3. Mai 2019

Erst so-, jetzt andersrum  -  WHEW100

Was fühlt ein Läufer vor einem 100 Kilometer-Lauf, wenn es mit den äußeren und inneren Bedingungen nicht zum Besten steht? - Furcht wäre übertrieben, bange Erwartung trifft es hingegen ziemlich genau. Draußen: 2°C und Nieselregen noch kurz vorm Start. Anfang Mai. Also alles andere als ideal für einen, der sich zum Laufen Sonne und Wärme herbeisehnt. „In mir drin“ spüre ich an diesem Morgen keine Einschränkungen. Was nichts heißt. Am vorgestrigen Donnerstag ging rein gar nichts: Mangels Kraft sah ich mich veranlasst ein niedrig intensives Läufchen zu verkürzen. Und gestern fühlte ich mich allgemein körperlich … es gibt kein Wort dafür … „irgendwie mies“.

Die Rundstrecke des WHEW100 nehme ich heute zum zweiten Mal nach 2015 unter die Sohlen. Damals war das noch eine kleine, feine Veranstaltung. Was ich bislang erlebte - Startnummernausgabe gestern, Läuferfrühstück vorhin im Zelt, Gewusel jetzt im Startbereich -, nährt den Verdacht nunmehr Teil einer großen, immer noch feinen Veranstaltung zu sein. Abgesehen vom Teilnehmerumfang hat sich auch die Laufrichtung geändert: Aus ehedem WHEW wurde WEHW: Wuppertal - Essen - Hattingen - Wuppertal. Womit gleichzeitig enträtselt wäre, was es mit der sperrigen Bezeichnung des Laufes auf sich hat. Laut Veranstalter entspricht die Richtungsänderung dem Wunsch jener Läufer, die beide Varianten kennen und die aktuelle als die „bessere“ einstufen. Bis zum Beweis des Gegenteils teile ich diese Auffassung nicht. Nicht zuletzt die Dramaturgie der Routenführung entfachte 2015 meine Begeisterung: Im Licht der aufgehenden Sonne über den Dächern Wuppertals, anschließend durchs Bergische Land, gefolgt von dreißig Kilometern am Ufer der Ruhr. Die weniger spektakulären Abschnitte drängten sich zum Ende hin, wenn infolge wachsender Erschöpfung äußere Reize kaum mehr Beachtung finden. Ich bin gespannt, wie sich der Spannungsbogen heute entwickelt.

Schaudernd stelle ich mich kurz vor sieben Uhr ins Feld der Läufer. Leichtes Frösteln nur am Körper, die eigentliche Gänsehaut überzieht meine Hirnwindungen. Wie üblich vorm Aufbruch ins Ungewisse fühle ich mich klein und verloren, jedermann unterlegen. Ich reiche einem Mitläufer die Digicam, bitte ihn mich abzulichten. Das hierdurch überlieferte Lächeln ist nicht mehr als ein Reflex und zerbröselt Sekunden später.

Mein Laufkostüm: Untenrum kurz und Sommer, obenrum Winter: Halstuch, Mütze, Handschuhe, langärmliges Hemd, zusätzlich Armlinge. Erstaunlicherweise friere ich kaum in dieser für mich luftigen Montur. Das Nieseln hat zum Glück aufgehört und Wind regt sich auch keiner. Das hilft. Unspektakulär Countdown und Start. Zum Auftakt sammeln wir ein paar hundert Meter in entgegengesetzter Richtung, damit am Ende exakt 100 Kilometer zu Buche stehen. Wende und unter verhaltenem Beifall einiger Zaungäste - mutmaßlich Betreuer - durchs Starttor.

Tempofindung. Schwieriger als sonst. Weil ich mein Potenzial für Distanzen um die 100 km nicht einzuschätzen weiß. Und selbst wenn, bliebe unklar, in welchem Maß der Doppeldecker des letzten Wochenendes nachwirkt. Faktor drei, meine Tagesform, werde ich erst taxieren können, wenn ein paar Kilometer hinter mir liegen. Dann werde ich spüren, ob die mysteriöse Schwäche der letzten Tage noch in meinen Knochen nistet. Einstweilen bleibt mir nichts anderes übrig als die Beine dem „Wohlfühlmodus“ zu überlassen.

Brettflacher Beginn auf feinstem Asphalt. Einen besseren Untergrund zum Einlaufen als die Trasse der Nordbahn wird man nicht finden. „Nordbahn“ schreit nach Erläuterung: Bundesweit wurden unrentable Bahnstrecken stillgelegt. Ein verkehrspolitischer Sündenfall, von dem aktiv Erholung Suchende allerdings profitieren, wenn brach liegende Gleise in Radwege umgewandelt werden. Dem Rückbau von Schienen, Schwellen und Signaltechnik folgt die Asphaltierung des verbleibenden Schotterbetts. Zwei dieser aufgelassenen Bahnstrecken waren die so genannte „Nordbahn“, die sich durch Wuppertal bis nach Hattingen an der Ruhr hinzieht. Und die „Niederbergbahn“, nordwestlich durchs Bergische Land Richtung Essen verlaufend. Zwei „lose Enden“ der Bahntrassen - 33 km zwischen Essen-Kettwig und Hattingen - verbindet der WHEW mit dem Ruhrtal-Radweg.*

*) Ein Klick auf den Link öffnet ein Fenster mit dem Streckenverlauf.

Die andere „Lücke“ im WHEW-Kurs wird über Straßen geschlossen, die ich jetzt, nach etwas mehr als sechs Kilometern „Nordbahn“, in Angriff nehme. Eine Serie herber Steigungen vermag mich - inzwischen eingelaufen und mit noch vollen Akkus - nicht zu beeindrucken. Eigentlich selbstverständlich, wenn einer hundert Kilometer laufen will. Für mich an diesem Morgen dennoch richtungweisend und Anlass zu vorsichtigem Optimismus: Tagesform mindestens normal! Die noch gestern empfundene Schwäche scheint überwunden.

