Thüringer Doppel in Stadt und Land

Teil 2: Sonntag, 28. April 2019

Die Kultour  -  100 Jahre Bauhaus Marathon Weimar 2019

Als erfahrener Läufer glaubt man seinen Körper zu kennen. Weil er meistens so reagiert, wie man es erwartet. Wäre es nicht so, wie wollte man Ausdauer gezielt verbessern? - Training besteht aus einer Folge vorbedachter Belastungsreize. Intensität, Dauer, wie auch Häufigkeit dieser Reize richten sich nach allgemeinen und individuellen Erfahrungswerten. Auch ich nehme das Prädikat „erfahrener Läufer“ für mich in Anspruch. Obschon mein Körper zuweilen ganz anders reagiert als erwartet. Gibt sich störrisch wie ein Esel, wenn ich gute Leistungsfähigkeit unterstelle, oder schnurrt wie ein Kätzchen, obschon ich ein unwilliges Fauchen erwarte.

Gestern umrundete ich den Bleilochstausee auf 48 Kilometern, bewältigte dabei etwa 750 Höhenmeter und malträtierte fast fünfeinhalb Stunden lang meine Laufwerkzeuge auf teils „kriminell“ schlechten Wegen. Nach diesem „Reiz“ sollten meine Füße heute Zeter und Mordio schreien, da ich ihnen abermals einen Marathon abnötige. Sagt Erfahrung, nicht zuletzt auch jüngere aus vier Ultraetappen rund um den Plattensee im März. Und nun trabe ich im Schwarm von etwa 2.000 halben und ganzen Marathonis, vermehrt um etliche Staffelläufer und vernehme nicht mal das leiseste Wehklagen seitens Sehnen, Gelenken und Co. Überhaupt nichts. Null. Als hätte ich den gestrigen Tag faul auf der Couch verbracht. ‚Von wegen faul!‘ jammert meine Muskulatur, denn die ist selbstverständlich noch restmüde. Schlappe Beine also, aber kein Zipperlein.

Glänzen werde ich mangels vollständiger Erholung heute kaum können, lege die Messlatte dementsprechend niedrig: Alles laufen und in achtbarer Zeit das Ziel erreichen. „Achtbar“ bleibt diffus. Ob „achtbar“ stattfand, wird sich erst in der Rückschau beurteilen lassen. Keine konkrete Zeitvorgabe, dennoch linse ich zu Beginn wiederholt auf die Uhr. Das dient rein dem Abgleich: Entspricht das gefühlte Tempo dem tatsächlichen?

Die Planung der Vorbereitungswettkämpfe für das Saisonziel vollzieht sich stets nach demselben Schema: Zu einem sinnvollen Zeitpunkt, meist gegen Ende des Vorjahres, setze ich mich an den PC und durchforste die Ultra-/Marathonkalender. Dabei lege ich mich auf Veranstaltungen fest, die zeitlich und vom Anspruch her zum mutmaßlichen Trainingsfortschritt passen. An diesem Wochenende bot sich das Thüringen-Doppel „Bleiloch“ - „Weimar“ an, gerade mal eine Fahrstunde voneinander entfernt. Mit dem Aufenthalt in Weimar verband ich also ursprünglich nur die Absicht eines langen Trainings (auf noch müden Füßen). Ich schaffte es nicht mal mich darüber zu wundern, dass mir ein „Weimar Marathon“ in all den Jahren nie unterkam. Sonst wäre mir wahrscheinlich aufgefallen, dass der „100 Jahre Bauhaus Marathon Weimar 2019“ erst- und einmalig stattfindet. Nun bin ich hier, mit meiner Frau Ines, die Erstaunliches zu Stadt und Lauf recherchierte und gucke ein bisschen aus der Laufwäsche wie Alice im Wunderland …

Bevor ich mich in weiteren Erläuterungen verliere, vielleicht sogar verstricke, lasse ich Alice - also mich - die ersten Kilometer zusammenhängend laufen. Es beginnt vorm neuen, vor kurzem eröffneten (noch unfertigen) „Bauhaus Museum“. Ein Kreuz-und-quer-Jogg durch Weimars Straßen schließt sich an. Vorbei an berühmten Stätten, deren Bezeichnung und Bedeutung ich zu diesem Zeitpunkt nicht kenne. Das wird sich erst heute Nachmittag bei einem Spaziergang mit Ines ändern. Noch mit touristisch-kultureller Blindheit geschlagen streife ich:

Von all dem und anderem registriere ich … nichts. Was mich allerdings heute Nachmittag nicht daran hindern wird heimliche Freude darob zu empfinden, entlang so vieler kultur- und politikgeschichtlicher Juwelen einen Marathon gelaufen zu sein. Jetzt, kurz nach 9 Uhr morgens, geht’s mir eigentlich nur um mein läuferisches Wohlergehen, dass und wie ich irgendwann das Ziel gewinne. Mitentscheidende Größe darin: Die Witterung der nächsten Stunden. Derzeit ist es kalt, höchstens sieben, acht Grad Celsius. Regen fällt aktuell keiner. Allerdings rechne ich minütlich damit, weswegen die verhasste Schildkappe im Hosenbund steckt, um bei Bedarf Brillenklarsicht zu bewahren. Ansonsten trage ich kurze Hose, langes Hemd, Singlet drüber, Mütze, Handschuhe, Halstuch. Oben Winter unten Sommer, was im Schnitt leider keinen gedeihlichen Lauffrühling ergibt.

Alice verlässt Weimar auf unspektakulärem Kurs, durchquert einen Außenbezirk. Schon hier gewinnt der Kurs an Höhe, was sich nun vor den „Toren“, am Feldrand und auf gutem Radweg fortsetzt. Weimar, das ist … groß. Bedeutsam. Eine Zusammenballung kultur- und zeitgeschichtlich prägender Orte und Ereignisse. Dergleichen geht Alice, langsam hinan trabend, durch den Kopf. Viele der bunten Gestalten um mich her laufen mit, weil dieser (Halb-) Marathon in ihrer Region stattfindet. Ein Großteil von ihnen, wie auch zahlreiche in- und ausländische Lauftouristen, genießt darüber hinaus die Einmaligkeit der Veranstaltung. Sie entstand zum 100jährigen Jubiläum des „Bauhauses“, das in diesen Tagen unter anderem mit der Eröffnung des neuen Museums gefeiert wird. Es blieb der unermüdlich forschenden Ines vorbehalten, mir diesen Hintergrund aufzuzeigen.

Inhalt und Bedeutung, des Begriffs „Weimarer Bauhaus“ vermag ich allenfalls dilettantisch zu beschreiben. Das „Staatliche Bauhaus“ war eine 1919 in Weimar von Walter Gropius gegründete Kunst- und Designschule. Wesentlich und neu war die beabsichtigte Verschmelzung von Kunst und Handwerk, sowie die Beschäftigung mit brennenden Fragen der Moderne. Vielleicht so zusammengefasst: „Wie wollen wir in Zukunft leben?“ - Eine Frage, die das gesamte materielle Umfeld des Menschen betraf, nicht zuletzt Gebrauchsgegenstände in seiner Wohnung. Darüber hinaus auch die Gestaltung von Wohnhäusern, -vierteln und ganzen Stadtteilen. Was den in jenen Jahren entwickelten „Bauhaus-Stil“ charakterisiert, davon lasse ich gänzlich meine in die Tastatur hackenden Finger. Ist mir selbst nicht wirklich geläufig und deswegen zu heiß.

Während Alice gemessenen Schrittes die moderate aber kilometerlange Steigung im Wunderland bewältigt, hat sie keine Muße sich mit Weimarer Kulturgeschichte zu befassen. Muss allerdings entscheiden, wie sie mit dem speziellen Konzept dieses Marathons, den laufzeit-neutralen „kultur_auszeiten“, verfahren will. Alice hat erst spät davon erfahren, guckte - wie schon erwähnt - ein bisschen verdutzt aus großen Augen: Entlang der Strecke wird Kultur angeboten! Historische Architektur, Darbietungen und … ach, keine Ahnung was sonst noch. Durch Überlaufen einer Matte der Zeitmessung darf sie an jenen Orten „auschecken“, sich umsehen, umhören, „umherfühlen“ und abschließend wieder „einchecken“. Ihre Laufzeit wird für die Dauer des Aufenthalts eingefroren. Um es nicht endlos ausufern zu lassen, wurde der Zielschluss auf 16:30 Uhr festgelegt. Immerhin satte siebeneinhalb Stunden, um alle „kultur_auszeiten“ wahrnehmen und das Ziel erreichen zu können.

Und du, Udo, wie willst du es halten? - Grundsätzlichem Kulturinteresse verstärkt durch eine Portion Neugier widerspricht zum einen das Wetter. Während minutenlanger Laufpausen werde ich auskühlen. Zudem wünschen sich die müden Beine eine möglichst zügige Bewältigung der Strecke. Jeder Wiedereinstieg wird mir umso schwerer fallen, sich umso schmerzhafter anfühlen, je näher ich dem Ziel komme. Ich beschließe mich auf die ersten beiden „Auszeiten“ einzulassen, noch vor der 10 km-Marke, alles Weitere findet sich …

Jörg nebst Begleiterin habe ich aus den Augen verloren. Die beiden gingen ausgeruht an den Start und entsprechend forsch in diese Steigung. Schritt um Schritt zogen sie davon. Ich hätte folgen können, ließ es aber vorsichtshalber bleiben. Bei Ausdauer-Abenteuern unter hoher Restermüdung steht mir nicht der Sinn nach „offensiver Tempowahl“. Jörg, den man mit Fug und Recht als Thüringer Ultra-Urgestein bezeichnen darf, kenne ich schon ziemlich lange. Vermutlich seit meiner ersten Teilnahme am Rennsteiglauf im Jahr 2008. Leider sehen wir uns selten, was vornehmlich Jörgs Heimatverbundenheit geschuldet sein dürfte. Er bevorzugt Läufe im Thüringischen Umfeld. Ein paar Sätze und diverse Fakten konnten wir austauschen, für mehr war keine Zeit. Und eingestandenermaßen bin ich auch nicht böse nun wieder schweigen und mich egozentriert in mein Schneckenhaus zurückziehen zu dürfen.

Grüne Gegend, sanft moduliert, nichts Steiles. Es dominiert die für die neuen Bundesländer so typische, weiträumige Feldwirtschaft. Ein Relikt der ehemaligen DDR, Überbleibsel so genannter „Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LPG)“. Als Windschutz gepflanzte Hecken und kleinere Waldstücke begrenzen gelegentlich den Blick. Unter grauem, fortwährend mit Niederschlag drohendem Himmel nichts, was mich vom Hocker reißen könnte. Einerlei. Schon der Umstand keine Nachwehen der gestrigen Fußtortur erdulden zu müssen genügt, um mein Stimmungsbarometer in die Höhe zu treiben. Die Müdigkeit der Beine nehme ich gerne an. Ihr zu trotzen und dabei noch tiefer in die Erschöpfung zu rutschen ist schließlich Zweck eines Doppeldeckers. Schon gar nicht werden schwere Beine verhindern, dass ich nach vier Stunden plus X ins Ziel laufe.

„kultur_auszeit in 100 m“ steht auf der Tafel. Neugier lodert auf. Die unter einem Partyzelt mehr oder minder modernen Pop zum Besten gebende Live-Band würde eine Auszeit kaum rechtfertigen. Was ich dann letztlich nach dem „Auschecken“ zu sehen bekomme, im Grunde auch nicht. Von Gebäuden und Bäumen großflächig verdeckt bietet sich die Dorfkirche zur Besichtigung an. Wenig anziehendes Gemäuer, zumal der Blickfang eines jeden Gotteshauses, der Turm, sich eingerüstet den Blicken entzieht. Den Gedanken das Innere des Kirchleins in Augenschein zu nehmen verwerfe ich sofort wieder und wende mich zum Gehen. Beim „Einchecken“ entdecke ich meine Unterlassungssünde: Uhr nicht gestoppt! Tschüss Nettozeit! Was soll’s, die Uhr strafe ich heute ohnehin mit Nichtachtung.

„kultur_auszeit in 100 m“ - etwas mehr als einen Kilometer später, in Gelmeroda, weiß ich dank Ines ausnahmsweise, was mich erwartet. Neuerlich eine Dorfkirche, diesmal sogar in ganzer Pracht sichtbar für jeden, der sich abseits des Wettkampfs in eine Seitenstraße bemüht. Das Kirchlein erlangte durch den deutsch-amerikanischen Maler und Bauhaus-Künstler Lyonel Feininger Weltruhm. Vor allem der hohe, spitze Turm inspirierte ihn zu etlichen Werken quer durch sein künstlerisches Schaffen. Drei Minuten, höchstens vier, dann bahne ich mir den Weg durch die vom nahen Bratwurstgrill aufsteigende Qualmwolke zurück zur Matte der Zeitmessung und in den Wettkampf …

Die Regenfälle der Nacht haben den Feldweg in eine Schlammwüste verwandelt. Binnen Sekunden starren meine schwarzen Laufschuhe vor aufspritzendem, hellem Dreck. Zum Glück ist die Schlammschicht nicht tief und der Spuk nach anderthalb Kilometern, vor der Ortschaft Possendorf, überstanden. Erstmal. Zu meinem Missfallen wiederholt sich das Feldwege-Intermezzo hinterm Dorf, allerdings weitgehend matschfrei. Ich schaue mich um: Wieder riesige Feldareale, die den Eindruck vermitteln sich über halb Thüringen hinzuziehen. Weites, offenes Land, keinerlei Deckung. Der unangenehm feuchten Morgenkälte zum Trotz adressiere ich meinen Dank für die beinahe perfekte Windstille an Unbekannt! Für Momente stelle ich mir vor ein steifer Ostwind bliese mir entgegen …

Kilometer 14: Wie eben in Possendorf ignoriere ich auch in Vollersroda die Kulturauszeit. Hier wie dort höre, sehe, spüre ich nichts „kulturmagnetisch“ Anziehendes. Etwas, das den Wunsch diesen Marathon zügig zu Ende zu bringen, übersteigen würde. Also weiter, dorfauswärts, der Landstraße gen Weimar folgend. Auf dem nächsten Kilometer vollzieht sich eine dramatische Wandlung der Umgebung von mäßig wellig und Großflächen-Landwirtschaft zu tief eingeschnitten, bewaldet, fast kleinbäuerlich kitschig. Nicht zuletzt eine im Talgrund weidende Schafherde lässt mein Fotografenherz pulsieren - und nicht nur meins. Eine Streuobstwiese passierend gewinnen wir den nahen Wald und …

… erleben den Übergang von bäuerlich kultivierter zu hochherrschaftlich gestalteter Natur im Schlosspark Belvedere. Sanft bergab in der Hauptallee des Parks … Dem Bauern geht es um Ertrag und Nahrung, dem lustwandelnden Fürsten vorwiegend um ergötzliche Ansichten und die Demonstration von Reichtum. Die Kilometertafel „35“ vor einem Alleebaum erinnert mich an die teilweise Deckungsgleichheit der ersten und zweiten Halbmarathonrunde. Diesen Teil des Kurses werde ich folglich ein zweites Mal sehen dürfen. - Quasi über den „Hintereingang“, zwischen Nebengebäuden, erobert die Meute den Schlosshof. Relativ klein wirkt der barocke Schlossbau, dafür aufs Prächtigste herausgeputzt. Nach einer Schleife um weitere Zweckbauten samt kurzer frontaler Schlossansicht steht mein Entschluss fest: Ich möchte mit Ines wiederkommen, um mir Schloss und Park in aller Ruhe zu erschließen.

Belvedere wurde auf einer Anhöhe erbaut, von der aus man das vier Kilometer entfernte Weimar in der Talsenke überblicken kann. Die Sichtachse zum Mittelpunkt der Stadt entspricht bis auf einen unbedeutenden Knick der langen Zufahrtsstraße. Auf dem parallel dazu verlaufenden Fußweg, die Höhe nach und nach preisgebend, nähere ich mich rasch der Stadt. Ein bisschen neidisch schiele ich vom stellenweise holprigen, da und dort vom Regen schlüpfrigen Fußweg zur Fahrstraße hin. Kilometer 18, ein weiteres Auszeitangebot. Ein Gebäude. Ich werfe einen flüchtigen, irgendwie scheuen Seitenblick auf das „Angebot“. Anscheinend wehrt sich alles in mir dagegen den gut eingespielten Laufrhythmus zu brechen. Woraus besteht die Attraktion? Aus dem Gebäude selbst oder etwas in seinem Inneren? - Ich erwäge nicht wirklich die Antwort zu ergründen. Auch um Ines, die sicher bereits hinter der Halbmarathonmarke Position bezogen hat, nicht übermäßig lange warten zu lassen.

Was für eine Schikane! Statt geradlinig weiter aufs Zentrum zuzuhalten, schlägt die Route plötzlich einen Haken durch Wohnviertel und steigt wieder an. Und das nicht mal unbeträchtlich, dokumentiert von etlichen Mitläufern, die es vorziehen hier zu gehen. Städtebaulich und kulturgeschichtlich Hochkarätiges erlebe ich erst wieder auf dem letzten Kilometer vorm (Halbmarathon-) Ziel. Leider einmal mehr ohne Funktion oder auch nur den Namen der Bauwerke zu kennen. Im Grunde hasse ich nichts mehr als an baulicher Historie vorbei zu schleichen, ohne deren Bedeutung zu kennen. Das mindert zwar nicht meine Laufleistung, ganz sicher aber den Laufspaß …

Als krass wird empfunden, worauf man gedanklich nicht vorbereitet ist. Nach Passieren der Marathongasse in Höhe des Zieles trabe ich plötzlich mutterseelenallein über das Altstadtpflaster. Gerade noch in Trauben von Läufern unterwegs und nun gähnende Leere … Auf das Stadtschloss Weimar zu, weiter abschüssig bis ans Ufer des beschaulichen Flüsschens Ilm. Eine Brücke bringt mich ans andere Ufer. Für einen Moment zweifele ich an der Streckenführung. Per Handzeichenverständigung lasse ich mir von einem abseits die Straßensperre bewachenden Streckenposten die Richtung zeigen. Ab hier wieder stadtauswärts.

Seit dem Zieldurchlauf fahnde ich nicht nur aufmerksam nach Streckenmarkierungen, sondern auch nach meiner Frau. Sollten wir uns verpasst haben? - Wenig wahrscheinlich, so dicht standen die Zuschauer im Zielbereich nicht … … Hinter einer Straßenecke entdecke ich sie dann. Sofort richtet sich Ines‘ Handykamera auf mich, anschließend beginnt der oft praktizierte Tauschhandel: Infos, wie’s mir geht, für Ines und zwei Gels für mich - aufgewertet natürlich von einem Kuss und ihrem Lächeln. Leider hat es zu regnen begonnen. Für Brillenträger doppelt unangenehm, so dass ich nun die Schildkappe unter die Mütze ziehe. Das sieht lächerlich aus ist aber nicht zu ändern …

Ich habe eine Laufpartnerin gewonnen. Heike*, gleich mir gestern auf der Bleilochrunde unterwegs, holt mich noch bei Ines stehend ein. Sie fragt wie ich drauf bin. Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube. Im Allgemeinen nicht und Marathon laufend schon gar nicht. Mein „Ich bin müde!“ entspricht also genau dem, was ich im Moment empfinde. Schwächer als zu Beginn, aber nicht so, dass es mein Finish gefährden könnte. Heike scheint noch besser bei Kräften zu sein, ermuntert mich gemeinsam weiterzulaufen. Zwiespältiges Echo in meinem Kopf: Wenn ich mich fühle, wie ich mich augenblicklich fühle, dann bin ich am liebsten alleine unterwegs. Andererseits könnte mir Heikes Gesellschaft die ausstehenden 20 Kilometer kurzweiliger gestalten!? Und genauso lässt es sich dann auch an …

*) Heike und ich kennen uns vom „Mauerweglauf“ und den Etappen der „Balatonrunde“. Die Thüringerin war als Mitglied der 24-Stunden-Nationalmannschaft sehr erfolgreich.

Warum schickt uns der Streckenplaner diesen steilen, obschon nicht sonderlich hohen Hang hinauf? Wir wähnten uns im flachen Park „geborgen“ und nun das! Oben angekommen gibt’s Verpflegung … na ja, was der Veranstalter des Bauhaus-Marathons so unter „Verpflegung“ versteht: Wasser und Tee, das ist alles. Übrigens an allen Verpflegungsstationen und das für ein horrend hohes Startgeld. Keine 30 Meter hinter der Verpflegungsstation geht’s gleichermaßen steil wieder hinab in den Park an der Ilm. Erst im Nachhinein werden wir das Rätsel dieser „schikanösen Extratour“ lösen: In Höhe der Verpflegungsstation hätten wir das „Haus am Horn“ besichtigen können. Ein Wohnhaus mit Flachdach, das einst im Bauhaus-Stil errichtet wurde. Nur leider fehlte diesmal ein auf die „kultur_auszeit“ hinweisendes Schild …

„Bienenmuseum!“ - Heike spricht das Wort aus, hat irgendwo einen Hinweis gelesen. Fragt erstaunt nach: „Hier gibt’s ein Bienenmuseum?“ - Keine Ahnung in welcher Richtung und woran sie das Bienenmuseum erkannt hat. Der Öffnungswinkel meiner Optik lässt erschöpfungsbedingt solche Wahrnehmungen nur noch zu, wenn ich quasi drüber stolpere. Immerhin kann ich der Thüringerin Heike die Existenz eines Weimarer Bienenmuseums bestätigen. Wer hat’s während der Herfahrt im Reiseführer entdeckt? - Natürlich Ines!

Auf der Brücke über die Ilm bleibe ich stehen, um das grüne Idyll im Bild festzuhalten. Damit aus einem „Caspar-David-Friedrich-Gemälde“ ein Lauffoto wird, warte ich, bis mir die pink-bedresste Heike vor die Linse rennt … Den gewünschten Schnappschuss bekomme ich, nur leider keinen Anschluss mehr an Heike. Die ist einfach zu flott unterwegs und um fünfzig Meter in meinem Ausdauerzustand aufzuholen, dazu fehlt mir einfach der Antrieb - im wahrsten Sinne des Wortes.

Der Radweg durchschneidet das grüne Tal der Ilm. Meist geradeaus, Generalrichtung Südost, wechselweise Wiesen und Auwald beidseits der Route. Gelegentlich nähert sich die mäandernde Ilm dem Weg und umschmeichelt das Auge mit zauberhaften Wasseransichten. Brettflaches Terrain so weit das Auge reicht. Das ist die berüchtigte „Ruhe vor dem Sturm“: Immerhin müssen wir noch mal zum Schloss und das liegt irgendwo dort oben rechts, auf dem Hügel, hinterm Wald …

Kilometer 27: Der Himmel hat sich binnen Minuten verdunkelt und es beginnt zu regnen. Der Schauer scheint kräftiger auszufallen, so dass ich die unterdessen verstaute Kappe neuerlich hervor nestele. Fünf Minuten, dann ist der Spuk gottlob wieder vorbei. Rechtzeitig vor der nächsten „kultur_auszeit“ in Mellingen. Die nehme ich mir, weil ich Heike in Richtung Kultur (= Dorfkirche) verschwinden sah. Vielleicht können wir dann wieder zum Duo vereint weiterlaufen … Nirgendwo ein Fleck strahlendes „Pink“. Vielleicht in der Kirche? - Ach nein, nach dem Inneren einer Kirche steht mir wirklich nicht der Sinn. Also checke ich wieder ein und nehme den nächsten Happen Marathon solo in Angriff …

Wie erwartet alsbald hinan, gemütlich zunächst, doch von Minute zu Minute orientiert sich das Sträßchen fordernder gen Himmel. Gehen werde ich nicht! Mit stufenweiser Temporeduzierung vermag ich jeder Belastung gerecht zu werden. Auch als die Straße in einen holprigen Feldweg übergeht. Ich suche mir zwischen spitzen Steinen die am wenigsten „fußschmerzende“ Furt und tippele auf den Waldrand zu … Dann Wald … Laubwald in kräftigem, frischem Grün … noch mehr Wald … immer noch im Wald … zugleich immer weiter aufwärts … einen Kilometer, dann zwei … zwischenzeitlich auch mal stückweit im Gefälle. Mit der klaren Erkenntnis im Kopf, dass jeder Meter abwärts ein weiteres Mal erklommen werden will. „Final bergab“ geht’s erst ab Kilometer 35 im Schlosspark …

Immer noch im Wald kommt es zum kurzen Stelldichein mit Heike: In einem Steilstück - und wenn ich steil schreibe, meine ich steil - überholt sie mich gehend. Ich stehe zwischen Bäumen, weil ich das Quengeln meiner Blase nicht länger ertragen wollte. „Back on the road“ tippele ich wieder an Heike vorbei. Ihr wisst schon: Gehen geht gar nicht. Also wieder getrennt … Jedoch nur bis zur Hauptallee im Schlosspark, die dem schier endlosen Auf und Ab im Wald ein Ende bereitet. Gemeinsam besichtigen wir Park und Schloss Belvedere ein zweites Mal. Wie es körperlich um mich steht, entnehme ich meiner aktuellen Wahrnehmung des prachtvollen Bauwerks: Weniger glanzvoll als beim ersten Mal, obwohl die Sonne auch diesmal die Fassade, samt da und dort aufgetragenen Blattgoldes zum Leuchten bringt. Wir queren den Schlosshof. Gelegenheit für ein Foto, das die Unterschiede zwischen Barock und Moderne im Farbkontrast zeigt: Im Hintergrund die warmen, gedeckten Farben der Schlossfassade, davor Heike im leuchtend „pinkfarbenen“ Renndress …

Ich geb’s zu: Als Solist hätte ich keine Auszeit genommen. Nicht allein, weil ich dafür - inzwischen hundemüde - etliche Treppenstufen ersteigen muss. Mehr als das fürchte ich den Wiederanlaufschmerz nach Minuten der Fußruhe. Und was gibt’s hier zu sehen? - Wir betreten ein hochmodernes, sicher erst vor Monaten in Schlossnähe fertiggestelltes Bauwerk. Ein Musikgymnasium. Aha! Und weiter? - Viel Glas verbaut, auch in der Decke, also lichtdurchflutet. Geschmackvolle Holzverblendungen im Atrium. Was will man uns hier zeigen? - Stellwände präsentieren ein paar Gemälde, ausnahmslos menschliche Konterfeis. Um die kann es kaum gehen in einem Musikgymnasium!? Also will man uns den Stil des Gebäudes zeigen!? Abschließend stelle ich das so fest und Heike widerspricht mir nicht. Sollte ich sie überzeugt haben, sitzen wir demselben Irrtum auf … nach dem Lauf erfahre ich, dass es - was liegt näher? - im Musikgymnasium „was auf die Ohren gab“. Seltsam allerdings: Mensch oder Instrumentarium, das Musik hätte von sich geben können, war nirgendwo zu sehen.

Die Schlossanlage bleibt hinter uns zurück. Übereinstimmend stellen wir fest: Genug gelaufen an diesem Wochenende! Ein Anfall unverstellter Selbsterkenntnis lässt mich lauthals auflachen und mit beißendem Spott hinzufügen: „Um zu laufen, was wir laufen, muss man ganz schön einen an der Waffel haben!“ Neuerlich kommt kein Widerspruch von der Frau neben mir. Weil es stimmt. „Bleiloch“ gestern plus Marathon-Sightseeing Weimar heute. Und an den Tagen davor konnte man uns auch schon trainieren sehen. Mich unter anderem eine Intervalleinheit am Donnerstag. In die „Wertung“ geht jedoch nicht nur das hohe Pensum ein. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht - verzeih mir Heike!: Wir sind beide nicht erst vor ein paar Monden aus dem Ei geschlüpft …

Dem verehrten Leser mehrerer meiner Laufberichte dürfte nicht entgangen sein, dass ich mein fortgeschrittenes Alter häufiger erwähne. So häufig immerhin, dass mir das selbst auffiel. Ich nutze die Gelegenheit, um jeden Verdacht des Kokettierens oder eines „Fishing for Compliments“ weit von mir zu weisen. Vermutlich geht es mir nicht einmal darum meine schlechter werdenden Laufleistungen altersgerecht zu relativieren. Nach der Methode „steter Tropfen höhlt den Stein“ bläue ich mir unentwegt das Unausweichliche ein: Die mit steigendem Alter schwindende Trainierbarkeit meiner Ausdauer! Und das einzig, damit mein Ehrgeiz mit dem Erreichten, das dem noch Erreichbaren nahekommt, seinen Frieden macht.

Bergab auf Weimar zu. Ohne weiteren Halt. Zum zweiten Mal die Schikane des unvermuteten Buckels. Heike geht, ich tippele. Distanz entsteht. Wie viel weiß ich nicht. Drehe mich nicht um. Sogar dafür fehlt mir inzwischen Motivation. Ist überdies egal, weil ich vorm Zieleinlauf warten werde, sollte Heike bis dahin nicht aufgeschlossen haben … Muss das sein? - Jetzt noch eine lästige Zusatzschleife für die Marathonis. Wo ich das Ziel fast schon riechen kann, zwei zusätzliche Kilometer, um den Marathon voll zu machen. Auf den ersten Metern trabe ich an Heikes Lebensgefährten Christian vorbei: „Heike ist hinter dir!“ Wahrscheinlich glaubt er, wir hätten uns marathonweit verfehlt wie die redensartlichen „Königskinder“: „Es waren zwei Königskinder, … sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief …“ Mit Handzeichen signalisiere ich verstanden zu haben. Wird er als Gruß interpretieren, da ich mich nicht umdrehe und das Tempo reduziere …

Das um ein paar Meter versetzte Duo „Heike-Udo“ wetzt einen Kilometer stadtauswärts. Am Rand des Parks, weg vom Ziel. Mental merkwürdig belastend, obwohl ich genau weiß, dass lediglich noch zwei Kilometer zum Finisher-Glück fehlen. Sobald ich in den Park einbiege und nun endgültig auf den Zielbereich zuhalte, dreht sich meine Gefühlslage. Zufriedenheit mit dem Verlauf des „Doppel-Abenteuers“ und Vorfreude auf das zweite Finish binnen Tagesfrist überschwemmen mich wie eine warme Welle. Ein antik anmutender Pavillon* mit vier Säulen im Eingangsbereich erregt meine Aufmerksamkeit. Um ein Fotomotiv vorherzusehen muss ich nicht denken, wäre dazu auch zu müde. Ich gehorche einem Reflex, der entweder in meiner Wiege lag oder sich durch stetes Üben einstellte: Zum Wegrand hin ausscheren, zugleich die Kamera einschalten und mich nach Heike umdrehen ist eins … Und: Klick!

*) Was wie ein antiker Tempel aussieht, gehört als „Römisches Haus“ zum Ensemble „Klassisches Weimar“ (Seit 1998 Teil des UNESCO-Welterbes).

Der letzte Kilometer. Nebeneinander, wo erforderlich auch unmittelbar hintereinander, streben Heike und ich dem Ziel zu. Vorbei an der weltberühmten „Herzogin Anna Amalia Bibliothek“ auf den Platz der Demokratie. Seite an Seite in Richtung Zielstrich und Heike gibt das Kommando, zu dem sich unsere Hände zusammenfinden … Muss ein schönes Bild sein für die Zuschauer, denke ich. Nicht ahnend, dass Christian unseren Zieleinlauf als Videodreh festhält …

Kurios: Just im Moment unseres Finisher-Glücks zeigt die offizielle Uhr 4:44:44 Stunden an!

Ergebnisse (Nettozeit):

Heike: 4:27:09 h

Udo: 4:33:55 h

 

Fazit zur Veranstaltung

Ich wurde während des Wettkampfs von einem Laufbekannten gefragt, wie mir das Konzept der Veranstaltung gefällt. Das konnte ich zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig sinnvoll beantworten, wie jetzt, mit dem Abstand mehrerer Tage. Ich war mit den „Kultur-Auszeiten“ schlichtweg überfordert. Einerseits mangels entsprechender Vorbereitung, wie der Laufbericht zeigt. Dass oftmals nicht das Bauwerk selbst, sondern eine Darbietung darin die eigentliche Attraktion darstellte, wusste ich nicht. Darüber hinaus war ich zu müde, um mich „offenen Herzens“ auf eine Verknüpfung von Lauf und Kultur einzulassen.

Die auf vielen Abschnitten kulturgeschichtlich und landschaftlich reizvolle Strecke hätte die Erhebung zur Dauerveranstaltung mehr als nur verdient. Es wäre schade, wenn es bei der angekündigten „Einmaligkeit“ des „Bauhaus Marathons“ in Weimar bliebe.

Ablauforganisatorisch gibt es wenig Grund zu nörgeln, wenn man vom nervigen Mahlstrom im Eingangsbereich der „Weimarhalle“ zum Deponieren der Bekleidung absieht. Ein vorhersehbares Gedränge, das durch Öffnen beider Flügel der Eingangstür ohne weiteres hätte vermieden werden können.

Als Ärgernis betrachte den für 80 bis 100 Euro Startgeld - je nach Anmeldezeitpunkt - erhaltenen Gegenwert. Insbesondere die spartanische Ausstattung der Verpflegungspunkte mit Wasser, Tee und sonst nichts hinterließ den Eindruck vom Veranstalter schlichtweg über den Tisch gezogen worden zu sein.

 

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