18. Juli 2020

Business as usual?  -  Night52 Ultralauf 2020

Erster Akt, wer-weiß-wie-vielte Szene im Lustspiel "Night52", rund ums Städtchen Bretten: Korn leuchtet goldgelb in der Sonne, steht unbewegt und knisternd in nachmittäglicher Hitze. Dekoratives Weiß im Blau, Cumuli und Azur über dem Kraichgau. Der Mime kennt Theater und Bühnenbild von früheren Gastspielen. Mühsam aber stetig strebt er dem höchsten Punkt der Kulisse entgegen. Längst schweißnass von intensivem Spiel klebt ihm das Kostüm am Leib. Man hat die Rolle zum dritten Mal mit ihm besetzt. Und wie bei den Aufführungen zuvor genießt er auch heute seinen Auftritt ...

Also Business as usual? Weit gefehlt. Das wäre ungefähr so, als wollte man von paar Allerweltssymptomen auf eine seltene Krankheit schließen. Der Vergleich mag unpassend klingen, passt aber gut ins Bild. Denn eine Krankheit grassiert. Noch immer. Und ihretwegen ist heute vieles anders als in den Jahren zuvor. Zunächst wurde die Startzeit um eindreiviertel Stunden auf 16 Uhr vorgezogen. Dadurch wird die Mehrzahl der Starter das Ziel noch bei Tageslicht erreichen. Also nix von wegen "Night52", wohl eher "Evening52". Um seinen Lauf auch in diesem Jahr ausrichten zu dürfen, musste der Veranstalter die Nacht zum Tage machen. Offenbar erleichtert Tageslicht die Umsetzung eines strengen Hygienekonzeptes und erschwert auf diese Weise dem Virus seine verheerende Arbeit ... "Evening52" - schimpft mich kleinlich aber auch so stimmt's noch nicht ganz. Infolge (mindestens) zweier Streckenänderungen winkt schon nach 51 Kilometer die Medaille. Und wen wundert's: Die wird man mir nicht umhängen. Jeder muss sich selbst zum Sieger krönen. Später mehr vom Social Distancing, jetzt erst mal weiterlaufen ...

Weiterlaufen mit Cornelius, den ich nun auch schon einige Jahre kenne und schätze. Es war seiner Hartnäckigkeit zu danken, dass der Kontakt hielt. Unter anderem, weil er meine anfänglichen Schwierigkeiten tolerierte, mich an Begegnungen zu erinnern. Anlässlich der 100 Meilen in Berlin im letzten Jahr gestaltete sich unser Wiedersehen schon intensiver. Seitdem korrespondieren wir lose, aber mit gewisser Regelmäßigkeit. Derzeit konterkarieren wir den Covid-19-Zeitgeist des Social Distancing mit Social Approaching: Wenn alles klappt, werden wir uns in diesem Jahr noch häufiger bei Läufen treffen. Hoffen wir mal, dass alles klappt ... Über dem bisher schon Unwägbaren - Verletzungspech etwa oder aus der Lebensführung resultierende Störgrößen - schwebt nun zusätzlich das virale Damoklesschwert. Man muss immer damit rechnen, dass die zaghaft plätschernde Welle nun doch wieder stattfindender Läufe von der zweiten, dritten, etc. Infektionswelle weggespült wird.

Doch heute wird gelaufen. Seit einer Stunde schon, bei 26°C, Cornelius neben Udo. Meist schweigend. Was nicht daran liegt, dass wir uns nichts zu sagen hätten. Weil er weiß, dass ich ungern unterwegs "zugequatscht" werde, hält sich Cornelius zurück. Einstweilen reine Mutmaßung diese Deutung seines Schweigens, so gut kenne ich ihn nun doch noch nicht. Meine Mundfaulheit hat heute physische Ursachen. Unser Tempo ist für mich grenzwertig, da fehlt der Atem zum Parlieren. Auf den anfänglichen 10 Kilometern gewinnt die Route mehr und mehr an Höhe. Ein paarmal neigt sie sich talwärts, aber nur für wenige, kaum Erholung stiftende Schritte. Auch andere Umstände dämpfen meinen Redebedarf. Alle paar Sekunden wische ich mir den Schweiß von der Stirn und in ähnlich ruhelosem Takt kämpfe ich gegen den doofen, an der Hüfte auf und ab hüpfenden Trinkgürtel. Er zwingt mich alle paar Minuten mein derangiertes Laufshirt zurechtzurücken, weil es schon wieder "auf halb acht hängt". Nervig. Und dann rutschte vorhin auch noch eines der - wie ich glaubte - sorgsam verzurrten Gels aus seiner Halterung und klatschte auf den Weg ...

