Wetter-Chaostage: Tag zwei, Samstag 18. März 2018

Wahnsinn mit Methode  -  Sechs-Stundenlauf Fürth

(anlässlich des Welt-Down-Syndrom-Tages)

Schon die Routinen Aufstehen, Ankleiden, Frühstücken vollziehe ich im Bewusstsein, dass Zahlen meinen (Lauf-) Tag prägen werden. Über eine dieser Zahlen, die Schnapszahl „222“, freue ich mich besonders. Nicht mal in meinen schrägsten Fantasien käme ich jedoch darauf, in welch verquerer Weise tatsächliches Tagesgeschehen vom geplanten abweichen wird. Noch weniger, dass die einer Lotterieziehung entlehnt scheinenden Zahlen 36 - 75 - 170 - 527 - 562 - 563 - 621 - 692 für mich heute kuriose Bedeutung erlangen werden …

Das Rätsel um zwei dieser Zahlen ist rasch gelüftet: Mit meinem Freund Mike bin ich unterwegs nach Fürth, um am Sechs-Stunden-Lauf im Rahmen des Welt-Down-Syndrom-Tages teilzunehmen. Nach dem gestrigen Frostlauf im Maintal bei Würzburg das zweite Langstreckentraining über mehr als Marathondistanz. Zugleich ein Jubiläum, auf das ich mich seit Wochen freue: Ich werde zum 222. Mal einen Marathon oder Ultra finishen. Auf der Fahrt nach Fürth wächst allerdings die Skepsis, ob ich meinen Schnapszahl-Jubiläumslauf überhaupt werde antreten können. Schuld hat das Wetter, genauer gesagt der mit Wucht zurückgekehrte Winter, noch genauer der Schnee auf den Straßen. Von mir daheim bis nach Fürth, gefährlich glatte 170 Kilometer weit, pflügen die Reifen durch Schnee. Seit über vier Dekaden fahre ich Auto, bin winter-erfahren und leide definitiv nicht unter Feigheit am Steuer. Eine so weite Distanz musste ich jedoch noch nie auf schneebedeckten Straßen überstehen. Also „verwachse“ ich mit meinem Auto, pumpe massenhaft Adrenalin in die Blutbahn und hoffe, dass wir wenigstens unfallfrei, wenn schon nicht rechtzeitig ankommen werden …

Im Viertelstundentakt rollen wir an verunfallten Fahrzeugen vorbei. Alles glimpflich verlaufen, meist einfach nur von der Straße ins Seitenaus gerutscht. Der Verkehrsfunk tut ein Übriges, um den Anstellwinkel meiner Nackenhaare zu vergrößern: Unfallmeldung auf Unfallmeldung rauscht durch den Äther. Mein Blick pendelt im Dreieck: Zu 98 Prozent richtet er sich starr nach vorne auf die Straße - besser gesagt auf jene schlecht bis gar nicht geräumte weiße Fläche, unter der ich die Straße mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermute. 1,5 Prozent der Fahrzeit schaue ich in den Rückspiegel, um mich der Anwesenheit von Mike zu versichern, der mit seinem Auto hinter mir her fährt. Das verbleibende halbe Prozent banger Aufmerksamkeit gilt unserer Ankunftszeit, die das Navi berechnet. Gegenwärtig, nach etwa der Hälfte der Anfahrt, steht 8:22 Uhr im Display, Tendenz allerdings steigend. Der Start des Sechs-Stundenlaufes ist für 9 Uhr vorgesehen …

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Bei knapp fünf Zentimeter Schneehöhe fuhren wir nahe Augsburg los, bei etwa 15 Zentimeter kommen wir in Fürth an! Fahrerisches Geschick allein reichte sicher nicht, um heil und - was mich einigermaßen verblüfft - rechtzeitig den Parkplatz am Sportgelände zu erreichen. Wir hatten auch Glück! Ob das des Tüchtigen, unverdientes, großes, mehr als Verstand, unverschämtes, was auch immer, such es dir aus - Hauptsache Glück! Unter höchster Anspannung blieb mir von zweieinviertel Stunden Fahrzeit nicht eine Sekunde, um genervt die wachsende Schneehöhe, zeitweise niedergehenden Schneefall oder die minus 5°C zu beklagen - obschon ich nur zu gut weiß, was solche Bedingungen in den bevorstehenden sechs Laufstunden mit mir anstellen werden. Selbst wenn ich mit bangendem Optimismus unterstelle, dass der 1,9 km-Rundkurs zumindest „belaufbar“ vom Schnee befreit wurde.

Während Mike seine Siebensachen im Auto zusammenrafft, mache ich mich schon mal auf den Weg zur Sporthalle. So nervös wie heute war ich schon lange nicht mehr vor einem Lauf. Zum Startnummer abholen, dem Toilettenbesuch, mich startfertig zu „gürten“ und Unwägbarkeiten zu beherrschen bleibt keine halbe Stunde mehr. Und ich hasse es mich beeilen zu müssen … irgendwas werde ich vergessen! Einerlei Udo! Ein Stundenlauf-Rundkurs gibt dir alle paar Minuten Gelegenheit jedwedes Versäumnis zu korrigieren …