Abwärts und wieder aufwärts. Das Bergische Land verdankt seinen Namen zwar dem Adelsgeschlecht derer „von Berg“, macht seinem Namen aber auch topografisch Ehre. Von „oben“ - in diesem Augenblick ist „oben“ ein Bürgersteig in locker besiedeltem Terrain - böte sich vermutlich schon jetzt der eine oder andere reizvolle Blick über Senken und zu grünen Flanken. Wären da nicht in Baumkronen verfangene Nebelschwaden, die keine Fernsicht zulassen. Erleichtert stelle ich fest, dass mein Bekleidungskonzept passt. Bedenken hatte ich vor allem hinsichtlich des zwar langärmligen, aber dünnen Oberteils. Da der Laufrucksack den Rücken zusätzlich wärmt, glaubte ich auf eine zweite textile Schicht am Oberkörper verzichten zu können. Was allerdings geschieht, falls es (stark) zu regnen beginnt, stelle ich mir lieber nicht vor.

Kilometer 12: Rechts und links des Weges Wiesen. Diesen Abschnitt kenne ich besser als mir lieb sein kann. Etwa einen Kilometer zieht er sich geradeaus hin. Seinem Ende sehe ich mit einer gewissen Spannung entgegen. Irgendwo dort muss es gewesen sein, als sich mein Magen nach außen stülpte und auf diese kategorische Weise dem Zielzeit-Traum ein Ende setzte. Sub10Stunden wollte ich seinerzeit schaffen, um mich frühzeitig für den „Spartathlon“ zu qualifizieren. Vermutlich wäre mir das gelungen, hätte mich nicht - Duplizität der Ereignisse - der Doppeldecker vom Wochenende davor ausgebremst. Das damalige Geschehen nehme ich heute als Fingerzeig es nicht zu übertreiben.

Ich kann die genaue Stelle nach vier Jahren nicht bestimmen, weiß aber noch, dass sie auf ein mehrere Kilometer langes Gefälle folgte. Und ebendieses Gefälle habe ich jetzt als Steigung vor mir. Nicht wirklich fordernd, sanft aufwärts, mit reduzierter Pace unschwierig zu nehmen. Verwundert und ein wenig besorgt - so könnte man meine Wahrnehmung der bisherigen Tempoentwicklung beschreiben. Offenbar habe ich auf Basis solider Ausdauer eine ziemlich gute Tagesform erwischt. Mit lockeren Beinen und für meine Verhältnisse „rasant“ nehme ich die Steigung. Sorge mich zugleich, ob mir diese „Rasanz“ nicht in ein paar Stunden das Genick brechen wird. Das ewige Dilemma: Wie gut man das „optimale“ Tempo bezogen auf Strecke, Anforderungen und Leistungsvermögen getroffen hat, weiß man immer erst hinterher.

Kilometer 16: Ich trabe übers glatt asphaltierte Schotterbett der „Niederbergbahn“. Dass die so hieß, werde ich demnächst am Streckenrand lesen, im Beton eines Neubaus verewigt. Der große Vorteil einstiger Bahnstrecken für Radler und Läufer resultiert aus der begrenzten Reibung zwischen Antriebsrädern und Schienen. Sie zwingt Gleisbauingenieure die Steigung der Trasse auf deutlich weniger als ein Prozent zu begrenzen. Den Nachteil fehlender Steilheit „koste“ ich gerade aus: So eine Rampe kann sich über mehrere Kilometer hinziehen …

Inzwischen werde ich seltener überholt. Anfangs wirkten „Scharen“ enteilender Mitläufer ein bisschen demoralisierend. Vor allem wenn sie locker flockig plaudernd vorbeizogen. Demoralisierung ohne Grund. Ich weiß es besser, habe es doch oft genug erlebt. Während ich den Wettkampf defensiv angehe, Energie spare, zwischen Start und Ziel gleichbleibendes Tempo zu laufen versuche, beginnen nicht wenige zu schnell. Das ist immer so. Zum Finale hin sammele ich etliche der Unerfahrenen oder Verwegenen wieder ein. So predigte ich anfangs im Stillen zu mir selbst, um mir Mut zu machen. Und so predige ich jetzt wieder, nach etwa 18 Kilometern. Bezichtige mich jedoch postwendend anmaßender Denkmuster: ‚Du kannst froh sein, wenn du hinten raus nicht selber eingehst wie eine Primel im Winter! Also spuck’ keine so großen Töne!’

„Mpf - mpf - mpf - mpf - mpf - mpf …“ - harte, laute, schnelle Beats hinter meinem Rücken, rasch näher kommend. Sekunden später überholt mich einer der vom Veranstalter eingesetzten Musikradler. Urig anmutende Gefährte, deren Lastenvorbau ein paar hundert Watt Musikleistung transportiert. Verstärker, Boxen und - zumindest in einem Fall unübersehbar - eine zig Kilo schwere Autobatterie als Stromquelle. Die Musikräder sollen Läufer begleiten und motivieren. Dankenswerter weise ignorierten sie mich bislang. Anlässlich des Vorbeiradelns genossene Kostproben erwiesen sich als weitgehend „inkongruent“ zu meinem Musikgeschmack …

Es werde Licht. Irgendein Himmelsheiliger muss den Satz vorzeiten ausgesprochen haben, wie hätten sich sonst die Wolken öffnen und mich für Sekunden mit Sonnenstrahlen beschenken können? Die Wetterentwicklung scheint das Orakel ausnahmsweise ernst zu nehmen: Aufgelockerte Wolken prophezeite die „Wetter-Äpp“ im Tagesverlauf, allerdings auch Schauer. Kilometer 20: Natürlich nehme ich die Zwischenzeit, auch wenn sie keine Prognose auf den Ausgang des Abenteuers zulässt: 2:03:30 Stunden. Nach zehn Kilometern war ziemlich genau eine Stunde verstrichen. Sieht danach aus, als wäre ich langsamer geworden, was jedoch täuscht. Rechnet man die vermehrte Steigung samt „Pippipause“ raus, war ich womöglich sogar flotter unterwegs.