Du wirst dich fragen, wie solches Missgeschick jemandem unterlaufen kann, der zum x-ten Male gerüstet durch die Gegend wetzt. Offen gestanden frage ich mich das gerade selbst. Meine Eselei vollends bloßstellend kommt hinzu, dass ich gerade dieses Exemplar von all meinen Laufgürteln und -rucksäcken am wenigsten leiden kann. Na ja, eigentlich mag ich überhaupt kein "Zaumzeug" am Leib. Sehr häufig geht es aber nicht ohne, auch heute nicht. Ich gab dem Gürtel den Vorzug, weil seine Kapazität reicht und mein Rücken belüftet bleibt.

Die Scharmützel mit Elementen und Ausrüstung ändern allerdings nichts daran, dass mir dieser Lauf Freude bereitet. Nicht zuletzt befeuert von der Bilderbuchlandschaft des Kraichgaus und der auch diesmal begrüßten Kombination aus blauem Himmel und "schön warm". Letzteres sehen die meisten meiner Mitstreiter vermutlich ganz anders. Denen dürfte es zu heiß sein, obschon Schwüle und ein paar Grad Temperatur zu drückender Hitze fehlen. Ich mag es so (auch noch wärmer), wenngleich ich mich über jeden Schattenfleck, den wir durchmessen, freue. Das eine schließt das andere nicht aus.

Doch was schwadroniere ich von Schatten? Bis zum zweiten Verpflegungspunkt (Kilometer 14) bleibt er vereinzelte, jeweils kurze Rarität. Ich hätte aus meiner Flasche trinken müssen! Unterließ es jedoch, benahm mich wie ein Hund, der den Weg zum Wassernapf erst findet, wenn Durst ihn zwingt. Und diesen Durst empfinde ich erst hier, am zweiten Verpflegungspunkt. Schon beim Anblick des flüssigen Angebots, erst recht als die ersten Schlucke meine ausgedorrte Kehle hinunter rinnen. Mehrmals schenke ich im mitgeführten Becher* nach, schlucke zwischendurch auch eines der angebotenen Gels. Übrigens ist Selbstbedienung Trumpf, die behandschuhten Helfer schieben lediglich volle Flaschen und verpackte Verpflegung unter der "Viruswehr"* hindurch.

*) Hygienekonzept an den VP: Biertische wurden mit einem Holzrahmen versehen, der zur Minimierung der Ansteckungsgefahr eine Bespannung mit Plastikfolie trägt. Einem Bankschalter ähnlich bleibt zwischen Tischplatte und Folie nur eine Handbreit Durchgriff. Der mitzuführende, flexible Silikonbecher war Bestandteil des Startpakets. Jeder füllt Becher und Trinkflaschen selbst. Feste Nahrung gibt es nur in abgepackter Form.

Endlich ausreichend getränkt und gefüttert schaue ich mich nach Cornelius um. Der entschwand offenbar gehend hinter der nächsten Ecke, ist aber rasch eingeholt. Vielleicht liegt es an den milchigen Schlieren, die den Himmel nach und nach überziehen. Vielleicht auch am Gefälle, das uns auf den nächsten Kilometern das Vorwärtskommen erleichtert. Jedenfalls kommt es mir inzwischen deutlich kühler vor. Meine Poren fahren fortan ihre Pumpleistung runter ... Fortwährend setze ich hinter bekannten Abschnitten der Strecke einen Haken. Sich auszukennen hat den Vorteil schon im Vorhinein zu wissen, wohin man schauen muss, um den reizvollsten Ausblick zu genießen. Sanfter Taleinschnitt, vorbei an bekanntem, weitgehend von Bäumen gesäumtem Weiher. Vorletztes Jahr begleitete mich unsere Hündin Roxi, die kurzerhand - besser: kurzer-Pfote - ein kühlendes Bad nahm. Bezeichnenderweise ohne von mir dazu aufgefordert worden zu sein. Kluger Hund!

