1. März 2020

Nicht ohne Bedenken, aber voller Zuversicht - Neckarufer Marathon 2020

Ein zuversichtliches ‚Geht doch!’ huscht durchs Oberstübchen und das nicht zum ersten Mal. Irgendwie hatte ich mir den Wettkampfauftakt 2020 zäher vorgestellt, vielleicht auch nervige Kommentare von rechts unten erwartet. Doch die im Trainingsalltag häufig nörgelnde Patellasehne hält einstweilen die Klappe. Mein Tempo hat sich bei mühelosen sechs Minuten für jeden der inzwischen abgehakten drei Kilometer eingependelt. ‚Geht doch!’ denke ich erneut, widerspreche mir diesmal allerdings postwendend: ‚Absolut voreilig! Woher willst du wissen wie’s ausgeht?’ Langstrecklers Binsenweisheit: Ein Marathon beginnt bei Kilometer 30 erst richtig! Vorher ist nichts entschieden. Wie viele hundert Marathons muss ich noch laufen, bis ich vorschnelle Prognosen unterlasse? Vermutlich ist mein Anfangstempo tatsächlich zu forsch. Und mit einiger Wahrscheinlichkeit werde ich meinen Tempoleichtsinn auf den finalen Kilometern bereuen … vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Und dieses „Vielleicht“ in Tateinheit mit angeborener Sturheit lässt mich erst einmal ungebremst weiterlaufen - nicht ohne Bedenken, aber voller Zuversicht …

---

Läufer laufen ganzjährig. Aus diesem Grund beginnt ihr Laufjahr, wenn sie am Neujahrsmorgen erwachen, spätestens ein paar Stunden oder Tage danach. Ich empfinde das anders. Mein läuferisches Neujahrsfest begehe ich am Tag des ersten Wettkampfs. Zwei volle Monate habe ich in diesem Jahr wettkampffrei verstreichen lassen. Wegen notorischer Laufunlust im Winter - zumindest was lange Strecken angeht. Laufunlust, die in der Abneigung gegen eisige, schneereiche, kurzum: eklige Verhältnisse wurzelt. Solche Witterung fand in diesem Winter weitgehend nicht statt - verschoben wegen Klimawandel. Aber Planung ist nun mal Planung und die sieht mein Debüt heute vor, am 1. März, hier in Stuttgart, am Neckarufer.

Es gibt noch einen zweiten Grund für die lange Wettkampfpause seit Mitte November: Ich nenne es „Refreshing“ oder „Rekultivierung“. Teilziele eins und zwei der Rekultivierung: Bei geringen Wochenumfängen mit Tempotrainings an der Verbesserung meines Laufstils und der infolge vieler langsamer Ultras darbenden Grundschnelligkeit arbeiten. Teilziel drei: Diese Zeit auch nutzen, um mit Nachdruck die Eliminierung lästiger Zipperlein zu betreiben. Während sich hinsichtlich „eins“ und „zwei“ in altersgemäßem Umfang Erfolge einstellten, steht es im Duell zwischen „Zipperlein“ und mir noch unentschieden. Seit letztem Sommer klage ich über Beschwerden an der Patellasehne rechts. Anfangs nahm ich das Malheur nicht ernst, weil es zeitweise nach Selbstheilung aussah. Im Herbst trug ich das Problem in die Praxis meines Sportarztes. Seitdem mühen wir uns zu zweit dem „Übel“ abzuhelfen. Mit wenig Erfolg zunächst. Als der liebe Doktor vor ein paar Wochen das Wort „Knie-OP“ in den Mund nahm, verlor ich die Nerven. Ich startete eine „Großoffensive“, die in meiner Kriegs- … äh … Verletzungsgeschichte ihresgleichen sucht: Umschläge mit Retterspitz oder Quark, Einreibungen, Dehnübungen täglich, exzentrisches Krafttraining auf zweierlei Art, Selbstmassagen des betroffenen Gewebes, Verbesserung des Nährstoffangebots. Die Sehne zeigte sich alsbald „beeindruckt“, weswegen ich hier am Neckarstrand mit einer Erwartung antrete, die ich als „nicht ohne Bedenken aber voller Zuversicht“ beschreiben würde.