Für die Weile dreier Kilometer kommt es mir vor als könne sich der Radweg nicht so recht entscheiden, wann er endlich ins ersehnte lange Gefälle übergehen soll. Gibt sich mal flach, bald wieder auf Sichtweite abschüssig, steigt zuweilen auch unmerklich an. Ich checke mein Tempo: 6 min/km auf diesem Abschnitt. Nicht die Pace an sich nährt meine Zuversicht, sondern wie ich mich dabei fühle: Kaum angestrengt. Nachdem dann auch noch die Wolken vollends aufreißen und viel blauem Himmel Platz machen, steigt mein Stimmungsbarometer auf „betont freundlich“. Zu überbordendem Optimismus gibt es jedoch keinen Grund nach lediglich einem Viertel der Gesamtdistanz. Im kilometerlangen Gefälle, das sich bis ans Ufer der Ruhr erstrecken wird, nehme ich mich an die Kandare; wehre der steten Verlockung in der Schussfahrt ein paar Minuten gewinnen zu wollen. Damit erwiese ich mir einen Bärendienst, verschlisse vorzeitig meinen Bewegungsapparat, auf den bergab stärkere Kräfte einwirken. Mit nur mäßig erhöhter Schrittfrequenz hoffe ich überdies ein paar Körner zu sparen.

Der „Panoramaradweg Niederbergbahn“ trägt seine Bezeichnung nicht zu unrecht. Nach und nach sammele ich reizvolle Ansichten des Bergischen Landes ein. Und am Wegrand blüht Akelei, von schwach bis tief violett, auch nach rot changierend. Büschelweise, über mehrere hundert Meter zum Blumenband vereint. Massenhaft Akelei am aufgeschütteten Wegrand? - Also kein natürliches Vorkommen, ausgesät um Passanten zu erfreuen.

Zuerst kullern mir nur einzelne, weiße Körner, nicht größer als ein Stecknadelkopf, vor die Füße. Lässt mich an vom Wind verwehte Styroporkügelchen denken. Wenig später trabe ich durch einen Graupelschauer. Beschirmt von Bäumen beidseits Radweges zu schwach, um mich zu erschrecken. Nicht mal Grund genug die Schirmkappe aufzusetzen. Graupel prallt von der Brille ab ohne Nässe zu hinterlassen. Der Schauer schwillt an, ab, wieder an, wieder ab … Nach fünf Minuten ist der Spuk vorbei. Die süd- bis südostwärts abziehende dunkle Wolke empfinde ich dennoch als Drohgebärde: Wart’s ab! Das war noch nicht alles mein Freund!

Die nun häufiger scheinende Sonne hat letzte, von Versagen und Misserfolg schwadronierende Chimären aus meinem Kopf vertrieben. Obwohl ich den Effekt kenne, bin ich immer wieder verblüfft, welch gewaltigen Unterschied es macht, ob ich mit Sonne oder in grauer Tristesse einher trabe. Das noch immer anhaltende Gefälle tut ein Übriges. Gefälle, das sich - anfangs mit kurzen Unterbrechungen - über nicht weniger als 17 Kilometer hinzieht. Gefälle übrigens, das mir vor vier Jahren als Steigung physisch den Garaus machte und mich mental an den Rand der Verzweiflung trieb. Geschehen an das ich mich nicht erinnere. Nicht jetzt jedenfalls, da ich weitgehend sorglos, auch von Vorfreude auf weitere schöne Landschaftsbilder beflügelt gen Tal wetze.

Das Ende des Panorama-Radweges kommt nicht überraschend. Weder das Ende an sich, noch das brachiale Gefälle der sich anschließenden kurzen Rampe. Kenn ich, nur eben andersrum. Kurze Dunkelphase in einer Unterführung, dann durch Wohn- und Geschäftsstraßen der Ortschaft Kettwig. Natürlich weiß ich nicht, dass der Stadtteil unter meinen Füßen so heißt und zu Essen gehört. Dafür weiß ich mich auf kürzest möglichem Weg zur Ruhr. Besser gesagt glaube ich mich auf schnellstem Weg zur Ruhr. Auch noch als der Bürgersteig eine Rechtskurve beschreibt und mir die gegenüber und geradeaus führende Straße „irgendwie richtiger vorkommt“. Fast 40 Kilometer brauchte ich nicht auf Markierungen achten, also unterlasse ich es auch jetzt. Trotte stattdessen stumpf hinter meinem Vordermann her. Jäh aufschießender Verdacht lässt mich nach Markierungen Ausschau halten: Gelb-schwarzes Flatterband oder gelb-grüne Pfeile auf dem Boden. Nichts, weiter … immer noch nichts … Ich schaue über den Vordermann hinaus: Der folgt seinerseits einem Vordermann. Kollektiver Irrtum nach Art selbstmörderischer Lemminge? - Hinter der nächsten Hausecke, dreißig Meter vor mir, steht plötzlich eine Traube sichtlich verwirrter Mitläufer beieinander, beratschlagt, kommt zu einem Ergebnis, das mir im selben Moment klar war, da ich der Gruppe ansichtig wurde: Verlaufen!

Ich bin sauer. Auf einen Penner namens Udo. Der sich das Missgeschick kleinredet: War doch höchstens ein halber Kilometer Umweg! Nicht schlimm! Immerhin drei Minuten nutzlos verschwendet, halte ich ihm vor. Wäre dem Einfaltspinsel das Terrain gänzlich neu, ich hielte mich verständnisvoll zurück. Ist es aber nicht! Außerdem hätte ihn sein „Anfangsverdacht“, vorhin, geradeaus blickend, alarmieren müssen, statt arglos hinter bunter Kluft herzurennen. - Ich brauche eine Weile, um den dummen Fehler zu verdauen. Noch auf der Ruhrbrücke, zum Nordufer wechselnd, gehe ich mit mir ins Gericht. Keine Ahnung, warum ich mich so exzessiv über mich selber ärgere.