Immer weiter abwärts, vorbei an Viehweiden und Streuobstwiesen, mich erinnernd: Dort drüben unter und zwischen Bäumen fand letztes Mal eine Motorrad-Trial-Veranstaltung statt. Heute zeigt sich dort keine Menschenseele. Auf unserem Weg war und ist das anders. Häufiger begegnen uns Radler, manchmal auch Spaziergänger, die den sonnigen Spätnachmittag an der frischen Luft ausklingen lassen. Ich halte mich meist kurz hinter Cornelius. Erst wollte der Zufall es so, inzwischen ziehe ich daraus zweierlei Nutzen: Meine Position signalisiert einerseits "Tempo grenzwertig". Darüber hinaus "verwende" ich Cornelius als "Model", um den Radweg als Laufstrecke in Szene zu setzen. Bei-läufig schieße ich wahre Salven von Schnappschüssen ab. Masse macht's in diesem Fall, weil vieles in Bewegung verwackelt. Zudem fehlt es mir en passant meist an Konzentration zur bestmöglichen Auswahl von Motiv oder Perspektive.

Manche An- und Aussichten beeindrucken auch ohne Bezug zum Wettkampf. Die Herde reinweißer Mutterkühe mit ihren Kälbern auf großzügiger Weide zum Beispiel, oder - ihnen fast gegenüber angesiedelt - eifrig scharrende Hühner vor einem der inzwischen weit verbreiteten mobilen Hühnerställe. Braun-weiß geflecktes Federvieh, das Bioeier legt. Woher ich das weiß? Ein Plakat am Stall lässt daran keinen Zweifel. Bilder artgerechter Viehwirtschaft, über die viele Betrachter gedankenlos hinwegsehen. Mir sind sie wichtig. Immens wichtig, weil sie dokumentieren wie wir als Halter, darüber hinaus als Konsumenten und insgesamt als Gesellschaft mit Nutztieren umgehen sollten. Ich nehme die Fotos auch für meine Frau mit, weil ich weiß, wie sehr sie sich darüber freuen wird.

Ihre Freude schlüge nachgerade in Begeisterung um, begegneten ihr gleich mir in erstaunlich kurzen Abständen diese blühenden Areale. Gepflügt, geeggt und eingesät zum einzigen Zweck Blumen sprießen zu lassen. Nur mittelbar zum Nutzen des Menschen, ganz gezielt als Nahrungsquellen der geflügelten Insektenpopulation. Alle paar Minuten, manchmal nur Sekunden, komme ich an einem Blühstreifen oder gar Blühfeld vorbei. Das war vor zwei Jahren noch nicht so. Kein Bauer kann es sich leisten auf geldwerten Ertrag von seinen Feldern zu verzichten. Also frage ich mich, ob von der "begrünten" Landesregierung Baden-Württembergs ein spezieller Topf eingerichtet wurde, aus dem Landwirte für diesen Dienst am Insekt abgefunden werden. Bisher kenne ich lediglich private Initiativen, Gemeinschaften so genannter "Blühpaten", die Zertifikate zeichnen und so dem Landwirt den "Anbau" von Blumen bezahlen. Einer derart dichten Aufeinanderfolge von Blühäckern wie hier im Kraichgau kann jedoch keine rein private Finanzierung zugrunde liegen!?

"Kann es sein, dass wir ziemlich flott unterwegs sind!?" Cornelius' Frage ist vielleicht eine halbe Stunde alt. Ich vermutete hinter seiner Bemerkung keinen besonderen Beweggrund, ganz im Gegensatz zu meiner spontanen Antwort: "Ja! und vermutlich zu schnell!" Noch nicht bald aber irgendwann werde ich einbrechen soll das heißen. Was tun Menschen bewusst und was intuitiv? Vielleicht wollte Cornelius mit seiner läuferischen Randnotiz sicherstellen mich nicht zu überfordern!? Meine Entgegnung hält unser Miteinander in der Schwebe. Ein "Weiter so", dessen Zwischenergebnis Cornelius jetzt verkündet, nachdem die 20 km-Marke hinter uns liegt: "Für die ersten 10 km brauchten wir 1:06 Stunden, für die zweiten nur 1:02 Stunden!" Das Profil liefert die Erklärung für den markanten Zeitunterschied: Zwischen Kilometer 10 und 20 gibt die Strecke die zuvor erarbeitete Höhe wieder zurück.

