27. Oktober 2019
Seit gut einer Stunde reihe ich Laufschritte aneinander, vollendete inzwischen fünf Runden um den Riemer See im Münchner Osten. Ich lebe den Grundsatz ehrlich zu mir selbst zu sein. Das gilt natürlich auch, wenn ich laufe. Deshalb unternehme ich keinen Versuch mir die Wahrheit schönzureden. Unübersehbar steht sie mir vor Augen, heller als das Licht der Stirnlampe:
„Bis hierher ganz nett, um sich Samstagnacht ein wenig die Füße zu vertreten. Aber jetzt reicht es eigentlich, ich mag nicht mehr!“
Anfänglicher Schwung ist aufgebraucht, was bleibt sind Dunkelheit und Kälte. Wer mich kennt, weiß: Beides mag ich nicht.
Ein Uhr am Sonntagmorgen vorbei, noch knapp zwei Stunden bis zur herbstlichen Zeitumstellung. Ebendieses, laut Umfragen von einer Mehrheit der EU-Bürger* abgelehnte Umschalten von Sommer- auf Winterzeit liegt meinem Hiersein zugrunde. Um drei wird die Uhr auf zwei Uhr zurückgestellt. Reines Menschenwerk, von Physik und Universum ignoriert. Sinnentleertes Menschenwerk? Nachweislich verfehlt die Zeitumstellung das ursprünglich anvisierte Ziel: Stromsparen. Wenn dem aber so ist, wieso schaffen hierzu autorisierte Instanzen den Unfug (?) nicht ab? - Schwierig, weil schon über diese vergleichsweise simple Veränderung Einigkeit zu erzielen das politische Dilemma der Europäischen Union (EU) wie unter der Lupe sichtbar macht: Abschaffen? Ja, aber was dafür einführen? Dauerhaft Sommer- oder für immer Winterzeit? Darüber herrscht Uneinigkeit. Unter anderem, weil - je nach Jahreszeit und EU-Randlage der Mitgliedsstaaten - der Tag zu spät oder zu früh anbräche … Wie dieser Zwickmühle entkommen? - Darüber denke ich später nach - vielleicht. Mehr als drei Stunden in mondlos finstrer Nacht bleiben mir immerhin noch.
*) An der zitierten Umfrage beteiligte sich nur ein verschwindend geringer Teil der EU-Bürger, hauptsächlich übrigens deutsche.
Zur zitierten Wahrheit, die zu verleugnen ich ablehne, gehört auch das: Ich habe den Marathon begonnen, also werde ich ihn bis zum wie auch immer gearteten Ende durchstehen. Aufgeben kenne ich als Vokabel, nicht jedoch als Handlungsalternative. Freiwillig, ohne echte Not, einen Lauf beenden - das verbuchte ich als schmähliche Niederlage. Ein gestecktes (Zeit-) Ziel nicht realisieren zu können dämpft die Freude am Finish. Ein wenig. Manchmal. Mehr aber auch nicht. Doch, dass ich ankommen muss, weil ich meinem ganzen, unbeugsamen Wesen entsprechend ankommen will, steht außerhalb jeder inneren Debatte. Also reihe ich weiter stoisch Schritt an Schritt, auch wenn der Spaß schon aufgebraucht ist …
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Die Idee des Bestzeitmarathons
Der Bestzeitmarathon München wird seit 2012 zum siebten Mal ausgetragen (2018 ausgefallen*). Durch das Zurückdrehen der Uhr verkürzt sich die Laufzeit um eine Stunde. Ein Gag, von der Groundcrew (Veranstalter) als solcher erdacht und zum Nutzen der Timejumper (Marathonis und -as) in Form eines Wettbewerbs ausgetragen. Schmunzeln lassen einen auch die übrigen kursierenden, das physikalische Phänomen der magischen Nacht von München beschreibenden Ausdrücke. Um drei Uhr in sonntäglicher Früh öffnet sich der Zeittunnel und katapultiert die Läufer mittels Zeitsprung zur Bestzeit. Die gleichfalls um Mitternacht gestarteten Halbmarathon- und 10 km-Läufer profitieren von diesem Zeitsprungexperiment leider nicht. Die unglücklichen „Kurzstreckler“ sind einfach zu früh fertig …
*) Möglicherweise ließ sich die „Groundcrew“ von den Diskussionen im Europaparlament zur Abschaffung der Zeitumstellung verunsichern!?
Der Ort des wundersamen Geschehens
In den ersten Jahren öffnete sich der Zeittunnel im Münchner Ostpark, auf kurvenreicher Rundstrecke, die auch mit einigen Buckeln forderte. Im Jahr 2015 zog der Bestzeitmarathon ein paar Kilometer weiter nach Osten um und erwartet seitdem das Zeitphänomen im Riemer Park (auch BuGa-Park genannt, Überbleibsel der Bundesgartenschau 2005). Auf etwa 2,11 Kilometern umrundet man den von Menschenhand geschaffenen Riemer See (20 Runden ergeben einen Marathon), mit seinem geometrisch-eckigen Uferverlauf. Die Wege im Park wurden gleichfalls auf dem Reißbrett geplant. Daher sollte man - streng genommen - die Formulierung „Runde“ vermeiden, stattdessen von einer „Eckigen“ sprechen. Grob vereinfacht beschrieben wird ein Viereck gelaufen, mit zwei langen und zwei kurzen Seiten. Die kurzen Seiten weisen Nord-Süd-Ausrichtung auf. Die start-ziel-ferne kurze Seite besteht im Wesentlichen aus einem zur Mitte hin leicht abgesenkten hölzernen Steg, der eine Ecke des Sees überbrückt. Vermutlich liefert der minimal „durchhängende“ Steg den in der Streckenbeschreibung erwähnten einen Höhenmeter pro Runde. Klartext: Das Ding ist brettflach!
In der spitzwinkligen Nord-Ost-Ecke des Vierecks* steht ein Toilettenhaus; zu BuGa-Zeiten für Gartenliebhaber, anschließend für Parkbesucher, im Sommer für Badegäste - in einer Oktobernacht auch für Läufer. Vor dieser „Lokalität“ residiert die Groundcrew im Start-Zielbereich: Startnummernausgabe, Zeitmessung, Verpflegung, Taschenabgabe im Radius von 30 Metern.
*) Zählt man die Knicke der Langseiten mit ergibt sich ein Siebeneck.
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Aufgalopp
Gegen 23 Uhr stelle ich mein Auto auf bereits gut gefülltem Parkplatz ab. Nach nur einer Stunde störungsfreier Fahrt auf weitgehend ausgestorbenen Straßen. In einer Epoche eruptiv schwellenden, beständig zum Stocken und Erstarren neigenden Individualverkehrs ein Erlebniswert an sich … Weiter unten im Text werde ich meine Anwesenheit rechtfertigen. Als einen der Gründe meinen Körper zur nächtlichen Unzeit mit einem Marathon zu „quälen“ könnte ich die flüssige An- und Heimreise ins Feld führen. Zu weit hergeholt meinst du? Versuche doch mal an einem Freitagnachmittag Deutschland stückweit mit dem Auto zu durchqueren, um die Laufveranstaltung deiner Wahl zu erreichen. Ein Experiment, dem ich mich mehrfach unterzog. Danach wirst du deinen Einwand kleinlaut zurückziehen … Es folgen fünf Minuten Fußmarsch vom Parkplatz zum Domizil der Groundcrew und weitere 60 Sekunden später halte ich bereits mein kleines Startpaket in Händen. So bleibt genug Zeit, um den Timejumper Udo startfertig zu machen.
Gemütlich ist anders. Egal in welche Richtung ich blicke … leere Flächen. Okay, da gibt es das Toilettenhaus, vor dem ich mich umziehe. Aber sonst … nichts an oder auf dem der Blick verweilt, kein Einhegen durch üppigen Bewuchs, alles offen. Das liegt nicht nur an fehlender Sicht. Mehrere Laternen tauchen die nähere Umgebung in fales Licht, schälen ein paar junge, entsprechend „magere“ Bäume aus dem Dunkel. Mehr nicht. Ich fühle mich ein bisschen verloren. Allein der Start-Ziel-Aufbau - eine Art Oase im Nichts - und die mit jeder Minute wachsende Läuferschar verhindern, dass die Leere vollends von mir Besitz ergreift. Die Dunkelheit ist einfach nicht mein Ding. War es nie. Schon gar nicht um diese Uhrzeit. Aufwallende Verzagtheit, die in ein paar Minuten von mir abfallen wird … sobald meine Beine sich im Laufschritt bewegen dürfen.
Ich geselle mich zur startbereiten Läuferschar, schaue mich um, atme die Atmosphäre dieser Minuten. Offensichtlich erstickt das schwarze Tuch Lichtlosigkeit auch den Enthusiasmus anderer LäuferInnen. So still ist es sonst nie vor einem Marathonstart. Keine lauten Gespräche, kein überschäumendes Lachen … Man redet eher leise miteinander, zeigt verhaltene Zeichen von Freude oder guter Laune. Schließlich stelle ich mich ins hintere Drittel des etwa 150 Köpfe zählenden Feldes. Dann: Mitternacht - das Spiel beginnt, der Tross setzt sich in Bewegung …
Defizite
Schon in der zweiten Runde bin ich weitgehend alleine unterwegs. Auf noch unbeanspruchten Beinen, die mir bei jedem Schritt weismachen wollen, wie einfach dieser Marathon werden wird. „Locker vom Hocker“, „alles easy“ … musst dich nur irgendwie beschäftigen während der nächsten viereinhalb Stunden. Zwar weiß ich, dass meine Beine - wie üblich - lügen, dass der Marathon zumindest kein Spaziergang werden wird. Aber „irgendwie beschäftigen“ muss ich mich tatsächlich. Schon in dieser zweiten Runde sind die wenigen optischen Eindrücke nahe der Strecke nicht mehr neu. Und wirklich reizvoll waren sie schon auf der ersten nicht. Ein paar Lichtpunkte in jeder Blickrichtung, entferntes München und noch entfernteres Umland, wenn ich ostwärts Schritt auf Schritt folgen lasse. Zu hören gibt es noch weniger: Dann und wann rauscht ein Zug auf naher Bahntrasse vorbei. In den kommenden Stunden werde ich lernen zumindest Güterzüge und S-Bahnen an Dauer, Lautstärke und Art des Rauschens zu unterscheiden.
Schade, dass ich kein Hund bin. Mit hochempfindlichem Geruchssinn gäbe es hier sicher eine Menge „Daten“ aus der Luft zu filtern und Erkenntnisse zu sammeln. Meine unsensible Menschennase bleibt dagegen völlig unbeschäftigt. Nix zu riechen. Auch nicht auf hölzernem Steg beim Überqueren der Schilfzone des BuGa-Sees. Dafür ist es einfach zu kalt. Kälte, die mich frösteln lässt, wenn ich westwärts dem schwachen Wind entgegen trabe. Bin ich zu luftig gekleidet unterwegs? Mit bedeckten Armen zwar, aber hemdsärmelig dünn und in kurzer Hose. Zum Glück trage ich eine Mütze und Handschuhe. Nach drei, vier Runden frischt der Wind ein wenig auf. Grenzwertig. Ein, zwei weitere Runden weit stehe ich kurz davor mir eine Jacke überzustreifen. Dann habe ich mich an die Verhältnisse gewöhnt. Entweder. Oder mein Körper schaufelt inzwischen mehr Wärme ins hautnahe Gewebe.