Stromaufwärts entlang der Ruhr. Hinter meinem Rücken kommentiert jemand den Wettkampfverlauf. Ganz offensichtlich erreicht mich die Stimme aus einem Lautsprecher!? Das ist ein bisschen wie „Fußballreportage im Radio“. Ich erfahre wer derzeit führt und wer an zweiter Stelle liegt … Als mich ein Musikradler überholt fällt der Groschen. Aber nur dieser eine und der beschert mir das nächste Rätsel: Wie machen die das? - Der unbekannte Moderator steht im Zielbereich in Wuppertal. So viel ist klar, als er die Ankunftszeit des führenden Run-and-Bike-Duos für 15 Uhr vorhersagt. Auf welchem Weg gelangt das Tonsignal von Wuppertal hierher zum Bike? - Übers World Wide Web natürlich! Fast alles Aktuelle, irgendwo in der Welt geschehend und in Echtzeit präsentiert, kommt dieser Tage übers Internet. Die Frage ist nur über welchen „Kanal“ genau … Handy, mobile Daten, … und weiter? - Ach egal, was kümmert’s mich.

Stromaufwärts entlang der Ruhr. Nur schauen und ein bisschen genießen. Grün in allen Schattierungen ist die vorherrschende Farbe. Meist sogar im Wasser, weil Sonnenzeiten nun wieder Mangelware sind. Das bedauere ich sicher mehr als die zahlreichen Wasservögel, denen ich begegne. In Ufernähe dümpelnde Enten, Schwäne, Gänse haben ohnehin einen nassen Hintern. Die aus grau-blauem Himmel fallenden Tropfen stören sie nicht. Mich im Grunde auch nicht, weil es beim Tröpfeln bleibt …

Erinnerungen an den Lauf vor vier Jahren werden wach: Zur Mittagszeit komme ich in Gegenrichtung entgegen, fühle mich stark, glaube fest an meine Sub10Stunden-Chance. Warme Luft, die Sonne scheint - mein Laufwetter. Und die Welt leuchtet. Ganz anders jetzt: Es ist noch immer viel zu kalt und gar nichts leuchtet. Nicht in der Außen- noch weniger in der Innenansicht …

Es zeichnete sich ab als das Gefälle zu Ende ging, bewahrheitete sich auf den ersten Uferkilometern und ist nun nicht mehr zu leugnen: Ich spüre die inzwischen absolvierten mehr als 40 Kilometer heftig in den Beinen. Einstweilen wirkt sich das nicht aufs Tempo aus, das im Schnitt weiterhin bei etwa 6:08 min/km liegt. Nur, wie lange noch? - Zweifel an meiner „Ernährungstaktik“ regen sich. Je ein Gel - 100 kcal - nach 20, 30, 40 und demnächst 50 Kilometern gesteht mir die Planung zu. Von da ab alle fünf Kilometer. Bei Kilometer 90 die letzte Ration. Macht Summa summarum 12 Päckchen. Fünf habe ich an Bord, die übrigen warten im Dropbag an der Halbdistanz. Fühlt ein Junkie ähnlich? - Die Sehnsucht nach einem baldigen Zuckerschuss wächst … Dass ich ihn mir versage, liegt an der verbleibenden Strecke: Noch 55 Kilometer auf denen ich den „Stoff“ weit dringender brauchen werde als jetzt …

Inzwischen weist die Kette der Läufer große Lücken auf. Niemand mehr in Sichtweite. Das passt so, ich laufe ohnehin am liebsten solo. Bedauern übers Alleinsein fühlt allenfalls der Fotoreporter in mir. Wenn Mutter Natur ihm eine ausgesprochen idyllische Ansicht serviert, wünscht er sich einen Quietschbunten, um die Aufnahme läuferisch zu beleben. - Niemand da? - Sucht er sich eben tierische Darsteller, wie vorhin die wachsam dreinblickende Gans (Ente?) samt Küken.

Linkerhand, über den Hügeln, hinter denen ich die Essener Innenstadt vermute, dräuen dunkle Wolken. Da kommt was auf mich zu! Na ja, vielleicht auch nicht, wenn der Wind mir ausnahmsweise gewogen sein sollte. Dass der mich nicht leiden kann, offenbart sich allerdings rasch. Nach etwa 45 Kilometern darf ich die Ruhr noch ungeschoren überqueren. Verfolgt bereits von Böen, die mir, drüben angekommen, unter alten, hohen Bäumen jedoch nichts anhaben können. Als eine Form psychologischer Kriegsführung verfehlt das Brausen und Wogen seine einschüchternde Wirkung dennoch nicht. Immer heftiger tobt der Sturm und in Höhe der „Alten Schleuse Neukirchen“ prasseln erste Graupelschauer nieder. Zwei Frauen harren hier aus. Im hereinbrechenden Ungemach eng zusammen stehend applaudieren sie mir, warten vermutlich auf „ihren“ Läufer.

An der „Alten Schleuse“ lief ich schon 2008 das erste Mal vorbei. Als Teilnehmer am Essen Marathon, der den Baldeneysee zweimal umrundet. Eben diesen Baldeneysee werde ich in ein paar Minuten sehen, wenn ich das breite, zeitweilig hinter Schauern verschwimmende Stauwehr erreiche. Der Wind tobt über den Uferweg als wollte er mich ins Wasser fegen. Ergiebige Graupelschauer, solche mit grober Körnung, die fast an Hagel erinnern, fegen aus düster verhangenem Himmel herab. Ich ziehe den Schild meiner Kappe tief ins Gesicht, stemme mich gegen den eisigen Wind und hoffe das „Inferno“ möge bald vorbei sein. Muss es auch, weil ich sonst erfriere …

Nach fünf Minuten ebben die Böen ab. Weitere fünf vergehen bis der Himmel seine Schleusen schließt. Noch einmal fünf, dann bricht die Sonne wieder durch. Um es vorwegzunehmen: Den Rest des Weges werden mich keine feuchten Wetterkapriolen mehr belästigen! - Am Baldeneysee: Seine Nierenform ergibt sich aus dem Rückstau der Ruhr über mehr als fünf Kilometer einer Talbiegung. An der breitesten Stelle trennen die Ufer etwa 500 Meter. Ausreichend Fläche für Wassersport jeglicher Art. Die meisten Segelboote liegen bei diesen widrig kalten Verhältnissen sicher vertäut an Stegen. Ruderboote tummeln sich dagegen etliche auf dem Wasser. Ich kann sie zwar nicht sehen, weil ich, noch immer kältestarr, mich überdies vor Pfützen hütend, keinen Blick aufs Wasser richte. Dafür erhalte ich akustische Belege, die ich zunächst nicht zu deuten weiß. Unregelmäßige, kurze … ja was? … Huptöne? Ja, Huptöne, wie sie Regattaboote beim Erreichen der Ziellinie auslösen. Der kurze Wortwechsel zweier Läufer bestätigt den Wettstreit der Ruderer: „Was meinst? Ob die da draußen Spaß haben?“ zweifelt der eine. „Unter Garantie mehr als wir!“ schallt es überzeugend vom anderen zurück.

Die 50 Kilometer-Zeitmessung erfasst mich nach 5:11:20 Stunden. Gedanklicher Automatismus: ‚… mal zwei ergibt: …’ Illusorisch! Ein Wert ohne Wert! Du wirst länger brauchen! Rasch berechnet, noch rascher verworfen, dieweil ich auf den offenen Laderaum eines Transporters zuhalte. Schon stückweit vorher identifiziere ich meinen Beutel im verknäuelten Durcheinander etlicher Packstücke. Mein „Dropbag“ liegt hinter der Ladefläche im Gras. Wohl dem, der seinen „Claim“ farbig und wasserdicht absteckte! Während ich den Inhalt des leuchtend grünen Beutels - Gels und trockenes Shirt - im Rucksack verstaue, fahndet ein anderer mit wachsender Verzweiflung nach seiner Habe … Sucht und sucht, dreht Taschen und Beutel um, wälzt Rucksäcke zur Seite, sucht und wird unterstützt: „Wie sieht er denn aus?“ - Sucht weiter, sucht und wird fündig … aber leider: „Das ist ja gar nicht meiner!“

Mit neuerlich geschulterter „Last“ wende ich mich dem Buffet zu und grapsche nach allem, was trinkbar ist. Farbe, Geschmack, Zuckergehalt egal. Will ich nicht noch mehr Zeit verlieren, darf ich nicht wählerisch sein. Aus mir uneinsichtigen Gründen, schafft es die Besatzung der Tränke nicht ausreichend Getränke bereitzustellen. Kaum eingeschenkt rinnt’s durch durstige Kehlen … Danke trotzdem und wieder los … Aber halt! Die Erschütterung der ersten Schritte trägt mir Notsignale meiner Blase ein … Endgültig ab und Blick zur Uhr: Der Aufenthalt an der Halbdistanz (nicht Halbzeit!) hat mich satte sieben Minuten gekostet …

… von denen mindestens fünf mangelnder Erfahrung mit dem neuen Laufrucksack geschuldet sind. Dessen Volumen und Tragekomfort hätte mir erlaubt den Inhalt des Dropbags von Beginn an mitzuführen. Ich verbuche den überflüssigen Zeitverlust als Investition in meine läuferische Zukunft. Gut zu wissen, wie viel in den Rucksack passt, wenn ich demnächst wieder als Lastesel unterwegs sein werde.

Nach und nach schrumpft der Baldeneysee auf Schlauchformat. Wo endet der See? An welcher Stelle beginnt der Fluss? - Wahrscheinlich schon vor dieser Fußgängerbrücke, unter der ich zunächst einher trabe. Dreißig Meter weiter schicken mich abknickende Pfeile zur Brücke hinauf. Ein wenig irritiert mustere ich die beiden, SIE und IHN, die eine Abkürzung, eine Treppe hoch zur Brücke, nahmen. Eben noch stückweit hinter mir, nun gleichauf. „Hast du dich vorhin auch verlaufen?“ fragt ER. Vorhin? - „Vorhin“ ist 10 Kilometer und fast anderthalb Stunden her … Ich brumme zustimmend und spüre im selben Augenblick sein schlechtes Gewissen. Warum sollte ER sonst den Umweg zitieren, wenn nicht um unerlaubtes Abkürzen zu beschönigen?

Weiter am Nordufer der Ruhr, die sich für einige Zeit hinter Auwald und Sumpf aller Augen entzieht. Am Gasthaus „Rote Mühle“ kehre ich zum Ufer zurück, um es Minuten später erneut aus den Augen zu verlieren. - Kilometer 61: Neuerlicher Uferwechsel. Der wie vielte eigentlich? - Der vierte, wenn ich richtig zähle, zugleich der letzte, wenn meine Erinnerung mich nicht trügt.

Ich kämpfe. Seit 20 Kilometern schon. Daran darf kein Zweifel aufkommen, auch wenn ich es nicht ständig erwähne. Ich habe minimal an Tempo eingebüßt, etwa fünf Sekunden pro Kilometer. Unerheblich. Das inzwischen in Fünf-Kilometerabständen verabreichte Gel hilft den Kräfteverfall aufzuhalten. Zumindest abschnittsweise genieße ich den langen Lauf am idyllischen Flussufer. Erfreue mich auch an Begegnungen der außerordentlichen oder kuriosen Art. Wie etwa am kunstvoll mit buntem Glas (Kunststoff?) verblendeten Gittermast der Überlandleitung oder einer Armada flussabwärts paddelnder Kanuten. Allerliebst und einen Fotostopp wert auch der fiepende Entennachwuchs: Sechs Küken hat die sichtlich überforderte Alte zu bewachen. Flugs beende ich die Fotosession, als die Kleinen von Mama weg in meine Richtung watscheln. Futterinstinkt? Oder sehe ich einem Erpel zum Verwechseln ähnlich? Nach langem, auszehrendem Lauf, wer weiß? - Wie dem auch sei: Auf dem Radweg besteht Lebensgefahr. Also rasch auf und davon, damit Mama die Jungschnäbel wieder „einsammeln“ kann …

Vor einer Flussbiegung verliert die Ruhr an Breite, gewinnt dafür an Dynamik und Ursprünglichkeit. Im hier schmäleren Bett bildet starke Strömung Wirbel und Strudel aus. Gemessen an der bisherigen Trägheit des Flusses, gezähmt durch Stau oder eingepfercht zwischen Uferbefestigungen, bin ich fast versucht an Wildwasser zu denken. Ob die Kanuten, die mir flussabwärts begegneten, sich auch diesen „gefährlichen“ Fluten auslieferten? - Schon möglich, immerhin trugen sie Schwimmwesten. Ich versuche sie mir da draußen vorzustellen in ihren Kanadiern, mit klopfendem Herzen, kräftig die Stechpaddel durchs Wasser ziehend … Und dann, nach fast 34 (!) Kilometern, ebenso abrupt wie sie begann, endet die beschauliche Tour am Fluss.

„Wir“ tauschen: Ufer gegen Straßenrand. Ein miserabler Handel. Autos zischen vorbei, während sich die Straße bergwärts ersten Häusern zuwendet: Hattingen. Unvermittelt stehen „wir“ vor roter Fußgängerampel. Nach relativer Einsamkeit auf den letzten Abschnitten kommen mir drei, vier Mitläufer vor wie tausend. Vermutlich verhindern sie, dass ich meinem Impuls nachgebe und einfach mal bei Rot zur andern Seite wetze. Abermals vermutlich ermöglichen sie auf diese Weise, dass dieser Laufbericht entsteht. Eins der Autos auf belebter Straße hätte mich wahrscheinlich überfahren. „Gleich gibt’s Verpflegung!“ - Redet sie zu mir oder richtet sie das Wort an alle? Was veranlasst sie überhaupt zu dieser von keiner Nachfrage provozierten Aussage? - Unterstellung: Vor allem redet sie zu sich selbst. Weil sie Durst hat. Haben wahrscheinlich alle. Anhaltender Sonnenschein trieb vermehrt Schweiß aus den Poren. Jedenfalls bei jenen, die gleich mir wärmendes Zeug auf dem Leib tragen. Die Fleece-Handschuhe verstaute ich vorzeiten im Rucksack. Doch, ja, auch ich habe Durst!

Die Getränke werden uns im Hattinger Stadion serviert. Ein Stadion mit echter, roter Aschenbahn! Ich hätte geschworen, dass es dergleichen im Jahre 2019 nach Christus allenfalls noch als denkmalgeschützte römische Arena gibt. Überall dort, wo das Volk mit „Brot und Spielen“ unterhalten wurde. Mein „Brot“ ist flüssig, schmeckt zuckersüß und schenkt mir 100 kcal. Mit reichlich Flüssigkeit - Wasser und Cola, letztere weil’s so schön prickelt - spüle ich nach. Nur kurz währt mein Aufenthalt, dann kehre ich zu den „Spielen“ zurück. Fordernd aufwärts in Wohnstraßen. Minutenlang. Ist das wirklich so steil oder kommt es mir nach langem, flachem Ruhr-Radweg nur so vor? - Ich weiche vom Trottoir auf die Straße aus, um mit möglichst wenig Kanten konfrontiert zu werden. Tippele hinan und freue mich, dass mir das nach 75 Kilometern noch relativ locker gelingt. Die höherfrequente Gel-Fütterung hat ihren Zweck erfüllt ... Rufe verhallen in der Straße. Laut genug, um sie zu hören. In dumpfes Brüten versunken, wären sie mir dennoch fast entgangen. Gilt das mir? - Ich schrecke auf, bleibe stehen, drehe den Kopf hin und her: Kein Mensch weit und breit. Wieder verlaufen!

Kaum mehr als 100 Extrameter. Nicht der Rede wert. Also rede ich auch nicht drüber. Erzähle lieber von Rico, den ich „dank“ Extratour nun wieder vor mir habe. Rico trabte mit dem Prädikat „langer Schlaks“ versehen schon durch einige meiner Laufberichte. Zwischen „Triple Marathon“ im Norden und „Sommeralm Marathon“ im steiermärkischen Süden liefen wir uns bereits x-mal über den Weg. Einer der Rufe, die meinen Irrweg zu beenden trachteten, stammte von Rico. Rico am Berg, Rico geht. Unsere Begegnungen im Wettkampf folgen jedes Mal demselben Muster. Ausgeruht eilt Rico nach dem Start davon. Irgendwann im letzten Drittel, wenn er seinem hohen Anfangstempo Tribut zollen muss, überhole ich ihn. Diesmal also in Hattingen und gleich zweimal. Nein, sogar dreimal. Vor einem Tunnelportal verharre ich und warte bis er mir vorm gähnenden, schwarzen Loch Modell steht.

Ein Tunnel? - Richtig: Vor Kurzem wechselten wir auf die zum Radweg umgewidmete Trasse der „Nordbahn“. Der WHEW geht in die finale Phase. Noch 24 Kilometer. Ich versuche gar nicht erst die Restdistanz mit einem Spruch zu bagatellisieren. Wenn ich’s täte, tauchte unter Garantie eine heimische Strecke ebensolcher Länge vorm geistigen Auge auf. Dann wüsste ich, wie weit das noch ist. Ich lasse lieber die „24“ durchs Oberstübchen sickern und denke: ‚Keine 25 mehr! Bald unter 20!’ Das fühlt sich viel näher an …

Vor mir erstreckt sich, was ich erwartete: Ein stetig, aber vollkommen harmlos ansteigender Radweg. Bis auf Weiteres nicht asphaltiert, was keine Rolle spielt. Nicht mal die Regenflut in der Nacht und gestern konnte den bockharten, aus feinkörnigem Material bestehenden Belag aufweichen. Meine Beine finden eine erträgliche Schrittfrequenz. Ohne bewusstes Zutun meinerseits. Ich beschränke mich auf Tempokontrollen und registriere erfreut, dass die Tachonadel auch bergan noch zwischen 6:20 und 6:30 min/km pendelt. Schon am Ruhrufer kalkulierte ich mehrmals meine mutmaßliche Laufzeit. Elf Stunden unterbieten zu können deutete sich an, stand aber unter dem Vorbehalt dieses Anstieges. Der sich hinziehen aber nicht zum Tempoeinbruch führen wird. So will es mir zumindest nach 3, 4 Kilometern scheinen. Also traue ich mich und erhebe die Möglichkeit zur Forderung: Finish unter elf Stunden!