Rein in die Halle, zwei Plätze an einem der Tische belegen und gleich weiter zur Startnummernausgabe. Es liegt was in der Hallenluft, das spüre ich. Ich wüsste auch längst was, blendete mein von Eile blockiertes Bewusstsein nicht einen Teil der Bilder aus, die meine Augen übermitteln. Ich buchstabiere meinen Namen und erhalte einen Umschlag mit Startnummer und Transponder. Als Dreingabe eröffnet mir die freundliche Dame noch die unumstößliche Wahrheit: „Wir laufen in der Halle!“ … … Ich bin „German-Native-Speaker“, zudem artikuliert die Frau einwandfrei. Dennoch brauche ich ein paar Wimpernschläge, um zu begreifen, was sie da sagt … „In der Halle???“ wiederhole ich entgeistert. Sie bräuchte nicht mal auf den rückwärtigen Teil der Halle mit dem abtrassierten Viereck zu zeigen, meine Augen schwenken automatisch in Richtung des Ungeheuerlichen. Hatte ich es doch längst gesehen, nur eben nicht wahrgenommen noch kapiert.

Das Ungeheuerliche, ich beschreibe es dir: Denk dir eine x-beliebige Sporthalle mit üblichen Abmessungen. Ausreichend dimensioniert für Hand-, Basket- oder Volleyballfeld. Sportvereine verfügen über solche Hallen und natürlich Schulen. Etwa ein Drittel der Halle ist mit Tischen, Büffets und Ausstellungsständen zugestellt. Der - ich habe Hemmungen das winzige Viereck so zu bezeichnen - „Rundkurs“ belegt die anderen zwei Hallendrittel. Pylone, Stühle und Trassenbänder bilden die innere Begrenzung der Bahn. Sie misst 75 (!?) Meter. Das Viereck ist zwar nicht quadratisch angelegt, die längeren Seiten übertreffen die kürzeren aber nur unwesentlich. Es kommt folglich der Realität ziemlich nahe, wenn du dir 4 mal 20 Meter Seitenlänge vorstellst.

Wie soll das gehen? - Die Frage lese ich in vielen Gesichtern. Mehrere hundert Teilnehmer sind für unterschiedliche Bewerbe/Strecken angemeldet: Darunter Marathon, Halbmarathon, 10 km-Lauf, Staffeln und sogar zwei Kinderläufe. Und irgendwann im Verlauf der sechs Stunden werden dann mehr oder weniger alle im Kreisel unterwegs sein. Nun gut, manche werden sich diesen Irrsinn nicht antun. Selbst dann: Angenommen es kreisen „nur“ 150 Satelliten auf einmal im Orbit*. 150 geteilt durch 75 ergibt zwei Läufer pro Meter Laufstrecke. Die Frage bleibt: Wie soll das gehen?

*) Die Ergebnisliste umfasst 250 Teilnehmer, die zwischen einer bis 897 Runden drehten. 200 Voranmelder traten nicht an. Einige vermutlich, weil sie die winterlichen Outdoor-Bedingungen scheuten. Und manch einer wird angesichts der „Schmalspur-Ersatzlösung“ wieder das Weite gesucht haben. Insofern dürften zu keinem Zeitpunkt mehr als 120 bis 150 Läufer auf der Bahn gewesen sein.

Einstweilen habe ich Wichtigeres zu tun als mir über das Ungeheuerliche den Kopf zu zerbrechen. Ausführung in bereits aufgezählter Reihenfolge: Startnummer montieren, Toilette aufsuchen, schlachtbereit gürten. Und während dieser Verrichtungen bin ich innerlich weniger außer mir, als der geneigte Leser bis hierhin vielleicht annehmen wird. Ganz im Gegenteil sogar. Was da auf mich zukommt ist zwar „Wahnsinn in Tüten“, aber er findet „indoor“ statt. Indoor!!! Bei jetzt schon erträglicher Temperatur, die infolge hunderter menschlicher Heizkörper noch Grad um Grad steigen wird. Ist das zu fassen? Ich brauche nicht „da draußen“ bei eisigen minus fünf Grad durch den Schnee zu schlappen.

Bis die verrückte Sause steigen kann, gilt es aber noch ein Problem zu lösen (du erinnerst dich an die erwähnten Unwägbarkeiten, die - so meine Erfahrung - vor fast jedem Lauf auftreten?). Was soll ich anziehen? - Weder Mike noch ich sind für Plusgrade ausgerüstet. Selbst ohne Jacke wäre ich in meinem Angorakuschel-Shirt dem Hitzetod geweiht. Kurzerhand ersteht Mike am Souvenirstand ein Werbeshirt des Veranstalters. Brauche ich das auch? - Angora aus-, probehalber ein dünnes Langarmshirt anziehen. Eigentlich immer noch zu warm. Der Fummel liegt aber hautnah an, so dass ich die Ärmel bis über die Ellbogen hochziehen kann, ohne dass sie später, der Schwerkraft gehorchend, wieder runterrutschen werden. Das geht. Einziger Nachteil: Das Teil ist kaum vorzeigbar. Normalerweise egal. Kriegt schließlich nie jemand unter der Jacke zu sehen. Heute dann schon. Macht mir das was aus? Der eitle Teil meines Egos diffamiert den tristen Fetzen als absolutes No-Go! Und wenn schon: Es ist, wie es ist! Der eitle Fatzke hat sich heute dem Unabdingbaren zu fügen.