Später im Ziel wird Cornelius fragen: "Hast du dich anfangs von mir ziehen lassen?" Und ich werde wahrheitsgemäß antworten genau das entgegen meiner stillschweigenden Absicht zugelassen zu haben. Ich bin mir schon eine ziemliche Weile lang bewusst, dass ich Eröffnung und Mittelspiel der "Night52-Partie" als Solist um einiges defensiver gestaltet hätte. Dass ich nicht zurücksteckte, betrachte ich als Experiment, von dem ich meine es wieder mal an mir vornehmen zu müssen. Auf teils sehr weiten Strecken büßte ich zwangsläufig ein Gutteil meines Gespürs für die angemessene Tempogestaltung auf "kurzen" Strecken ein. Möglicherweise entspricht die gegenwärtig empfundene "Vorahnung" späterer Überforderung dem Tempo, das ich bis ins Ziel durchhalten kann. Mal sehen ... Außerdem setze ich auf die Trainingswirkung eines fordernd gelaufenen 50igers. All das natürlich nur, weil ich willens und in der Lage bin mit etwaigen Konsequenzen umzugehen. Was soll schon passieren? Wenn ich einbreche - Worst Case, von dem ich ausgehe -, dann zuckele ich eben auf wehen Stelzen dem Ziel entgegen. Leiden werde ich so oder so. Entweder unter anhaltend forschem Tempo oder als "leckgeschlagenes Wrack", das der mögliche Tempoeinbruch von mir übrig lassen wird.

Unser Parforceritt hat auch den Vorteil ausreichend lange vor völliger Dunkelheit das Ziel zu erreichen. Ein Umstand an den mich der Anblick dieses idyllischen Tales von just erklommener Anhöhe aus erinnert (Kilometer 24). Vor zwei Jahren tauchte die untergehende Sonne den Himmel über den Bäumen am Gegenhang in prächtige Farben. Heute steht sie noch mehr als handbreit überm Horizont. In Schlangenlinien windet sich der Radweg durch das Tal. Ein Abschnitt, den ich besonders mag. Nahezu flach über zwei Kilometer kommt er meinem auf sture Stetigkeit ausgerichteten Laufstil entgegen. Außerdem präsentiert er in der Ferne den einladenden Anblick erster, steil abfallender Weinberge.

Kilometer 25 und 26: Wir überholen kurz nacheinander zwei Mitläufer. Wie ausgebrannte Raketenstufen durchs All treiben die beiden in Richtung Ziel. Viel zu früh für einen Tempoeinbruch und schwere Beine, die Hälfte des Weges liegt noch vor uns. Natürlich versäumte ich es nicht an ebendieser Hälfte, Kilometer 25,5, die Zeit zu nehmen: 2:46 Stunden. Und selbstverständlich nehme ich den Wert mal zwei: 5:32 Stunden. Das entspräche ziemlich genau meiner Leistung 2016, als ich hier erstmals kreiste. Vier Jahre jünger und im weit fortgeschrittenen Formaufbau zum Spartathlon. Vermutlich damals aus vollem Training heraus, also unter weniger guten Bedingungen als heute. Dennoch bin ich von mir selbst beeindruckt. Vor allem, weil es sich nicht so anfühlt, als müsste ich demnächst verhaltenere Schritte setzen.

Am Fuß der ersten Weinberge aufwärts, alsbald im Wald. Cornelius zieht davon, hat bereits etwa 50 Meter Vorsprung. Ich lasse ihn enteilen, weil mitzuhalten dem baldigen läuferischen Suizid entspräche. Wurde ich langsamer oder er schneller? In diesem endlos erscheinenden Anstieg schwer zu entscheiden. Da ich mich bisher nicht quälen musste, gehe ich jedoch davon aus, dass er sich für höheres Tempo entschieden hat. Es entspricht unserer Abrede: Gemeinsam laufen, bis einer sein Heil in Anderem sucht. Und irgendwie bin ich froh, dass Cornelius sich den "alten Mann nicht ans Bein bindet". Es macht mich freier zu gegebener Zeit das Tempo zu senken. Zu gegebener Zeit, derzeit noch nicht.

