14. April 2019

Es gibt diese Tage …  -  Der "Harte Mann" Ultralauf 2019

In Physik und Chemie spielt sie eine wichtige Rolle; begleitet, unterstützt oder löst Prozesse sogar aus. Ohne sie gäbe es kein Leben, weder auf diesem Planeten noch irgendwo sonst im Universum. Und das jüngst fotografierte Schwarze Loch machte seinem Namen alle Ehre, weil die orangerote Farbe außen rum nicht existierte. So viel zu den objektiven Fakten, wenngleich damit allenfalls grobe Umrisse jener physikalischen Größe skizziert sind, die man Wärme nennt.

Mensch und Wärme - da wird es sofort persönlich. Wie sehr persönlich lässt sich beispielsweise bei Laufveranstaltungen in den Jahreszeiten „thermischer Unentschiedenheit“, also in Frühling und Herbst, beobachten. Da zerfällt die Menge aller Läufer in drei Teilmengen. Teilmenge eins ist subjektiv betrachtet angepasst bekleidet. Nicht zu warm und nicht zu kalt. Teilmenge zwei lässt dich schon beim Hingucken mit den Zähnen klappern und der Rest gilt dir als „fully overdressed“.

Heute Morgen und aus meiner Sicht muss es eine leere Menge geben: „Overdressed“ entfällt! Keiner der rund 50 Ultrastarter trägt auch nur ein wärmendes Accessoire zu viel am Leib. Soweit ich das mit kältestarren Augen korrekt wahrnehme, zittert ein Großteil der Schar angemessen vermummt dem baldigen Start entgegen. Halbnackte, nichtmenschliche Individuen stehen auch vereinzelt auf der Tartanbahn. An Aliens, deren Stoffwechsel selbst nahe des absoluten Nullpunktes, bei -273,15°C, noch hinlänglich funktioniert, glaube ich nicht. Die täuschend menschenähnlichen Konterfeis legen den Schluss nahe, dass es einen Quantensprung in der Entwicklung von Androiden gegeben haben muss. Irgendwo hier in der Nähe, in der württembergischen oder schwäbischen Provinz, hat jemand „KI“ perfektioniert. Obwohl - „KI“ steht für künstliche Intelligenz. Und die Akkus dieser Menschmaschinen bei 0 bis 1°C Außentemperatur vorsätzlich dem Kälteversagen auszuliefern, kann nur einem Programmierfehler entspringen. Also mangelnde „MI“, die eine nur eingeschränkt verwendbare „KI“ schuf?

Kurz vor sieben Uhr im Stadion. Dämmerlicht in Niederstetten, die Sonne liegt noch hinter Talhängen in Lauerstellung. Neben mir stehen Sybille und Stephan, zwei Ultras aus meinem Verein. Gleich mir geben die beiden vor zu frieren. Ich glaube ihnen nicht. Dafür gucken die zu optimistisch und entsetzlich gut gelaunt aus ihrer Rüstung. In mir dagegen regiert Unlust. Lass dich von meinem breiten Grinsen auf dem gerade entstehenden Foto nicht täuschen. Es ist nicht echt. Nicht in diesem Augenblick. Es ist Vergangenheit. Zwar keine 50 Millionen Jahre alt wie die Abbildung des ebenso viele Lichtjahre weit entfernten Schwarzen Lochs. Vor einer Viertelstunde schockgefroren, als ich in einem Anflug von Galgenhumor lächelnd die warme Sporthalle verließ. Außer gut gelaunt gucken Sybille und Stephan auch noch verwundert. Das Nichtverstehen nehme ich ihnen ab, weil es mir nicht anders geht.

Fünfzig Menschen(?) auf der Tartanbahn, deren subkutane Fettschichten die Kälte schon durchdrungen hat. Während ihre inneren Organe einzufrieren drohen, zelebriert der Zeremonienmeister ein langwieriges, recht skurriles Vorstartprogramm. 248 Wettkämpfe Marathon und weiter musste ich absolvieren, national und international, um vorm 249. zum ersten Mal die deutsche Nationalhymne zu hören. Niemand kann unsere feierlich getragen gespielte (= lange) Nationalhymne leiden, der ihr lauftauglich leicht bekleidet bei 0°C lauschen muss. Erst recht nicht, wenn er zuvor den Begrüßungsvortrag über sich ergehen ließ und anschließend auch noch den elend langen Auftakt zu „Hells bells“ von AC/DC erduldet: Bäng … Pause … bäng … Pause … bäng … usw., usw., … Das Schlagen der Glocke ist Ritual beim „Harte Mann Lauf“. Auch als Zieleinlaufsignal. Wieso, willst du wissen? - Ich weiß es nicht. Vermutlich Ausdruck des rustikalen Humors der Veranstalter. Okay, was soll’s, wenn sie’s brauchen? Es werden schon alle überleben … und irgendwer unter den Teilnehmern findet sicher Gefallen daran. Oder wenigstens die undercover eingeschleusten Androiden …

Ich laufe. Genauer: Meine physische Hülle läuft. Dazu braucht es wenig Willenskraft und Nachdenken muss ich auch nicht. Als es zwischen zwei „Bängs“ „Peng“ machte, hab ich *Enter* gedrückt und die Datei „ultra-laufen.exe“ gestartet. Mein Navi ist auf die Rückenansichten der Mitläufer ausgerichtet. Nur ein paar Meter weit waren die von Sybille und Stephan darunter. Die beiden sind nun auf und davon; begleitet von meinen guten Wünschen, obschon sie die unter Garantie nicht brauchen werden. Wie die mich vorm Start anguckten, in jeder Faser leistungsbereit, wach und heiß auf die Kälteübung … da kann nichts schiefgehen. Dächte ich über den Augenblick des nächsten Schrittes hinaus, dann wäre mir jetzt schon klar, dass mich Sybilles Abschneiden zur Teilnahme an der Siegerehrung verpflichten wird …

Der Auftakt im menschenleeren Niederstetten ist flach. Ein Park, Straßen, alsbald ein Radweg am Rande eines ausgedehnten Firmengeländes. Weiter in der Flanke des Hanges, wo der Weg sanfte Wellen beschreibt und mit Blick in den Talgrund. In Kältestarre gefangen warte ich auf den Segen sich nach und nach verteilender Muskelwärme. Bei knapp 6 min/km dauert es naturgemäß eine Weile, bis ich genügend Kalorien verbrannt habe. Die Kälte ist übel, es hätte allerdings viel schlimmer kommen können. Noch gestern gingen über Teilen von Süddeutschland, wohl auch in dieser Gegend, noch Graupel- und Schneeschauer nieder. Daran muss ich denken, als die Sonne erstmals über die jenseitige Talflanke lugt. Sie stellt mir tatsächlich einen weitgehend wolkenfreien Himmel in Aussicht.

Die Strecke des „Harte Mann Ultralaufes“, 55,5 Kilometer mit 1.000 Höhenmetern, lässt sich nur schwer beschreiben. Sie besteht aus lauter Schleifen. Wobei nur wir Ultras Schleife eins (siehe Streckenschema) unter die Füße nehmen. Wieder zurück in Niederstetten, mit dann bereits 22 Kilometern in den Beinen, folgen die 33,3 Kilometer des „Harte Mann Extremlaufes“, verteilt auf die Schleifen zwei bis fünf. Wie üblich weiß ich nicht so recht, was mich in den nächsten Stunden erwartet. Das liegt diesmal aber nicht nur an mangelhafter Vorbereitung meinerseits. Die Internetseite des Veranstalters macht keine Aussagen über den Charakter der Wege. Vielleicht denkt man in Niederstetten ein bisschen zu „lokal“, rechnet nicht mit unwissend anreisenden Fremdlingen aus anderen Bundesländern. Angesichts vieler Schleifen und des eigentlich harmlosen Höhenprofils, auch eingedenk des fehlenden Zusatzes „Trail“, erwarte ich wenig „Kriminelles“, das mein Fahrwerk vor ernste Probleme stellen könnte. Deshalb traue ich mir zu die Aufgabe in sechs Stunden zu lösen - unter guten Bedingungen. Gut heißt erträglich warm und mit Lust zum Laufen. Beides Fehlanzeige. Also schlage ich eine halbe Stunde drauf: In sechseinhalb Stunden will ich längstens wieder im Ziel sein!

Wenn’s so weitergeht, schaffe ich das. Alles asphaltiert bislang. Erst der Radweg bis zum Weiler Haagen, jetzt ein Feldweg, der den Gegenhang des Tales erklimmt. Erste fordernde Höhenmeter heißt das unter anderem. Keine die mir missfielen: Nach fast einer Dreiviertelstunde Joggen in Kältestarre taue ich auf. Wärme endlich auch für meine klammen Finger, die in zu dünnen Handschuhen stecken. Hätte ich wirklich Winterhandschuhe anziehen sollen? Mitte April? - Mit jedem Schritt aufwärts erschließt sich mir mehr vom Panorama des Tales, an dessen Hängen sogar Wein gedeiht. Reizvolle Ausblicke in alle Richtungen. Sie halten die Hoffnung am Leben, der Knoten könnte vielleicht doch noch platzen …

In weitem Bogen strebt die Route weg vom Tal, wendet sich einem anderen, weniger tief eingeschnittenen zu. Ich staune über die Qualität des Weges, der zwischen grünen Feldern und Wiesen stetig an Höhe gewinnt. Etliche Kilometer bester Asphalt, zu schmal für eine Autostraße, zu gut ausgebaut, um lediglich bäuerlich derbe Gefährte zu tragen. Zehn Kilometer liegen hinter mir. Das Läuferfeld zerfiel weitgehend in seine Atome. Ein Molekül widersetzt sich der Spaltung. Ein Paar, er und sie, die mich vor Minutenfrist überholten, sonst niemand voraus. Hinter mir, weit entfernt, folgt einer. Große Lücke, dann noch einer. Das wird eine recht einsame Sache werden, also genau mein Fall. Nach Gesprächen steht mir noch weniger der Sinn als nach Laufen …

Ich mag den unaufdringlichen Charme dieser Landschaft, der alles Jähe und Schroffe fehlt. Umso bedauerlicher, dass ich die Eindrücke nicht genießen kann. Ich stehe ziemlich neben mir. Oder, um im Bild zu bleiben, „laufe neben mir“. Es ist nicht die Kälte allein. Unterm dicken, textilen Panzer fühle ich mich eingeschnürt, wie von einem Korsett. Und der Laufrucksack setzt noch eins drauf. Natürlich könnte ich mir einreden, wie „toll“ es ist zu laufen. Könnte versuchen das Positive in den Vordergrund zu rücken und was mich anficht ignorieren. Aber wahrscheinlich bin ich zu derlei Selbstbetrug nicht fähig. Außerdem hab ich das nicht nötig. Meine Sammlung enthält zig wunderbare Lauferlebnisse. Eins schöner und erfüllender als das andere. Da darf auch mal eins in die Hose gehen. Aber noch ist es nicht so weit. Die Sonne wird höher steigen und vielleicht meine Stimmung mitziehen.

Der Weg mündet in ein Dorf. Drei Möglichkeiten: Entweder erlagen alle Eingeborenen einer Epidemie, sitzen in der Kirche oder wollen die bunte Invasion im Schutz ihrer Behausungen überstehen. Nirgendwo menschliches Leben. Von der Zwei-Mann-Besatzung der Tränke am Dorfrand mal abgesehen. Klirrend eisiges Irgendwas aus zwei halbvollen Bechern bahnt sich seinen Weg in meinen Magen. Ich würde gerne mehr trinken, kriege aber nicht mehr runter. Schon der zweite Becher verursacht mir ansatzweise Kopfschmerzen.

Weiter aufwärts, zur Abwechslung nun auf recht brauchbarer Schotterpiste. Erst die zweite übrigens, Asphalt überwiegt. Die Wahl leichter Schuhe, mit dann notwendigerweise dünner Sohle, scheint goldrichtig gewesen zu sein. - Idyllischer kann ein Bächlein kaum talwärts glucksen als dieses. Mutter Natur muss verliebt gewesen sein als sie dieses Juwel von einem Gewässer schuf. Beitrag der Menschen: Sie ließen dem Wasser seinen Lauf, verzichteten auf Begradigung. Nichts tun - wie einfach es sein kann etwas von der Ursprünglichkeit der Umwelt zu bewahren.

Wermutshausen heißt das Dorf: Alte, ursprünglich wirkende Bauernhäuser, eine malerische Kirche mit Zwiebelturm, Osterschmuck am Dorfbrunnen, blühende Bäume, über allem der freundliche, blaue Himmel … ein Frühling wie aus dem Bilderbuch. Den Wermutstropfen im Wermutshausener Osteridyll schmeckt trotzdem jeder: Kälte.

Kälte, die sich hinterm Dorf mit dem über die Hochebene streichenden Wind verbündet. Frostige Luft, ätzend wie Schwefelsäure, beißt mir ins Gesicht. Mal von der Seite, mal frontal, je nachLaufrichtung. Frost frisst sich auch durch die vom Anstieg schweißfeuchten Klamotten, lässt mich am ganzen Körper erschauern. Das eben noch zaghaft keimende Pflänzchen „gute Laune“ geht ein, wie die redensartliche Primel im Winter …

Abwärts jetzt, ein paar versprengt am Hang liegende Häuser und Höfe passierend. „Reit- und Fahrverein Niederstetten“ verkündet ein Schild vor einem als Stall oder Scheune dienenden Gebäude. Abwärts? Etwa Richtung Niederstetten? - Dafür ist es zu früh nach nur 16 Kilometern. Dennoch genieße ich den Leichttrab bergab und mit Rückenwind. Schritt für Schritt tauen Gesichtszüge und Mund wieder auf. Vermutlich könnte ich jetzt auch wieder sprechen, was aber nicht nötig ist. Weder vor noch hinter mir eine Menschenseele.

Die Strecke holt zu einem weiteren Schlenker aus, um Schleife eins auf die vorgesehenen 22 Kilometer zu dehnen. Wie erwartet nochmal bergan und erstmals wirklich steil. Das alleine ließe mich kalt - in jedem Sinne des Wortes. Dass mir zugleich ein Schwall Schwefelsäure entgegen schwappt macht die Sache nicht erträglicher. Eisiger Gegenwind und steil hinan: Ich fluche. Gedanklich klar formuliert, nach außen nicht mehr als ein erbostes Knurren. 100 Meter, 200 … und kein Ende. Blauer Himmel ist mein Freund - dachte ich in all den Jahren. Heute verhöhnt er mich.

Gegenwind und Steigung, gottlob beides nicht endlos. Letzteres, weil’s die Landschaft nicht hergibt, ersteres infolge Richtungsänderung. Ich trabe durch ein Gewerbegebiet. Was hier steht und produziert oder Dienst leistet ist keine zehn, vielleicht nicht mal fünf Jahre alt. Mittelständische Betriebe, weitab von großen Städten, mitten in der Provinz. Immobiler Ausdruck einer auf hoher Drehzahl brummenden Wirtschaft. Ich überquere eine Hauptstraße, folge am Waldrand dem Schild „Kaserne“. Ein Begriff mit dem ein nicht kleiner Teil meiner Erinnerungen verknüpft ist. Lange her, keine Lust darüber nachzudenken. Guter Asphalt, keine Steigung, vorm Wind bin ich am Waldrand sicher, ich komme zügig voran - das ist es was im Augenblick zählt. Tatsächlich joggt auch mal wieder jemand in meinem Gesichtskreis. Stückweit voraus und für Momente sichtbar, wenn ihn Geländeformation und Bewuchs freigeben. Plötzlich trabt der Mann einige Meter unterhalb und mir entgegen. Sein Richtungshinweis wäre nicht nötig gewesen: Unübersehbar gelb auf grauem Asphalt schicken mich drei Pfeile in die Haarnadelkurve.

Von nun an geht’s bergab: Im topologischen Sinne des Wortes, nahezu am Grund eines Geländeeinschnittes, dazu sanft, auf straßenbreitem Asphalt. Vorbei an blühenden Bäumen und Büschen, die 20 km-Marke passierend. Knochenschonendes Tempomachen wäre möglich. Keine Option für einen, der lediglich im Sinn hat den Tag ungeschoren zu überstehen. Ich will hier nur meine Ausdauer schulen und ankommen. Darf mich keinesfalls in ähnlicher Weise „abschießen“ wie vor zwei Wochen beim 50 km-Lauf in Ebershausen. Danach trainierte ich eine volle Woche auf wachsweichen, tonnenschweren Beinen. Die ersten Häuser von Niederstetten. Ich kann es mir leisten mitten auf der Wohnstraße zu laufen. Sonntag kurz nach neun, nirgendwo Leben. Vielleicht ist aber auch nur der Öffnungswinkel meiner Scheuklappen zu eng … Minuten später trabe ich erneut durch die Niederstettener Sportanlagen und schlage den Weg zum Stadion ein.

Zum Stadion und dran vorbei, bis mir eine Tränke den Weg verlegt. Heiße Suppe gibt’s hier. Während mir die Dame einen halben Becher abfüllt, kippe ich mir ein paar Schlucke Wasser hinter die Binde. Gefrierschock für Schlund und Zähne! Welche Wohltat entfaltet dagegen die Suppe. Mit Wärme, mehr noch mit ihrem Geschmack. Die Brühe wurde von einem der Sponsoren, einer Metzgerei, zubereitet. Wer Suppen nicht schätzt, womöglich vegetarisch lebt, kennt die Geschmacksexplosion nicht, die die Köstlichkeit in meinem Mund auslöst. Wird urteilen: „‘Ne Suppe halt … schön warm, weiter nix …“ Eigentlich wollte ich mich mit einem halb gefüllten Becher bescheiden. Geht nicht, ich brauche mehr. Während die wohlgefällig lächelnde Dame mir weiteren Genuss reicht, will sie wissen wie es läuft. Ihr Stutzen macht deutlich, dass sie mit meiner Antwort nicht gerechnet hat: „Miserabel läuft es heute! Viel zu kalt! Dreißig Grad zu kalt!“ - Ich sehe ihr an, dass sie der Inhalt meiner Worte überfordert. Soll sie mich bedauern oder über eine Pointe lachen? Dem ist es zu kalt, so viel ist klar. Aber worin genau besteht die Pointe. Vielleicht addiert sie in Gedanken: 2 bis 3°C jetzt, 30 dazu macht … Klar, das ist der Witz! Aber warum guckt der genießerisch Suppe schlürfende Kerl dann so ernst? Intuitiv beschließt sie nicht zu lachen, wünscht mir stattdessen einen guten Lauf. Sie scheint zu ahnen, dass das mit den fehlenden 30 Grad keineswegs als Witz gemeint war.

Ein paar hundert Meter Kleinstadt, dann trabe ich mit stetem, meist minimalem Höhengewinn durchs Vorbachtal. Dass es so heißt verrät mir Wikipedia, später daheim. Dass ich es überhaupt wissen will, ist der Naturschönheit der folgenden zwei Kilometer geschuldet, die besagter Vorbach auf seinem an Mäandern reichen Weg entfaltet. Eine von Wiesen gesäumte Auenlandschaft, wie sie klassischer in keinem Naturführer abgebildet sein könnte. Ein zauberhaftes Refugium für Tiere und Pflanzen, auch wenn der Anblick mich nicht in gewohnter Weise abzuholen vermag.

Nach vier Kilometern die nächste, zugleich zentrale Tränke in der Ortschaft Oberstetten. Viermal wird sie mich laben. Jetzt und am Ende der nächsten drei Schleifen. Ein Becher Wasser, mehr brauche ich nicht. Einem Augenblick der Verwirrung folgt Verstehen: Ein Läufer kommt mir aus genau der Richtung entgegen, die ich, dem Arm des Offiziellen folgend, nun einschlagen soll … Der hat die Schleife schon hinter sich. Vielleicht einer der an der Spitze läuft. Möglicherweise gehört er auch zu einem der anderen Bewerbe, mit 33,3 oder 17,5 Kilometern.

Ich trabe los und hinter er nächsten Hausecke sofort aufwärts. Ob Straße, Feld- oder Radweg, möglicherweise auch alles zugleich, vermag ich nicht zu sagen. Abzweig in spitzem Winkel, gefolgt von Kurve, das Dorf bleibt zurück. Die weithin einsehbare Rampe erschreckt mich nicht, auch wenn sie Endlosigkeit vermittelt. Asphalt und mäßige Steigung, das packe ich ohne Schwierigkeiten, nehme mein Tempo entsprechend zurück. Ein Kilometer, noch einer, eine Weile im Wald, schließlich nur noch Felder. 200 Meter voraus ein Läufer. Unser Abstand bleibt konstant. Die Route flacht ab, schließlich finde ich mich auf der nächsten, höchst zugigen Hochebene wieder. Noch immer hat der Wind nichts von seinem eisigen Biss eingebüßt. Er bremst und lähmt. Alles in mir wehrt der Kälte. Tränen schießen in meine Augen, von Blinzeln verteilt. Ich schaue mich um. Kräftige von Sonne belebte Farbtöne, grün und blau dominieren, nicht selten blühende Bäume. War ich je unter solch widersprüchlichen Bedingungen unterwegs? - Frühling im Auge und Winter auf der Haut!

Erst tauche ich ab, dann ein. Wald umfängt mich im Tal. Er nimmt mir die Sonne, dafür steht die Luft, fühlt sich dadurch erträglich an. Udo taut auf. Wie oft denn noch? Kein Asphalt mehr, feiner Schotter, gut belaufbar - zunächst. Im leicht abschüssigen Gelände komme ich rasch voran. Will ich das überhaupt? - Suchte lieber Schutz hier zwischen den Bäumen. Ein Instinkt, den die Strecke alsbald hintertreibt.

Ich hasse diese kleinen bis mittelgroßen Schottermonster. Wie sie da so rumliegen auf dem Weg und mir keine Chance lassen die Füße schmerzfrei aufzusetzen. Wie sie mich angrinsen und verhöhnen. Und am meisten hasse ich jene, die ich gar nicht sehe, weil ich sie mit Füßen trete. Weil sie mir ein spitzes, mindestens scharfkantiges Ende in die Sohle bohren. In erklärter Absicht mir wehzutun. Blitzschnell gruppieren sie sich um, rotten sich zusammen oder streben auseinander, wenden ihre grässlichste Seite gen Himmel. Fußgelenke kippen in alle Richtungen. Keine zwei Schritte mit gleichbleibender Winkelstellung. Dass ihr das aushaltet, ihr Fußgelenke!? Stimmt schon, ich habe euch bislang zu wenig gewürdigt. Anerkennung gab’s überwiegend für die Knie und meine Aufmerksamkeit galt den ewigen Nörglern Sehne und Co., während da unten ohne Aufhebens Schwerstarbeit verrichtet wurde. - Welcher Banause kippt Unmengen fußfeindlichen Schotters auf Waldwege? Vor allem: Wozu?

Wald tritt zurück, Sonnenlicht füllt die Mulde. Ein Anflug von Wärme berührt mich, tut mir gut. Ich blicke vom Weg am Hang in ein Rückhaltebecken. Leer, Wasser abgelassen oder aufgebraucht. Schade, ein von Wiesen und Wald umgebener Weiher setzte sicher einen hübschen Akzent. Ein Läufer rast an mir vorbei. Jung und leicht bekleidet, vermutlich auf kürzerer Strecke unterwegs. Keine Minute später ist er verschwunden und ich bin wieder alleine mit dem Tag. Kein besonders guter Tag für mich. Warum auch immer. Ob physisch blockiert oder zum Weichei degeneriert? Einerlei. Ich halte es aus, außerdem habe ich schon mehr als die Hälfte gepackt.

In spitzem Winkel, zuletzt wieder auf Asphalt mündet der Waldweg in ein Sträßchen. Schleife 2 ist Vergangenheit. Mit abwärts schleunigeren Schritten strebe ich zum zweiten Mal der Ortschaft Oberstetten samt Verpflegungspunkt zu. - Schleife drei beginnt mit einer Zumutung: Steile dreißig Meter Schotterweg, zum Glück recht schnell abflachend. Zur Belohnung winkt ein Panoramablick vom Hang zum nahen Dorf. Am auffälligen Kirchlein bleibt mein Blick hängen. Dessen Baumeister gaben sich mit einem dicken, spitzdachgekrönten Hauptturm nicht zufrieden. Überm jenseitigen Ende des Kirchschiffs thront ein zweites Türmlein. Wozu? - Noch mehr Rätsel gibt auf, was da wie zwei Schwalbennester an der Seitenwand „klebt“!? Mit überdachtem Treppenzugang von unten!? Ob meinem Verdacht ein Funken Wahrheit anhaftet, kann ich nicht sagen, dennoch drängt sich mir unwillkürlich der Begriff „Wehrkirche“ auf …

*) Es handelt sich um die St. Bonifatius-Kirche in Oberstetten, die in mittelalterlicher Zeit tatsächlich auch als Wehrkirche diente.

Der holprige Feldweg geht in einem Sträßchen auf. Nach links unten oder rechts oben? Ein großes Transparent will Zweifel beseitigen, verlangt aber einigen Leseaufwand. Ich schieße lediglich mit der Kamera auf die Wegweisung, weil ich schon weiß, dass ich der Rampe bergauf folgen muss. Erst 11 Kilometer und zwei Schleifen später, wenn ich hier wieder vorbeikomme, darf ich links abbiegen … Neuerliches Schuften ist angesagt. Fordernd bergauf, Ende einstweilen nicht absehbar. Ich passiere die Kilometertafel mit der 37 und schicke zum wiederholten Mal einen Dank gen Himmel. Möge er das Karma des Streckenverantwortlichen bereichern. Meine Anerkennung gilt einerseits Verlässlichkeit und Genauigkeit, mit der jeder Kilometer markiert wurde. Vor allem aber danke ich für die Sicherheit nach zahlreichen Abzweigen. Ein paar hundert Meter später wurde mir jeweils bestätigt noch immer auf dem richtigen Weg zu sein.

Wieder mal oben, wieder mal gegen das Gebläse. Rasch bilden meine schweißfeuchten Klamotten eine Kältebrücke, bis eine erneute Richtungsänderung den Luftzug abschneidet. Und schon neigt sich die Route wieder dem Tal zu. Schleife drei tut sich durch ihre Kürze hervor. Abwärts auf entlasteten Beinen. Komm schon, lauf doch schneller! ermuntert mich die abschüssige Straße. Geht nicht! lehne ich ab, tut bereits zu weh …

Der Streckenposten steht diesseits der Brücke über den Vorbach, zehn Meter vor der Tränke. Mit ausgestrecktem Arm weist er talaufwärts, zeigt mir den Beginn von Schleife vier. Meinen durstigen Blick deutet er richtig: „Du kannst aber auch erst was trinken!“ - Suppe - leider kalt inzwischen aber noch immer schmackhaft - verleibe ich mir ein und alkoholfreies Bier. Eine gute Mischung, weil ihr jegliche Süße fehlt. Das ist auch heute angenehm, obgleich ich den Konsum von Gel drastisch reduzierte. Am Ende werde ich lediglich vier Gels verbraucht haben. Überaus sparsam für meine Verhältnisse, erst recht, wenn ich die vielen Höhenmeter bedenke. Mit einem Becher Bier in der Hand schlendere ich zurück über die Brücke, trinke aus, werfe den Abfall in den bereitstehenden Karton und wende mich der vorletzten Schleife zu.

Gemächlich, beinahe unmerklich, am Bach entlang aufwärts. Der hat in diesem Abschnitt einige der reizvollsten Ansichten zu bieten. Staut sich ein bisschen, fließt träge dahin. Weitgehend noch kahle Büsche und Weiden mit lanzenartig aufschießenden Zweigen spiegeln sich im Wasser. Die Talhänge rücken näher heran, was den Reiz der Landschaft noch unterstreicht. Pferdekoppeln säumen das Sträßchen, in der Ferne erkenne ich einen Hof. - „Betreten verboten, Durchfahrt gestattet“ - Vor allem mit Pferden scheinen die Bewohner des Hofes ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Neugierige Pferdeaugen verfolgen den Eindringling, bis er hinter der nächsten Kurve verschwindet …

Hier geht’s nicht weiter! Trassenband wurde quer zum Weg gespannt. Den unscheinbaren Abzweig hätte ich mit einiger Wahrscheinlichkeit übersehen. In der Hangflanke vorwärts aufwärts, zuweilen in lichtem Hain. Nicht lange dann bleibt mein Blick an einem weiteren Rückhaltebecken hängen. Gut gefüllt und in Buchten ausufernd ist das Reservoir von einem natürlichen See kaum zu unterscheiden. In den folgenden Minuten und mehrmals abzweigend darf ich mir das Gewässer von allen Seiten ansehen. Zuletzt wendet sich die Piste hangaufwärts und schlägt eine Schneise in den Wald.

Meine Hoffnung, der Stimmungsknoten könnte irgendwann doch noch platzen, habe ich aufgegeben. Inzwischen hat sich die Luft erwärmt, dafür drückt nun wachsende Ermüdung aufs Gemüt. Außerdem schmerzt inzwischen jeder Stein, auf den ich trete. Meine Füße sind steinige Wege nicht gewöhnt. Im Training blieben sie Ausnahme, in den Wettkämpfen dieses Jahres waren sie überhaupt nicht vertreten. Sicher fände ich noch mehr Ausreden für meine Unlust, doch wozu: Das ist schlicht nicht mein Tag heute. Deshalb bleibt Entzücken sogar dort aus, wo es mich in „normaler“ Verfassung anspringen müsste, wie ein hungriger Löwe die Antilope. Dort, wo der Wald zurückbleibt und eine Phalanx blühender Büsche das Auge erfreut. Wetten, dass die meisten meiner Mitläufer diesen perspektivischen, geradezu kitschig romantischen Leckerbissen nicht einmal bemerkt haben? - Eingerahmt von blühenden Zweigen reicht der Blick hinunter zum Dorf …

Oberstetten bleibt hinter mir zurück. Endgültig. In leichtem Gefälle trabe ich im lieblichen Vorbachtal gen Niederstetten. Richtung Ziel, das ich allerdings nicht auf direktem Weg ansteuern werde. Die Direttissima würde für allenfalls 50 Kilometer reichen. Eine Schleife fehlt noch und damit auch ein letzter Aufstieg. Ich gebe mich keinen Illusionen hin: Der wird mindestens so anstrengend werden, wie die voraufgegangenen. Was jedoch nicht mal ein Bedauern und schon gar kein Stöhnen auslöst. Das Merkwürdige an meiner Tagesform ist, dass es mir nicht an Ausdauer gebricht. Mein Körper - eventuell auch mein Kopf? - will sie nur nicht hergeben. Sträubt sich, schützt seit Stunden schwere Beine vor begleitet von Lustlosigkeit.

Der Weg ist nicht steil aber steiler als die meisten Anstiege zuvor. Nach Schrittverkürzung kein Problem für mich. Für ein paar Minuten wird mir sogar richtig warm. Bis der widerliche Wind, vielleicht hundert Meter oberhalb der Talsohle, eine weitere Attacke reitet … Kilometer 50: Zwei schnelle Läufer überholen mich, kurz nacheinander. Dem hinteren sticht meine „Ritterrüstung“ ins Auge: „Läufst du 55?“ Mein bejahendes Brummen - mehr Text verlangt die Frage gottlob nicht - entlockt ihm ein achtvolles „Respekt! Mir reicht schon die kurze Strecke!“

Kilometer 52 und 53, Abstieg auf bestem Geläuf: Glatter Asphalt, nicht übermäßig steil. Hier kann noch mal Tempo machen, wer noch Tempo machen kann. Meine Kraftreserven gäben solche Taktik sicherlich her. „Und wozu soll das gut sein?“ - Auf schmerzenden Beinen stelzend schiebe ich der ehrgeizigen Idee postwendend einen Riegel vor. Sinn ergäbe eine Schlussoffensive in der Tat nicht. - Mein Tagesziel - Training auf langer Distanz mit Höhenmetern - konnte ich realisieren. Sogar in achtbarer Zeit. Mehrfach und beiläufig angestellte Hochrechnungen prophezeien mir 6:15 Stunden plus X. An meiner Blockade gemessen ein guter Wert.

Eine weitere mit diesem Lauf verknüpfte Absicht konnte ich gleichfalls umsetzen und das zu meiner vollsten Zufriedenheit. Nach endlosem Ärger mit meinem „dämlichen“ Laufrucksack zog ich endlich Konsequenzen und schaffte mir einen neuen an. Ein sündhaft teures Teil des im Trailsektor führenden französischen Herstellers. Die Investition hat sich gelohnt: Trinken geht nun in der Bewegung und die wichtigsten Utensilien, etwa Gelpäckchen, habe ich im direkten Zugriff. Ich werde das Ding nicht oft brauchen - hoffe ich-, doch wenn, dann ohne mich pausenlos ärgern zu müssen.

Ich passiere die ersten Häuser von Niederstetten, sehe mich auf dem direkten Weg zum Stadion … bin ich aber nicht. Eine Besichtigung des historischen Ortskerns steht noch an. Verwinkelte Gassen, altes Fachwerk, schließlich das Rathaus, daneben ein scheinbar funktionsloser, einzeln stehender Rundturm. Die Pfeile schicken mich nach links und … bergauf. Das hätte es für meinen Geschmack jetzt nicht mehr gebraucht, auch wenn voraus und erhöht das Niederstettener Schloss die Richtung vorgibt. Dessen nähere Inaugenscheinnahme auf Bergeshöhe fällt zum Glück aus.

Oberhalb der Sportanlagen, am Hang des Schlossberges verliere ich Höhe. Drunten, auf einem Seitenplatz des Stadions wird gerade ein Fußballspiel ausgetragen, begleitet vom üblichen Kampfgeschrei. Ich jogge hinter einem der Tore vorbei und auf den Stadioneingang zu. Schließlich auf die Tartanbahn und absolviere die unvermeidliche Schlussrunde. Leidenschaftslos, wie jeden der 55 Kilometer davor. Und genauso leidenschaftslos setze ich meinen Fuß dann über die Ziellinie. Aufgabe erfüllt. Ein bisschen Zufriedenheit und ein Anflug von Freude stellen sich ein. Es wird mehr und intensiver werden. Das weiß ich von ähnlichen Wettkampferlebnissen. Schon beim Duschen, später bei Speis‘ und Trank, auch während der Siegerehrung und auf der Heimfahrt. Nicht jedes Finish, nicht jeder Sieg über mich selbst kann in einem Strom reinen Glückes enden. Es gibt diese Tage, da lassen es die Bedingungen nicht zu. Äußere und/oder innere. Das ist dann eben so. Kein Problem. Schon nächsten Samstag, Ostersamstag, in Berlin, hoffe ich wieder auf eine Sternstunde. Anlässlich meines dann 250. Marathons …

Ergebnis: 6:20:06 Stunden, Platz 32 von 40 Männern

Sibylle gewann die Frauenwertung mit traumhaft guten 5:22:28 Stunden. Stephan absolvierte den Lauf an ihrer Seite in derselben Zeit.

 

Fazit zur Veranstaltung

Die Strecke weiß mit vielen idyllischen Ansichten zu gefallen. Obschon sich die Bilder entlang der 55 km gleichen, versteht es Mutter Natur mit zig Variationen immer wieder neue Reize zu setzen. Etwa drei Viertel der Distanz sind auf Asphalt zu laufen, der Rest auf überwiegend brauchbaren Feld- und Waldwegen. Die zu überwindenden 1.000 Höhenmeter entfallen zum größten Teil auf lange, mäßig steile Anstiege. Alles laufbar, ausreichend Ausdauer vorausgesetzt.

Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltung lassen keine Wünsche offen. Das gilt für alle Aspekte, nicht zuletzt auch hinsichtlich Verpflegung und Streckenmarkierung. Note eins für die rührigen Organisatoren und die netten Helfer!

Fazit: Unbedingt ein zweites Mal, wenn’s schön warm ist!

 

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