Vor einem Jahr war ich schon einmal hier. Vom Veranstalter wurden keine Veränderungen vorgenommen: Identische Strecke und Abläufe. Lediglich das Wetter und meine Verfassung weichen von den letztjährigen Verhältnissen ab. Kurz vorm Start, gegen neun Uhr, scheint die Sonne aus intensiv blauem, schwach bewölktem Himmel. Das mit der Sonne ist leider nur äußerlich. In mir drin regiert … keine Ahnung was. Wie stets in den letzten Jahren fühle ich mich vorm Start seltsam „leblos“. Nicht das mindeste Empfinden von Frische, keine Aufregung, sogar ein Quantum Gleichgültigkeit mit Blick auf die vor mir liegenden, mit Laufschritten zu füllenden Stunden. „Corona“ grassiert gerade. Riefe jetzt jemand spontan die Absage des Rennens aus, wäre ich enttäuscht und genervt. Weil ich umsonst so früh aufgestanden, sinnlos so weit gefahren wäre und überflüssigerweise in Laufkleidung hier rumstünde. Aber nicht, weil ich nicht laufen dürfte. Mit dieser Konsequenz käme ich noch am besten klar. Mir zu unterstellen ich hätte keine Lust zum Laufen, der Schuss ginge allerdings auch daneben. Mein üblicher „Vorstart-Zombie-Habitus“ hat seinen Ursprung vermutlich in der Tageszeit: Vormittag! Vormittags, vor allem in den Stunden bis 10 Uhr morgens, nehme ich nur bedingt am Leben teil. Brauche überaus lange, um auf Touren zu kommen, schätze tausendfach wiederholte Routinen, ergreife nach Möglichkeit vor kreativen Aktivitäten jeder Art die Flucht.

Ramin taucht plötzlich neben mir auf. Die Überraschung weckt Lebensgeister und hellt mir den ohnehin sonnigen Tag weiter auf. Ramin ist immer gut drauf. Und der um einiges jüngere, mit weit mehr Rasanz laufende Ramin hat einen Narren an mir gefressen. Weiß nicht seit wann, erst recht nicht wieso. Ist mir letztlich auch egal. Wie gerne erinnere ich mich an unsere 57 Kilometer lange gemeinsam Runde um Stuttgart („RunMob Rössleweg“, November 2017), auf der Ramin seine Tempoambitionen zurückstellte und mir den Hasen machte! Heute bleiben uns zum Gedankenaustausch nur ein paar Minuten vorm Start. Mein Laufbericht büßt sicher keine Spannung ein, wenn ich vorwegnehme, dass zwischen Ramins und meinem Zieldurchlauf viel Wasser den Neckar hinunter fließen wird (Ramin: Gesamtplatz 8, nach 3:20:04 Stunden)!

Abschied von Ramin, verbunden mit gegenseitigen guten Wünschen, Startschuss und ab …

---

Vier Kilometer gelaufen, einmal mehr richte ich den Blick auf das trübe Grüngrau des Neckars. Wie mit dem Lineal gezogene Uferlinien hinter winterlich blattlosem Gehölz vermitteln den Eindruck einem Kanal zu folgen. Begrünte, aufgeräumte, mehr oder weniger steil ansteigende Ufer - der Mensch ließ dem Fluss kaum Spielraum. Mensch und Fluss streiten sich ums Terrain im vielerorts engen Tal. Der eine will fließen, der andere wohnen, arbeiten und verkehren. Verkehren auf ufernahen Wegen, Straßen und Gleisanlagen der Stuttgarter Straßenbahn. Die meiste Zeit obsiegt der Mensch, hält die Fluten hinter Bollwerken zurück. Aber manchmal, wenn der Himmel tagelang seine Schleusen öffnet und Sintfluten von überall her zusammenströmen, dann begehrt er auf, der Fluss. Steigt und steigt. Nicht, dass ich das je gesehen hätte, doch anders kann es nicht sein. Wo sonst sollte sich das Wasser sammeln, um flussabwärts durch die in Jahrmillionen gegrabene Schlucht abzufließen? Und ich frage mich, was in diesen dramatisch zugespitzten Stunden und Tagen geschieht. Wie es dann hier aussieht? Wie hoch der Pegel steigt? Wohin er sich ergießt, der Fluss, wenn er über seine Ufer tritt, wen er heimsucht und schädigt?

Strömendes Wasser hat mich schon immer beeindruckt und in seinen Bann gezogen. Das musste kein Rhein, keine Mosel oder Neckar sein. In frühesten Kindheitserinnerungen sehe ich mich in kurzer Hose, meiner Schuhe und Strümpfe entledigt, in fließendem Wasser stehen. Da gab es einen Bach, der uns Erstklässler nach Schulschluss auf dem Heimweg magisch anzog. Füße kühlen, Steine schmeißen, Dämme bauen. Wasser stauen, kanalisieren, umleiten - was für eine Gaudi!