Halb zwei Uhr morgens: Der Spaß - wenn’s denn bisher einer war - ist aufgebraucht. Eine Weile widersetzte ich mich altbekannter Gewissheit: Ich kann es nicht leiden im Dunkeln zu laufen! Eine Wahrheit, die ich sehr langer Kanten zuliebe ignoriere. 100 Meilen Berlin, Olympian Race oder Spartathlon sind nicht anders als unter Inanspruchnahme der Nacht zu bewältigen. Doch warum mute ich mir diesen nächtlichen, in meinem Laufjahr an sich völlig bedeutungslosen Marathon zu? Renne lange nach Einbruch der Dunkelheit los und komme Stunden vorm Einsetzen der Dämmerung ins Ziel? - Dass ich Marathonläufe sammele wie andere Nippes in Setzkästen ist ein Argument, aber kein wirklich schlagendes. Der Bestzeitmarathon ziert meine Sammlung bereits, und um das Zählwerk von 263 auf 264 zu stellen, hätte ich eine andere Gelegenheit beim Schopfe packen können. Also was dann? - Heimatnähe, folglich die Aussicht auf eine kurze Anfahrt, hat mich bewogen. Mehr noch die „Sozialverträglichkeit“ der Veranstaltung. Immerhin stand ich vorhin zum 25. Mal in diesem Jahr (!) am Start zu einem Marathon oder weiter. Ich gehöre zu den glücklichsten Läufern der Welt, wenn meine Frau Ines mich zu einem Lauf begleitet. Was sich zu meiner Freude auch in diesem Jahr häufiger so fügte. Andererseits bleibt sie oft - auch nach meinem Empfinden: zu oft - daheim zurück. Der Bestzeitmarathon bildet in dieser Hinsicht die neutrale Ausnahme: Ich fahre los, wenn Ines schlafengeht und wenn sie aufwacht, liege ich wieder neben ihr …
Halb zwei Uhr morgens: Der Spaß - wenn’s denn bisher einer war - ist aufgebraucht. Meine Beine lassen unterdessen ihre wahre Verfassung „durchblicken“. Das anfängliche Tempo von etwa 6:05 min/km, das ich hoffte bis zum Ende durchhalten zu können, hat sich als zu forsch erwiesen. Einstweilen dümpele ich mit etwa 6:15 durch die Nacht und bin fast sicher auch diese Pace nicht ins Ziel zu bringen. Wahrscheinlich ist es einfach zu kalt. Einer der Gründe, die meinen Leistungsabfall (vielleicht) erklären. Ein weiterer ergibt sich aus dem Training der vergangenen Woche. Ich legte den Schwerpunkt auf Treppenläufe. Noch am Donnerstag - also quasi vorgestern - 1.400 Stufen im Rahmen eines kurzen Laufes. Treppauf, treppab - natürlich nicht zur Vorbereitung auf die brettflache Seerunde hier in München. Mit den Treppenläufen konditioniere ich meine Beine für den Indoormarathon in zwei Wochen. In Nürnberg erwarten mich etwa 500 Höhenmeter in Treppenhäusern … Tausende von Stufen in dieser Woche - mithin kein Wunder, dass mir flaches Geradeauslaufen nun Runde für Runde schwerer fällt.
Ich lasse mich gerne überholen. Sonst eher nervig, heute willkommene Abwechslung. Für einige Sekunden optische Reize, die mein unterforderter Sehnerv weiterleiten darf. Wollte ihn anfangs beschäftigen, hielt am wolkenfreien Himmel nach Sternen Ausschau. Kannst du vergessen. Dafür ist die Kopflampe zu hell. Nur zwei, drei der hellsten Himmelskörper vermag ich jenseits des Lampenlichts wahrzunehmen. Was reizt das Auge sonst noch: Einmal pro Runde das Farbspiel des Zeittunnels. Ein paar leuchtende Würfel im Gras, der Gag im Gag, die mich mit allerlei Flackern, Lauflichtern und unberechenbaren Farbwechseln en passant unterhalten. Eine Zeit lang wenigstens, bis mir das farbige Geflirre nicht mal mehr einen Seitenblick wert ist … Ein bisschen Augennahrung gibt’s auf den letzten vierhundert Metern der asphaltierten Zielgerade, von Laternen dauerhaft dem Dunkel entrissen. Seitenblicke bleiben allerdings ohne erwähnenswerten Erkenntnis- oder Lustgewinn. Linkerhand gibt’s da nicht mehr als begrünte Flächen, Wege, ein paar dürre Parkbäume und nicht näher definierbare Schatten. Auch von Dunkelheit verhüllt vermag das Gelände seine frühere Nutzung nicht zu leugnen. Dereinst, bevor in einer spektakulären Über-Nacht-Umzugsaktion (17.5.1992) der Flughafenbetrieb ins Erdinger Moos umzog, erstreckten sich hier Landebahnen und Rollwege des Flughafens München-Riem.