Das gilt auch für die lange Lauftight. Natürlich streifte ich heute Morgen das wärmste Exemplar an Laufhosen über, das mein Schrank zu bieten hatte. Eine warme baumwollene Trainingshose wäre die Alternative. Richtig: Keine wirkliche Alternative. Lange Rede, feuchter Sinn: Ich werde schwitzen - pardon: Unmissverständlichkeit geht vor -, also: Ich werde schwitzen wie ein Schwein (schwitzen Schweine überhaupt?)! Der Tatsache an sich sehe ich ebenso gelassen entgegen, wie der zu erwartenden Überhitzung. Schließlich komme ich draußen bei 30°C und Sonnenschein auch zurecht. Allerdings muss ich mein Augenmerk auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr richten. Früh genug, häufig genug und in ausreichender Menge trinken!

Der Läuferpulk, grob geschätzt 100 Menschen, hat sich vor der von der Zeitmessanlage vorgegebenen Startlinie versammelt. Überwiegend guckt man ein bisschen stirnrunzelnd, verdutzt, verunsichert, belustigt, ungläubig, amüsiert aus der an manchen Leibern zu warmen Wäsche. Müsste ich das vielfach zu beobachtende Mienenspiel in Worte fassen, ich wählte die Formel „75 Meter Kreisel - das wird was werden!“ - Schon jetzt, zu mehreren nebeneinander stehend, erstreckt sich die Meute der Läufer über etwa ein Viertel des Vierecks.

Was die übrigen denken, weiß ich nicht, Mike und ich stimmen jedoch weitgehend überein: Erstens ist alles besser, als unverrichteten Laufes wieder heimzufahren. Will ich mir gar nicht vorstellen: Die gefährliche Anreise und dann Fehlanzeige … Außerdem dürfen wir drinnen laufen, brauchen nicht wie gestern gegen Frost und Ostwind anzurennen. Hinzu kommt, dass wir die Sache gemächlich angehen müssen, weil schnelles, selbstbestimmtes Laufen ohnehin illusorisch sein dürfte. Auch für Letzteres bin ich dankbar, spüre ich den flotten Lauf von gestern doch noch in den Beinen. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, noch habe ich Marathon Nummer 222 nicht im Kasten. Einstweilen aber scheint es, als hätte die Stadt Fürth mir mit dem Entzug der Veranstaltungsgenehmigung einen Riesengefallen erwiesen.

Zum besseren Verständnis: Die Stadtverwaltung sah sich außerstande die vom Rundkurs benutzten öffentlichen Wege rechtzeitig zu räumen und sicher zu präparieren. Sicherheit und Unversehrtheit der Sportler gehen jedoch vor, weswegen die Zuständigen wenig früher als eine Stunde vorm Start den Widerruf der Genehmigung aussprachen. Spontan entschloss man sich zur „Lösung im Miniaturformat“, baute um, grenzte ab und trassierte 75 Meter Laufstrecke. In der Kürze der Vorbereitungszeit grenzt die Ersatzlösung an ein Wunder. Wie viele andere Veranstalter hätten das damit verbundene Wagnis gescheut und die Laufwilligen mit Bedauern wieder heim geschickt? - Auch die Zeitmessfirma spielte mit, baute ihre Technik in rekordverdächtiger Zeit um. Die Anlage funktioniert und natürlich hoffen alle, dass das über sechs Stunden so bleiben wird.

Ein paar Reihen weiter vorne im Feld steht Kraxi. Für mich ein weiteres Highlight, denn so begehe ich das Schnapszahl-Jubliäum „222“, gemeinsam mit meinen besten Lauffreunden. Leider verhinderte Vorstarthektik mehr als nur ein paar Sätze mit Kraxi zu wechseln. Ich kenne den Freund jedoch gut genug, um zu ahnen, dass er vom 75-Meter-Ersatzangebot alles andere als begeistert ist …

Es geht los, das Karussell beginnt sich zu drehen. Die schnellen vorderen Läufer holen die hinteren langsamen ein, noch bevor die erstmals ihren Fuß über die Startlinie setzen. Wie eine Schlange, die sich selbst in den Hintern beißt. Der einsetzende „Ziehharmonika-Effekt“ verhindert vorerst, dass so etwas wie gleichmäßiges Traben möglich wäre. Kennt jeder vom Kolonnenfahren auf verstopfter Autobahn: Anfahren, beschleunigen, abschnittsweise rollt es, bis der viel zu dichte Verkehr die nächste Stockung und hundertfaches Bremsen auslöst. In derselben Weise ergeht es uns. Ohne Körperkontakte kann es in solcher Enge nicht abgehen. Ich sehe mich vor, versuche wenigstens minimalen Abstand zu halten, auf keinen Fall die Spur zu wechseln und niemandem auf die Hacken zu treten …

„Weiter entzerren wird es sich nicht mehr!“ - Keine Ahnung, wer es ausspricht. Ich lasse den Blick im Rund schweifen und gelange zur selben Erkenntnis. Bremsen, beschleunigen, ausweichen, Arme anlegen - unumgängliches Verhalten, das sich zigfach wiederholt. Es verhindert nicht hin und wieder anzuecken oder einen spitzen Ellbogen im eigenen Fleisch zu spüren. Hauptschuld daran trifft jene, bei denen Rücksichtslosigkeit und mangelnde Intelligenz eine ungute Allianz eingehen. Wenige nur, doch zu viele für 75 Meter Laufstrecke. Leute, die nicht kapieren, dass ein regulärer Wettkampf heute nicht möglich ist. Dass rigorose Überholmanöver zwangsläufig auf Kosten der Sicherheit der anderen gehen. Meist tanken sie sich am inneren Zirkel vorwärts, umkurven das Gros der Vernünftigen nicht selten aber auch wie Slalomstangen. Zu ihnen zählt übrigens auch eine Frau. Mangelndes Einfühlungsvermögen ist folglich kein männliches Monopol. Am Ende wird man diese Leute auszeichnen, weil sie sich die meisten Kilometer er-rempelt haben. Nach meiner Auffassung sollte man sie eher an den Pranger der Schande stellen!