Das Bergische Land in der Nachmittagssonne. Flockig abgegrenzte Wattebäusche zieren den blauen Himmel. Vermitteln bei jedem Hinsehen einen gutartigen Eindruck. Im Kontext mit dem schon Stunden währenden Ausbleiben von Schauern wächst die Hoffnung auf einen witterungs-verträglichen Schluss des WHEW. Die Sonne lässt vorwiegend mit Wiesen bedeckte Hänge leuchten. Kräftiges Grün, darüber weiß-blau, ganz so wie ich es mag. Der optische Eindruck macht die Kälte erträglicher. Die einstige „Nordbahn“ gewährt Einblicke ins bäuerliche Treiben. Rauscht vorbei an Bauernhöfen, manchmal tief unter den Füßen. Dort wo Viadukte die zahlreichen Täler überspannen. Eine Weile genieße ich diesen Anblick …

Eine ziemliche Weile sogar, bis Empfindungen von Härte und Kämpfenmüssen das Regiment im Oberstübchen an sich reißen. Schuld daran sind die „harmlose“ Steigung und meine Vergesslichkeit. Sie würde sich lange - sehr lange - hinziehen, die Steigung. Das war mir bewusst. Was ich vergessen hatte, war die Natur dieser Steigung und wie sie mental mit mir umspringen würde. Eine ähnliche Steigung - vergleichbare Länge, identischer „harmloser“, eisenbahntypischer Steigungswinkel - erlebte ich vor vier Jahren. Und heute Morgen, in Gegenrichtung talwärts wetzend. Beides ehedem Bahntrassen im Bergischen Land. Im tückischen Bergischen Land. Tückisch, weil die Hügel niedrig aussehen. Sie sehen niedrig aus, weil sie niedrig sind. Doch hinter jedem, den du überwunden hast, taucht ein neuer auf, wieder niedrig, aber ein bisschen höher als der vorherige. Und so geht das Mal um Mal. Viele Male …

Zehn Kilometer Steigung inzwischen. Nun ist die Erinnerung an die Endlosigkeit dieses Anstieges wieder präsent. Der umso endloser wirkt, je länger er andauert. Wieder eine Biegung, hinter der du wider besseres Wissen den Zenit erhoffst. Weiter aufwärts. Wieder und wieder und wieder und wieder … Es nützt dir auch nichts, dass du nicht weiter ermüdest, selbst auf fordernden Abschnitten nie langsamer als 6:40 min/km wirst. Nach und nach macht dich die Rampe fertig. Im Kopf. Bis sich alles Wollen auf den einen sehnlichen Wunsch reduziert, dass sie bitte, bitte, bald zu Ende sein möge …

Aber das Ende kommt nicht. Nicht nach 11, nicht mal nach 12 und 13 Kilometern … Einmal, zwischendrin, so nach neun Kilometern, kam Freude auf, da schien es geschafft. Unvermittelt abwärts in einer Ortschaft. Auf der Bahntrasse wird gebaut. Der fällige kurze Umweg durch ein Wohngebiet gewährt Abwechslung (Umweg? Ist der in der Gesamtlänge berücksichtigt? - Solche absolut belanglosen Fragen kann nur das ignorante A... stellen, das wahrscheinlich jeder von uns mit sich rumschleppt!). Ein Intermezzo, mehr nicht. Wieder zurück auf den Radweg, neuerlich aufwärts …

Am Ende misst die verdammte Rampe sage und schreibe 16 Kilometer! Das war die schlechte Nachricht. Hier die gute: Nur noch 12 Kilometer! - „Bald geschafft! Nicht mehr weit!“ Der junge Kerl will sich anscheinend selber Mut machen. Kann ich so nicht stehen lassen: „Ja, schon, aber die letzten Kilometer sind immer die härtesten!“ - Ich hätte die Läuferweisheit für mich behalten können. Dass sie aus emotionalen Untiefen empor steigend dennoch meine Stimmbänder überrumpelte, liegt am langen Schweigen und dem Grad des Bedrängtseins. Bedrängt von Erschöpfung und schmerzenden Beinen. Endlich jemand, den ich anjammern kann und sei es nur mit besserwisserischem Spruch … Nur will der Kerl sich nicht zum Schwarzsehen bekehren lassen: „Aber jetzt kommen die schönsten Ansichten über die Dächer der Stadt! … “

Ich schiele auf die GPS-Anzeige: 90 Kilometer. Zeit fürs letzte Gel. Blöderweise steckt das unzugänglich in einem hinteren Fach des Rucksacks. Infolge Zuckerverzichts doch noch einzubrechen will ich nicht riskieren. Also werde ich pausieren und den Rucksack ausziehen. Stückweit voraus bietet sich eine Mauer an. Wenigstens nicht bücken müssen! - Drei Minuten verschwende ich an das Manöver. Das Beutelchen hätte ohne weiteres auch in gut zugänglichen Rucksacktaschen Platz gefunden. Wissen und Erfahrung haben ihren Preis. Was die Handhabung meines neuen Laufrucksacks betrifft, heißt die Währung „Zeit“. Hätte, könnte, würde - im Grunde müßig darüber nachzudenken. Andererseits lässt die Summe vergeudeter Zeit die eigene Leistung in noch besserem Licht erscheinen: Drei Minuten jetzt, fünf Minuten an der halben Distanz, zur Aufnahme des Dropbags und noch mal fünf Minuten infolge zweifachen Verlaufens. Macht fast eine Viertelstunde!

Noch acht Kilometer. Irgendwer hat es mit Farbe auf den Asphalt gesprüht. Genieße oder leide ich? - Beides zugleich, lautet die richtige Antwort. In stetem, wenn auch minimalem Gefälle trabend fallen mir die Schritte leicht und schwer zugleich. Ich bin allein auf weiter Flur. Wuppertaler Stadtteile stehen zur Besichtigung an. Der überwiegende Teil des sichtbaren Wuppertals liegt mir zu Füßen. Wird von zahlreichen Viadukten überspannt oder klebt weit jenseits des Tales am Gegenhang. - Nun stückweit nicht mehr allein: Nähere mich einem Läufer samt Begleitradlerin. Als er zur Versorgung stehen bleibt, trabe ich vorbei. Mustere aus dem Augenwinkel sein Gesicht: Älter. Vielleicht sogar in meinem Alter?

In Gedanken lache ich mich aus. In Gedanken geht das, weil es keine Muskelbewegung erfordert, also auch keine Kraft kostet. Denn die lenke ich zu hundert Prozent plus X seit der Begegnung mit dem „Gleichaltrigen“ in meine Beine. Will den vermeintlich in der Altersklasse verbesserten Platz auf jeden Fall ins Ziel retten. Tatsächlich werde ich nicht unbeträchtlich schneller, mehr als eine halbe Minute pro Kilometer, bleibe sogar zweimal unter 6 min/km. Findest du mein Verhalten töricht? Da ich doch nicht mal weiß, ob der Mann tatsächlich in derselben Liga spielt? - Töricht vielleicht. Aber ich mag solche finalen Eskapaden. Weil sie das Leiden im Spiel überspielen. Zumindest wenn ich noch Körner habe, um mitzuspielen. Und offensichtlich habe ich die, was meine Freude um eine Potenz erhebt!

Letzter Verpflegungsstopp unter einer Brücke. Aus Höflichkeit trinke ich einen Becher Cola. Brauche mir nur vorzustellen, wie sich das anfühlen muss: Den ganzen Tag hier rumstehen in Wind und Halbdunkel und dann rennt ein Typ einfach so vorbei … Der Mensch will gebraucht werden, schöpft daraus Zufriedenheit. - Weiter. Durch ein neues Wohnviertel. Vor vier Jahren wurde hier noch gebaut. Vorbei am alten Bahnhof „Wuppertal-Wichlinghausen“. So steht’s auf dem Schild überm Bahnsteig. Meine Verwunderung wächst: Ich spüre keinen Widerstand, der mich zwänge die Schlussoffensive vorzeitig zu beenden. Wie ist das möglich, nach fast 100 Kilometern? - Noch anderthalb Kilometer, noch durch den Tunnel da vorne, dann ist das Ziel nicht mehr weit. Ich drehe mich um, weit und breit kein Verfolger. Konsequenz: Ich werde langsamer. Wozu wegrennen, wenn dich niemand verfolgt?

Dunkelheit umfängt mich, das Tapsen meiner Schritte hallt von den Tunnelwänden wider. Nur anfangs, aus der Sonne kommend, scheint die Dunkelheit vollkommen. Schwache Deckenlampen spenden Licht. Einige davon, in gleichmäßigen Abständen, tauchen die Wand in kaltes Blau. Freude macht sich in mir bereit, sammelt sich, wartet auf den Zielstrich … Aus dem Tunnel in die Sonne. Okay, grad keine Sonne, aber dafür heller Spätnachmittag und außerdem bin ich auf den letzten von 100.000 Metern! Ein bisschen Freude entweicht bereits jetzt infolge leckender Hirn-Dichtungen.

Hinter einer Kurve tippelt einer vor mir her … Den kenne ich. Na ja, nicht wirklich, nicht mit Namen. Stammt aus der Nähe von Göttingen. Meine Vereinskameradin Sybille kennt ihn gut, wie sich anlässlich einer Begegnung beim „Elmtrail“ - lang, lang ist’s her - herausstellte. Einer der „üblichen Verdächtigen“, denen du auf beliebigen Ultrarouten irgendwo in dieser Welt mit einiger Wahrscheinlichkeit begegnen wirst. Ich will an dem vorbei! Unbedingt! Kein besonderer Grund. Weil ich’s will und weil ich’s kann! Oder doch nicht? - Nur noch drei-, höchstens vierhundert Meter bis ins Ziel. Also ziehe ich einen höllischen Endspurt an, der mich dem Mann rasch näher bringt. Flitze schließlich an ihm vorbei, als ginge es um den Olympiasieg. Du hast dich wohl geschont, könnte er mir zurufen. Nein, so war’s nicht! Würde ich antworten und alle Laufgötter in den Zeugenstand zitieren. Letzte wunderbare Meter … ich höre Namen und Herkunft … meine Arme recken sich von selbst in den Wuppertaler Himmel … Noch drei Schritte unter Beifall, dann ist es geschafft.

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Ergebnis: 10:46:55 Stunden, Platz 38 von 142 Männern, Platz 1 von 1 in M65

Wie sich zeigte, war mein finaler Wettlauf mit dem vermeintlich Gleichaltrigen sinnlos. Als zweitältester Teilnehmer überhaupt und einzig in M65 musste ich „nur“ ankommen, um die Altersklasse zu gewinnen. Was meine Zeit tatsächlich wert ist, bemesse an der Platzierung im Feld. Unter vielen, teilweise auch bedeutend jüngeren Teilnehmern ins erste Drittel der Rangliste vorzustoßen nehme ich als Beleg für einen bisher erfolgreichen Ausdaueraufbau.

 

Fazit zur Veranstaltung

Es bewahrheitete sich, was ich kurz vorm Start dachte: Ein vormals kleines, feines Laufevent reifte zur großen, immer noch sehr feinen Veranstaltung. Zu kritisieren gibt es nichts und für Details verweise ich auf meine Einlassungen im Bericht von 2015.

Ein Wort zur Streckenrichtung: Ich kenne nun beide Varianten. Mir kam die ursprüngliche Laufrichtung eher entgegen. Erst die Majorität der Streckenschönheiten, so lange ich noch munter genug bin sie zu genießen. Das weniger Sehenswerte zum Ende hin, wenn Ausblicke im „Überlebenskampf“ längst eine untergeordnete Rolle spielen.

 

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