Gedankliche Ehrfurcht vor fließendem Wasser hat keinen Bestand. Weil ich schwitze. Und der Saft rinnt, weil ich es in dümmlicher Unachtsamkeit versäumte mich der zu erwartenden Wetterlage entsprechend und von Vernunft beseelt zu kleiden. Stattdessen trage ich eine zu dicke Longtight, ein wärmendes Unterhemd, darüber eine gleichermaßen wärmende Laufjacke, Fleecehandschuhe und den Kopf warm in eine Mütze gehüllt. Kaum zu glauben, dass es Knalltüten gibt, die vor ihrem 266. Marathon und weiter solche Anfängerfehler begehen!? Der Reißverschluss der Jacke steht längst auf Halbmast. Streife nun auch die Handschuhe ab und stopfe sie in die Jackentaschen. Fühle mich jetzt besser belüftet, erleichtert, dennoch nehme ich mir vor reichlich zu trinken.

In Großstadtnähe hat es Idylle schwer, auch am Flussufer. Allenfalls Spuren davon erfreuten da und dort das Auge. Ab hier definitiv nicht mehr. Rechts Gewerbeansiedlungen und im hier breiteren Flusslauf schiebt sich ein Wehr mit Schleusenanlage ins Blickfeld. Beton wohin man blickt. Im vorigen Jahr waren neue Schleusenkammern im Bau. Die sind zwar nun geflutet, die Bauarbeiten scheinen aber noch immer nicht abgeschlossen zu sein. Ein paar Meter weiter wechseln wir die Flussseite. Die inzwischen lockere, vielfach unterbrochene Kette von Läufern nutzt dazu das über die Staumauer führende Sträßchen. Sofort weht ein lebhaftes Lüftchen von der Seite. Offenbar hatten wir bisher Rückenwind. Daran, was das für die nächsten Kilometer in Gegenrichtung bedeutet, will ich gar nicht denken.

Am gegenüberliegenden Brückenscheitel erwartet mich flüssige Labsal. Hastig kippe ich mir einen vollen Becher hinter die Binde, während ein Helfer meine Startnummer notiert. Ich bedanke mich und trabe auf schmaler Rampe hinab zum Uferweg. Was ich fürchtete bewahrheitet sich nicht. Zwar zwickt kalte Morgenluft nun spürbar in freie Hautpartien, doch von „Gegenwind“ zu sprechen wäre übertrieben. Eine ganze Weile empfinde ich das von der offenen Jacke und bloßen Händen begünstigte Auskühlen sogar als angenehm. Vielleicht haben wir Glück und bleiben von den in der E-Mail des Veranstalters „angedrohten“ Windeskapaden verschont!?

Weitgehend „vereinsamt“ trabe ich auf dem Uferweg gen Südwesten. Wie im Vorjahr zerfiel der ohnehin bescheidene Schwarm von etwa 160 LäuferInnen* bereits auf den ersten Kilometern in Grüppchen, Tandems und Einzelwesen. Zu einem der Tandems laufe ich gerade auf. Zwei Herren in gesetztem Alter. Einer stoisch fokussiert, der andere eher unstet und locker laufend, dabei interessiert seine Umgebung musternd. Lasst mich raten: Letzterer macht Ersterem den Hasen. - Ich überhole das Duo mit konstanter Pace. Habe mir etwa zwanzig Meter Vorsprung erarbeitet und die beiden fast schon vergessen, als sich auf dem Neckar ein Transportschiff ins Blickfeld schiebt. Gelegenheit für ein aussagekräftiges Foto: Läufer im Vordergrund, Fluss und Schiff als Kulisse!

*) Für den Lauf besteht ein Teilnehmerlimit von 170 Voranmeldern.

Als ich das Duo neuerlich überhole kommentiert der „Hase“ meine Fotosession: „Ich dachte erst du wolltest den ältesten Läufer fotografieren. Dabei ging es dir nur um’s Schiff!“ - Ungewohnt schlagfertig entgegne ich: „Den Ältesten? Da hätte ich ja ein Selfie schießen müssen!“ Darauf er: „Na 67 wirst du kaum schlagen können!“ - Dass es bei mir zu immerhin 66 Lenzen reicht, überrascht ihn dann doch. Für gewöhnlich schätzt man mich jünger als ich tatsächlich bin. Intensiv werde ich im Profil gemustert und im sich entspinnenden Gespräch schwingt Erstaunen in seiner Stimme mit. - Vielleicht habe ich mich getäuscht und die „beiden Herren im gesetzten Alter“ gehören doch nicht zusammen!? Mit jedem Satz unseres Dialoges fällt der stoisch Fokussierte weiter zurück … Irgendwann entsinnt sich mein zeitweiliger Laufpartner dann doch seiner Pflicht, murmelt Unverständliches zum Abschied und lässt sich zurückfallen.

Über einen architektonischen Hingucker ersten Ranges, den nüchtern als „Fußgängerbrücke“ zu bezeichnen fast einer Beleidigung gleichkäme, wechsele ich wieder die Uferseite. Die ersten anderthalb Kilometer des Hinweges bringen mich zurück in den Start-Ziel-Bereich. Kurzer Halt für einen Becher Wasser, dann weiter und vorbei an der 10 Kilometer-Marke: Knapp 59 Minuten sind seit dem Start vergangen. Der nächste Kilometer bildet in doppelter Hinsicht eine Ausnahme: Bisher und weitestgehend auch bis zum Ende der Runde hält sich die Route dicht am Flussufer. Nun beschreibt sie einen Schlenker durch die Parkanlagen zwischen Max-Eyth-See und Neckar. Sinn dieser Schleife, zu der auch eine Mini-Wendestrecke von vielleicht zehn Metern gehört, ist es den Kurs auf volle und exakte Halbmarathondistanz auszudehnen. Ein paar hundert Meter jogge ich über gepflasterte Parkwege, zwischen Buschwerk und Trauerweiden. Misstrauisch beäugen ein paar Graugänse meinen Weg, unterbrechen das Zupfen zaghaft sprießender Halme auf bereits ergrünten Wiesen.

Täusche ich mich oder hat die Morgensonne in diesem Jahr erheblich mehr frühe Besucher - Spaziergänger, Jogger, Radler - in den Park und ans Neckarufer gelockt? Mehrfach hatte ich erwogen unsere Hündin Roxi auf einem Abschnitt mitzunehmen. Angesichts der vielen Wettkampffremden, besonders der ohne lange Vorwarnzeit auftauchenden Radfahrer, schätze ich mich glücklich diese Idee verworfen zu haben. Die Strecke hat zwar kaum Kontakt zu Straßen, eignet sich dennoch nicht zum Hundefreilauf. Und anders als freilaufend bringen Roxi und mir gemeinsame Läufe keinen Spaß.

Fußgängerbrücke Nummer zwei schickt mich erneut zur anderen Uferseite. Die schwingt sich nicht weniger kühn und elegant über die Fluten als ihr Pendant flussabwärts. Am engmaschigen Zaun des Brückengeländers verewigten Stuttgarter Liebespaare ihren Treueschwur. Als könnten eingravierte Namen auf einem Vorhängeschloss Kraft und Nachhaltigkeit von Gefühlen bewahren. Nicht mehr als ein hübsches Symbol, ein zusätzliches Versprechen, die Öffentlichkeit als Zeugen nehmend. Hand in Hand hier angebracht, versperrt und anschließend den Schlüssel mit gemeinsamem, hoffnungsvollem Wurf im Fluss versenkt. Ein Kuss dürfte den feierlichen Akt jeweils besiegelt haben. So jedenfalls würde ich die Zeremonie gestalten. Nimmt man die Zahl hinterlassener Schlösser als Anhalt, dann dürfte es auf Stuttgarter Flur kaum einen Ort geben, an dem sich Menschen häufiger im Kuss vereinten …

Reben bedecken den steilen Abhang zu meiner Rechten. Der Fluss beschreibt hier eine sich über mehrere Kilometer hinziehende S-Kurve. Obschon durch Stuttgart laufend, vermögen die Augen an dieser Stelle des tief eingeschnittenen Neckartales nur vereinzelt Wohn- oder Gewerbebebauung einzufangen. Kaum eine andere Großstadt in Deutschland dürfte sich ähnlich zergliedert und zerstückelt über Höhen und Täler erstrecken wie Stuttgart. Ich reihe mich hinter einer bezopften Amazone ein. Weil ihr Tempo passt, sie überdies meine Streckenfotos mit weiblichen Rundungen ergänzen kann. Kilometer 11, 12, schließlich 13: Bislang hatte ich keine Mühe meine Pace zu konservieren. Das wird sicher noch eine Weile so bleiben, auch wenn ich unterdessen in der Phase „Beine spüren“ angekommen bin. „Beine spüren“ bedeutet: Noch mühelos Tempohalten, aber nicht mehr „überspüren“ können, dass bereits einige Kilometer unter den Sohlen vorbei zogen.

Nach wie vor folge ich der Dame mit dem blonden Zopf, auch wenn ich es nicht bewusst darauf anlege. Die Distanz zwischen uns wächst mal um ein paar Meter, dann schrumpft sie wieder. Ideal für jemanden, der seine Eindrücke vom Lauf in Bildern festhält. Hauptsächlich erfreuliche Eindrücke, wie etwa die immer wieder mal durch die Wolken brechende Sonne oder sehr zeitig blühende Sträucher. Wobei Letzteres der fatalen Erderwärmung geschuldet ist und Freude eigentlich nicht verdient. Sei’s drum: Wie sicher viele andere auch leiste ich (m-)einen Beitrag, um die drohende Klimakatastrophe aufzuhalten. Warum sollte ich mir darüber hinaus die Freude über verfrühte Frühlingsboten versagen?

