2. August 2020

Der Letzte seiner Art?  -  Sommeralm Marathon 2020

Seit mehr als drei Stunden unterwegs zur Sommeralm, mit Roxi unserer Hündin. Zum neunten Mal gemeinsam. Zum letzten Mal gemeinsam. Keine Zeit für Wehmut, dafür ist es zu hart. Gerade jetzt in dieser 550 Höhenmeter überwindenden Steilstufe zwischen den Dörfchen Köglhof und Salleg. Wie acht Mal zuvor bin ich versucht die Schwerkraft und anderes Unabänderliche in diesem Universum zu verfluchen. Nicht zuletzt mich selbst zu verfluchen, da ich mir wie stets untersage zu gehen. Die Sonne sticht, Schweiß rinnt in wahren Sturzbächen. Qual durchzieht den ganzen Körper, scheint sich in den Oberschenkeln zu bündeln. Doch ich achte nicht wirklich darauf. All meine Achtsamkeit gilt Roxi ...

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Statistisches:

Obzwar nicht in Wuppertal sondern in der Steiermark, klingt es ein bisschen wie bei Loriot: Am 2. August 2020 laufe ich 42,195 km, überwinde dabei fordernde 1.800 Höhenmeter und bin 66 Jahre alt - also vermutlich wieder mal der Älteste im Feld der 99 Einzelläufer. Soll heißen: "a schware Partie fia mi" - jedenfalls hätte es das österreichische Sangesduo Seiler und Speer so oder so ähnlich ausgedrückt.

Der Lauf wird als 272. Marathon (oder weiter) in meinem Laufbuch verzeichnet stehen.

Bei jedem der bisher ausgeschriebenen Sommeralm Marathonläufe war ich mit Roxi dabei und erreichte das Ziel.

Laut Veranstalterpaar Babsi und Hannes Kranixfeld soll der heutige zugleich der letzte Sommeralm Marathon werden.

Eine Ansammlung von Daten und Fakten, die mich beeindrucken und leiten sollten. Tatsächlich empfinde ich sie zunächst als eher nebensächlich. Worauf ich mich voll und ganz konzentriere, ist: Roxi soll ein letztes Mal Erregung und Freude eines gemeinsamen Marathonwettkampfes vom Start bis ins Ziel genießen. Damit meine ich wirklich: SIE (!) soll es genießen. Mein Beitrag wird sein ihr das zu erleichtern und sie sicher zur Sommeralm zu bringen.

Warum zum letzten Mal mit Roxi? - Roxi ist dreizehn Jahre alt, in Menschenjahren ausgedrückt also weit über 70. Noch immer in einem Maße fit, das sogar mich staunen lässt, wenn wir lange Strecken trainieren. Hegte ich auch nur ansatzweise Bedenken, unser Trip zur Sommeralm gefährdete ihre Gesundheit - ich hätte sie zu Hause bei Frauchen gelassen. Und doch: Ihr Fell ist schwarz und die Sonne brennt erbarmungslos herab. Hunde schwitzen nicht. Hunde kühlen sich im Wesentlichen über die Atemluft. Beim hechelnden Atmen streicht Luft über bestens durchblutete Schleimhäute in Maul und Rachen, vor allem über die große Zunge. Das Verhältnis von Körpergewicht zur Fläche der Zunge bestimmt im Grundsatz wie gut ein Vierbeiner Hitze und Sonneneinstrahlung widerstehen kann. Unter anderem deshalb sind kleine und mittlere Hunde auch in der warmen Jahreszeit ausdauernde Läufer. Relativiert wird diese Fähigkeit von dunklen Fellfarben wie bei Roxi. Also muss ich ihr helfen und ihren Pelz über weite Strecken feucht halten! Wie immer verfasse ICH diesen Laufbericht. Er wird mein eigenes Wohl und Wehe aber nur streifen. Im Mittelpunkt steht Roxi, eine Hundedame mit Persönlichkeit.

Ebenso wichtig sind mir die Menschen, denen ich begegne, allen voran Herz und Hirn der Veranstaltung "Sommeralm Marathon", Babsi und Hannes (alias Kraxi) Kranixfeld. Wer von den beiden mehr Hirn und wer mehr Herz in vielen Monaten Vorbereitung investierte, mag ich nicht entscheiden. Letzteres sitzt jedoch bei beiden am rechten Fleck! Deshalb schätze ich mich glücklich, mehr noch: es gereicht mir zur Ehre, Babsi und Hannes seit langem zu meinen Freunden zählen zu dürfen.

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Zum neunten Mal Sommeralm Marathon, im bislang mächtigsten Teilnehmerfeld. 99 Frauen und Männer werden sich am Ende eine Finisher-Medaille abholen, beinahe doppelt so viele wie zuletzt. Elf Dreierstaffeln ergänzen den Bewerb. Mehr kann ein stark auf familiäre Unterstützung bauender Veranstalter nicht stemmen. Vor allem dann nicht, wenn er wie Babsi und Kraxi parallel zum üblichen Prozedere auf jeden Teilnehmer individuell eingeht, soweit irgend machbar Sonderwünsche erfüllt. Doch warum gehen heute so unüblich viele Läufer an den Start? - Der lange Schatten der Pandemie fällt auf jeden Winkel der Läuferwelt, auch in der Oststeiermark, sogar im winzigen Winzendorf. Die meisten Marathonläufe fielen aus oder wurden verschoben (wie auch der Sommeralm Marathon). Was nun unter speziellen Covid-19-Konditionen über die Bühne geht, verzeichnet vermehrten Zulauf. Vielleicht alarmierte auch die Ankündigung, dass der Sommeralm Marathon zum letzten Mal stattfinden soll.

Roxi und ich stehen kurz vor sieben Uhr im ersten Startblock. Der zweite wird um 7:30 Uhr folgen. Grob kalkuliert veranschlage ich für unser Sechsbeine-Laufduo fünfeinhalb Stunden Endzeit. Damit bliebe uns von der Ankunft auf der Sommeralm bis zur Siegerehrung um 14:30 Uhr genug Zeit. Ausreichend Muße, um den unterstellten neunten Erfolg genießen und Hektik vermeiden zu können. Apropos Hektik: Noch zeigt mein Vierbeiner nur geringe Anzeichen von Erregung. In früheren Jahren drehte Roxi schon "hohl", wenn ihr die ersten buntbedressten Gestalten rund ums Kranixfeldsche Domizil begegneten. Da sie haargenau wahrnimmt, vor allem riecht, was da gleich geschehen soll, gibt es für ihre "Selbstbeherrschung" nur eine stichhaltige Erklärung: Ihr Alter! Die Ruhe vor dem Sturm endet jedoch abrupt, als ich sie an die improvisierte Leine nehme. Dieser Akt verbunden mit Kraxis lauter, das Stimmengemurmel übertönender Ankündigung des baldigen Starts pumpt Adrenalin in die hündische Blutbahn. Laut kläffend und ruckartig an der Leine zerrend demonstriert Roxi Jagdbereitschaft. Wieso Jagd? Welcher andere, von ihr nur instinktiv erfassbare Grund könnte sonst vorliegen, wenn eine aufgeregte Meute, ihr eigener Rudelführer eingeschlossen, in dieselbe Richtung losrennt?

Man kennt uns hier, niemand zeigt sich irritiert von Roxis übergangsloser Verwandlung zur tollwütigen Bestie. Auch Cornelius nicht, der mich aus Deutschland in die Steiermark begleitete. Er kennt Roxis Entgleisungen aus Laufberichten. Offensichtlich haben auch andere, die es noch nicht live erlebten, schon davon gehört oder man erklärt es ihnen gerade. Was keiner der Umstehenden ahnen kann: Ich fühle mich gerade abgrundtief schlecht! Trubel in elender Allianz mit morgendlicher Geistesträgheit verhinderten, dass ich Roxi ihr Halsband anlegte. Als ich ihre "Nacktheit" kurz vorm Start bemerke ist es zu spät, um meinen Fehler zu korrigieren. Also lege ich die ohnehin improvisierte Leine als Schlinge um ihren Hals. Dass sie sich nun selbst die Luft abschnürt, hindert sie nicht daran noch ärger zu zerren. Kommandos erreichen sie in diesem Zustand nicht mehr und so bleibt uns nichts anderes übrig als die Folgen meiner dummen Unterlassung zu ertragen ... bis endlich der Startschuss fällt, ... von dem angestachelt sie sich aber noch vehementer ins Seil wirft und zu erdrosseln droht ... würgt, keucht und röchelt als stünde sie kurz vorm Erstickungstod.

Ich bin unendlich wütend auf mich selbst: Das geht so nicht! Wir stoppen und die Meute zieht davon. Mit hart und drohend ausgesprochenem Befehl zwinge ich Roxi in Sitzposition. Die Schlinge zog sich unterdessen derart fest um ihre Kehle zu, dass ich zum Lösen Kraft aufwenden muss. Ohne es zu wollen, habe ich Roxi Leid zugefügt. Unerträglich! So mies wie in diesem Augenblick kam ich mir schon ewig nicht mehr vor. Ich befreie sie vom Strick und verstaue ihn in meiner Gesäßtasche. Auf den nächsten zwei-, dreihundert Metern halte ich Roxi mit Kommandos mehr schlecht als recht neben mir. Jede Anweisung mit Schärfe artikuliert, gezischt, geknurrt, im Falle der Missachtung mit Zuneigungsverlust bedroht. Und dabei fühle ich mich als jener Schinder, als der mich mein Hund in diesen Minuten empfinden muss.

Die erste Straße ist überquert, es folgen zehn Minuten Auf und Ab in für Hunde gefahrlosem Gelände: "Roxi lauf!" Sich selbst überlassen zischt sie - wie erwartet - davon, entsinnt sich jedoch alsbald und wie erhofft ihres Rudelführers. Wartet, schaut, lässt mich aufholen, tippelt erst weiter, wenn sie die wie in Zeitlupe bewegte Gestalt ihres Laufgenossen erkannt hat. Wieder in ausgeglichener Hormonlage bedarf es weder einer Leine noch harscher Befehle, von nun an ist Roxi gewohnt fügsam und in neutraler Tonlage "lenkbar" ...

... und im Gegensatz zu mir nicht mal ansatzweise außer Atem. Der Sommeralm Marathon gewährt keine Schonfrist zum Einlaufen in flachem Terrain. Mit widerstrebend erwachender Ausdauer, spontan kurzatmig und schwitzend, überstehe ich die Anfangssequenz kurzer, knackiger Anstiege. Erst in der weiten, von der Morgensonne gefluteten Wanne des Pöllauer Tals, lässt der Kurs Gnade vor Recht ergehen, schenkt mir ein paar Minuten flaches Geläuf. Ich bin nicht der Einzige, dem der Auftakt zusetzt. Alsbald ließ ich ein paar Mitläufer hinter mir. Den Österreicher Karl zum Beispiel, den ich 2017 bei den "10 Marathons in 10 Tagen", hier in der Nähe in Bad Blumau, kennenlernte. Karl findet man auf Anhieb unter Tausenden als von allen am buntesten gekleideten und häufig eine Fahne mitführenden Läufer. Auch die italienische Marathonsammlerin Carla blieb zurück. Am Start raunte sie mir, uns vermeintlich wiedererkennend, zu: "I remember the dog!" - Obschon mir ihr Konterfei bekannt vorkam, fand ich bis heute nicht heraus, ob und wo wir uns schon einmal begegneten.

Der erste von vielen langen Anstiegen beginnt, moderat hinan, nur dann und wann ein paar steilere Meter überwindend. Mittlerweile ist mein Motor angesprungen, nahezu mühelos komme ich voran, zu früher Stunde noch häufig kühlen Schatten nutzend. Nach einem Blick in den wolkenfreien Himmel gratuliere ich mir zum Entschluss eine halbe Stunde früher aufgebrochen zu sein. Vor allem in Roxis Interesse, die derzeit kaum Anzeichen erhöhter Körpertemperatur erkennen lässt. Auch wenn sie kein Wort sagt, schaue ich ihr in unregelmäßigen Abständen "aufs Maul". Je mehr Zungen-Rosa sich dort zeigt, umso mehr Hitze bekommt sie ab.

Nach fünf Kilometern bietet sich die erste Gelegenheit zu trinken. Kevin - einer der Söhne von Babsi und Kraxi - und dessen Freundin Angelique schenken unablässig Wasser und Iso ein. Ich trinke mehrere Becher - vorbeugend -, um die unausweichliche Dehydrierung so lange wie möglich hinauszuzögern. Weiter aufwärts zwischen Wiesen, Obstplantagen und einzeln stehenden Anwesen. Nach und nach wird der Blick freier, streift übers Pöllauer Tal und gegenüberliegende Höhen. Ein Panorama, das mich jedes Jahr aufs Neue begeisterte. Ungebrochene Freude, die nur möglich war, weil die Sonne dem Lauf stets die Treue hielt. Auch in diesem Jahr ist typisches Sommeralm-Wetter vorhergesagt: Morgens blauer Himmel, ab Mittag aufziehende Bewölkung, später Gewitterneigung.

Ich lasse Roxi ein wenig von der "verbalen Leine". Hier oben in der dünn besiedelten Talflanke, zumal am Sonntagmorgen, rechne ich nur ausnahmsweise mit Autoverkehr, höre und sehe Fahrzeuge überdies schon von weitem. Auf scheinbar schwerelosen Beinen tippelt Roxi vor mir her. Ihr Tempo selbst bestimmend fällt sie rasch in einen eleganten Rhythmus, bei dem die Pfoten den Takt angeben und der Schwanz formvollendet mitschwingt. Schon dieser anmutigen Bewegung wegen, lohnt es sich mit diesem Hund zu laufen.

Andis heute gelb verhüllte Gestalt voraus, Distanz schrumpfend, besonders jetzt, da er in kurzem Steilstück erste Gehschritte setzt. Wie oft bin ich Andi und seinem sympathischen "Wiener Schmäh" schon begegnet? Neben den "10in10" auch bei mehreren anderen Marathons und Ultras in Österreich. Gleich mir ist Andi Marathonsammler, gehört mithin zur bemitleidenswerten, von Corona-geschädigten Läuferfraktion. Nun sammeln wir wieder, fürchten aber ein erneutes Anschwellen der Pandemie, dem wirtschaftlich bedeutungslose Sportwettkämpfe auf dem Lockdown-Altar als erste geopfert würden.

Andis Rücken wächst, wird breiter und höher. Roxi hat sich bereits vorbei gemogelt und als ich zu ihr aufschließe, scherzt Andi: "Jetzt überholt mich schon der erste Hund!" - " ... und der zweite gleich hinterher!" ergänze ich erstaunlich schlagfertig. "Das hast aber du gesagt!" lässt er sich noch ein, dann wird die Lücke zu groß und der Buckel zu steil für weitere Späße. Wir sprachen's im Dialekt. Andi als "Vienna native Speaker" landsmannschaftlich korrekt, ich einen alpenländischen Slang imitierend, also vermutlich phonetisch verdreht.

Abwärts jetzt, in zwei Etappen. Für meine Verhältnisse renne ich, versuche lange, knochenschonende Schritte zu setzen. Rasanz gaukelt erhebliche Tiefe vor, dabei verlieren wir nicht mal hundert Höhenmeter, bewegen uns zudem in mäßigem Gefälle. Gut ein Kilometer relativer Erholung, dann fängt uns der Gegenanstieg ein. Abwärts galoppierte sie neben mir, bergauf geht Roxi flugs wieder in Führung. Berge konnte sie schon immer besser als ich, um Potenzen besser ... und ich hoffe, dass es noch einige Jahre so bleibt.

Kilometer 10: Die nächste Labe - wie Verpflegungspunkte in Österreich heißen - kommt in Sicht. Chefin Babsi höchstpersönlich, unterstützt von Schwester Conny, betreut den Tisch. Beifall und anfeuernde Worte begleiten unsere Ankunft. Roxi first: Conny füllt mir einen Becher randvoll mit Wasser. Und ein wenig überraschend für mich schlabbert Roxi ihn fast leer. Dann labe ich mich selbst: Iso in rauen Mengen, die zweite Etappe kostete schon mehr Schweiß. Vorm Aufbruch wieder Roxi: Ich verteile drei Becher Wasser auf Kopf, Nacken und ihrem Rücken. Eine Prozedur, die sie zwar verabscheut, als erfahrene Läuferin aber gutheißt und geschehen lässt. Von einem Tier in solcher Weise zu sprechen mag spekulativ und interpretierend klingen. Wer sie da stehen sieht, starr, den Kopf nach unten geneigt, das Einnässen widerwillig duldend, schließlich tropfend, zum Schluss sich schüttelnd, wird ihrem Verhalten allerdings kaum eine andere Bedeutung beimessen als ich.

Erstmalig "stramme" Oberschenkel auf knapp 400 Metern heftiger Steigung, blätterdichtem Laubwald-sei-Dank in kühler Dämmerung. Roxi möchte flotter voran als Herrchens Tippelschritte es zulassen, bleibt aber am Fuß "festgeklemmt". Erfahrungsgemäß rauschen auf diesem Straßenstück vermehrt schnelle Pkw vorbei. Drei, vier Minuten Schufterei, dann rechts ab und in die Entspannung leichten Gefälles. Nach Sekunden ist wieder genug Luft in den Lungen, um den vorbeipreschenden, vom Vorausradler angekündigten, führenden Läufer anzufeuern: "Super Florian! Weiter so! Zieh durch!" Florian gehört zur deutschen Fraktion der Starter, überdies zu einem der neun aus meinem Verein, die den weiten Weg bis in die Oststeiermark nicht scheuten. Drei Frauen und sechs Männer, die - klingt unglaublich ist aber wahr - von Babsi und Kraxi in ihrem Haus untergebracht wurden. Um zusätzliche Schlafplätze zu gewinnen wurden die mitbewohnenden Eltern wie in jedem Jahr zum Sommeralm Marathon ausquartiert.

Florians schlanke Gestalt schrumpft rasch, verschwindet alsbald hinter einer Kurve. Auch wenn er mein "Zieh durch!" mit vorsichtiger Bescheidenheit relativierte, freue ich mich über die Chance auf einen Gesamtsieg für meine Vereinsfarben*. Und in der Frauenkonkurrenz hat die TG Viktoria Augsburg auch ein paar heiße Eisen im Feuer. Mal sehen, was Sybille, Barbara und Andrea zuwege bringen werden ...*

*) Sybille belegt am Ende Platz zwei bei den Damen und Florian siegt in packendem Finish mit nur vier (!) Sekunden Vorsprung.

Marcel, der ältere Sohn im Hause Kranixfeld, samt Freund Tobias betreuen Labe Nummer drei. Während ich Becher um Becher Iso meine Kehle hinunter rinnen lasse, bis das warnende Spannen der Bauchdecke von weiterer Füllung abrät, sucht Roxi das Weite. Meine clevere, alte Hundedame merkte flugs, dass außer Wasser über Kopf und Nacken hier nichts für sie zu holen ist. Im Zenit eines kurzen Anstieges und damit vor derzeit wohl unnötigen Güssen sicher, wartet sie ab, bis ihr Rudelführer aufschließt. Anderthalb Kilometer Feld- und Waldweg gilt es nun zu bewältigen, erst sanft aufwärts, später in ebensolchem Gefälle hinab. Vereinskamerad Adam überholt mich. Leichtfüßig, nahezu tänzelnd zieht der drahtige, stets zum Scherzen aufgelegte Kerl im Wald an mir vorbei. Ein paar Sätze fliegen hin und her, bis Distanz den Dialog beendet. Zurück bleibt ein Anflug von Neid: So elegant und scheinbar mühelos möchte ich auch mal laufen können. Mich so geschmeidig zu bewegen hatte ich noch nie drauf, selbst in jüngeren Jahren nicht, als ich noch in derselben Liga wie Adam spielte.

Neunmal Sommeralm Marathon, neunmal verweilten wir an dieser Stelle. Zeitaufwand etwa eine Minute. Schon von Weitem verheißt unterm Sträßchen hindurch glucksendes Wasser Labsal für Roxi. "Wasser, Roxi! Wasser!" Überlaut und mit hörbarem Ausrufezeichen ausgesprochen, fühlt mein Hund sich aufgefordert, prescht voraus, steht auch schon mit den Vorderfüßen im Bach, trinkt und blickt mir auffordernd entgegen. Steine soll ich werfen, sie damit zu unseren häufig praktizierten Wasserspielen animieren. Heute nicht, heute ist Wettkampf angesagt. Stattdessen stelle ich mich auf die andere Bachseite und rufe Roxi zu mir. Auf diese Weise muss sie durch tieferes Wasser waten und kühlt sich den Bauch.

Für eine Weile weist nun Roxis feuchte Pfotenspur den Weg. Den fände sie blind, ausschließlich ihrer Nase und den schweißigen Molekülen unserer Vorgänger folgend. Die bisherigen 16 Kilometer hat sie - nicht anders als erwartet - vollkommen unbeeindruckt weggesteckt. Und infolge Bauchkühlung lässt sie von ihrem rosa Thermometer kaum mehr als die Spitze sehen. Bergwärts schlüpfen wir in immer noch kühlen Wald, von Schritten verfolgt. Sekunden später die nächste Laufstildemonstration: Spielerisch leicht und langbeinig raumgreifend huscht Sybille vorbei, gefolgt von Stephan, beide Vereinskameraden. Roxi folgt den vertrauten Körperdüften und Stimmen eine Weile, hält letztlich aber ihrem lahmen Rudelführer die Treue. Sybille führt das Feld bei den Damen an - so meine Wahrnehmung und so freue ich mich auf einen möglichen Doppelsieg. Hoffnung aus einem Irrtum geboren, weil mir die tatsächlich führende Frau entging*.

*) Vermutlich war ich am letzten Verpflegungspunkt mit mir selbst oder Roxi beschäftigt, als sie uns überholte.

Kuhfladen oder Spuren davon auf Asphalt, wie jedes Mal, wenn wir an diesem Bauernhof vorbei joggten. In den ersten Jahren würdigte ich lediglich das "idyllisch Ländliche", fühlte mich in bäuerlich geprägter Umgebung behaglich, ließ mich von Gerüchen in Kindheit und Jugend versetzen. Inzwischen bedeutet mir Kuhmist im Freien, auf Wiesen oder Wegen, weit mehr. Ich verstehe ihn als Zeichen artgerechter Haltung. Glückliches Vieh, das Weide und landschaftliche Weite noch Tag um Tag zu sehen und zu schmecken bekommt. Und bedeutet nicht jedes Rindvieh mehr auf den Wiesen, dass die Herde der Rindviecher unter uns Menschen schrumpft?

Mäßig steil hinab in flottem Schritt, Roxi neben mir. Der Rudelführer gibt sich ausnahmsweise intolerant, was Roxis Position in den folgenden Minuten angeht. Nicht seitlich vor oder hinter ihm, eng am linken Bein: "Roxi Fuß!" Dergestalt zusammengespannt biegen wir auf die viel- und rasant befahrene Bundesstraße in Richtung Gschaider Sattel ein. Einen halben Kilometer weit, nahezu flach, auf den ersehnten Verpflegungspunkt unter der zum Naturdenkmal erhobenen, mehrere hundert Jahre alten Winterlinde zu. Und wie all die Jahre davor wahrt Roxi Laufdisziplin, als wüsste sie genau, dass und warum wir uns auf dem Weg zum Baum keine Ausreißer erlauben dürfen. Wo möglich räume ich ihr ein paar Zentimeter Platz auf dem Asphaltband ein, dränge sie jedoch bei Gegenverkehr auf den unbefestigten Randstreifen ab. In jeder Lage hält sie geschickt und zentimetergenau Schritt ... Was für eine Laufgefährtin!

Helmut betreut die Labe unterm Baum. Wie jedes Jahr. Kein ehemaliger Läufer, einfach "nur" ein treuer, sportbegeisterter Helfer, von jeher mit besonderem Faible für Roxi. Wir begrüßen uns wie alte Bekannte, die sich alle naselang begegnen. Irgendwie kann ich es nicht fassen, dass schon wieder ein Jahr um sein soll. Seit wir unterwegs sind und uns Stück um Stück der vertrauten Strecke erlaufen, kommt es mir vor, als wäre ich nur ein paar Tage weg gewesen. Die Pause unterm Baum dauert etwas länger, weil ich Roxi erstmals belohne. Sie bekommt eine halbe Kaustange. Auch vom angebotenen Wasser schlabbert sie zu meiner Überraschung. Und nun ich: Ich schlucke das erste von fünf Gels mit reichlich Flüssigkeit. Ein Dankeschön und ab, Helmut werde ich im Ziel wiedersehen ...

Der Gschaider Sattel beschenkt die Läufer mit einer profilarmen Viertelstunde und reizvollem Rundblick. Sogar das Ziel auf der Sommeralm ließe sich von hier oben schon anvisieren. Was mental labile Laufgenossen mit bereits angeschlagener Physis allerdings tunlichst unterlassen sollten. Die grünen Almen jenseits tiefer Taleinschnitte scheinen so weit entfernt als lägen sie auf einem anderen Kontinent ...

Roxi tippelt mit einer Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit vor mir her, dass es mir schwerfällt an irgendwelche Risiken zu denken. Dennoch halte ich meine Sinne geschärft, will sie rechtzeitig dingfest machen können, sollte sich ein Fahrzeug nähern. Irgendwann vergrößert Roxi sprunghaft die Distanz zwischen uns. Vermutlich hat sie die Viehtränke am Straßenrand vor mir gesichtet und sich erinnert, was ihr hier bereits achtmal widerfuhr. "Roxi zu mir!" - Stocksteif und mit gesenktem Kopf lässt sie das Unausweichliche, letztlich Wohltuende über sich ergehen: Mit zur Schale geformten Händen schöpfe ich Guss um Guss bis sie vom Kopf bis zum Hinterteil trieft. Einmal kurz geschüttelt und weiter ...

Der Abstieg in die vierhundert Meter tief eingeschnittene Schlucht hat begonnen. Auf sechs Kilometer verteilt klingt das nicht allzu dramatisch. Kurze Gegenanstiege und abschnittsweise gelenkverschleißend schlechtes Geläuf gestalten die Schussfahrt allerdings zur Herausforderung. Noch auf der Straße schließen Robert und Eckhard zu mir auf. Mit Eckard "Rumläufer" war ich über die Jahre mehrfach "Pferde stehlend" unterwegs. Auch mit Robert, der unweit der Donau und nahe Wien wohnt, verbinden mich diverse Erinnerungen. Unser Gedankenaustausch wird alsbald von der nächsten Labe beendet. Gleich dahinter beginnt ein ruppiger, ziemlich steiler Pfad. Roxi in ihrem Element, Udo betont vorsichtig, das Risiko scheuend. Kein noch so großer Zeitvorteil wöge Verletzungen infolge eines Sturzes auf. Zu gewinnen gibt es ohnehin nichts, zu verlieren eine ganze Menge, mindestens heile Haut. Früher trat ich nicht so "zimperlich" auf - im wahrsten Sinne des Wortes. Meine Wandlung vom Ehrgeizigen zum Zauderer hat mit Älterwerden und Erfahrung zu tun.

Kurz vorm Waldrand und dem vorläufigen Ende des Holperpfades schafft es ein tückisches Steinchen irgendwie in meinen Schuh. Zu groß und spürbar zu kantig, um toleriert zu werden. Ein Podest vor einem Schuppen bietet Gelegenheit den Fuß aufzusetzen und den nicht mal erbsengroßen Störenfried aus dem Schuh zu entfernen. Der Schuppen gehört zu einem einsam gelegenen Hof, von dem aus Roxi und ich von drei Augenpaaren beobachtet werden, zwei Frauen und ihr Vierbeiner. Anwesen und Frauen vor Eindringlingen zu schützen begreift der Hofhund als Lebenszweck und bellt. Mit tiefen Tönen wie sie Vierbeiner von nicht unbeträchtlicher Größe und mit riesigem Maul gewöhnlich von sich geben. Gut eine Minute verstreicht bis ich - nicht im Mindesten vom wütenden Gebell erschreckt - mein Problem lösen und weiterlaufen kann. Erst in diesem Moment erkenne ich, dass das "Monster" an der Leine liegt. - Meine an den Tag gelegte Sorglosigkeit entspringt übrigens weder besonderer Tapferkeit noch bodenlosem Leichtsinn. Roxis Verhalten sprach Bände: Seelenruhig, den Wüterich ignorierend und mit der Nase am Boden schnüffelte sie irgendwelchen Duftspuren nach. In solcher Weise gelangweilt verhält sie sich nur, wenn von einem Artgenossen keine wirkliche Gefahr ausgeht.

Der aus dem Talgrund herauf dringende Verkehrslärm wird lauter. Mehrfach und vor allem das sägende Geräusch überdrehter Motorräder, die zum heiligen Sonntag die Stille der steirischen Berge ruinieren. Schon eine Weile vorm Überqueren der gefährlichen Bundesstraße lege ich drohenden Ernst in meine Stimme: "Roxi Fuß!!" Schließlich gefolgt von einem schneidend scharf gesprochenen "Halt!!!" Mehrfach blicke ich hin und her, verlasse mich nicht auf die Zeichen des Streckenpostens, dann eilig hinüber, direkt vor die nächste Tränke, Kilometer 27.

Die bereits bewältigten 27 Kilometer als "Einlaufstrecke" zu bezeichnen hieße deren durchaus Kraft raubendes Profil zu unterschätzen. Unstrittig ist unter Eingeweihten indes auch, dass der Sommeralm Marathon genau an diesem Ort erst richtig beginnt. Noch 15 Kilometer und etwa 1.000 Höhenmeter, die mindestens ebenso viel Energie auffressen werden, wie die Beine bereits hergaben. Harmlos der Auftakt: Am Bach entlang, auf hölzernem Steg übersetzen und flach auf eine Tankstelle zu ... Ein Anwohner wässert seinen Garten. Wenn ich das nasse Asphaltband vor mir richtig deute, dann durfte er diversen Vorläufern schon Kühlung verschaffen. Nicht überraschend also sein diesbezügliches Angebot, das ich dankend ablehne. Bereits fünf, bald zehn Meter vorbei, endlich fällt der Groschen und ich kehre um. Betrete das fremde Grundstück, schaue in ein anfänglich erstauntes Gesicht und erbitte mir den Schlauch. Zitiere sodann Roxi herbei und spritze sie komplett nass. Wie erhitzt sie schon ist, meldet einerseits ihre hängende Zunge. Eingeweihte erkennen es auch daran, dass sie sich tatsächlich mit scharfem Strahl (!) nassspritzen lässt ohne die Flucht zu ergreifen. Von Wasser triefend und erfrischt wälzt sie sich kurz auf dem Rasen, dann geht's weiter. Ab jetzt fast nur noch bergauf ...

Moderat bergauf zunächst, zudem beschattet unter hohen Bäumen. Zwei Serpentinen auslaufend, schließlich durch den Weiler Koglhof. Alsbald sehr steil auf dem Trottoir innerorts. Einem Läufer, der beschlossen hat Läufer zu bleiben, koste es, was es wolle, kommt für den Abschnitt auch folgender Superlativ in den Sinn: Sausteil! Zum ersten Mal hochprozentiges Profil und gleich ein paar hundert Meter weit. Ich trabe im Bewusstsein hinan, dass ich stark genug bin die Gangart beizubehalten, auch wenn es sich spontan nicht so anfühlt. Schneller atmen, kürzer treten, weitertippeln und die hässlichen Empfindungen ausblenden. Kraft wohnt ausreichend in mir und Alter ist nur eine Ausrede! Zur Sommeralm hoch komplett zu laufen ist im Grunde einfach: Du brauchst nur dieses unsägliche Gefühl von Schwäche und Überlast genügend lange zu ertragen ...

Wie schön, dass die Sonne scheint! Ich meine das genau so, wie es da steht. Auch wenn meine Poren nun wahre Sturzfluten an Schweiß entlassen, ich ständig über Stirn und Schläfen wische, die sich aufstauende Hitze im Körper zusätzlich lähmt - ich möchte den Sonnenschein nicht missen. Wie viel schöner ist Laufen in einer Welt kräftiger Farben?! Um wie viel angenehmer ist Laufen in einer warmen Welt?!

Sausteil ist vorbei, jetzt nur noch steil, ein köstliches Stück weit sogar eine Mulde durchmessend. Für kurze Zeit kehrt das Gefühl ausreichender Lungenreserve zurück. Bis es der nächste brutale Anstieg wieder an sich reißt. Laufen ist Kopfsache, mindestens ebenso wie der Gebrauch dafür hinreichend trainierter Beine. Darum lasse ich diesen Kopf in Abschnitten denken: Nur noch 200 Meter bis zur nächsten Labe und kurzer Rast. Nur 50 Meter, dann beginnt eine Waldpassage, dort wird es kühler und leichter. Noch 30 Schritte vielleicht, hinter der Kurve wird's flacher. Oder auch mal kühn: Keine zwei Kilometer mehr, dann sind wir schon in Salleg und dort oben ist das Härteste überstanden. Laufen ist Kopfsache, bisweilen auch mit Selbstbetrug: Sicher, dort oben in Salleg, Kilometer 32, wird bereits einiges überstanden sein. Aber nicht unbedingt das Härteste. Je nach Verfassung und damit nicht vorhersehbar, kann dahinter - besser: darüber! - das Schlimmste noch kommen ...

Ich spüre grenzwertige Belastung, diese höchst unangenehme, sich jeder Beschreibung entziehende Inanspruchnahme allen Fleisches. Zugleich durchdringt mich tiefe Zufriedenheit. Tatsächlich setzte mir diese Passage schon heftiger zu, als sie es heute tut. So heftig, dass ich immer wieder stehenbleiben musste. Was ich ohne meine Regeln zu verletzten darf. Nur gehen darf ich nicht. Gehen führt zu Übellaunigkeit. Wenn ich heute stehenbleibe, dann ausschließlich für Fotos; von Roxi am Streckenrand oder vom überwältigenden Panorama. Mit jedem erarbeiteten Höhenmeter wird die Aussicht freier, aufregender, reicher.

Roxi voraus, ich hinterdrein. Wir verfolgen ein Laufpaar, sie und er, das immer wieder geht. Zentimeterweise verkürzt sich die Distanz, was mich zusätzlich motiviert. Und gäbe ich nicht mehrfach dem Drang nach mit der Kamera einzufangen, was meine Augen sehen, wir hätten die beiden längst eingeholt. Schließlich vor Salleg: Ein paar Häuser und Höfe, auf einer Bergschulter residierend. Rechts der Blick weit hinaus ins steirische Land. Links verliert er sich jäh in höllentiefer, trichterförmiger Schlucht. Gemähte Steilhänge, ein Großteil der Heuernte ist eingebracht. Dicht an der Straße steht die Vegetation noch hüfthoch. Gräser durchsetzt mit allem, was blüht. Noch mehr Fotos entstehen. Wunderschöne Fotos, wovon sich der Leser dieses Laufberichts mit eigenen Augen überzeugen mag. Doch, wer noch nie hier war, kann es nicht wissen: Die Realität ist um Potenzen herrlicher, zauberhafter, großartiger. Fotos können nicht abbilden, was ich sehe. Noch weniger, was für Empfindungen diese Ansichten auslösen - zum neunten Mal in Folge!

Nur ausreichend lange Beine verhindern, dass Roxis Zunge über den Asphalt schleift. Die Luft ist kühl, unter Garantie kaum mehr als 20°C warm. Das wurde mir eben im kühlen Schatten des Waldes einmal mehr bewusst. Doch das ist nicht der Punkt. Längst hat die sengende Sonne den Schlauchguss wieder getrocknet. Also steuere ich an der Labe in Salleg nach, nässe Roxis Kopf und Rücken mit Wasser aus Bechern. Breche auch die zweite Kaustange an, um sie zu belohnen. In diesen fürsorgenden Momenten tritt alles andere in den Hintergrund. Mein Durst, meine schon fortgeschrittene Erschöpfung, Menschen, Dinge, Landschaften um mich her, der Wettkampf ohnehin. Für Minuten zählt nur meine an Jahren reiche Hündin, ihr Wohlergehen, ihr den Spaß an unserem Laufabenteuer zu bewahren.

Weiter hinan, einen Viertelkreis in der grünen Flanke der Trichterschlucht beschreibend. Weiter oben am Hang ein Trecker mit Anhänger. In hohem Bogen regnet Übelriechendes auf die gemähte Wiese herab. Regen ist bereits für den Abend angesagt. Der Wind steht günstig für uns, wir bleiben von ammoniak-schwangerer Atembeklemmung verschont. Rief da wer meinen Namen? - Kann sein, vielleicht auch Einbildung. Immerhin erkenne ich das leuchtend gelbe Trikot von Ernst. Ernst aus Steyr in Oberösterreich. Früher stach er aus tausenden heraus, weil er im Wettkampf stets einen Strohhut als Markenzeichen trug. Inzwischen erkenne ich ihn auch so, obwohl ich ihn nur noch barhäuptig antreffe. Roxi voraus, ich hinterdrein, mitten durch den Hof jenes düngenden Bergbauern. Durch den Hof, weil die Straße es so will. Mein Blick fällt auf ein betoniertes Mäuerchen, das herabschießendes Regenwasser vom Wohnhaus fernhalten soll. Nicht erwähnenswert meinst du? - Mag sein. Doch dies soll der letzte Sommeralm Marathon werden und ständig drängen sich mir Erinnerungen aus früheren Läufen auf. Vor Jahren, an einem Samstag mutmaßlich, joggte ich hier mit Roxi vorbei, der eine schwitzend, die andere hechelnd, als das Mäuerchen gerade in Arbeit war ...

Hinterm Hof holt Ernst mich ein. Der fitte Kerl ist schneller, obwohl er abschnittsweise geht und ich meinen schleichenden Tippelschritt toujours beibehalte. Ein paar gutgelaunte Sätze wechseln vom einen zum anderen, dann blicke ich ihm gelassen hinterher. Gelassenheit, die sich in den vergangenen Monaten als Ergebnis einer Art "Trauerarbeit" einstellte. Sie löste den ungesunden und uneinsichtig dummen Teil meines Ehrgeizes ab, der früherer Leistungsfähigkeit nacheiferte. Doch jenen früheren, weniger alten, ein gut Stück schnelleren Udo gibt es nicht mehr. Mich mit der biologischen Unausweichlichkeit dieser Entwicklung auszusöhnen, sie zu akzeptieren und das Beste und Schönste daraus zu schöpfen, war ich eine Weile zagend und klagend beschäftigt. Inzwischen kann ich jedem kleiner werdenden Rücken hinterher schauen, ohne mich zu grämen.

Ernst bleibt nicht der letzte, der uns überholt. Lediglich der Letzte, den ich gut kenne. Trotzdem grüßen uns die meisten. Aufmerksamkeit, die hauptsächlich Roxis Auftritt gilt. Ein alter Mann, der sich den Berg hochquält? - nicht ungewöhnlich genug! Ein alter Hund mit hechelnder Zunge? - rührend und sicher selten zu beobachten. Manche loben Roxi über den Klee. In solchen Momenten lächele ich still in mich hinein, freue mich, fühle mich beschenkt, privilegiert und in meiner Überzeugung bestätigt: Mit Roxi zu laufen ist etwas Besonderes. Roxi ist ein besonderer Hund. Ich könnte nun von Roxis kompromisslosem Vertrauen zu Menschen erzählen, ihrem sozial integrativen Verhalten inmitten quirliger Hunderudel oder ihrer Zuneigung wie auch Achtsamkeit gegenüber meinen Enkelinnen. Könnte von jener Freude sprechen, die sie uns, meiner Frau Ines und mir, und anderen über viele Jahre bereitet hat. Doch dies ist ein Laufbericht und so beschränke ich mich auf ihre Freude an der Bewegung, die sie zu einer idealen Laufpartnerin macht.

Doch in letzter Zeit wurde sie erkennbar ruhiger. Auch läuferisch. Noch ungemein leistungsfähig, jedoch offenbar nicht jederzeit im selben Umfang. Sie wird mir nie sagen können wie sie sich fühlt. Menschliche Einschätzung ist gefragt und die kann fehlgehen. Aus diesem Grund zelebrieren wir heute unser gemeinsames Finale. Es ist genug. Genug Ultra und Marathon für Roxi. 2010 begleitete sie mich zum ersten Mal bei einem Marathon. Damals durch den herbstgoldenen Dom des Schlaubetals in Brandenburg. Insgesamt 15 Marathons und 12 Ultraläufe, davon der längste über 72 Kilometer, folgten. Es hätten selbstverständlich viel mehr werden können, wäre da nicht ihr läuferisches Naturell, dem dauerhafte Leinenführung widerspricht. Und dem galt es weitestgehend zu entsprechen. Roxi machte unterwegs stets ihr eigenes Ding. Voraus, hinterher, schnüffeln, seitwärts kurz Fährten verfolgen - dabei jedoch jederzeit abrufbar. An die Leine nur zu Beginn, um Gefahren von ihr und Mitläufern abzuwenden. Damit waren wir auf zahlenmäßig kleine, eher verkehrsarme oder -ferne Veranstaltungen beschränkt. Wehmut, die in vorstehenden Zeilen vielleicht mitschwingt, empfinde ich dennoch keine. Im Training oder abschnittsweise bei Wettkämpfen wird sie mich auch künftig begleiten können.

Das ersehnte Plateau, ein Höhenrücken von etwa drei Kilometer Breite bietet Gelegenheit zum Durchatmen und Kräftesammeln. Zum Ende hin unterstützt von einigem Gefälle. Roxi tippelt am Straßenrand vor mir her. Fahrzeuge sind hier oben selten, in Bergeseinsamkeit überdies frühzeitig zu hören. In unübersichtlichen Passagen "klemme ich sie mir ans Bein". Wie nötig derlei Umsicht auch heute ist, beweist ein heranrasender Milchlaster. Und wenn ich rasen schreibe, dann weil ich rasen meine. Auf schmalem Bergsträßchen eine grob rücksichtslose und unverantwortliche Fahrweise - gar nicht mal im Hinblick auf freilaufende Hunde!

Wir verlassen die drittletzte, von einem der Söhne von Kraxi und Babsi betreute Labe. Schon in den vergangenen Jahren war Familie bei diesem einzigartigen Marathonlauf Trumpf. Die Familie des Veranstalters, deren Bekannte aber auch die Läuferfamilie, der ich mich zugehörig fühlte. Doch eine Ansammlung so vieler mir auch namentlich bekannter Helfer und Läufer an einem Tag, bei einer Veranstaltung, das ist ein völliges Novum. Darüber hinaus blicke ich in viele vertraute Gesichter, die anzusprechen ich keinen Namen parat hätte. Sommeralm Marathon, das war und ist wie Heimkommen. Einstweilen laufe ich noch, schaffe es ganz gut zu verdrängen, dass es der letzte seiner Art sein soll.

Vorletzte Labe auf einem kleinen Sattel, von hier ab nur noch bergauf. Conny, Babsis Schwester, und eine weitere Helferin geben sich alle Mühe uns (besonders natürlich Roxi!) für die verbleibenden fünf Kilometer fit zu machen. Fünf Kilometer, die mir noch einmal alles abfordern werden. Mindestens eine Dreiviertelstunde Schufterei steht bevor, die nach herzlichem Abschied von Conny und Co. auf einem zunächst sanft ansteigenden Waldweg beginnt. Der jedoch "ganz bald" alles Sanfte verliert und zum wurzelbewehrten, mit schrundigen Stufen auskeilenden Trail entartet. Mir auch mit ein paar Kullersteinen steil aufwärts tippelnd den Weg verlegt. Noch in jedem Jahr die härteste Passage auf einer ohnehin schon auszehrenden Marathonstrecke. Nur dreihundert Meter, die mich Grenzen und Endlichkeit jeglichen Seins spüren lassen. Hoher Puls, tiefer Atem, gemeines Ziehen in den Beinen. Letzte Tippelschritte bis zum Waldrand, wo ich Roxi gemütlich im Schatten und in weichem Gras liegend antreffe.

Sieht gelangweilt und nach "Chillen" aus, dient allerdings einem anderen Zweck. Genau genommen sogar zweien: Kurz ausruhen und - wichtiger - den Bauch am Boden kühlen. Wenn wir an heißen Tagen in den Alpen gipfelnah und abseits von kühlem Nass wandernd unterwegs waren, verkroch sie sich gerne im Schatten von Latschen, um überschüssige Hitze an Erdboden oder Fels loszuwerden. Als ich kurzatmig an ihr vorbeitapse springt sie auf, um vor mir die sich anschließende, steile Wiese zu überqueren. Die ist heute - hurra! - gemäht. Also hinreichend trittfestes Geläuf, wo ich mich in der Vergangenheit auch schon mal durch kniehoch stehendes Gras empor kämpfen musste. Noch ein steiler Aufschwung, fünfzig Meter Feldweg, dann schlappen die Sohlen wieder über köstlichen Asphalt. Der Weg führt zunächst vorbei an einem Hof. Ein Weg, den uns der Bauer im Jahr eins der Sommeralm Marathonläufe noch verwehrte. Damals waren wir gezwungen mühsam unterhalb des Hofes und am Maschendraht eines Ziegenpferchs entlang zu "trailen".

Ich lieb‘ dich, ich lieb‘ dich nicht, ich lieb‘ dich! Gerade reiße ich der Margerite wieder eines der mit wenig Mühsal und schönem Ausblick beladenen Blütenblätter aus. Sanft aufwärts, teils im Schatten, letzte Minuten bevor es noch einmal heftig zur Sache geht. Gelegenheit in verhaltenem Trab Körner zu sparen und den Blick über steile, bewaldete Flanken schweifen zu lassen. Ich kenne die Strecke wie meine Westentasche, weiß uns in einer Sackgasse, an der nicht mehr als eine Handvoll Höfe liegen. Also lasse ich Roxi ihren Willen, der sie mal hierhin, bald dorthin treibt. Vor der letzten Labe endet unsere Schonzeit. Noch drei Kilometer.

Ich lieb‘ dich nicht: Unmittelbar nach der Labe biegen wir auf eine vielbefahrene Route ein. Sonntäglicher Ausflugs- und Lustverkehr zischt, röhrt, donnert, knattert, zuckelt - je nach Temperament des Lenkers und Fahrzeugtyp - an uns vorbei. Roxi kennt den Abschnitt, ich brauchte keinen Nachdruck in meine Stimme zu legen, sie an meiner linken, straßenabgewandten Seite zu fixieren. Atemfrequenz, Puls und Straßenlärm passen sich der Straße an: Erst steil, dann noch steiler ansteigend. Anderthalb Kilometer, die es schlichtweg auszuhalten gilt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Anderthalb Kilometer, die gottlob auf einer Bergschulter mit Ausblick nach beiden Seiten enden. Gerade noch rechtzeitig, bevor ich damit begonnen hätte jeden einzelnen der PS-unterstützten Vorbeifahrer zu hassen und damit Energie zu verschwenden.

Zwei Minuten Plateau, zwei Minuten in denen sich die Körper- und Hirnfunktionen wieder normalisieren. Dann gabelt sich die Straße, nach links geht's hoch zur Sommeralm. Noch einmal steil, verdammt steil. Aber nur 500 Meter weit und zum letzten Mal. Vielleicht genau der Buckel, der jene bricht, die die Strecke nicht kennen. Ein weit geschwungenes "S", darin zwei Weideroste. Roxi umgeht die pfoten-feindlichen Hindernisse auf der äußeren Betonumrandung, ihr Rudelführer tippelt konzentriert darüber hinweg. Bin zwar noch nie auf sowas gestolpert, was aber nicht heißt, dass mir das nicht genau heute zustoßen könnte ...

Und dann ist es überstanden. Vor mir, ober- und unterhalb der Straße, erstreckt sich eine malerische Almlandschaft, etliche Hektar Wiesen: die Sommeralm. Etwa einen Kilometer voraus, in weit ausladender Linkskurve erkenne ich die Stoakogl Hütte und damit das Ziel. Die Straße steigt nur noch sanft an, gewinnt kaum noch an Höhe. Und als wäre ich nicht schon fast fünfeinhalb Stunden unterwegs werde ich schneller und schneller. Fast mühelos setze ich einen Fuß vor den anderen. Zunächst glaube ich an ein kurzes, von Vorfreude auf das baldige Finish entzündetes Strohfeuer. Doch meine physische Wiedergeburt hat Bestand. Wie kann das sein? Ich überhole eine Läuferin, stückweit später einen Läufer. Es ist Werner, auch Marathonsammler, den ich von verschiedenen Läufen in Österreich kenne. "Bald geschafft, Werner!" sporne ich ihn an. Das Echo ist schwach, offensichtlich ist ihm nicht vergönnt, den letzten Kilometer leichtfüßig zu genießen.

Warum dann ausgerechnet mir? Weder schonte ich mich auf dem Weg hier rauf, noch empfand ich in den letzten zwei Stunden auch nur ansatzweise eine solche Leichtigkeit. Alles fühlte sich wie immer an, normaler, harter Kampf, 1.800 Meter hoch zur Sommeralm. Und nun wetze ich in sanftem Anstieg auf dem letzten von 42 Kilometern dem Ziel entgegen. Dafür gibt es eigentlich nur eine Erklärung: Ich verfüge über ein hohes Maß an Ausdauer, auch in meinem Alter noch, bin aber am Berg eine Niete. Die Bergläufer-Niete, die ich immer schon war, da zu groß, zu schwer und mit zu grobem Körperbau.

Die Hütte und davor das Ziel werden immer größer. Schon seit einer Weile erreicht mich die Stimme des Sprechers, der den Einlauf anderer Läuferinnen und Läufer kommentiert. Grund genug mein Tempo weiter zu forcieren. Blick zur Uhr: Unter 5:30 Stunden sind nicht zu schaffen. Vermutlich werden Roxi und ich heute das schlechteste unserer Sommeralm Marathon ErGebnisse einfahren. Das spielt aber keine Rolle. Dafür war es mit Sicherheit eines der schönsten Sommeralm ErLebnisse. Sonne bis ins Ziel, immer ausreichend Kraft in den Beinen, 42 Kilometer Harmonie auf sechs Beinen und ständig unter guten Bekannten!

Die letzten Meter, auf denen wir wie Laufprominenz angekündigt werden. Und einmal alle Bescheidenheit beiseite wischend: beim Sommeralm Marathon sind wir das wohl auch. Nicht ich als Läufer wohlgemerkt, wir beide, das Laufduo Mensch-Hund, Udo und Roxi, die keinen der offiziell ausgeschriebenen Sommeralm Marathons in neun Jahren ausließen. Wie immer auf den letzten Metern bin ich erfüllt von Freude und Zufriedenheit. In den letzten vier Jahren verstärkt durch die Erinnerung an jenen wunderbaren Augenblick, als mir Babsi im Ziel die Geburt meiner zweiten Enkeltochter verkündete ... Es ist so weit: Wir überschreiten die Ziellinie eines Marathons, Roxi an meiner Seite, zum letzten Mal. Eine Woge von Applaus schlägt über uns zusammen und nichts davon will ich für mich. Alles für Roxi, die mich seit elf Jahren auf den meisten Trainings und vielen Wettkämpfen begleitete. Die auch dann noch Licht in meine rabenschwarz umflorten Gedanken lenkte, wenn im läuferischen Alltag gerade mal ein tiefes Tal der Tränen zu durchschreiten war. Roxi war immer zur Stelle, nie missgelaunt, stets laufbereit. Was für ein Hund!

 

Ergebnisse siehe hier.

 

Fazit zum Sommeralm Marathon

Gut möglich, dass ich nie wieder zur Sommeralm laufen werde. Nach minutenlangen Standig Ovations und rhythmischem Klatschen ließen Kraxi und Babsi zwar die Hoffnung am Leben: Schaun' mer mal ... Doch was hätten sie diesem Tsunami aus Sympathie und herzlichem Dank für eine unvergleichliche, wunderbare und nirgends sonst in dieser familiären Form möglichen Marathonveranstaltung auch sonst entgegensetzen sollen? Ich bin Realist und ein Freund der beiden. Sie hatten Gründe den Sommeralm Marathon 2020 als den Letzten seiner Art auszurufen. Und diese Gründe gilt es zu respektieren. Insbesondere das Übermaß an Freude und Zufriedenheit würdigend mit dem sie ihre Jahr um Jahr wachsende Marathonfamilie beschenkten.

Für mich war der Sommeralm Marathon 2020 auf jeden Fall der letzte seiner Art. Roxi wird mich von nun an allenfalls noch auf kürzeren Abschnitten bei Wettkämpfen begleiten. Es darf nie die Situation eintreten, dass ihre Kräfte versagen oder sie auf einem zu langen Weg Schaden nimmt. Ich glaube sie gut zu kennen, auch die Signale zu verstehen, die bei ihr für Anstrengung stehen. Aber ich traue mir nicht zu, den Moment zu erkennen, noch weniger vorherzusehen, wenn Anstrengung in Überlastung umschlägt. Darum ist Roxis Marathon- und Ultrakarriere mit dem heutigen Finish abgeschlossen. Ich empfinde keine Trauer darüber, nicht mal Wehmut, weil sie auf kürzeren Wegen weiter mitlaufen wird. Und weil ich die Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse wachhalten werde.

Der Sommeralm Marathon 2020 wird sich mir auch in anderer Hinsicht als außergewöhnliches Erlebnis einprägen. Noch nie nahm ich an einer Laufveranstaltung teil, bei der ich so viele Läufer, Offizielle und Helfer sehr gut, mit Namen oder zumindest dem Gesicht nach kannte. So viele liebe Menschen, die auch nur namentlich zu nennen in diesem Laufbericht mich überfordert hätte. Wenn du dich in den Zeilen nicht wiederfindest, dann auf jeden Fall dazwischen und mit Sympathie bedacht.

 


 

Fazit zur Veranstaltung

In Sachen Veranstaltungskritik lies bitte auch in den acht Berichten der Jahre 2012 bis 2019 nach. Wenn sich von Jahr zu Jahr etwas änderte, dann allenfalls zum Besseren. Noch mehr, noch genauer, noch hilfreicher, noch mehr auf individuelle Belange eingehend. Mehr Marathonzauber als Barbara und Hannes Kranixfeld entfalteten ist in diesem Läuferuniversum nicht möglich. Wäre Einstein Läufer gewesen, er hätte diese Gesetzmäßigkeit neben der nicht zu toppenden Lichtgeschwindigkeit als Konstante in seiner Relativitätstheorie berücksichtigt!

Fazit: Der Sommeralm Marathon erreichte in jeder Hinsicht Gipfel! Mehr als nur schade, dass es ihn nicht mehr geben wird.

 


Fotonachweis: Die Bilder "Damensieger", "Zieleinlauf Udo-Roxi" und "Udo-Roxi an der Labe in Salleg" stammen von der Seite des Sponsors "SMB Industrieanlagenbau". Teilnehmer der TG Viktoria Augsburg steuerten zwei Mannschaftsfotos und das Bild "Udo-Roxi bei der Siegerehrung" bei, alle anderen Fotos: Udo Pitsch

 

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