Rechts vom beleuchteten Abschnitt erstreckt sich der BuGa-See. Ganz sicher erstreckt er sich dort. Auch wenn ich in ein paar Stunden wieder heimfahren werde, ohne wenigstens einen Zipfel von ihm erspäht zu haben. Wasser und Ufer werden einzig akustisch nachgewiesen: Hin und wieder dringt das ärgerliche Schnattern einer belästigten Ente aus Richtung See an mein Ohr. Ob von einem Erpel oder anderweitig bedrängt, will ich nicht entscheiden. Verstehe einfach zu wenig von Nacht- und Sexualleben schwimmenden Federviehs, um auf schnarrendem Enten-#metoo als wahrscheinliche Interpretation zu beharren … Letztlich kann ich auch nicht ausschließen, dass ein frustrierter Erpel seinen Protest übers Wasser schallen ließ, nachdem ihm ein Nebenbuhler (oder gar eine Enten-Emanze?) übel mitspielte.
Je später der Abend, desto zweifelhafter die Gäste
Von Entengeschrei in ansonsten weitgehend lautloser Nacht geht allerdings keine Bedrohung aus. Was ich hinsichtlich der gelegentlich vorbei- oder herumstreunenden Rotten junger Männer nicht völlig ausschließen möchte. An- oder betrunken scheinen jedenfalls alle zu sein. Am deutlichsten demonstriert das jener gutmütige Kerl, der uns applaudiert und mit leicht abgewandeltem Angela-Merkel-Zitat verbal unterstützt: „Ihr schafft das!“ Mit zentnerschwerer Zunge dahingelallt ist das zwar nicht wirklich ernst zu nehmen. Kommt aber immer noch besser als das Feixen und Krakeelen jener Gruppe, die ihr Unverständnis zunächst an der Strecke zur Schau stellt. Anschließend in Richtung Seeufer weiterzieht und sich dort zum nächtlichen Happening niederlässt. Woher kommen die? frage ich mich. Wahrscheinlich aus dem nördlich am Park angrenzenden, ziemlich neuen Münchner Satelliten-Stadtteil, von dem nicht mehr als ein paar Lichtreflexe herüber leuchten.
Der Riss im Raum-Zeit-Kontinuum
Ich umrunde nun schon fast drei Stunden das Eckige. Fünf vor drei Uhr. Wie wird mein „GPS-Wecker“ auf die Zeitumstellung reagieren? Ich stelle die Anzeige von Lauf- auf Tageszeit um. In immer kürzeren Intervallen linse ich zur Uhr … noch eine halbe Minute, die Spannung steigt … die letzten Sekunden … dann: Nichts! Keine Reaktion. Die nun geltende Winterzeit ignorierend tickt die Uhr munter weiter, hält die „3:xx:xx“ in der Anzeige fest. Hab ich eigentlich anders erwartet. Und ich würde meinen (mutmaßlichen) heutigen Marathonsieg darauf verwetten, dass die Uhrzeit der jetzt gültigen Winterzeit entspräche, wenn ich die laufende Aufzeichnung beendete. Also wie kommt die Zeit in meiner Uhr zustande? Als einzige Erkenntnis arbeite ich mein Wissensdefizit heraus. Obschon ich mich tagtäglich seiner navigatorischen Segnungen bediene, weiß ich so gut wie nichts über die technischen Hintergründe von GPS (Global Positioning System). Nächtlicher Entschluss: Ich werde das ändern!
Rundenzählen ist trostlos. Da tut sich zu wenig und zu selten. Fünf hatte ich rasch, acht, neun und zehn auch noch. Doch ab da wurde es immer zäher. Ich orientiere mich lieber an der Kilometeranzeige meiner Uhr … 28, 29 … noch 14, 13 Kilometer … nicht mehr soooo weit. Dem steht allerdings der stetig wachsende Protest meines desolaten Bewegungsapparates gegenüber. Da helfen auch keine Gels, die ich mir gelegentlich einverleibe. Bleischwere, jaulende Beine. Es fühlt sich an als wäre ich schon einen halben Tag lang unterwegs. Überall zwickt und zwackt es. Aber laufen kann ich. An mangelhafter Ausdauer scheint es nicht zu liegen, dass ich langsamer wurde. Die Ursache bildet wohl eher das höchst unangenehme Echo, das jeder Schritt auslöst. Und woher sollte ich den Schneid nehmen dagegen anzukämpfen? Mir ist kalt, ich fühle mich nicht wirklich bereichert, von dem was ich hier tue, außerdem geht es um nichts als 20 Runden durchzuhalten. Laufend ankommen, woran nicht der Hauch eines Zweifels besteht.
Eines könnte meinen Erfolg freilich noch negieren: Ein Sturz. Der ist nicht völlig ausgeschlossen. Da und dort lauern Stolperfallen. So etwa am Abzweig kurz hinter dem hölzernen Steg, wo ich Richtung Ziel abbiege. In besagter Ecke wurden ein paar … ja was eigentlich … Steine (?), Platten (?) verbaut. Keine Ahnung wozu, jedenfalls bilden sie Kanten. In Gedanken versunken trat ich da schon mal drauf, machte ansonsten aber einen Bogen um das Hindernis. Zwei, drei weitere solcher Fußangeln könnten mich im Rund ebenfalls erwischen. Aber ich bin auf der Hut. Ich kenne mich! Udo fällt eher nicht in brachial schwierigem Gelände über seine eigenen Füße. Das passiert ihm bevorzugt da, wo das Risiko zu stürzen gegen null tendiert …
Noch fünf Runden, ein Viertelmarathon und „ich habe fertig“. Aber sowas von … In mir schreit es ohne Unterlass: Aufhören! Aufhören! Es ist nicht so, dass ich mich dahinschleppen müsste, kaum mehr laufen könnte. Das kann ich noch ganz gut. Und Kontrollblicke zum „Tacho“ bestätigen auf dem zweiten Halbmarathon um keinen Deut langsamer geworden zu sein. Vielleicht so: Der Motor arbeitet nach wie vor zuverlässig, aber im Getriebe ist Sand und das Fahrgestell klappert …
Im Kopf springe ich ständig von einer optimistischen Denkweise zur anderen und wieder zurück: ‚Nur noch fünf Runden, 5, 4, 3, 2 und dann die letzte. Das ist nicht mehr viel’ - Oder: ‚Nur noch lächerliche 10 km und mit jeder Runde kann ich zwei davon abstreichen’ - Später: ‚Die drittletzte Runde! Wenn die um ist - also bald - muss ich nur noch zweimal ’rum! Gut sechs Kilometer, was ist das schon?’ - Irgendwann beginne ich damit die Reststrecke mit heimischen Streckenäquivalenten gleichzusetzen. Stelle mir den Punkt vor, an dem ich mich auf dem Rückweg vom Training nach Hause gerade befinde … Denke positiv: Nicht mehr weit! Überhaupt nicht mehr weit! Das hilft, aber weh tut es trotzdem. Verdammt weh.
Schließlich die vorletzte Runde. Ich laufe jetzt schneller. Der Schmerz ist derselbe, muss ihn nur weniger lange ertragen. Ich verkürze den Abstand zum Lampenschein eines Läufers vor mir. Etliche Schritte später bin ich dicht hinter ihm und erkenne den Mann. Weiß ihm keinen Namen zuzuordnen, den habe ich längst wieder vergessen. Dafür erinnere ich mich, wo wir uns zuletzt trafen: Beim Kreisen anlässlich meines missglückten 24 Stundenlaufes in Dettenhausen. Im Vorbeilaufen stupse ich ihn vorsichtig am Oberarm und grüße … frage wie viele Umläufe er noch vor sich hat. Gleich mir dreht er die vorletzte Runde. Zum Abschluss zeigen wir uns verbal solidarisch: „Bald geschafft!“ meint der eine. „Gut, dass es gleich vorbei ist!“ stimmt der andere zu …
Dann bin ich vorbei und beginne mit der „Auswertung“ der Begegnung: Anscheinend joggen wir seit Anbeginn in derselben Runde. Ansonsten wären wir uns früher über den Weg gelaufen. Und hätte ich ihn nicht eben überholt, ein jeder wäre heimgefahren ohne zu wissen, dass der andere dabei war. Und dann dieser Gedanke: Als ich vorhin beim Zieldurchlauf die Anzeige studierte, stand hinter meiner Startnummer eine „50“. Unter den ersten Fünfzig könnte den Wettbewerb folglich abschließen. Eine gleichermaßen unwichtige wie falsche Vorstellungen provozierende Aussage. Ferner liefen: Niemanden interessiert (im Grunde nicht mal mich selbst), welche Platzierung auf meiner Urkunde stehen wird. Außerdem werden nach den „ersten 50“ nicht mehr viele einlaufen! Letzteres zeichnet sich schon seit einigen Runden in Form wachsender Vereinsamung ab. Meistens war ich mutterseelenalleine unterwegs.
Wie sinnlos der Gedanke „unter den ersten 50“ auch sein mag, ich schlage Kapital daraus. Will nun keinesfalls mehr zulassen, dass mich noch jemand überholt und vom „wertvollen fünfzigsten Rang verdrängt“. Vor allem nicht der gerade eingesammelte Bekannte. Also werde ich abermals schneller. Und lege einen weiteren Zahn zu als das Trittgeräusch hinter mir partout nicht leiser wird … Erst auf der Zielgeraden verstummen die Schritte meines „Verfolgers“. Kein Halten mehr im Zielbereich. Gestatte mir lediglich einen flüchtigen Blick zum Monitor, wo hinter meiner Startnummer erneut die „50“ eingeblendet wird. Letzte Runde … noch ein bisschen höher die Schrittfrequenz jetzt … kann’s kaum fassen, dass ich es wirklich gleich hinter mir habe … schaue aufs GPS-Zählwerk … nein, kein Traum, gleich vorbei … Ein letztes Mal hake ich ab, was meine Lampe aus der Dunkelheit schält. Wegstücke, Rillen und Trittspuren im Belag, an einer Stelle beinahe abgetrocknete Pfützen, der Mülleimer in dem ich ein paar ausgequetschte Gelhüllen entsorgte, hier ein Baum, dort ein paar Sträucher, auch die Säule eines Notruftelefons (keine Ahnung, ob es eins war, noch ob es bei Bedarf funktioniert hätte). Tschüss Zeittunnel-Lichtspiel, tschüss hölzerner Steg … ein letztes Mal Abbiegen auf die Zielgerade, noch ein paar hundert Meter, auf denen ich mich sogar zu einem Endspurt hinreißen lasse … Die drei Schlusskilometer absolvierte ich als Steigerungslauf. Von anfänglich etwa 6:30 bis zuletzt 5:50 für den letzten Kilometer.
Die finale Temposteigerung spielt für Endzeit und Platzierung keine Rolle. Beides ist mir nicht wirklich wichtig. Bedeutung gewinnt sie durch die optimistische Erkenntnis, mit der ich den Lauf nach 4:34:44 Stunden abschließe: Rein von der Ausdauer her wäre mehr drin gewesen. - „Bist du zufrieden?“ fragt mich der Mann, der mir die Finishermedaille um den Hals hängt. Binnen einer Sekunde abwägenden Schweigens schießen mir kurz hintereinander gegenteilige Antworten durch den Kopf: Nein! Ja! Nein! Ja! - je nachdem welchem Aspekt des eben Erlebten ich mehr Gewicht einräume. Aber ich weiß, was er von mir hören will. Außerdem erfüllt mich jedes Finish, egal wie es zustande kam, mit Freude. Also hört er mein Wort zum Sonntag: „Klar bin ich zufrieden! Ich bin angekommen und nur das zählt!“
Ich laufe ungern durch die Nacht. Auch Kälte mag ich nicht. Insofern war die „große Gaudi“ nicht zu erwarten. Doch rein gar nichts von dem, was ich an Härten zu erdulden hatte, ist auch nur im Entferntesten der „Groundcrew“ anzulasten.
Objektiv betrachtet kann ich mir kaum ein geeigneteres Areal zur Umsetzung der Idee des Bestzeitmarathons vorstellen, als die Runde um den Riemer See. Flach, festes Geläuf, wenige Stolperstellen und sogar sanitäre Einrichtungen vor Ort.
Und ein engagierteres Team als die Akteure der Groundcrew wird man auch schwerlich finden. Aber das ist nicht verwunderlich: Wer sich eine Samstagnacht im Oktober um die Ohren schlägt, damit andere laufen können, der muss einfach tatkräftig und liebenswert sein! Alles war bestens vorbereitet und alles hat geklappt! Herzlichen Dank dafür!
Fazit: Sobald ich verdrängt haben werde, wie ungern ich im Dunkeln laufe, komme ich wieder!
Bildnachweis
Einige der im Bericht verwendeten Fotos bzw. Bildausschnitte, wurden von der Internetseite des Bestzeitmarathon „importiert“. Der Bildkredit stammt vom Fotografen des Bestzeitmarathon Hannes Magerstädt. Herzlichen Dank dafür an die „Groundcrew“!