Ein Ruderachter prescht mit beachtlicher Schlagzahl auf Gegenkurs vorbei. Und ehe ich die Kette „Wahrnehmung - Kamera schussbereit machen - anvisieren - auslösen“ auf die Reihe kriege, ist das 1a-Motiv schon hinter meinem Rücken verschwunden. Es wird nicht das einzige Ruderboot bleiben, doch in keinem Fall wird es mir gelingen die Wassersportler einzufangen.

Weder Frau Blondzopf noch ich können gemeint sein: Wen oder was der unbekannte Sprüher im Sinn hatte, als er den Brückenpfeiler verzierte, bleibt mir auch in diesem Jahr verborgen. „Rakete“ steht da, in riesigen roten Lettern. Vielleicht nimmt „Rakete“ Bezug auf das Kraftwerk, an dem wir gerade vorbeilaufen? Ein Heizkraftwerk, wenn ich mich im Vorbeihuschen an der aufgestellten Infotafel nicht verlesen habe. Offensichtlich also Strom und Fernwärme aus verbranntem … ja, was eigentlich? Auf der Tafel meine ich einen Greifer mit Müll erkannt zu haben. Vermutlich also eine Müllverbrennungsanlage. Keine erbauliche Vorstellung für einen Lungenatmer, dessen Vertrauen in Filteranlagen von Müllöfen nicht allzu stark ausgeprägt ist. Emission „null“ hat es noch nie gegeben, gibt es aktuell nicht und wird es vermutlich auch nie geben. Menschliche Riechzellen zumindest scheinen mit dem Ergebnis der Rauchgaswaschung des Kraftwerks zufrieden zu sein …

Der Umkehrpunkt der südlichen Schleife kündigt sich an. Ein paar hundert Meter voraus, am Gegenufer, erkenne ich bereits die Konturen des Stuttgarter Theaterschiffs und unweit dahinter die Wilhelmsbrücke, die mich in Kürze zur anderen Seite bringen wird. Spontan steigt die Spannung. Weniger der Verpflegungsstelle wegen, die ich alsbald, noch am diesseitigen Ufer, erreiche. Irgendwo hier im Ortsteil Cannstadt wird meine Frau Ines auf mich warten. Nachdem sie mich im Startbereich abgesetzt hatte, fuhr sie weiter, um irgendwo zu frühstücken. Ich lasse meine Augen schweifen … vor der Brücke: Keine Ines. Auf der Brücke: Erwartbar auch keine Ines. Hinter der Brücke: Weit und breit keine Spur von meiner Frau. Ich blicke angestrengt in Laufrichtung: Immer noch nichts … Kurz darauf verstehe ich, weshalb ich Ines nicht früher ausmachen konnte: Sie trägt ihren langen, dunkelblauen, sonst nur zu Hundegassis genutzten Regenmantel, der ihre meinen Augen vertraute Silhouette beinahe unkenntlich verhüllt. Man übersieht, was man sucht, wenn es dem erwarteten Bild nicht entspricht. Sogar die eigene Frau, wenn sie sich in Farbe oder Stil abweichend kleidet. Außerdem ging ich davon aus, dass unsere Hündin Roxi, das Suchbild zu trauter Sechsbeinigkeit ergänzt. Aber Roxi fehlt …

Kurzer Halt, ein spitzes Küsschen, Sätze zum zwischenzeitlich Erlebten fliegen hin und her. Roxi sitzt zwanzig Meter abseits der Strecke. Ines hat sie mit der Leine an einem Pfahl fixiert. Wenn man mit einem Hund so lange zusammenlebt wie wir mit Roxi, glaubt man jedes Verhalten seines Vierbeiners in allen erdenklichen Situationen zu kennen. Wahrscheinlich ist diese Auffassung schon allgemein im Bezug auf die Spezies Hund nicht haltbar. Auf Roxi im Besonderen trifft sie jedenfalls nicht zu. Denn eigentlich, wie bisher stets unter ähnlichen Umständen, sollte sie jetzt Alarm schlagen. Lauthals bellen, sich ungeduldig gebärden und in die Leine stemmen. Signalisieren mithin, dass sie in gemeiner Weise zurückgelassen wurde … Und was macht Roxi? Nichts dergleichen. Sitzt unbeweglich da und fixiert uns aus dunklen, unergründlichen Augen.