Auch wenn es dramatischer klingt, als ich es tatsächlich empfinde: Alles in allem verdüstert sich mein Gemüt ein wenig. Wölkchen punktuell aufwallenden Ärgers schieben sich ebenso vor meine Sonne, wie Nebelschwaden der Resignation: Soll das Geschiebe und Gezerre nun ewig so weitergehen? Wie lange eigentlich? - Irgendwer gab Mike die Auskunft, dass nach dem Marathon Schluss sein soll. Ein Marathon ist natürlich Pflicht für mich, egal, was ich dafür erdulden muss und gleichgültig, wie lange es auch dauern mag. Als Teil des unstet tippelnden Schwarms werde ich dafür zwischen 4:30 und 5:00 Stunden brauchen. Sei’s drum: Es ist, wie es eben ist und vorher zu kneifen ist undenkbar. Festgesteckt am rückwärtigen Teil meines Startnummernbandes präsentiere ich für jeden lesbar mein Tagesziel: „222 x Marathon und weiter“.

Rasch tritt ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Vermutlich geht es allen so, wodurch „der Verkehr ein bisschen flüssiger rollt“. Kaum agieren, hauptsächlich reagieren. Mein davon nicht ausgelasteter Geist befasst sich mit den Besonderheiten und ungelösten Fragen … Ob die Runden korrekt und ausnahmslos gezählt werden, lässt sich nirgendwo überprüfen. Mehr noch: Über Stunden weiß ich nicht mal, ob die Elektronik meinen Transponder überhaupt erfasst. Der „Piepston“ beim Überschreiten der Start-/Ziellinie - falls mein Chip tatsächlich einen auslöst - lässt sich nicht von den „Piepsern“ anderer, fast zeitgleich registrierter Läufer trennen. Eine Rundenanzeige gibt es nicht, sie wäre auch komplett sinnlos. Bevor ich meinen Namen auf einem Monitor wahrnähme, hätte ihn die Schar nachdrängender Läufer bereits wieder aus dem Sichtfeld „gekickt“. Auf diese Weise sind wir alle gleichermaßen zum Vertrauen in die Technik verdammt …

Selbstverständlich mache ich mir auch Gedanken darüber, wie dem jeweiligen Finisher das Erreichen der Marathondistanz signalisiert werden soll. Auf Basis gehabter Stunden- und zuletzt mehrerer Hallenlauferfahrungen spiele ich ein paar Lösungen im Kopf durch. Möglich ist es, ob fehlerfrei, lasse ich mal offen. Andererseits: Was macht es schon aus, wenn ein Finisher ein, zwei, drei Runden über den Durst dreht, bevor man ihn im Läuferstrom ortet und aus dem Verkehr zieht?

Ein paar Versuche starte ich, um mein Tempo zu bestimmen. Näherungsweise zu bestimmen, um wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon zu bekommen, wie lange das Abenteuer dauern wird. Ich bestimme die Laufdauer einer Runde. Mal sind es mehr als 30 Sekunden, ein anders Mal weniger, auch mal deutlich weniger. Je nachdem, ob ich in einer der zahllosen Verdichtungen abbremsen musste oder einen sich plötzlich öffnenden Korridor mit ein paar schnelleren Schritten überbrücken konnte … Welche Spanne soll ich einer Kopfrechnung zu Grunde legen? Überwiegen die schnelleren oder die langsameren Runden? - Ich beende das sinnlose Unterfangen und finde mich mit der Unberechenbarkeit des Karussells ab.

Einer müht sich nach Kräften den zum Hamsterrad verkommenen Sechs-Stundenlauf in Bewegung und die durcheinander wuselnden Hamster bei Laune zu halten. Mit dem Drahtlosmikrofon in der Hand feuert Willi Wahl - im sonstigen Sportlerleben Läufer und Vizepräsident des Bayerischen Leichtathletikverbandes - uns immer wieder an. Hochemotional und lautstark. Fordert dann und wann aber auch Rücksichtnahme ein. Ich bin nach wie vor zwiegespalten. Einerseits dankbar überhaupt laufen zu können und in dieser Hinsicht auch Teil der in der Halle grassierenden guten Laune. Was mich dennoch immer wieder auf die Palme bringt, sind die Unbelehrbaren. Mir fehlt auch das Verständnis für fünf bis zehn dieser Leute die Innenbahn freizuhalten, was Willi immer wieder einmal anmahnt. Ein paar Rücksichtslose sollen innen vorbeizischen, während das Gros der Einsichtigen außen rum den weiteren Weg nimmt und sich in zusätzlich provozierter Enge auf die Füße tritt? Die Umstände verhindern faires wettkämpfen. Wer das nicht einsieht, ist falsch im Rund!

Auch Anton Luber, der blinde Läufer, fährt mit im Karussell. Wieso auch nicht. Der hat schon ganz andere Herausforderungen gemeistert. Etwa die 100 Meilen rund um Berlin, den Mauerweglauf. Üblicherweise ist er mit seinem Begleiter über einen Seilring verbunden, den beide in der Hand halten. Diese Kopplung wäre heute zu „lose“, zu wenig direkt für die Steuerung im überfüllten Kreis. Deshalb hat sich Anton am Oberarm seines Kameraden untergehakt. Darüber hinaus ist das Paar notgedrungen langsam unterwegs. Sie tauchen alle paar Umläufe vor mir auf, obwohl ich von Anton sonst - unter normalen Bedingungen - meist nur die Hacken sehe. Ist fehlende Sehfähigkeit nicht Behinderung genug? Ein böser Streich des Schicksals, dass die Enge Antons läuferische Entfaltung heute zusätzlich behindert.

Nach einer guten halben Stunde gibt Kraxi entnervt auf, steht ratlos und missmutig am Rand. Ich schere in seine Richtung aus und frage, was los ist. Man habe ihm mehrfach auf die Füße getreten, außerdem sei richtiges Laufen unter diesen Umständen unmöglich ... Was natürlich den Tatsachen entspricht, vor allem für einen wie ihn, der unter normalen Umständen mit höherem Tempo unterwegs wäre. Kraxi ist nun mal ein durch und durch fairer Sportsmann. Eben keiner der rücksichtslos Starrköpfigen, die notfalls die Ellbogen ausfahren, um sich Platz zu verschaffen. - Ich reihe mich wieder ein im Kreisel und trete meine Enttäuschung mit Füßen. Auch wenn ich ihn verstehe - zu gerne hätte ich den 222. Marathon auch mit Kraxi gefeiert. Und natürlich hatte ich für den Freund auf ein Finish gehofft, wohl wissend, welches Ziel er in diesem Jahr zusätzlich verfolgt …

Guten Willens bin ich, verstehe jedoch nicht, wie das Manöver zur Umkehr der Laufrichtung ablaufen soll. Wortreich erklärt Willi am Mikro das Prozedere. Immerhin kapiere ich, dass nicht alle gleichzeitig umdrehen können. Verständlich, denn damit betrüge die Ungerechtigkeit pro Läufer +/- 75 Meter*. Erst einmal räumt der „Zeremonienmeister“ die Innenbahn frei. Auf Kommando schließen sich ihm dann alle in seiner Nähe befindlichen LäuferInnen an. Wie bei einer Polonaise kehrt er mit ihnen in kurzer Schleife um und joggt dem übrigen Feld auf frei geräumter Innenbahn entgegen. Da die Polonaise exakt zur Rundenmitte, also der Messeinrichtung gegenüber beginnt, bleibt die Rundenlänge für alle gleich. Sozusagen zwei halbe Runden, eine zum Umkehrpunkt und wieder zurück. Das Erstaunlichste an diesem Vorgang ist, dass er auf Anhieb gelingt. Nach nicht mal einer Minute kreisen alle im Uhrzeigersinn, beschreiben nun eine Stunde lang Rechtskurven …

*) Ein Läufer, der gerade die Messschleife überlaufen hat, kehrt um und heimst binnen weniger Zentimeter eine zweite Runde ein. Ein anderer hat seine Runde fast vollendet, wendet aber zu früh und wird erst nach weiteren 75 Metern registriert. Damit fehlt ihm eine Runde.

Der Sinn dieser Aktion war jedem vorher klar: Mehrere Stunden lang beständig links abzubiegen und das viermal in einer halben Minute (!), führte mindestens zu einseitigen Belastungen, vermutlich zu einem Muskelkater, wenn nicht Ärgerem. Wem sich der Zusammenhang nicht vorher erschloss, begreift ihn spätestens danach. Ich brauche ein paar Runden, bis der eingeprägte Linksdrall gänzlich aufgehoben ist. Bis dahin fühlen sich meine Schritte auf eigentümliche Weise desorientiert an.

Ringelreigen andersrum - die zweite Stunde hat begonnen. Beim Heimfahren, in den Tagen danach, sogar jetzt noch, da ich meine Erlebnisse niederschreibe, vermag ich mir nicht zu erklären, wie ich die schier endlose Zeit in dieser Halle ohne „suizidalen Überdruss“ hinter mich bringen konnte. Es mag daran liegen, dass ich mich unausgesetzt darauf konzentriere niemandem in die Quere zu kommen. Pausenlos einer Art „Ideallinie ausbleibender Kollisionen“ folge. Zu diesem Zweck automatisch „antizipiere“, wie man es in „Neuhochdeutsch für Fußballer“ ausdrücken würde*. Weitgehend gelingt das, viel zu oft aber auch nicht. Stockungen kann ich voraussehen, den plötzlichen Spurwechsel eines Vordermannes dagegen nicht. Und da mir seitlich hinten Sensoren fehlen, erschrecke ich häufig, lasse mich auch abdrängen, wenn sich wieder einer der rücksichtslos ehrgeizigen Springböcke (oder die eine impertinente Gazelle) vorbeizwängt.

*) „Antizipieren“ klingt mir als Lieblingsfremdwort diverser Fußballkommentatoren im Ohr. ;-)

Dritte Stunde nach neuerlichem Richtungswechsel. Momente reihen sich aneinander wie Perlen auf einer Schnur. In jedem dieser Augenblicke geschieht etwas, doch längst nichts Neues mehr. Sogar Unvorhersehbares, aus der Verkettung von Zufällen und Reaktionen entspringend, entwickelt sich nach längst bekanntem Muster. Mike wird hinterher äußern, dass ihm die Sache nach einer, längstens anderthalb Stunden anfing Spaß zu machen. Wie steht es um mich? Hab ich Spaß im Laufzirkus? - Im Grunde nicht wirklich. Ich halte mich bei guter Laune, das schon. Denke ich an die unwirtlich eisige Welt jenseits des Zirkuszelts, dann kommen mir die 75 Meter Umfang der Manege vor wie ein Stück vom Paradies. Auch nicht zu verachten: Ich bin Teil einer überaus skurrilen Laufveranstaltung, kann hinterher sagen: Ich hab den Quatsch miterlebt! Wenn ich es recht bedenke, läuferisch so ziemlich das Absurdeste, dem ich je beiwohnte, im Grunde eine Parodie auf Laufveranstaltungen!

Drei Stunden und 35 Minuten sind um. Der Zufall hat Mike und mich vorübergehend zum Laufduo vereint, wie mehrfach zuvor. Meist blieben wir dabei stumm, diesmal hat Mike Aufbauendes parat: „Etwa eine Stunde noch, dann sollte der Marathon erreicht sein!“ Wem er damit Mut zusprechen will, weiß ich nicht. Ob mir oder sich selbst, wahrscheinlich uns beiden. Ich stimme ihm zwar zu, sehe mich aber postwendend mit Skepsis konfrontiert. Ob unser Durchschnittstempo für eine Marathonzeit von 4:35 Stunden ausreichen wird? - Insgeheim richte ich mich drauf ein, dass es länger dauern wird.

Ausreichend Runden für einen Marathon: Irgendwer streute die Zahl von 562 Umläufen unters Läufervolk, die für den Marathon zu sammeln sind. Mehr als ein halbes Tausend, eine entmutigend hohe Zahl. Hoch genug, um ihre Korrektheit keine Zehntelsekunde infrage zu stellen. Tatsächlich gehe ich sogar davon aus, dass 42.195 geteilt durch 75 ohne Rest 562 ergibt. Begründen könne ich diese Annahme nicht und sie entspricht auch nicht der Realität, wovon sich jeder per Taschenrechner überzeugen kann: 562 x 0,075 km = 42,15 km.

Jede Faser an meinem Leib trieft vor Nässe. Ungefähr im Viertelstundentakt schütte ich Flüssigkeit in mich rein, von der ich den Eindruck habe, dass sie den Umweg Magen-Darm-Kreislauf scheut und postwendend über die Poren meiner Haut wieder abfließt. Schon eine ganze Weile scheuert der klatschnasse Hosenstoff rechts wie links zwischen Schambein und Oberschenkel. Wäre nicht das erste Mal in diesem Winter, dass ich mich an der Stelle wund laufe. Schließlich unterbreche ich den Orbit, auch wenn mich der fällige Toilettenbesuch mehr als fünf Minuten kosten wird. In dieser Hinsicht muss sogar ich lauernden Ehrgeiz ersticken: Udo, es geht hier um nichts! Laufen, trainieren, Marathon abreißen und gut ist!

Ich klaube die Tube mit Vaseline aus meiner Sporttasche, gehe zur Toilette und schmiere die betroffenen Hautpartien mit einer Schutzschicht ein. Notdurft auch gleich verrichten, wenn ich schon mal hier bin … Auf Hin- und Rückweg passiere ich die offene Eingangstür zur Halle. Sollte noch ein Hauch von Skepsis bestanden haben, ob indoor zu laufen die bessere Wahl ist, die von draußen einströmende arktische Luft fegt ihn beiseite. Daran ändert auch das inzwischen miefige, feuchtwarme Klima nichts, das mir beim Betreten der Halle entgegenschlägt. - Sauerstoffgehalt der Luft? - Wird ohnehin überschätzt und strebt gegen null. Doch so lange keiner umfällt, bleibt die Luft atembar …

Dritter Richtungswechsel zu Beginn der vierten Stunde, wieder gelingt die Polonaise spielerisch leicht. Im Grunde bin von der Tatsache höchst professionell gemanagter Improvisation überwältigt. Kaum mehr als eine Stunde hatten die Verantwortlichen Zeit, die alternative Idee zu entwickeln, im Detail zu durchdenken und den Umbau erfolgreich umzusetzen. Das Ergebnis mag wie die Idee von ein paar Wahnsinnigen anmuten, aber es funktioniert. Also Wahnsinn mit Methode!

Sogar die Kinderläufe bringt Willi Wahl auf der winzigen „Spielwiese“ unter! Auf einer eigens dafür eingerichteten Innenbahn, also getrennt vom Feld der Erwachsenen, sprintet uns der Laufnachwuchs entgegen. Ein paar unvermeidliche Schönheitsfehler sieht man den Verantwortlichen nach. Zum Beispiel die Tatsache zu geringer Bahnbreite in Höhe des Verpflegungsstandes. Notgedrungen gehen oder stehen dort ständig Läufer, bilden häufig den Ausgangspunkt für Verdichtungen und Stockungen. Apropos Verpflegungsstand: Die häufige Einkehr zum Trinken erwähnte ich. Ab und an nasche ich sogar etwas Süßes. Absichtslos eigentlich, das langsame Tempo erlaubt mir die kulinarischen Extravaganzen. Um den Trainingseffekt stundenlangen Ringelreihens zu erhöhen, habe ich mich übrigens schon in Stunde eins dazu entschlossen meine Gels heute nicht anzutasten …

Ich weiß nicht wie andere Läufer empfinden, wenn man ihnen zu nahe kommt. Sie knufft, ihnen per Ellbogen Pferdeküsse schenkt oder sie spontan spurwechselnd schneidet. In mir löst all das kurze aggressive Schübe aus; lässt mich den Missetäter mit giftigen Blicken und abfälligen Worten „niederstrecken“ - bildlich gesprochen natürlich nur. Die kurzen gedanklichen Entgleisungen werfe ich mir nicht vor, immerhin beruhigen sie mich jeweils binnen dreier Schritte. Ich verstehe jeden, der es vorgezogen hat sich diesen „Brummkreisel“ nicht anzutun. Aber können sich jene auch in mich versetzen? - Selbst wenn ich im Detail gewusst hätte, was mich erwartet, ich wäre doch unfähig gewesen die Chance auf ein Marathonfinish sausen zu lassen.

Während ich mir Stunde um Stunde um die Ohren schlage, müssen dieselben allerlei Schall kanalisieren. Zunächst hauptsächlich Willis einpeitschende, bisweilen erklärende oder auch ermahnende Sätze. Dazwischen Musikalisches, entweder aus der Konserve oder live. Vielstimmiger Chorgesang zum Beispiel, gut gemeint, vielleicht auch gut gesungen, nur leider meine Sache nicht. Ohren also auf Durchzug. Schlussendlich bringt eine Band mit aktuelleren Rhythmen die Halle zum Kochen. Kann aber auch sein, dass die Summe aller Läuferemissionen die Hallenluft hat sieden lassen …

Musik hat Pause, Willi redet. Verkündet Zwischenstände der Führenden. Verstehe ich nicht. Erstens nicht, wieso er überhaupt jemanden für dessen Ignoranz und Rücksichtslosigkeit hervorhebt. Zweitens den Inhalt dessen nicht, was er da verkündet: Dem bisher erfolgreichsten Rundensammler attestiert er 621 Runden … Wie kann das sein? - Ich dachte nach Marathon, also nach 562 Runden, sei Schluss!?? Ich scheine das geänderte Reglement des Laufes nicht wirklich begriffen zu haben. Vermutlich, weil ich zu Beginn nicht auf alle Durchsagen achtete und mir die eine oder andere auch rein akustisch ein Rätsel blieb. Ich muss mir Klarheit verschaffen und mache einen Schlenker zu Willi im Innenraum der Manege. „Du kannst so lange laufen wie du willst!“ meint der nur huldvoll lächelnd …

Also kreise ich weiter, etwa 4 Stunden und 20 Minuten nachdem das Karussell erstmals Fahrt aufnahm … So lange ich will? Was heißt das denn? Über Nacht? Bis Ultimo? - Quatsch! Sicher nicht länger als die ursprünglich vorgesehenen sechs Stunden. Immerhin rückt Willis Aussage mein Tagesziel, dem ich mich schon auf Minutenabstand genähert zu haben glaubte, in mehr als stundenweite Ferne. Ich fuhr hierher um einen Sechs-Stundenlauf zu absolvieren. Mehr als Marathon. Die Möglichkeit besteht nun wieder - genauer: bestand von Anfang an, nur wussten wir’s nicht besser -, also werde ich sie nutzen. So wie Mike, der schon hoffte die Heimfahrt gen Berlin ein, zwei Stunden früher antreten zu können.

Laufdistanz und -zeit für alle frei wählbar. Nix is fix! Nachdem es nun keinerlei Grenzen mehr gibt, ertrage ich die Ungewissheit nicht länger: Wie viele Runden (oder Kilometer) habe ich eigentlich schon absolviert? - Ich stoppe vorm Tisch der Zeitnehmer mit den drei Notebooks und erhalte startnummer-bezogen Auskunft: Aktuell 527 Runden! Danke und ab, zurück ins Hamsterrad, wobei ich im Abgang noch eine Information auf dem Notizzettel des Zeitnehmers lese: „Marathon = 562,6 Runden“. Also muss ich volle 563 Runden schaffen, um mein Jubiläum wahr werden zu lassen! … Und schon beginnt mein Kopf zu rechnen … 563 minus aktuell 527 … also noch 36 Runden bis Marathon!

Ob es mir gelingen wird, weiß ich nicht, jedenfalls beginne ich nun die verbleibenden Runden runterzuzählen … Nach etwa einer Viertelstunde bin ich damit durch, habe mich vielleicht ein-, zweimal verzählt und hänge deswegen zwei „Strafrunden“ an. Aber jetzt: Marathon Nummer 222 ist vollbracht! Pflicht erfüllt, der Rest ist Kür. Mehr als eine Stunde Zeit übrig, also sollte ich die fünfzig Kilometer noch packen können … Und wieder beginnt mein Kopf zu rechnen. Kein Problem, immerhin war er stundenlang weitgehend arbeitslos!

Round and round and round … unstet stetes Getrabe in winzigem Kreis hat mich all die Zeit von meiner körperlichen Verfassung abgelenkt. Ich habe schlichtweg vergessen, dass ich nach den gestrigen 44 Kilometern in Frost und Gegenwind erschöpft sein müsste. Vergessen, dass eigentlich alle Gräten heftige Wehklagen anstimmen müssten. Was sie bisher - erstaunlicherweise - nur sehr verhalten tun. Die Achillessehne ein bisschen, die rechte Kniescheibe spürbar, die Pomuskulatur minimal. Nichts Besorgniserregendes. Und mein Akku? - Natürlich fühle ich einen Substanzverlust nach inzwischen fünf Stunden Hallentrab. Das jedoch vor allem anlässlich der und durch die fortwährenden Tempowechsel, zwischen abstoppen und zügig laufen. Ein nahendes Limit spüre ich nicht …

Fünf Stunden um, letzte Richtungsänderung und weiter Runden sammeln. Alles wie gehabt. Noch 45, 40, 35, dann 30 Minuten. Gerade zischt der Duracell-Hase, alias Mike Hausdorf, wieder an mir vorbei. Seit einiger Zeit rennt Mike wie aufgezogen, tatsächlich als hätte man ihm eine frische Batterie eingesetzt. Der Freund gibt jetzt alles und versuchsweise lege auch ich einen Zahn zu. Warum nicht noch ein bisschen Ehrgeiz entwickeln!? Die Gelegenheit scheint günstig, weil die Läuferdichte immer weiter abnimmt. Nach zwei flotteren Runden merke ich allerdings, dass das meinen Füßen nicht gut bekommt, mich zudem über Gebühr auslaugt. Für ein paar Meter in der Endabrechnung mehr will ich die Trainingseinheiten der kommenden Woche nicht gefährden.

Nach jeder Runde blicke ich zum Zeitnehmertisch. Wie das Kaninchen die Schlange fixieren die beiden den Bildschirm eines Notebooks. Immer wieder mal stoppt ein Läufer, fragt seinen Zwischenstand an und erntet ein Kopfschütteln. Vor zwanzig Minuten ging es mir auch schon so: Kein Zugriff auf das Programm! Wörtlich: „Der lädt schon die ganze Zeit nach! Aber keine Angst, die Runden werden weiter gezählt!“ - Was „der“ nachlädt, will ich eigentlich gar nicht wissen, frage mich allerdings schon, wie man eine Maschine derart komplex (unintelligent?) programmieren kann, dass sie ihren Bediener wegen Überlastung nicht mehr „ranlässt“. Wäre mir entsetzlich peinlich, mit derlei Unvollkommenem vor Kunden „auftreten“ zu müssen. Oder wäre ich genauso schmerzfrei wie offensichtlich die beiden Zeitnehmer? - Vielleicht. Infolge jahrelanger Konditionierung steigt die Akzeptanz im Umgang mit Computerfehlern (Bedienerfehlern?) sprunghaft an. Ständig funktioniert so ein Blechdepp nicht auf Anhieb. Spinnt bei der Post, wenn ich ein Paket abhole. Weigert sich an der Scannerkasse ein Etikett zu lesen. Begegnet mir als Handy, für dessen „Tatschskrien“ meine Fingerspitzen zu schlecht koordiniert oder einfach zu dick sind. Und vor allem nervt die Blechkiste daheim, wenn sie abstürzt oder sekundenlang Geheimnisvolles im Hintergrund vollstreckt und mich dabei mit kalt leuchtendem Monitor und höhnisch angrinst …

Heureka! „Er“ ist mit Nachladen durch und ich erfahre meinen Zwischenstand. Kurzer Blick zur Uhr, letzte Kalkulation, dann steht fest: Ich werde es auf 51,xx Kilometer bringen. Noch zehn, acht, fünf Minuten. Der Duracell-Hase braust wieder vorbei, lässt sich von keinem der wenigen, noch verbliebenen Läufer mehr überholen. Ich trabe meine Mission moderat zu Ende, versteige mich nur in der Schlussrunde noch einmal zu einem Sprint, um den Umlauf in den verbleibenden 25 Sekunden zu vollenden …

 

Ergebnis (nur der Vollständigkeit halber, da wenig aussagekräftig):

Mike Hausdorf: 53,25 km (710 Runden)

Udo Pitsch: 51,90 km (692 Runden)

 

Fazit zur Veranstaltung

Anmerkung vorab: Auf künftige Wiederholungen der Veranstaltung ist mein Fazit infolge Ausnahmesituation selbstverständlich nicht anwendbar. Das gilt übrigens auch für meine Laufberichte zum „6h-Lauf / Marathon anlässlich des Welt-Down-Syndrom-Tages“ der Jahre 2013, 15 und 16. Damals wurde die Veranstaltung noch an anderer Stätte ausgetragen.

Für dieses Jahr kann man dem Veranstalter nur ein dickes Lob aussprechen! Alles richtig gemacht! Statt die Veranstaltung abzusagen, was der üblichen Reaktion entsprochen hätte, ging man das Wagnis ein, innerhalb kürzester Zeit eine Alternativveranstaltung in der Sporthalle auf die Beine zu stellen. Trotz unvermeidlicher Einschränkungen, die sämtlich der Platznot geschuldet waren, brauchte so niemand auf seinen Lauf zu verzichten.

Danke für einen verrückten, unvergesslichen, aberwitzigen 222. Marathon (und weiter)!

 

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