23. Februar 2019

Verheißungsvoll  -  Marathon Bad Salzuflen 2019

Verheißungsvoll - Synonyme und Umschreibungen lauten: „Aussichtsreich“, „vielversprechend“, „große Erwartungen weckend“, „zu berechtigten Hoffnungen Anlass gebend“. Rein äußerlich passt alles an diesem für mich so wichtigen Tag. Ich reiste einen Tag früher an. Mehr als ausreichend Zeit, um alle Fakten zwischen Hotel und Startbereich auszuloten. Überdies ein mittäglicher Start als Tribut an den bekennenden Morgenmuffel. Last but not least dieses phänomenale Wetter - mehr als alles andere verheißungsvoll: Schon am Morgen strahlt die Sonne aus wolkenlosem, lediglich von harmlosen Schleiern weichgespültem Himmelblau. Und jetzt, zum Start um 12:15 Uhr, hat das Quecksilber sogar die 10°C-Hürde übersprungen. Zur Erinnerung: Kalendarisch regiert der Winter, in Südbayern und einem Teil der Mittelgebirge liegt noch haufenweise Schnee, wir schreiben den 23. Februar 2019.

Bad Salzuflen liegt weit abseits meiner üblichen Jagdgründe. Folglich werde ich im mehr als tausend Köpfe zählenden Starterfeld unerkannt und aufs Schärfste fokussiert den Saisonauftakt begehen können. Nach einer Viertelstunde im lärmenden Gewimmel der Teilnehmer, Minuten vorm Start, verpufft diese Gedankenblase mit lautem Plopp: „Hallo Matthias!“ - Ich berühre ihn kurz am Arm, weil er mich ansonsten, überschäumend gut gelaunt mit Bekannten plaudernd, übersehen hätte. Matthias kenne ich unter anderem vom „Triple Marathon“, traf ihn zuletzt beim „Mauerweglauf (100 Meilen von Berlin)“. Was uns allerdings mehr als alles andere verbindet und zugleich trennt, ist der „Spartathlon“: Mir war im ersten Anlauf Erfolg vergönnt, Matthias scheiterte leider dreimal nacheinander.

Wiedersehensfreude auf beiden Seiten, wobei meine zurückhaltende Art mit Matthias‘ Begeisterung wie üblich nicht mithalten kann. Natürlich gibt es viel zu erzählen, sodass ich das Startkommando nur dank Matthias‘ Aufmerksamkeit nicht verpasse. Die ersten Meter legen wir in Sprech- und Hörweite gemeinsam zurück: Matthias spricht, wendet sich wechselweise an mich wie auch an andere Bekannte im Tross. Ich höre ihm zu, lausche aber vor allem in mich rein. Denn, was sich in diesen Minuten vollzieht, reicht in seiner Bedeutung weit über den Tag hinaus. Infolge der Umstände empfinde ich diesen Marathon als Abenteuer mit höchst ungewissem Ausgang. Vor mir liegt eine Art Comeback, nach genau 5 Monaten und 3 Wochen selbstverordneter Marathon- und Ultrapause.

In den Monaten zuvor …

Die Saison 2018 brachte mir Erfolge, aber auch die Einsicht, dass es wie gewohnt nicht weitergehen konnte. Wer bei „superlangen Kanten“ ausschließlich langsam bis sehr langsam joggt, verliert sukzessive an Tempobandbreite, büßt seine Grundschnelligkeit ein. Irgendwann fehlen die „PS“, wodurch die qualvollen Begleiterscheinungen sehr langen Laufens schon viel zu früh einsetzen. Von größerem Übel jedoch: Millionen langsamer Schritte verändern den Laufstil und das nicht zum Besseren. So nachhaltig, dass ich den verhunzten Bewegungsablauf an mir selbst spüren konnte. Schlampig ausgeführte Schritte sind eine der Ursachen für Beschwerden beim Laufen. Und an denen litt ich wahrlich keinen Mangel. Allen voran die seit zwei Jahren wieder greinende, überaus lästige Achillessehne links.

Ich verordnete mir eine Wettkampfpause, um mich einem „Refresh-Programm“ zu unterziehen. Ziele: Grundschnelligkeit erhöhen und die orthopädischen Störenfriede befrieden. Neben Tempotraining (Intervalle und Tempodauerläufe) gehörten fortan regelmäßig Übungen des Lauf-ABC zu meinem Repertoire, konsequent zweimal pro Woche Krafttraining und eine „Sonderbehandlung“ der Achillessehne. Zunächst wehrte sich mein mit 65 Jahren nicht mehr ganz taufrischer Körper vehement gegen die ungewohnte Belastung. Womit? - Mit noch mehr Beschwerden natürlich! Vielleicht riss ich das Steuer auch zu forsch, zu plötzlich, zu konsequent herum. Doch zwischen altem und neuem Jammer empfing ich von Muskeln, Gelenken, Sehnen und Co. immer wieder auch verheißungsvolle Signale: Mach weiter so, das wird schon!

Der erste Kilometer

Keine fünf Minuten Auftakt in Salzufler Straßen, dann wendet sich die Strecke einem Spazierweg im Stadtwald zu und wird steiler. Steiler und für ein paar Meter auch morastig glitschig. Ein lautloses Stoßgebet, an die zuweilen launigen Laufgötter gerichtet, mir solche Bodenverhältnisse bitte fürderhin zu ersparen, schiebt sich zwischen Matthias‘ Sätze. Der Abschnitt währt jedoch kaum 30 Meter. Vor allem bleibt er Unikum, muss lediglich ein weiteres Mal, nach Abschluss der letzten Runde, auf dem Weg ins Ziel, dann talwärts, passiert werden.

Die Dramaturgie der Strecke lässt sich in wenige Worte und Formeln kleiden: Sie beginnt am Rande der Stadt, erschließt alsbald ein hügeliges Waldgebiet. Nach etwa einem Kilometer Zuweg biegt man in eine Acht-Kilometer-Runde ein. Nach Adam Riese müssen Marathonis die Schleife fünfmal durchlaufen: 5 x 8 km = 40 km, plus ein Kilometer Hin- und Rückweg ergibt Marathondistanz. Wegführung und Reglement gestatten flexibel zu finishen: Frühestens nach Runde zwei (18 km), sodann nach jedem Umlauf bei 26 und 34 km, oder eben als Marathoni. Insgeheim stelle ich mir mehrfach die Frage, weshalb man keinen 50 km-Ultra anbietet - mit nur einer Runde Zuschlag, die die Veranstaltung um erträgliche, etwa anderthalb Stunden verlängern würde.

Mehrfach stockt die Flut der tausend Läufer. Es geht nur im Schneckentempo voran, was mir heute durchaus entgegenkommt. So laufe ich nicht Gefahr auf ausgeruhten Beinen zu überziehen. Auch zu Beginn der ersten Runde gibt es kein Entkommen. Dicht an dicht, wie Lemminge auf ihrem Weg ins Verderben, folgen wir einem Waldweg bergab. Ich mühe mich nach Kräften die Füße der Vorderleute und Bodenunebenheiten im Blick zu behalten. Alles nur nicht stürzen! Ein paar Minuten später überschreite ich erstmals die Matte der Rundenzählung. Weiter hinab im Wald und auf eine Straße zu. Vor der nach links, dem Waldrand folgend. Im Gedränge habe ich den Kontakt zu Matthias verloren. Das macht es mir einfacher, umso fokussierter bin ich unterwegs. Die bange Erwartung der letzten Stunden vorm Abenteuer „Comeback“ hat sich gelegt. Geblieben sind Bedenken, die ich nun Runde um Runde ausräumen will.

Rückblende

Bis kurz vor Weihnachten - als ich erstmals seit Anfang September die 20 km-Marke touchiere - knechte ich mich mit Tempotraining. Ohne anschließenden Aufenthalt im Sauerstoffzelt verkrafte ich seitdem wieder Geschwindigkeiten um die 5:10 min/km über Distanzen bis 10 km. Klingt nicht berauschend, bedeutet jedoch immerhin einen Tempogewinn von 20 bis 30 Sekunden pro Kilometer. Zugegeben, ich wollte mehr. Doch erst kommen mir die Festtage in die Quere, anschließend bremst mich ein Infekt. Schlussendlich beendet grimmige Januarkälte in Tateinheit mit selten erlebten Schneemassen jegliches Tempostreben. Sinnvolles Training im Gelände ist fortan nicht mehr und auf Straßen oder Radwegen nur noch eingeschränkt möglich. Einmal pro Woche Tempodauerlauf, um den ertrotzten Tempovorteil größtenteils über den Winter zu retten, mehr ist nicht mehr drin.

Und dann, Ende Januar, binnen zweier Wochen, vollzieht sich das kleine Wunder: Alle Beschwerden, die mich nun schon monate-, teils jahrelang begleiten verstummen. Sogar die Achillessehne hält seitdem ihre vorlaute, ungemein nervige Klappe. Wahrhaft verheißungsvoll, auch wenn ich dem Frieden nicht traue. Auch wenn ich fürchte mit der knallharten Laufplanung des ersten Halbjahres 2019 die Dämonen wieder zu wecken.

Unterwegs in Runde eins

Tempokontrolle im Auf und Ab des Waldweges? Illusorisch. Im Strom anderer Läufer, der mich auch nach drei Kilometern noch zu gelegentlichen Bremsmanövern nötigt, verlasse ich mich wie ehedem auf mein Laufgefühl. Es gibt einen Energieeinsatz vor, bei dem ich mich gegenwärtig wohlfühle. Und von dem ich hoffe, dass er mich zum Ende hin mit erträglicher Bedrängnis ins Ziel bringen möge. Zweifel daran sind angebracht, immerhin konnte ich witterungsbedingt kaum Höhenmeter trainieren. Einstweilen genieße ich den bucklig unterhaltsamen Kurs, eine ziemliche Weile noch in Hörweite zur Straße. Bis zu einem Streckenposten, vor dem sich der Weg jäh dem Inneren des Waldes zuwendet und sich spontan zur markant ansteigenden Rampe wandelt. Etwa dreihundert Meter fordernd hinan, auf denen schon in dieser primären Runde viele die Gangart Gehen vorziehen. Bekanntermaßen keine Alternative für mich, weder jetzt, noch hoffentlich in späteren Umläufen … Kaum den Hügel erklommen biege ich rechts ab und gebe die mühsam gewonnene Höhe wieder auf. Knie-testend steil abwärts auf schlüpfrig erdig anmutendem Geläuf. Doch der Eindruck täuscht, die Sohlen haften sicher. Zum Glück hat es in den letzten Tagen hier kaum oder gar nicht geregnet.

Die Talfahrt endet vor einem Verpflegungspunkt, an dem ich mir zur Sicherheit zwei Becher Flüssigkeit, einen mit warmem Tee und einen mit eiskaltem Wasser, einverleibe. Zwei Becher, damit es sich „drinnen“ lauwarm magenfreundlich mischt. Auch zur Sicherheit zwei Becher, weil ich nicht weiß, ob es auf der Runde eine weitere Tränke geben wird. Mit dem Verpflegungspunkt ist auch wieder der Waldrand erreicht, dem ich stückweit folge, bis mich der neuerlich ansteigende Weg in den Salzufler Forst zurückschickt. Minute um Minute aufwärts und noch immer ist kein Ende der Steigung abzusehen. Völlig harmlos aufwärts zwar, doch nun schon elend lange, und ein paar hundert Meter geht’s in gleicher Weise hinan …

Wieso eigentlich Bad Salzuflen?

Wieso ausgerechnet Bad Salzuflen, im Februar, als erste Bewährungsprobe, die in meiner ursprünglichen Jahresplanung nicht mal das Stadium der Idee erreichte? - Die erste „Härteübung“ des Laufjahres steht bereits in der zweiten Märzhälfte an: Vier Ultraetappen, insgesamt über 200 km, rund um den Balaton in Ungarn. Je näher der Saisonstart rückt, umso gewaltiger türmt sich das Hindernis „Etappenlauf“ vor mir auf. Nach Monaten mit vergleichsweise kläglichen Wochenumfängen mehr als 200 km in nur vier Tagen? - Zur Vorbereitung lediglich ein Marathon, gefolgt vom Sechs-Stundenlauf in Nürnberg, fühlen sich unter solchen Voraussetzungen wie eine Herausforderung des Schicksals an. Zumindest liefe ich Gefahr infolge sprunghafter Steigerung der Umfänge die mühsam errungene Konsolidierung meiner Konstitution zu verspielen. Deshalb der Extra-Marathon in Bad Salzuflen (hört sich aufwändiger an, als es ist, da ich für einen anderen Termin die halbe Strecke ohnehin zu fahren hatte).

Und damit endet alles Verheißungsvolle in dieser Zeile des Laufberichts. An seine Stelle treten Fragezeichen: Noch nie trat ich zu einem Marathon mit so wenigen wirklich langen Läufen in den Beinen an. Schon dieser Umstand nötigt mich zu strikter Tempozurückhaltung! Erneut ein Marathon, der sich dem großen Ganzen unterzuordnen hat, der lediglich als (sehr) langer Trainingslauf fungiert. Natürlich auch als „Zählkandidat“, die Nummer 240 in meinem passabel gefüllten Sammelalbum „Marathon und weiter“.

Schon die (mutmaßlich nur) ausreichende Marathonvorbereitung gäbe Anlass genug mir eine weitere graue Strähne ins Haupthaar zu bleichen. Wegen der zusammengerechnet 650 Meter Höhendifferenz der Strecke schimpfe ich mich gar einen Hasardeur. Höhenmeter im Training? - Fehlanzeige! Zuletzt empfinde ich die defensiv und mit Vorsicht gesetzte Zielzeit von 4:30 Stunden als Luftschloss. Wahrscheinlich wird der Frevler auf der zweiten Hälfte einbrechen und nach schmählichem Spießrutenlauf zwischen hohnlachenden Laufgöttern mit 4:45+ als gerechte Strafe des Waldes verwiesen werden …

Noch immer in Runde eins

Die nicht enden wollende Steigung geht in flaches Terrain über. Hinter der Phalanx aus Baumstämmen ist die nahe Autobahn A2 noch nicht auszumachen. Mit jedem Schritt rückt sie jedoch näher, woran die anschwellende Geräuschkulisse des auf sechs Fahrspuren vorbeiflutenden Verkehrs keinen Zweifel lässt. Bisher konnten die Steigungen mir nichts anhaben. Bei vorbedacht verkürzter Schrittlänge beschleunigten sich Atem und Herzfrequenz nur mäßig. Dennoch weiß ich aus Erfahrung, wie rasch sich meine Verfassung ändern kann. Wie Buckel und Rampen mit jeder Runde scheinbar steiler werden, zuletzt nur noch unter Aufbietung letzter Reserven und mit eisernem Willen zu packen sind. Ich kenne den Effekt und fürchte ihn auch heute.

Hundert Meter rechts von mir donnern Fahrzeuge über die A2. Der Wald reicht bis an die Trasse heran, dämpft den Lärmpegel. Ein wenig. Auch wenn mir das heute egal ist, laufe ich doch lieber in der Stille des Waldes. In die kehre ich nach gut einem halben, weitgehend flachen Kilometer zurück. Jetzt hört man auch wieder Vogelstimmen. Schon vor dem Autobahn-Lärm-Intermezzo drang Gezwitscher aus den Kronen der Bäume an mein Ohr, nur dachte ich mir nichts dabei. Muss man Wertvolles erst für eine Weile entbehren, um es wertschätzen zu können? - Wenn ich genau hinhöre, dann künden die Gefiederten vom Frühling. Zumindest singen sie auf eine Weise, wie es sich im Frühling anhört, obschon ich in diesen Minuten im kalten Gegenwind fröstele. Hab ich meine „Verpackung“ falsch gewählt? Mich von Himmelblau und Sonnenschein verführen lassen? - Kurztight im Februar. Okay, passt, von der Hüfte an abwärts fühle ich mich richtig temperiert. Obenrum ein langes Unterhemd, drüber das Vereins-Singlet, ein Halstuch, dünne Baumwollhandschuhe und die obligatorische Fleecemütze. Gegenwärtig zu wenig, zu luftig. Mal sehen, welche Größenordnung meine Reue in den Folgerunden erreichen wird …

Reste einer vormals wegbreiten Asphaltdecke erleichtern das Vorankommen. Erhalten ist ein schmaler, hie und da schrundiger Streifen in Fahrbahnmitte, den ich nur zum Überholen verlasse. Was aber nicht oft vorkommt, weil sich anfängliches Gedränge längst zur vielfach unterbrochenen, losen Läuferkette entzerrt hat. Überwiegend bergab jetzt, lediglich zweimal von kurzen, kaum erwähnenswerten Gegenanstiegen unterbrochen. Schlussendlich auf eine zweite Tränke zu (also doch!), 50 Meter dahinter beginnt Runde zwei.

Runde zwei

Plötzlich ist Matthias wieder neben mir. Redet, findet einen Zuhörer in mir, bekommt aber keine Antwort, erntet allenfalls zustimmendes Brummen. Ich laufe hoch konzentriert, mein Blick klebt fest am Boden. Es geht mit Schwung bergab und auf diesem Wegabschnitt kullerten vorhin ein paar lose Steine herum. Fehlerfreie Koordination auf unebenem Untergrund gehört nicht gerade zu meinen Talenten, außerdem fehlt mir Übung. Lauftraining im bayerischen Winter des Jahres 2019 blieb überwiegend auf geräumte Straßen und Radwege beschränkt. Nicht lange, dann nutze ich die Chance den Waldrand zu verlassen und auf eine parallele Straße am Rand eines Wohnviertels auszuweichen. Anderthalb Minuten höchstens, bis uns der Wald neuerlich verschluckt. Etwa zeitgleich passieren wir die Matte der Rundenzählung ein zweites Mal.

Ausgerechnet eine peinliche Fehlschaltung der Synapsen bringt mich zum Reden: „Für fünf Runden brauchen wir nur viermal die Matte zu überqueren!?“ Statt der erwarteten Bestätigung korrigiert Matthias meinen Denkfehler. Wie konnte meine graue Masse einem derartigen, über die Maßen offensichtlichen Fehlschluss anheimfallen? Im Besitze der Wahrheit gelingt es mir nicht mal mehr den missratenen Gedankengang zu reproduzieren. Gibt es Simpleres als das?: Fünf Runden zu vollenden erfordert fünf Runden zu beginnen, mithin fünfmal zum Rundenauftakt registriert zu werden.

In Fünf-Kilometer-Abständen stecken kleine Tafeln. Gerade passieren wir die Zweite: „1:06 für 10 km, das ist okay!“ lässt sich Matthias ein. Okay oder nicht, meine Pace werde ich ohnehin nicht verändern, vor allem um keinen Deut beschleunigen. Natürlich kann ich mir eine grobe Hochrechnung nicht verkneifen und komme auf eine Marathonendzeit von ungefähr 4:40 Stunden. Kein erfreuliches Ergebnis, weil mir das bisherige Tempo über volle 42 km zu konservieren wenig aussichtsreich erscheint. Nicht erfreulich die Zwischenbilanz, aber sie geht in Ordnung. Marathonweit trainieren und möglichst beschwerdefrei ankommen - mehr habe ich nicht im Sinn.

Meine Blase drückt. Im Grunde nervte sie mich schon während der kompletten ersten Runde. Ich hielt es aus. Warum tue ich mir das eigentlich an? - Die Zeit spielt keine Rolle, also bin ich freier als frei unangenehmen Druck jederzeit gen Waldboden zu entlassen!? Anscheinend brauche ich hohen Leidensdruck - egal in welcher Beschwerdeform oder Körperregion - bevor ich Abhilfe schaffe. Ein hohes Maß an Leidensfähigkeit, das ich mir (unter anderem) mit stundenlangem Leidenstraining während Unternehmungen wie den „100 Meilen Berlin“, dem „Olympian Race“ und nicht zuletzt dem „Spartathlon“ erkläre. Schluss damit! Ich melde mich bei Matthias ab und steuere Deckung hinter dicken Baumstämmen an.

Der befürchtete „Versteilungseffekt“ der Anstiege findet nicht statt. Zumindest noch nicht. Vielleicht später in Runde drei oder vier. Einstweilen nehme ich alle Buckel und die langen Rampen weitgehend unbeeindruckt und wohl auch noch im selben Tempo wie beim ersten Mal. In Höhe der Tränke liegen etwa 13,5 Kilometer hinter mir. Zu früh für Energienachschub, den ich in Form von drei Gels, je 100 kcal, bei mir trage. Drei Gels sind im Grunde zu knapp bemessen für Marathondistanz. Pure Absicht, um „hinten raus“ meine Kohlenhydratspeicher möglichst tief zu entladen. Ich habe mir vorgenommen zum ersten Gel zu greifen, wenn ich Anzeichen von Ermüdung spüre. So weit ist es aber noch nicht, also weiter …

Der Lärmteppich „Autobahn“ wandert zum zweiten Mal achtern aus, als mir der wohlige Unterschied zu Runde eins bewusst wird: Kein Frösteln mehr im Gegenwind! Flaute der Wind unterdessen ab oder hat sich die Luft um ein, zwei Grad erwärmt? Vielleicht arbeitet auch mein körpereigenes Wärmemanagement inzwischen effizienter? - Wie dem auch sei: Die Wahl meines Laufkostüms erweist sich fortan als goldrichtig. In keinem Moment friere ich und nur selten, im Anstieg, wische ich verstohlen einen unterm Mützenrand vorquellenden Schweißtropfen zur Seite.

Runde drei

Im dritten Umlauf empfinde ich schon so etwas wie Vertrautheit mit der Strecke; vermag die meisten Abschnitte gedanklich vorwegzunehmen, meine Aufmerksamkeit schon vorm Erreichen auf das eine oder andere kleine Risiko einzustellen. Wie etwa auf den zentnerschweren, jedoch übersehbar kleinen Felsblock am Ende der anfänglichen Schussfahrt. Um auf den Weg am Straßenrand einzubiegen, nutze ich einen schmalen Durchlass zwischen Steinkante und Pfosten eines Verkehrsschildes. Weiter über knubbelig, holprig verwitterten Asphalt, der alsbald vom weitgehend ebenen Waldpfad abgelöst wird.

Die Anzeigen des kleinen Elektronikwunders an meinem Handgelenk bleiben weitgehend unbeachtet. Von dort ablesbaren Zeiten und Tempi darf ich mich nicht leiten lassen und die Kilometer vermehren sich auch ohne ständige Kontrolle. In ein paar Minuten, bei Kilometer 20, werde ich überprüfen, ob mein subjektives Empfinden eines unveränderten Durchschnittstempos auch objektiv Bestand hat. Und wenig später wird mir die Halbmarathonzeit einen weiteren Anhaltswert fürs Finish liefern.

Dann und wann rauscht jemand von hinten an mir vorbei. Der Führende vorzeiten schon mit solcher Rasanz, dass ich zum Erhalt meines Selbstwertgefühls versucht war dem „Sprinter“ ein frühes Finish nach Runde zwei zu unterstellen. Was natürlich nicht stimmt, wie der spätere Blick in die Ergebnisliste beweist: Für den Sieger Jan Kaschura bleibt die Uhr bereits nach 2:39:38 Stunden stehen. Eine Fabelzeit auf dieser fordernden Strecke und Wochen vor der eigentlichen Marathonsaison!

Abgesehen vom ersten Überflieger achte ich kaum auf das Wettkampfgeschehen. Weder auf jene, die mich überholen, noch auf LäuferInnen, die mich entschwinden sehen. Dieser Lauf ist so sehr Test und so wenig Wettkampf, dass ich beständig auf Einflüsterungen von innen horche. Wie entwickelt sich meine Ausdauer nach 17, 18, 19 Kilometern? Welche Signale erreichen mich aus der Abteilung Muskeln, Sehnen und Gelenke? Oder mit anderen Worten: Reichten knapp sechs Monate Refresh für nachhaltige Verbesserungen?

Ausdauer?: Ahne ich tatsächlich ganz tief drin erste Anzeichen vorzeitiger Erschöpfung oder meldet sich da grundlose, kreatürliche Angst vor den Folgen verfrühten Einbrechens? - Ich beschließe an der Tränke, kurz nach Halbmarathondistanz, sicherheitshalber eines der Gels einzuwerfen. Physisch vielleicht überflüssig, mental ganz sicher eine wirksame Beruhigungspille!

Bewegungsapparat?: Es ist lange her, dass ich die ersten zwanzig Kilometer eines Wettkampfs so … so … ich wage es kaum zu denken … beschwerdefrei (!) laufen durfte. Und kaum lasse ich den Gedanken zu, als auch schon die Achillessehne zu zwicken beginnt. Minimal allerdings und nur ein paar Schritte weit, dann schweigt sie wieder. Vielleicht war das „sehnige Mosern“ auch bloße Einbildung. Aus unbewusst kluger Hirnregion entsandt, um jede Form von Übermut im Keim zu ersticken. Doch das Unbewusste müsste mich im Bewussten nicht bremsen! Noch liegt mehr als die Hälfte der Strecke vor mir, und wer wüsste besser als einer mit meiner Erfahrung: Abgerechnet wird immer erst hinter dem Zielstrich!

Dann die Zeitnahmen. Kilometer 20 passiere ich nach 2:11 Stunden und nicke innerlich bestätigend: 1:06 Stunden bis Kilometer 10, weitere 1:05 Stunden bis Kilometer 20. Eine Minute eingespart, die dem vielfachen Stocken und Trödeln zu Beginn geschuldet sein dürfte. Folglich Tempokonstanz - wie vermutet - seit über zwei Stunden.

Minuten später in Höhe des imaginären Halbmarathons: Ich nehme die Zeit und verdopple sie … 4:36 Stunden wären famos! Für mich zumindest, heute, in gegebener Situation. „Wären“. Konjunktiv. Schleichender Tempoverfall bis hin zu massivem Einbrechen nicht ausgeschlossen. Tatsächlich halte ich diese Perspektive immer noch für einigermaßen wahrscheinlich.

Gel und zwei Becher Flüssigkeit intus. Ich folge dem Waldrand und stelle mich dem sanften, mit Länge schlauchenden Anstieg ein drittes Mal. Tippele empor … trabe … tippele … trabe … noch immer ziemlich unangestrengt. Nicht der erste Weckruf für mein über viele erfolgreiche Wettkämpfe gewachsenes Selbstvertrauen: „Du hast es immer geschafft, also schaffst du es auch heute!“ Mehr Optimismus oder gar Vorfreude lasse ich nicht zu. Dafür ist es entschieden zu früh.

Unablässiges Vorbeifluten des Verkehrs auf der Autobahn, unbeschwertes Traben in flachem Terrain, auf Asphalt abwärts, Trinken an Verpflegungsstation zwei, zuletzt Abbiegen in die vorletzte Runde …

Runde vier

Vielfach am eigenen Leibe erfahren: Erschöpfte Muskulatur führt auch bergab zu massivem Zeitverlust. Dass mir der halbe Kilometer Gefälle zum Auftakt von Umlauf vier einmal mehr flott - wenn auch mit mäßigem Knieprotest - vom Fuß geht, interpretiere ich als Indiz anhaltend tragfähiger Ausdauer. Vielleicht täte ich besser daran „downhill“ Zurückhaltung zu üben. Bekanntermaßen leistet die dabei vermehrt geforderte „exzentrische“ (abbremsende) Muskelarbeit einem späteren Muskelkater Vorschub. Doch das ist - eventuell - ein Problem von morgen. Was ich jetzt brauche sind positive Signale und an dieser Stelle unbehindert „runterzurauschen“ nehme ich als gutes Omen.

Auf und nieder, immer wieder, … wie im Gute-Laune-Schunkel-Lied. Und tatsächlich klettert meine ohnehin gute Stimmung mit jedem eroberten Hügel einen Teilstrich himmelwärts. Die langen Anstiege fühlen sich noch immer nicht steiler an als vordem. Ich nehme es als kleines Wunder und gestattete mir ein Quantum Begeisterung. Auch wenn ich keineswegs der Auffassung von Matthias huldige, der vorhin, in Runde drei, als ich ihn am Fuß der ersten lange Rampe überholte, zwei Begleitern zuraunte: „Der läuft in einer anderen Liga!“ - Mitnichten! Zumindest nicht auf Marathondistanz, auf der ich noch nie wirklich hübsche Blumentöpfe gewinnen konnte. Schon gar nicht zu einem so frühen Zeitpunkt im Jahr. Nicht mal in meiner Opa-Altersklasse M65, wie später im Klassement nachzulesen sein wird (Platz 5 von 11). Ob in Training oder Wettkampf, stets nötige ich meinem Körper Leistung ab. Dabei lässt er mich allzu oft und nach meinem Geschmack viel zu früh Grenzen spüren. Wenn überhaupt, dann gilt das mit der anderen Liga für die ultralangen unter den Ultras. Auf Distanzen weit jenseits der 100 km-Marke überrasche ich mich bisweilen selbst. Vermutlich hob Matthias‘ Äußerung darauf ab und nicht zuletzt auf mein Abschneiden beim Spartathlon.

Runde fünf

Eine schwere Verletzung infolge Sturzes - nichts anderes könnte mich nun noch aufhalten. Marathon 240 ist quasi schon jetzt Geschichte, da ich noch fast eine Stunde Laufarbeit zu leisten habe. Und meine Beine beeilen sich zu versichern, dass ich davon keinen Meter werde gehen müssen. Nur geringe Spuren der Beanspruchung „dort unten“, spürbar lediglich in Höhe der Gesäßmuskulatur und rund um die Kniescheiben. Letzteres verdanke ich dem angriffslustigen Sauseschritt, den ich mir bergab nach wie vor nicht verkneife. Weil eine gewisse Art von Schmerzen nun mal dazu gehört. Jene, von denen ich aus Erfahrung weiß, dass sie spätestens morgen vergessen sein werden. Am ehesten zeichnet Ermüdung mein Gesicht. Rund um die Augen, ohne, dass ich dieses seltsame Gefühl hinreichend verständlich in Worte fassen könnte. Vermutlich stresst die sich allmählich abkühlende Luft meine Augenpartie. Auch eine beginnende Trübung der linken Linse meine ich wahrzunehmen. Ein Hauch von Milchglaseffekt. Nichts, dessen ich mich sorgen müsste. Hatte ich in früheren Jahren häufiger hinzunehmen, ausschließlich bei kalter Witterung übrigens.

Finale Runde: Ich verabschiede mich von jedem Streckenposten, spare auch nicht mit Dank fürs Ausharren. Die Strecke präsentiert sich abschnittsweise wie leergefegt. Viele Mitläufer streckten bereits nach Runde zwei, drei oder vier die Waffen und die schnelleren Marathonis sind mir voraus. Auch Matthias bog bereits nach drei Runden in Richtung Ziel ab. Ungewohnt schwere Beine, über die er zu Beginn des zweiten Umlaufs klagte, scheinen ihn zum Aufhören überredet zu haben. Doch seine 20 „privaten“ Kilometer heute Morgen plus 26 „offizielle“ am Nachmittag summieren sich auch zum kleinen Ultra.

Es überrascht mich nun nicht mal mehr, die langen Anstiege auch im fünften Anlauf mit Bravour und ohne Tempoverlust zu bewältigen. Das zweite Gel, vorhin in Runde vier, etwa bei Kilometer 30, hätte ich nicht gebraucht. Fast bedauere ich die „energetische Sicherheitsmaßnahme“, weil sie meinen Trainingserfolg um 100 kcal vermindert. Doch statt Reue zu verfallen, aale ich mich im Glanz des Erfolges, der mit jedem Schritt unter tief stehender Sonne näherrückt. Der Test ist bestanden, nun koste ich vom süßen Nektar der Freude. Freude über nach wie vor beschwingte Schritte. Alles zum letzten Mal: Lärm von der Autobahn, das sanfte, sich anschließende „S“ durch die Senke, Schritte auf meterbreitem Asphaltrest …

Augenblicke zuvor habe ich jemanden überholt. Mann oder Frau? - Weiß nicht. Höre nur, wie sich der oder die Betreffende an meine Fersen heftet. Warum mir das ausgerechnet jetzt gegen den Strich geht, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall forciere ich zum ersten Mal überhaupt das Tempo. Um das lästige Tapp-Tapp hinter mir abzuschütteln. Als es verstummt finde ich mich bereits im finalen Gefälle wieder und lege sogar noch einen Zahn zu. Ich spüre rein gar nichts, das mir Mäßigung nahelegen würde. Keine Erschöpfung, keine Schmerzen, kein Risiko. Also weiter mit ungebremster Lauflust. Vorbei an der zweiten Tränke, in deren Höhe mich ein enttäuschtes „Der will nix mehr!“ verfolgt. Tut mir leid ihr fleißigen Helfer, aber es läuft gerade so gut. Und Dehydrierung ist heute wirklich kein Thema. Im Gegenteil: In Runde drei musste ich dem Drängen meiner Blase sogar ein zweites Mal nachgeben.

Diesmal folge ich dem Lockruf der vier Pfeile samt Tafel mit Aufschrift „Zum Ziel“- und biege rechts ab. Zick und zack, kurz hinab, stückweit hinauf, zuletzt abwärts der Stadt entgegen, flankiert vom winterlichten Dickicht dünnstämmigen Holzes. Voll konzentriert meistere ich die kurze morastige Passage, erreiche die Straße und werde von Streckenposten nach rechts verwiesen. Stückweit voraus verwehrt ein Maschendrahtzaun das Weiterkommen. Kann die Richtung stimmen? - Kurzer Halt. Ich wende mich an die Streckenposten, vergewissere mich: „Wirklich da lang?“ - Alles okay: Rechts am Zaun vorbei, einem Fußweg folgend, der erst ein paar Meter vorher als solcher auszumachen ist. Weiter abwärts, weiter dem Ziel im Hof einer Grundschule entgegen. Mein Blick streift nun häufiger die Uhr. Nicht die Laufzeit interessiert mich, sondern die zurückgelegte Strecke. Meine GPS-Anzeige wich kaum von der Beschilderung des Veranstalters ab. Keine hundert Meter vor der gleichlautenden Tafel hatte ich 40 Kilometer auf dem Tacho. Und nun setze ich alle Hoffnungen auf ausreichend bemessene Streckenlänge. Dass bitte, bitte an den 42,195 km, die ein Marathon nun mal haben muss, kein Meter fehlen möge. Länger darf der Kurs gerne sein, nur kürzer nicht. Anzeige: 42 Kilometer, … 42,1 … 42,2 … Als ich schließlich zum letzten Schritt über den Zielstrich ansetze stehen fast 42,4 km in der Anzeige. Alles gut!

Tatsächlich rundum ALLES gut. Laufzeit 4:33:15 Stunden, folglich muss ich in der Schlussrunde noch mächtig zugelegt haben. Trotzdem fühle ich mich nicht annähernd so erschöpft und hinfällig, wie nach jedem meiner langen Trainingsläufe. Das Wichtigste und absolut Wunderbare aber ist das, was ich NICHT spürte und spüre! Keine Schmerzen an der Achillessehne, ebenso wenig wie irgendwo anders. Unfassbar! Kurz nach dem Finish bin ich darob eher irritiert als glücklich. Nur zögerlich wächst Freude. Freude über ein gelungenes Comeback nach dem auf ganzer Linie geglückten „Refresh“. Monate des Zweifels, ob ich in gegebener Situation den richtigen Weg verfolge. Und nun das: Ein stabil und völlig beschwerdefrei gelaufener Marathon!

 

Fazit zur Veranstaltung

Die kurzweilige, meist im oder am Rande des Waldes verlaufende Strecke wird auch auf fünf Runden nicht langweilig. Die Chance erstmals nach der zweiten, sodann nach jeder weiteren Runde ohne vorherige Festlegung zu finishen ist gleichermaßen entgegenkommend wie verführerisch. Ich würde darauf wetten, dass einige Marathonaspiranten mangels Training oder Tagesform unvorhergesehen abkürzten.

Die Organisation, das ganze Drum und Dran, soweit ich davon Gebrauch machte, war ohne Fehl und Tadel. Bei allen Offiziellen und Helfern traf ich auf offene Ohren und wurde zuvorkommend unterstützt.

Wenn man etwas ankreiden will, dann am ehesten die Überfüllung der Strecke auf den anfänglichen Kilometern. Wer flott und unbedrängt laufen möchte, muss sich dicht an die Startlinie stellen. Im Übrigen bleiben die Behinderungen folgenlos, weil der Kurs mit seinen 650 Höhenmetern ohnehin nicht für persönliche Bestzeiten taugt.

Fazit: Wär’s nicht so weit nach Bad Salzuflen, ich stünde mit einiger Wahrscheinlichkeit bald wieder dort an der Startlinie!

 

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