Die letzten Häuser von Cannstadt bleiben hinter mir zurück. Den folgenden Kilometer, den Neunzehnten, traben die Füße auf schmalem Trottoir zwischen Straße und Fluss herunter. Rechts von mir, jenseits der Straße, steigt das Terrain steil an. Auf schmalen Hängeterrassen gedeihen Rebstöcke. Wie in Bataillonsstärke angetretene Soldaten bedecken sie den etwa hundert Meter Höhenunterschied überwindenden Hang. Da und dort recken kleine Gerätehäuschen ihr Dach gen Himmel. Ein Exemplar buhlt in malerischer, wie frisch renoviert wirkender Aufmachung um meine Gunst. Seinem Besitzer ist es offenbar gelungen, die ursprünglichen, von Fachwerk durchzogenen Mauern zu erhalten. Fluss und Rebterrassen, eine Handvoll Läufer, vereinzelt Passanten, die uns teils applaudierend entgegen kommen - nichts erinnert auf diesem Teil des Kurses an die nahe Großstadt.

Gegenwärtig komme ich aus Südost und trabe in nordwestliche Richtung. Der Wind hat gewaltig aufgefrischt, fegt über den Neckar heran und rüttelt mich von der Seite her durch. Meine morgendlichen Wetterillusionen lösen sich im wahrsten Sinne des Wortes in böige Luft auf. In ein paar Minuten, hinter dem Neckarknie werde ich Windunterstützung bekommen. Aber nur für etwa sechs Kilometer bis zum Ende der Nordschleife und dann …

Die Straße beschreibt eine Kurve und gewinnt an Höhe. Unser Fußweg zweigt im spitzen Winkel ab, bleibt dem Neckarufer verbunden. Auf dem Gelände des Ruderclubs herrscht rege Betriebsamkeit. Boote werden bestiegen oder verlassen, Riemen aus den Dollen gehoben und auf den Schultern von Ruderern zum Bootshaus getragen. Auffällig viele Frauen scheinen diesen Sport zu betreiben. Wieso nehme ich von so etwas Selbstverständlichem wie Sport treibenden Frauen überhaupt Notiz? - Vermutlich liegt das am Image, mit dem sich der Rudersport in meinem Kopf verewigte; am Bild von Männern mit schrankbreiten Schultern, stammdicken Armen und muskelbepackten Oberschenkeln. Ein Bild, das so gar nicht zum eher anmutig weichen Frauenbild in eben demselben Kopf passen will. Scheint so, dass ich mein Frauenbild in dieser Hinsicht korrigieren muss.

Ich nehme den Schlusskilometer von Runde eins unter die Sohlen. Mental wurde es nach der Hälfte der Strecke stets einfacher. Egal wie lang die verbleibende Hälfte auch sein mochte. So kenne ich es. Vorfreude darauf, den zweiten Teil nun bald in Angriff nehmen zu können, will sich dennoch nicht einstellen. Seit geraumer Zeit spüre ich Müdigkeit, die sich schleichend, wie heimtückisches Gift meiner Beine bemächtigt. Die anfänglich vage Aussicht final einen harten Strauß ausfechten zu müssen, wandelt sich Schritt um Schritt zur sicheren Erkenntnis. Mindestens eine „Vorhölle“ werde ich durchqueren müssen, will ich mir heute eine Finishermedaille umhängen lassen!

Rote Klinkerplatten so weit das Auge reicht, sanft aufwärts, dann etwas forscher hinab in Richtung Max-Eyth-See. Diesen dunkelroten Augenschmeichlern unter meinen Füßen traue ich nicht! Mit der Zeit hat sich der Untergrund unterschiedlich stark gesetzt. Es bildeten sich Wellen im Pflaster, da und dort klaffen Fugen. Die Angst zu stürzen begleitet mich ohnehin ständig, nicht zuletzt auch auf augenscheinlich harmlosem Geläuf. Nur scheinbar widersinnig, denn auf holprigen Wegen und Trails bewege ich mich ohnehin hochkonzentriert vorwärts, meisterte sie regelmäßig ohne Stolperer. Minimale Erhöhungen - Steine, Schwellen, Kanten - in ansonsten ebenem Untergrund brachten mich dagegen mehrmals zu Fall. Zuletzt in Berlin auf der 100 Meilen-Runde des Mauerweglaufs.

Elf Uhr vormittags und mein Laufweg gleicht einem Slalom um zahlreiche Spaziergänger. Zu kindlichen „Slalomstangen“ halte ich weiten Abstand. Mehrmals erlebt: Ein spontaner Gedankenimpuls und schon schert so ein „laufender Meter“ zur Seite hin aus … Noch zweihundert Meter bis zum Halbmarathon-Zwischenziel und jetzt freie Bahn … oder doch nicht? Eine Graugans tippelt vom Rasen auf den Weg, quer zu meiner Laufrichtung … und tippelt … und tippelt … sehe ihr ins kleine Auge … die muss mich doch auch sehen!? … und hat mein zentnerschweres Lebendgewicht auf großen Füßen gefälligst zu fürchten! … offenbar nicht … in letzter Sekunde korrigiere ich minimal meinen Kurs und zische haarscharf am möhrengelben Schnabel vorbei. Von meiner Frau und meinem Hund abgesehen, werde ich heute wohl keinem lebenden Wesen mehr so nahe kommen!

Vorm Vereinshaus der DLRG - vom 100 Marathon Club heute als „Start-Ziel-Location“ genutzt - tickt die offizielle Uhr. 2:08 Stunden attestiert sie mir beim Überlaufen der Matte. Von wegen „Backen kleinerer Brötchen“ und so, bin ich mit der Zwischenzeit zufrieden. Allerdings weniger mit dem Umstand wie tief ich meine Energiedepots auf halber Strecke schon entladen musste. Meine Beine sind bereits müde und erste charakteristische, von der Belastung verursachte Beschwerden stören auch schon. Zu früh! Viel zu früh! In den letzten Tagen hatte ich mich vergleichsweise geschont, hoffte nach diesem „angedeuteten Tapering“ den ersten Marathon des Jahres langanhaltend locker runtertraben zu können. Zumal ich mich mit einer Zielzeit zwischen 4:15 bis 4:30 Stunden zufrieden geben wollte. So wird es nicht kommen! Meine Hoffnungen zerbröselten gegen Ende des ersten Umlaufs und die Brösel verweht der Wind …

Spekulationen schießen ins Kraut - „Ursachenforschung“ - während ich am Ufer nordwärts Kurs und Tempo unbeirrt halte. War die Pace der ersten Runde doch zu schnell? Zu schnell für Quantität oder Qualität meines bisherigen Trainings? Anlässlich der langen Läufe der letzten Wochen - ungefähr mit gleicher Intensität absolviert wie heute - setzte mein Körper ausnahmslos dasselbe Drehbuch in Szene: Frühzeitig einsetzende Erschöpfung und schmerzende Gräten schon vor der 20 Kilometermarke. Im Unterschied zu heute jedoch am Ende einer jeweils harten Trainingswoche. Habe ich vielleicht einen Tag im Formtief erwischt? Mit Gewissheit lässt sich diese Frage nie beantworten. Ausgesprochen „bombig“ kann meine Tagesform jedenfalls nicht sein, so viel steht fest. Außerdem werde ich das Gefühl nicht los, dass die viel zu warme Hülle um meinen Leib Leistung frisst. Sicher eine eher mentale als physische Hemmung, aber das kommt aufs Selbe raus.

Rückenwind unterstützt mein Vorwärtskommen. Dass er hilft, schließe ich aus der Tatsache keinen Luftzug zu spüren. Nullkommanull Fahrtwind, was sich auch durch vermehrtes Schwitzen ausdrückt. Am liebsten risse ich mir auch die Mütze vom Kopf, traue mich dann aber doch nicht. Mich infolge unvorsichtigen Verhaltens zu erkälten wäre im ohnehin beinharten „Geschäft“ des Trainingsaufbaus der GAU, der größte anzunehmende Unfall. Dann doch lieber schwitzen und Laufleistung verschwenden. Dünnes Erlengebüsch behindert zuweilen die freie Sicht zum Fluss. Keine Läuferseele weit und breit voraus. Ich hake die schon bekannten Abschnitte ab, bewege mich schlussendlich auf das Wehr mit Schleuse und Überweg zu. Eklig, böiger Seitenwind empfängt mich auf dem Sträßchen zur anderen Flussseite. Droht an, wogegen ich nun auf den nächsten Kilometern werde kämpfen müssen …

Und genau so kommt es: Steter Winddruck auf der Brust, nur abschnittsweise von Bebauung oder Vegetation unterbrochen. Immer wieder branden Böen heran, lähmen augenblicklich meine Laufwerkzeuge. Natürlich nehme ich Tempo raus - zumindest empfinde ich es so … Kontrollieren kann ich das leider nicht mehr. Meiner exorbitant guten Vorbereitung ist geschuldet, dass ich mit fast leerem Akku den Lauf antrat. Für die erste Runde reichte es noch, dann legte sich meine finnische Mitarbeiterin, Fräulein Suunto, schlafen …

Erste Fußgängerbrücke - für ein paar Schritte drehe ich dem Wind die Seite zu, laufe unbedrängt, registriere nicht einmal die Steigung gen Brückenscheitel. Jenseits hinab und wieder gegen den blasenden Feind anrennen … Ich stöhne mit Inbrunst. Lange Zeit nur in Gedanken, also lautlos. In Höhe des Start-Zielbereiches dann unüberhörbar in Ines’ Ohren: „Booaaah, ich bin schon so müde!“ Den Wind erwähne ich gar nicht, das nimmt mir Ines mitfühlend ab: „Muss schlimm sein, der ständige Gegenwind!?“

An der Verpflegungsstelle werfe ich mir das letzte von drei Gels ein. Reichlich früh, elf Kilometer vor dem Ziel. Auf wachsweichen Beinen bleibt mir allerdings keine Wahl. Will mir von ein paar Zuckerkalorien „bald“ und dann für vielleicht 20 Minuten helfen lassen. Und danach? Danach liegt wahrscheinlich die Gegenwindpassage hinter mir (wenn der Wind nicht in bösartiger Manier die Richtung ändert). Und auf den letzten Kilometern mobilisiert hoffentlich das nahe Ziel letzte Reserven.