Erholsam abwärts im Wald. Schließlich bleiben der Wald und kurz darauf ein kleiner, schon im Schatten liegender Weiher zurück. Weiter vorne entzieht sich Cornelius hinter einer 90°-Kurve des Weges meinen Blicken. Auch die nun folgende Passage, am unteren Rand der Weingärten, die sich steil zur Hügelkuppe hinauf wölben, gehört zu meinen Lieblingsabschnitten des "Night52". Heute zu früher Stunde noch der Sonne entgegen, die das Grün der Reben leuchten lässt. Zwei Heißluftballons stehen scheinbar unbeweglich am Himmel. Als weiterer reizvoller Hingucker, auf den ich vorbereitet bin, schiebt sich ein alter, einsamer Bauernhof ins Bild. Durch lange Reihen von Reben gelingt mir ein Bild von dem Fachwerkhaus im Talgrund.

Steter Höhengewinn über anderthalb Kilometer, der mir noch keine besondere Mühe bereitet. Auf dem Höhenrücken angekommen mündet der Radweg in eine Straße. Beifall empfängt mich, für den ich mich mit Handzeichen bedanke. Wer applaudiert da? Angehörige von Läufern, wie schon mehrfach? Oder Ausflügler, die von hier oben das herrliche Panorama des um einiges tiefer liegenden, nördlichen Kraichgaus auf sich wirken lassen? Vor zwei Jahren, mit unserer Hündin Roxi unterwegs, gönnte ich mir ein paar Sekunden, um den Rundblick zu genießen. Heute geize ich mit Pausen, möchte den möglichen Erfolg des Selbstversuchs "forscher Kurzultra" nicht gefährden. Auch die Absicht meine Mitfahrer Sybille und Adam nicht zu lange im Ziel warten zu lassen spornt mich an. Die beiden Vereinskameraden starteten Seite an Seite in einer der ersten Wellen* und werden kaum länger als 4:45 Stunden brauchen.

*) Massenstarts sind derzeit in Baden-Württemberg noch untersagt. Beim alternativ praktizierten Rolling Start gingen je drei Läufer in Intervallen von 10 Sekunden auf die Strecke. Dazu gruppierten sich die Läufer in Dreierrotten auf der Tartanbahn des Brettener Stadions. Abstände seitlich, nach vorne und hinten, ca. 2 Meter. Schnellere Läufer sollten sich vorne, langsamere, ihrem Leistungsvermögen entsprechend, weiter hinten aufstellen. Die Zielzeitzonen waren ebenso markiert, wie die Standplätze der Dreiergruppen.

Scharf abwärts in einem "S". Für mich die Nagelprobe. Auf steil abwärts führenden Abschnitten spüre ich Abnutzung zuerst. In Form von Schmerz, der anschwellen und irgendwann kurze Schritte erzwingen wird. Heute noch gut auszuhalten. Bergablaufen fühlt sich zwar "unschön" an, doch in einer Weise, die ich nach nunmehr über 30 Kilometern in für mich hohem Tempo als "komfortabel" einstufe. Runter, um wieder rauflaufen zu können, neuerlich der Sonne entgegen. Die steht kurz davor ein Halo in den milchig eingetrübten Himmel zu zeichnen. Wärme und mildes Licht, dazu die reizvolle, von Weinbau dominierte Landschaft - eine Atmosphäre zum Wohlfühlen, um den vergehenden Tag in trauter Runde ausklingen zu lassen. So wie das einige tun, an denen ich in den vergangenen Minuten vorbeijoggte. Eine Atmosphäre, die auch mich ergriffen hat, die für ein paar hundert Schritte, in der längsten und gegen Ende zugleich steilsten Bergpassage des Tages, aber von physischer Pein verdrängt wird. Nach und nach verkürze ich den Schritt, nähere mich dennoch einem gehenden Paar, sie und er.

Wie immer empfinde ich einen Anflug von Peinlichkeit gehende Mitläufer am Berg zu überholen. Will nicht herausfordernd oder was auch immer demonstrierend verstanden werden. Was anderes als Unvernunft sollte ich schon vorführen können? Wenn ich laufe, wo ähnlich Leistungsfähige bereits gehen, dann einzig um den Spaß am Laufen nicht zu gefährden. Das klingt nur scheinbar paradox ... Ich bin Läufer, weil ich laufe. Wenn ich gehe, bin ich kein Läufer mehr. Dieser Logik folge ich, um eigener Unzufriedenheit vorzubeugen. - Endlich oben, Grenzempfinden weicht, Beine werden leichter, der Trott wieder flotter.

Dem nächsten Dorf und damit dem nächsten Versorgungspunkt entgegen. Noch zwischen den ersten Häusern traben sie und er locker flockig an mir vorbei, wie schon im Anstieg in angeregter Unterhaltung begriffen. Wie geht sowas? Eigentlich nur bei markanter Differenz zwischen möglicher und tatsächlich erbrachter Leistung. Kein Werturteil, lediglich eine Feststellung. Oft stelle ich mein situatives Läuferverhalten neben das der anderen und arbeite Unterschiede heraus. Auf diese Weise erkenne ich mich (genauer) selbst. Über die Jahre lehrten mich solche "Studien" auch die Spezies "Läufer" differenzierter zu betrachten. Anfangs, im Überschwang des "Schwarmerlebnisses" großer Marathons und glorreicher Finisher-Erfolge, wähnte ich Läufer alle im gleichen Selbstverständnis unterwegs. Ein grobes Missverständnis. Vieles verbindet uns, vor allem die Freude am Laufen, und doch bleiben Läufer Individuen, mit (manchmal sogar extrem) konträren Empfindungen.

Ich komme am Dorfbrunnen nicht vorbei, wasche Gesicht, Hals und die klebrigen Hände. Die Aktion kostet mich eine knappe Minute. Eine, die ich am Ende meines Lebens als anderweitig verschwendet zu beklagen hätte, so ich die Wohltat unterließe! Vielleicht laufe ich ja auch deshalb, weil lange Distanzen mich für ein paar Stunden aufs Wesentliche im Leben reduzieren. Und mir Elementares, wie etwa dieser Trog kühlen Wassers, als Geschenk der Allmacht erscheinen lassen.

Verpflegt und wieder im Rennen. Am Corona-sicheren Schalter des VP traf ich noch mal kurz auf Cornelius. Als ich wieder aufbreche ist er nicht mehr auszumachen und das wird bis ins Ziel so bleiben. Ich blicke auf den Entfernungsmesser: Noch knapp 18 Kilometer. Ein paar ansatzweise unrunde Schritte sind nötig, um wieder in Fahrt zu kommen. Auf den nächsten beiden, wie ich mich erinnere fast flach in einer Geländemulde zu laufenden Kilometern kontrolliere ich mehrfach mein Tempo. Schon 36 Kilometer und noch immer lässt der befürchtete Einbruch auf sich warten. Ich fühle innerlich auch "nichts heraufziehen", was ich in dieser Richtung interpretieren müsste. Aus der Hoffnung "Tempoerhalt bis zum Finish" wird Glaube, der mit jedem eroberten Kilometer fester, alsbald unerschütterlich wird. Und im selben Maße steigt der Anspruch an mich selbst: Du wirst durchhalten!

Ich sammele Mitläufer ein. Weil sie gehen. Der Spätphase des Wettkampfes geschuldet auch schon in moderaten Anstiegen. Überholmanöver bergauf häufen sich mittlerweile, haben darum das "Moment der Peinlichkeit" vollkommen eingebüßt. Runter, noch mal rauf und wieder runter ... Demnächst erwarte ich die in heimischem "Studium" der heutigen Route festgestellte Streckenänderung. Vorsorglich schalte ich meine Uhr in den Navi-Modus, um nicht von meiner Erinnerung an die vormalige Streckenführung irregeleitet zu werden. Am Ortseingang erwartet mich der vorletzte Verpflegungspunkt, heute an ungewohnter Stelle. Trinken, Gel und weiter, mit Blick zum "Navi". Eigentlich überflüssig, weil mich die ausgebrachten Pfeile sicher leiten. Geradeaus vorbei am bisherigen Abzweig, das unattraktiv sterile Gewerbegebiet diesmal auslassend. Auf kürzestem Wege durch die Ortschaft und in deren Zentrum noch ein bisschen Beifall einheimsen.

Auf mäßig forderndem, asphaltiertem Anstieg bleibt das unbekannte Dorf hinter mir zurück. Einmal mehr überhole ich "Sie" und "Ihn", die auch diese Rampe als zu steil für Laufschritte einstufen. Wie zuvor hält mein Vorsprung nur ein paar hundert Meter weit, bis sie - offenbar gut erholt - wieder an mir vorbeieilen. Ich mag mich täuschen, doch auch dieser Wegverlauf kommt mir unbekannt vor. Also noch eine Streckenänderung? Gewagte These, denn hier war es vor zwei Jahren stockfinster. Und doch ... ich tippele über Asphalt: War der Weg, der Roxi und mich zum Wald brachte, nicht geschottert, teilweise mit Gras überwachsen und zudem kürzer?

Zwei Kilometer durch dichten Laubwald. Auch ohne direkte Blickverbindung: Die Sonne steht noch überm Horizont. Gut für meine Sicherheit, denn schon jetzt versinkt die Welt hier unter den Bäumen im Dämmerlicht. "Gutes Sehen nützt, gutes Sehen schützt" - wofür die Zeile warb, habe ich vergessen, der Spruch als solcher hat sich für alle Lebenszeit unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt. Gutes Sehen schützt, lässt mich aber auch die endlose Serie von Anstiegen wahrnehmen, die mir in den Vorjahren gnadenhalber im spärlichen Licht der Stirnlampe verborgen blieben.

Wald Ende und auf asphaltiertem Sträßchen bergab. Flott bergab, wobei sich die "Pein im Gebein" noch immer in recht erträglichen Grenzen hält. Nach 45 Kilometern eigentlich erstaunlich. Und absorbierte der in Minutenfrist folgende steile Gegenanstieg nicht allen Enthusiasmus, ich müsste frohlocken. Kaum zu glauben in welch mieser orthopädischen Verfassung ich mich durch den Winter kämpfte. Knieschmerzen und anderes Malheur wollten mich glauben machen meine Ultralaufbahn neige sich unwiderruflich dem Ende entgegen. Das war vor dem Lockdown, vollzog sich vor inzwischen wieder vier Ultras, wovon mich zwei über 100 Kilometer schickten. Und nun lasse ich einen "kurzen" aber knackig schnellen Ultra folgen und renne kurz vorm Finish ohne "systemische", allein moderate Überlastschmerzen wahrnehmend eine steile Straße runter ... Danke, danke, danke!

Was mich am Ende des neuerlich steilen Anstieges erwartet, weiß ich: Die letzte Tränke. Doch bevor es soweit ist, opfere ich Zeit für ein paar Schnappschüsse vom sich anbahnenden Sonnenuntergang. Nur noch fingerbreit schwebt mein Lieblingsstern über dem Höhenrücken. Vielleicht noch eine Viertelstunde bis zum sonnigen Touchdown. Genug Licht, um auch die letzten, noch ausstehenden Kilometer schadlos zu überstehen. Doch zunächst: Ein letztes Mal trinken! Beachtlicher Durst plagt mich, obschon ich seit Stunden kein bemerkenswertes Wärmegefühl mehr verspürte. Vielleicht hätte ich dem Wasser in meiner Trinkflasche eifriger zusprechen sollen. Wie dem auch sei: Ich greife mir eine Flasche Radler, 0,33 Liter und spüle sie in zwei Etappen durch meine gierige Kehle. Mehr geht nicht und mehr brauche ich auch nicht mehr - nur noch reichlich fünf Kilometer trennen mich vom Ziel.

Danke und ab, heute erstmals die hübsche Kapelle hinter dem Versorgungspunkt wahrnehmend. Das Denkmal für "schwierige Zeiten" auf den Stufen vor dem Kirchlein hätte ich im Dunkeln vermutlich übersehen. Kinder hinterließen bemalte Steine, die dem Passanten Freude bereiten sollen. Ich wende mich einem Taleinschnitt zu, trabe in mäßigem Gefälle abwärts. Hinter meinem Rücken lauter werdende Schritte wecken meinen Ehrgeiz. Und da es noch schmerzfrei geht, jogge ich flotten Fußes voran, trachte dem Verfolger zu entkommen. Was mir eingangs einer finalen Furt durch neuerlich düsteren Wald auch gelingt. Warum wohl gelingt? Richtig: Weil mir einmal mehr ein überlanger, brutal steiler Anstieg den Weg verlegt und mein unbeugsames (unbelehrbares?) Ego darauf beharrt auch diesen Gegner mit zugegeben ultrakurzen Steppschritten aber immerhin laufend zu besiegen.

Das letzte Stück des Waldes nehme ich bereits "downhill". Am Waldrand verspiele ich den erzielten Zeitvorteil hemmungslos, um die Farbenpracht der untergehenden Sonne einzufangen. Vielleicht ist sie auch schon hinterm Horizont versunken. Lässt sich nicht näher bestimmen, weil Schleierwolken ihrem Namen alle Ehre machen. Zeitvorteil verspielt und zwei Plätze im Klassement eingebüßt, erst eine und dann noch einer joggten unterdessen vorbei.

Neuerlich abwärts, noch zweieinhalb Kilometer. Im Dunkeln unterwegs und schon die hell erleuchtete Stadt vor Augen, gab ich mich zweimal der Illusion hin, nun zum ersehnten Ziel hin gemächlich austrudeln zu können. Beim dritten Mal bin ich vorbereitet auf den letzten bösen, wenn auch nicht allzu hohen Buckel, mache ihn auch schon von Weitem aus. Und dann ist es endlich so weit: Abwärts, noch ein paar hundert Meter, dann wetze ich durch die erste Straße in Bretten. Wetzen impliziert erhöhtes Tempo. Einerseits infolge leichten Gefälles, letztlich aber auch um letzte Ausdauerreserven zu verpulvern. Aufgepasst! Eine Hauptstraße, Auto von rechts. Sicher zur anderen Seite, wieder von Läuferschritten verfolgt. Auf keinen Fall will ich mich jetzt noch überholen lassen!

Im Sauseschritt durch die Fußgängerzone, dabei die Parade der wunderschönen Fachwerkhäuser am Marktplatz abnehmend. Keine Augen dafür, brauche volle Aufmerksamkeit, um keinen Fußgänger umzurennen. Am warmen Samstagabend sind die Tische vor den Lokalen voll besetzt. Beifall und Anfeuerung begleiten mich auf diesen vorletzten Metern; auf den letzten wird es wieder menschenleer und still. Ich passiere das Tor der alten Stadtmauer (?) und finde mich auf dem Fußweg vorm Stadion wieder. Sekunden später das Finale auf der Tartanbahn: Flotte, noch erstaunlich kraftvolle Schritte, die mich rasch dem Zieltor entgegen tragen. Natürlich habe ich mir in den letzten Minuten ein zugleich motivierendes und realisierbares Ziel gesetzt: Unter 5:40 Stunden bleiben! In der Schlusskurve noch ein Blick auf die Uhr: Es wird gelingen. Die wirklich allerletzten Meter erleichtern mir Sybilles und Adams Kampfgeschrei und dann renne ich im 102. Ultralauf glücklich und zufrieden durchs Ziel.

 

 

Ergebnisse:

Sybille: 4:38:19 h, Gesamtplatz 2 bei den Damen

Adam: 4:37:04 h, Gesamtplatz 7 bei den Männern

Ramin*: 4:36:07 h Gesamtplatz 6

Cornelius: 5:24:21 h, Gesamtplatz 24

Udo: 5:38:21 h, Gesamtplatz 30

*) Ramin ist ein liebenswerter, leider sehr schneller Laufbekannter, den ich demzufolge nur vorm Start kurz begrüßen konnte.

 

 


 

Fazit zur Veranstaltung

Der immense Aufwand der Verantwortlichen in Bretten hat sich gelohnt. Auch im dritten Durchgang war ich frohen Mutes und mit vielen wunderschönen Eindrücken belohnt unterwegs. Die Covid-19-bedingten Restriktionen taten dem Laufspaß keinen Abbruch.

Wie gewohnt fand ich eine bestens vorbereitete und reibungslos durchgeführte Veranstaltung vor. Schade, dass eine Teilnehmerbeschränkung galt, die letztlich dazu führte, dass nur 68 Einzelteilnehmer und 20 Staffeln ins Ziel liefen. Den Veranstaltern wäre die übliche, deutlich höhere Teilnehmerzahl zu wünschen gewesen. Darüber hinaus fielen Corona in diesem Jahr auch die im Rahmen von "Night52" ausgerichteten Kinderläufe und Bewerbe über andere Distanzen zum Opfer. Hoffentlich können die Läufe im nächsten Jahr wieder im üblichen Umfang stattfinden!

Fazit: Gewohnt professionell gemanagter Ultralaufbewerb, der auf meiner persönlichen Todo-Liste ziemlich weit oben gesetzt bleibt!

 


Fotonachweis: Das Bild "Zieleinlauf Udo" stammt von Sybille Mai, alle anderen Fotos: Udo Pitsch

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang