert werden.

Eingedenk der zähen ersten Hälfte wundert mich nun doch die relative Leichtigkeit, mit der ich aufwärts vorankomme. Weiches Geläuf und Hindernisse, jedoch nichts, was mich ans Limit brächte. Das ändert sich schlagartig, nachdem mich ein Strecken-Doppelposten nach rechts aufwärts und ins jäh Steile schickt. Tapfer halte ich meinem Grundsatz die Treue, tippele in einer Weise hinan, die gerade noch als "Laufen" durchgeht. Doch dreißig Meter weiter und etliche höher muss ich innehalten. Kurz stehenbleiben, um die in den "roten Bereich hochgeschnellten Parameter meiner Lebenserhaltungssysteme" zu beruhigen.

Dann wieder los, eher winzige, auf Fußballen gesteppte Schrittchen, abschnittsweise gnadenlos steil aufwärts. Bis mir wieder die Luft ausgeht und ich erneut temporär stillstehend meine Dummheit beklage. Niemand braucht mir erklären, in welcher Gangart ich den Hang ökonomischer und ohne zeitweilig drohenden Kollaps bewältigen könnte. Alles andere als zügiges Gehen heißt in steil ruppigem Terrain Kraft und damit letztlich Zeit zu verschwenden. Tatsächlich warte ich seit Jahren auf eine Eingebung, vielleicht ein Ereignis, das mich zur Einsicht bringt; dazu veranlasst die Maxime "Gehen-nur-ausnahmsweise" weiterzuentwickeln. Nur geschieht das nicht. Und die Regel einfach wie unnützen Ballast über Bord schmeißen geht auch nicht. Das selbst auferlegte "Gehverbot" war schließlich nicht Ergebnis nüchterner Überlegung. Es beugt mieser Laune vor, die mir "Gehenmüssen" erfahrungsgemäß beschert.

In mehreren Etappen, die Verschnaufpausen jeweils für Fotos nutzend, knechte ich mich empor. Passiere eine Gruppe junger Frauen, die sich kichernd abseits des Weges für ein Selfie in Szene setzen. Verfolge zwei gehende Vorausläufer, denen ich mich trotz Verschnaufpausen unaufhaltsam nähere. Übersteige mehrfach umgefallene Bäume, die im Naturschutzgebiet "Gleichberge" liegen bleiben, weil sie für Wanderer keine Gefahr, nicht mal ein wirkliches Hindernis darstellen. Der Streckenmarkierer nutzte die quer liegenden Stämme als Plakatwand, um leuchtend pink auf Holz zu sprühen, wie er sich mein Voranschreiten vorstellt: "SMILE" steht da, einige Schritte später "Go on". Den humorvollen Spitzenplatz belegt die Anweisung "SPRING". Unterschwellige Ironie in diesen Sätzen ist innerem Widerspruch geschuldet: Einerseits finde ich die rosafarbenen Äußerungen tatsächlich witzig, frage mich aber andererseits, welche Empfindungen Unbeteiligte dem großflächig bunten, überaus plakativen Geschmiere entgegenbringen werden. Wanderer, die in der Natur unterwegs sind, um diese Natur - und nur diese Natur! - auch mit den Augen zu genießen.

In meiner Erinnerung bildet sich der erdig steile Hang deutlich länger ab, als er mich tatsächlich martert: Bereits nach zehn Minuten erreiche ich eine Aussichtskanzel, wähne mich folglich am Gipfel des Großen Gleichberges. Das überwältigende Panorama enthebt mich schon jetzt der Frage, was es mir bringt eine vorzeiten absolvierte Runde ein zweites Mal zu laufen: Damals war's stockdunkel und ich erinnere mich nicht mal daran hier vorbei gekommen zu sein. Und falls doch, dann gab's außer ein paar Lichtpunkten da drunten nichts zu sehen. Ein paar Fotos, einschließlich eines Selfies, dann ist es Zeit den Wettkampf fortzusetzen. Länger zu verweilen - und sei die Aussicht noch so grandios - empfände ich angesichts der unablässig drohenden, dunklen Wolkenfaust wie eine Herausforderung meines Wetterschicksals. Bin zwar schon über vier Stunden trocken unterwegs, habe aber noch ... Blick zur Uhr: noch 17 Kilometer, kurz kalkuliert ... habe aber noch mehr als zwei Stunden vor mir. Bei vermutlich vielfach schwierigen Wegverhältnissen.

Ein paar Schritte abseits des Aussichtspunktes bin ich sicher: Genau hier lief ich vor vier Jahren entlang. Wunderte mich schon damals im Schein meiner Stirnlampe teilweise betoniertes Geläuf vorzufinden. Erinnere mich an gespenstische Schatten, die mein Lichtkegel von den seitlich des Weges wachsenden Gräsern und Stauden zeichnete. Seinerzeit, in ungewisser Dunkelheit, wunderte ich mich sicher nicht, den höchsten Punkt des Berges noch nicht erreicht zu haben. Heute schon. Nach zwei Minuten nahezu flachen Trails stehe ich plötzlich vor einer Steilstufe. Zwei junge Frauen haben hier Posten bezogen, sogar ein kleines Zelt aufgestellt, um sich nötigenfalls vorm Regen zu schützen. Welchen Sinn ergibt ein Streckenposten an einer Stelle ohne Abzweig? Als ich die Schikane stückweit am Rand des jäh abfallenden Hanges ersteige, scheint mir der Auftrag der beiden Mädels unzweifelhaft: Hilfe leisten und weitere herbei telefonieren, falls einer hier stolpert und runterfällt ...

Nicht zum ersten Mal registriere ich den immensen Einsatz von Man- mehr noch von Woman-Power. Alle Straßenübergänge waren von Feuerwehrkräften gesichert und wo immer auch nur ansatzweise Gefahr bestand vom rechten Weg abzukommen, wachten sie, er oder mehrköpfig besetzte Posten über mein Läuferschicksal. Hinzu kommen die jeweils von einem kleinen Trupp Helfer betreuten Verpflegungsstände.

Ich bin oben. Genauer: Ich war oben, was ich erst jetzt mit Bestimmtheit zu sagen weiß, da es seit einiger Zeit beständig abwärts geht. Zuweilen trailig anspruchsvoll, meist aber auf Forstwegen technisch unschwierig und entsprechend flott. Orientierung leicht gemacht: Flatterbänder und massenhaft in dem schon erwähnten Pinkton gesprühte Markierungen schließen sich zu verlaufen aus. Knie und Oberschenkel fragen in jammervollem Ton, wann denn die Schussfahrt endlich ein Ende fände, als es just vor einer aufragenden Stele so weit ist. Das Denkmal erinnert an gewaltsam zu Tode gekommene Menschen. Mehrere Namen unter der Überschrift "Polen", noch mehr unter "Sowjetunion". Ein Kriegerdenkmal, das auflistet, wer in welchem Land sein Leben verlor??* Kommt mir merkwürdig vor, doch mangels Erleuchtung gebe ich die Vermutung an einen gerade ankommenden Mitläufer weiter.

*) Die Stele ist Teil des "Weges des Gedenkens". Es erinnert an die Toten eines Straflagers, das zur Zeit des Nationalsozialismus in der Nähe eingerichtet war. Die Insassen mussten in Basaltsteinbrüchen Zwangsarbeit leisten. Anlässlich eines Evakurierungsmarsches gegen Kriegsende wurde eine nicht genau bezifferbare Anzahl internierter, marschunfähiger Menschen erschossen.

Nahezu flach auf breiter Forststraße voran. Schon die Stele erzeugte ein schwaches Echo, die Beschaffenheit des Weges bringt Sicherheit: Auch hier lief ich vor vier Jahren entlang. Allerdings in Gegenrichtung und nachdem ich den Kleinen Gleichberg - mein nächstes Ziel - bereits hinter mir hatte. Der Waldweg wäre mir nicht erinnerlich, hätte mich damals nicht totale Unsicherheit überfallen und irgendwann zur Umkehr veranlasst. Nachdem längere Zeit kein Flatterband den Weg wies, war ich sicher einen Abzweig verpasst zu haben, kehrte um und ließ mich ein paar Minuten später von Entgegenkommenden überzeugen, doch auf dem rechten Weg zu sein ...

Verpflegungsstelle "Waldhaus". Waldhaus heißt ein Weiler, aus nicht mehr als einer Handvoll Anwesen bestehend und auf dem Sattel zwischen den Gleichbergen gelegen. Während ich mir ein Gel einwerfe - Kleiner Gleichberg ich komme! - und mich erstmals an alkoholfreiem Gerstensaft labe, erkenne ich auf dem nahe gelegenen Parkplatz unser Auto. Folglich hat sich Ines dazu entschlossen den Kleinen Gleichberg zu erwandern. Umso freudiger mache ich mich an die Erstürmung des Gipfels. Jenseits der Straße steigt der Waldweg an. Mehrere hundert Meter geradeaus. Kenn ich, da war ich schon. Bitterböse Rampe: Je höher man kommt, umso steiler der Weg. Und umso steiniger. Doch statt zu klagen, freue ich mich. Auf Ines und unsere Hündin Roxi natürlich, auf den zu erwartenden Ausblick von da oben und wie schon zigmal zuvor über den ausgebliebenen Regen. Unglaublich: Fast fünf Stunden unterwegs und immer noch trocken. Vielleicht bleibt es ja dabei ...

Schon wieder ein Strecken-Doppelposten - er schickt mich nach rechts, anders als vor vier Jahren. Da ging's geradeaus weiter, auf kürzestem Wege nach oben und auf demselben Kurs wieder zurück. Rechts halten also, beinahe auf der Höhenlinie verbleibend und damit flach voran. Aber nicht weit, dann auf einen erdigen und - wie sollte es anders sein - steil ansteigenden Pfad. Wieder kämpfe ich mich in Etappen hinan, verharre bisweilen schnappatmend. Es gibt aber noch einen anderen, gleichermaßen atemberaubenden Grund mehrfach den Lauf zu unterbrechen und staunend, wenn nicht andächtig stillzustehen: Mutter Natur hat sich viel Mühe gegeben diese Bilder zu gestalten. Haufen über und über bemooster Steine türmen sich am Wegrand auf, umrahmt vom Grün des Laubwaldes. Von mystischer Schönheit zu sprechen scheint mir nicht übertrieben. Auch meine Frau ließ sich von diesem Anblick verzaubern. Es wäre kaum möglich sich von der Stelle zu bewegen, spannte sich über diesem Naturwunder auch noch ein blauer Himmel ... wird sie später schwärmen.

Wundervoll, grandios aber eben auch verdammt anstrengend. Ein paar aus kantigen Steinen gelegte Treppenstufen trennen mich noch vom Gipfel, dann wird der Weg nach und nach flacher. Das unfreiwillige Aus für meine heftig entbrannte Fotowut trifft mich unvorbereitet und angesichts wunderschöner Natur mitten ins Fotografenherz: "Nicht genug Speicher" meldet die Kamera. Ein Gigabyte zerpixelter Bilder fasst der Speicherbaustein. Zum ersten Mal auf Läufen erweist sich dessen Kapazität als unzureichend und das hat einen vorhersehbaren Grund: Ich habe in eine neue Kamera investiert, nachdem die alte mechanisch unzuverlässig wurde. Arretierte dann leider ohne nachzudenken den alten Speicherbaustein in der neuen Kamera, die natürlich Bilder mit beträchtlich höherer Auflösung anfertigt ... Mein Trost: Ich bin fast oben, außerdem wird Ines mit dem Handy gleichfalls Erinnerungen gesammelt haben.

Ein weiterer Streckenposten erklärt mir, dass ich noch zum Aussichtspunkt laufen muss, um mir dort einen Stempel abzuholen - etwa 200 Meter weit. Danach zu ihm zurück ... Ich tue wie mir geheißen und treffe auf halbem Wege Ines und Roxi. Drei, die sich über die Begegnung freuen, davon zwei, die das mit lachendem Gesicht und Gesten bezeugen. Die Dritte im Bunde, unsere Hündin Roxi, bemüht ihre Stimme, springt zugleich wild um mich herum. Kurzer Austausch in Worten, dann überbrücke ich die verleibenden Meter zu der Dame mit dem Stempel, den sie mir auf die Startnummer drückt. Ines fotografiert, mit Hinweis auf den vollen Kameraspeicher von mir dazu animiert. Unsere Freude hat neben Wiedersehen, Aussicht und all überall reizvoller Natur noch einen weiteren Grund. Richtig! Noch immer kein Wasser von oben, 40 Kilometer und fünfeinviertel Stunden nach dem Start!

Noch zehn Kilometer auf ungewissem Geläuf. Eine Prognose, wie lange ich noch brauchen werde, scheint deshalb verfrüht. Dem Abschied von Ines folgt auch sofort ein haarsträubender Trail steil abwärts. Der Terminus "technisch anspruchsvoll" klänge dafür viel zu harmlos. Ich taste mich vorsichtig hinab, hochkonzentriert, wähle jede Stelle, auf die ich meinen Fuß setze, mit Bedacht. An mit Steinen übersäten Stellen zuweilen schwierig bis beinahe unmöglich. Bin jederzeit darauf gefasst wegzurutschen oder seitwärts umzuknicken, bereit mich abzufangen. Nur jetzt nicht stürzen! Genau das ist mir auf diesem Weg vor vier Jahren passiert. Im Dunkeln, mit Stirnlampe, also musste ich nicht mal unvorsichtig zu Werke gehen. Es geschah aufwärts und blieb ohne Folgen. Jetzt abwärts ... ich will nicht daran denken: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf! Ein Baumstamm quer zum Weg, ich hangele mich drunter durch. Und weiter, an einer Gruppe Wanderer vorbei, die bereitwillig zur Seite weichen, dann wieder Steine, Steine, Steine ...

Ein paar Minuten später hatte ich die Passage unfallfrei überstanden. Es folgten Forstwege im Bestzustand, mit entsprechend hohem Tempo abwärts genommen. Eine Weile musste ich fürchten, der Himmel würde nun doch noch seine Schleusen öffnen ... Doch nach fünf Minuten unter nicht nennenswertem Getröpfel - eher "Gesprühe" - war der Spuk auch schon wieder vorbei. Ich labte mich einmal mehr am Verpflegungspunkt "Waldhaus" - allein das Bier war inzwischen ausgegangen. Nun wieder in der Flanke des Großen Gleichbergs empor, moderate Steigung, die meinen Schritt kaum behindert. Sicher kommt da noch "was"!?. Völlig ungeschoren wird mich der Streckenplaner auf den verbleibenden sechs Kilometern nicht davonkommen lassen. Geradezu sekündlich rechne ich mit einem weiteren haarigen Trail. Der bleibt einstweilen aus. Immer weiter auf breiter Forststraße voran, stetig aber erträglich aufwärts. Einen Kilometer, dann noch einen ... langsam reicht es, ich beginne doch noch lautlos zu fluchen. Ist dem Weg egal, der scheint kein Ende nehmen zu wollen ...

Irgendwann dann doch, fortan weiter auf schmalem Pfad, erträgliches Geläuf, keineswegs die befürchtete Trail-Schikane zum Abschluss. Und plötzlich kenne ich mich wieder aus: Erreiche den Streckenposten, der mich vor zwei Stunden aufwärts ins Atem(be)raubende schickte, betrete ab da bekannte Erde: Hohlweg mit quer liegendem Baum. Drüber weg und weiter hinab, sorgsam auf meine Schritte achtend. Fast geschafft! Gedanklich setze ich einen Haken hinter den Höhenmetern aufwärts und ebenso einen Haken hinter dem Drohen der Wolken. Noch drei Kilometer, auf denen mich selbst strömender Regen nicht mehr schrecken würde! Dem Hohlweg folgt die nächste, unschwierige Forststraße. Ich mache Fahrt und riskiere einen Blick auf die Uhr: Ab jetzt gilt mir ein Finish unter sechseinhalb Stunden als Pflicht!

Ein bisschen voreilig, weil er mich dann doch noch heimsucht, der letzte Trail. Zeitgleich sendet meine Blase, aufgeweckt von den vielen Erschütterungen abwärts, unmissverständliche Signale. Also stehe ich am Wegrand und verschaffe mir Linderung. Dreißig Sekunden vergehen, in denen zwei "freche" Mitläufer, einmal männlich, einmal weiblich, die Gunst meiner Zwangspause nutzen, um mich zu überholen. Dass die beiden so dicht auflaufen konnten, bringt mir wieder einmal in Erinnerung wie entsetzlich langsam ich Trails absolviere. Langsam, da koordinativ noch nie eine Leuchte und mit wachsendem Lebensalter zunehmend vorsichtig. So kurz vorm Ziel überholt zu werden, wurmt mich dann doch. Erst will ich mich dem Unabänderlichen fügen. Doch nur eine Minute weiter geht der Trail in einen guten Waldweg über und mein Kampfgeist - dieses schon mehrfach totgesagte, immer mal wieder auflebende Ehrgeizmonster - befiehlt mir schnellere Schritte.

Der Abstand zum männlichen Frevler schmilzt rasch. Nach dem fälligen Überholmanöver hefte ich mich an die Fersen der Frau. Die scheint immer schneller zu werden, insbesondere nachdem sie sich kurz umblickt und ihren Häscher in relativer Nähe erblickt. Ich nehme den Zweikampf - falls er von ihr als solcher gedacht sein sollte - entschlossen an. Noch anderthalb Kilometer. Rechts unterhalb des Weges ist der Ort Gleichamberg, dem wir auf bekanntem Weg zustreben, bereits auszumachen. Einen weiteren Kilometer bergab verwende ich darauf die Distanz ganz allmählich zu verkürzen. In Höhe der ersten Häuser und schon auf der Straße renne ich dann nur noch zwei, drei Meter hinter ihr. Meine Stunde schlägt als uns ein letzter Buckel den Weg verlegt - sicher nicht mehr als drei, vier Höhenmeter. Ich ziehe noch einmal das Tempo an und bin vorbei. Wetze in unverminderter Geschwindigkeit Richtung Sportgelände und höre alsbald keine Schritte mehr hinter mir. Die letzten dreihundert Meter um den Sportplatz. Auf Gras, zwischen dem Reste der einstigen 400-Meter-Laufbahn zu erkennen sind. Ich gebe keinen Pardon, gestatte mir nicht langsamer zu werden, auch wenn ich längst im sauren Bereich laufe. Noch 100, 50, 30 Meter ... Blick voraus: Da steht Ines. Löst sich vom Seitenrand, um mein Finish im Bild festzuhalten. Arme hoch und durchs Ziel, nach 6:24:49 trockenen (!!!) Stunden.

Unfassbar mein Wetterglück: Keine Stunde nach meinem Zieleinlauf setzte ergiebiger Regen ein ... Die Regenfront hatte sich lediglich um ein paar Stunden verspätet.

 


 

Fazit zur Veranstaltung

Der Borderland Ultra, K20 + K30 = K50, erwies sich als beeindruckend schöner Landschaftslauf mit zwei grundsätzlich unterschiedlichen Gesichtern. Erst das landwirtschaftlich geprägte, von etwa sechs Kilometern Kolonnenweg mit geschichtlicher Schwere angereicherte Borderland, dann im Naturschutzgebiet um die Gleichberge, mit hohem Anspruch an Ausdauer und abschnittsweise auch ans koordinative Laufvermögen. Die Schönheit der Strecke lohnt den Borderland Ultra, egal wie weit man dafür fahren muss!

Die Organisation ließ im Grunde keine Wünsche offen, alles klappte wie am Schnürchen. Und das, obwohl SARS-CoV-2 auch dem Team in Gleichamberg einige Nüsse zu knacken gab. Das gelang mit Bravour.

Einziger Wermutstropfen aus meiner Sicht: Die zuweilen plakativen, überflüssig auffälligen Wegmarkierungen im Naturschutzgebiet. Meterbreit und rosafarben auf Baumstämme gesprühte Parolen sind nach meiner Auffassung komplett daneben!

Fazit: Wenn's terminlich passt gerne wieder!

 


 

Bilder: Ines und Udo Pitsch

 

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