Schikanöser Schlenker im Park am Max-Eyth-See. Wo lange Laufspaß meine Beine antrieb, regieren jetzt nur noch Kampf und der dringende Wunsch es möge bald vorbei sein. Die zweite Fußgängerbrücke baut sich als kapitales Hindernis vor Sisiphos auf. Außer Steigung wehrt zusätzlich Wind den Schritten. Quälend langsam rolle ich meinen Felsen zur Brückenmitte empor. Keine romantische Anwandlung mehr, nehme nicht mal mehr Notiz von den Liebesschwüre dokumentierten Vorhängeschlössern. Es ist wie es immer ist, wenn mein Körper bis zum Äußersten gefordert wird. Alles Empfinden speist sich aus jaulendem Fleisch und verbliebenes Denken kreist zur Gänze ums ersehnte Finish …

Noch drei Kilometer bis zum letzten Richtungswechsel, vom Gegenwind ist kaum noch etwas zu spüren. Leichter wird es dadurch nicht mehr. Zweifel dieses Tempo - wie hoch es derzeit auch sein mag - bis ins Ziel durchzuhalten stellen sich aber auch nicht ein. Ich habe noch energetische Reserven, auch wenn es sich zunehmend schmerzhafter anfühlt sie zu mobilisieren. Theaterschiff voraus, über den Buckel im Weg vor der letzten Verpflegungsstelle, dort greife ich zu Cola. Schmeckt besser als Wasser, löscht prickelnd den Durst - zumindest in Teilen -, enthält überdies fünfeinhalb Zuckermoleküle, eins für jeden der verbleibenden fünfeinhalb Kilometer.

Über die Brücke und in Gegenrichtung zurück. Traben, traben, aushalten, aushalten, nicht dran denken wie schwer das ist und wie weh es tut … Vorwärts. Tempo halten! Langsamer zu laufen bringt nichts. Im Gegenteil: Tut genauso weh und dauert obendrein länger. Zusammenhanglose Gedanken quellen im Kopf, eigentlich nur Fetzen davon. Zumeist wabert Sinnloses durch die Hirnrinde. Als hätte ich den Verstand verloren. Ich erlebe das nicht zum ersten Mal. Für klare, zielgerichtete Gedanken fehlt es an Kraft und Konzentration. Aber das Hirn ist in Betrieb, wird mit Blut und Sauerstoff versorgt, schickt elektrische Impulse über Nervenbahnen, muss irgendetwas denken: Eben diese Schnipsel ohne Sinn und Zusammenhang …

Weinberge rechts, Neckar links, böiger Seitenwind, der mir in seiner Intensität allerdings reduziert vorkommt. Die Restdistanzen scheinen sich auf heimtückische Weise zu dehnen. Wann endlich kommt das Bootshaus vom Ruderclub? Und als ich es erreicht habe: War das vorhin auch schon so weit bis zur Brücke da vorne? Noch zwei Kilometer … Unter der Brücke hindurch und dann über die teuflisch roten Klinker. Aufpassen! Füße hoch! Du bist erschöpft! Mach jetzt keinen Fehler! Final blendet meine Wahrnehmung alles aus, was nicht mit dem Laufweg zu tun hat. Bloß nicht stolpern und vorsichtig alle (menschlichen) Slalomstangen umkurven. Noch 500 Meter … die letzten 200 … und dann ist es gottlob geschafft!

---

Bei 4:18:18 Stunden bleibt die Uhr für mich stehen. Nach 2:08 Stunden für Runde eins, war ich im zweiten Umlauf erstaunlicherweise nur zwei Minuten länger unterwegs. Angesichts der im Kilometertakt wachsendern Erschöpfung und des vermaledeiten Gegenwindes hatte ich damit nicht gerechnet. Musste meiner Schusseligkeit wegen die Temposteuerung komplett dem Laufgefühl überlassen. Ich nehme als erfreulichen „Mehrwert“ die Erkenntnis mit nach Hause, dass antrainiertes Laufgefühl das Tempo auch angesichts Erschöpfung und widriger Umstände weitgehend stabil hält. Auch noch im Herbst meines Läuferlebens.

 

Fazit zur Veranstaltung

Siehe meine Einschätzung aus dem letzten Jahr.

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang