Wetter-Chaostage: Tag eins, Samstag 17. März 2018

Paarlauf und Gänsemarsch  -  Würzburger Gedächtnislauf 2018

Am 16. März 1945, um 21:07 Uhr, wurden die Bewohner Würzburgs alarmiert. Ein verheerender Luftangriff stand unmittelbar bevor. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man sich in der unterfränkischen Stadt der Illusion hingegeben, mangels kriegswichtiger Industrieanlagen für Luftschläge der Alliierten kein lohnendes Ziel abzugeben. Um 21:25 Uhr markiert eine Vorhut der anfliegenden Bomberarmada das Zielgebiet mit grünen Leuchtbomben. Innerhalb dieses Areals, im Wesentlichen die Würzburger Altstadt, gehen von 21:35 bis 21:42 Uhr, also innerhalb von nur 7 Minuten, etwa 1.200 Tonnen Bomben nieder. Sie entfachen in der von Fachwerkhäusern geprägten Innenstadt einen Feuersturm mit Temperaturen von 1.000 bis 2.000°C. Schätzungen gehen davon aus, dass 4.000 Menschen in diesem Inferno ihr Leben verloren. 90 Prozent der Innenstadt wurden zerstört, was einem höheren Anteil entspricht als wenige Wochen zuvor in Dresden …

Das Heulen der Sirenen versetzt die Menschen in Todesangst. Wer laufen kann und flieht, überlebt. Alljährlich am 16. März, dem Tag des Angriffs, gedenken die Würzburger der Toten und der fast völligen Zerstörung ihrer Stadt mit zahlreichen Veranstaltungen. Eine davon, der „Gedächtnislauf“, zeichnet den Weg der in Panik flüchtenden Menschen nach. Hunderte Läufer starten im Hof des Rathauses, überqueren die Alte Mainbrücke, wenden sich dem Flussufer zu und verlassen die Stadt Richtung Norden. Selbst an warmen Frühlingstagen im März wird den eisigen Hauch des Grauens spüren, wer dem Leidensweg der fliehenden Menschen joggend folgt …

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An diesem frostigen Samstagmorgen im März 2018 wähnen wir den Frühling weit entfernt. Irgendwo tief im Süden, wenn nicht gar auf einem anderen Kontinent. Im umfassenden Sinne bezeichnet „wir“ eine bunte Schar von mehreren hundert Läufern, im engeren meinen Freund Mike Hausdorf und mich. Den quirligen, stets gut gelaunten Berliner Laufkameraden neben mir zu wissen, verhindert, dass meine Laune schon vorm Start einfriert. Im Hof des Würzburger Rathauses stehend harren wir dem Geschehen. Als die Ansprache beginnt, scheint das laute Scherzen und Palavern im überwiegend blutjung besetzten Läuferfeld abzuebben. Schwillt nach ein paar Sekunden aber wieder an, weil die unterdimensionierte Lautsprecheranlage lediglich gedämpftes, völlig unverständliches Nuscheln im Hof verteilt. Mike und ich fühlen uns betroffen. Vom Anlass des Laufes, über den wir uns vorab im Gespräch austauschten, ohnehin, nun zusätzlich vom stümperhaft umgesetzten Gedenken. Hunderte stehen bei minus drei Grad Celsius sinnlos frierend herum, während einer (Wer?) mutmaßlich Wahrheiten ausspricht, an die in diesem Land nicht oft genug erinnert werden kann.

Kurz nach 11 Uhr dann endlich das Startsignal. Der Läuferstrom folgt dem vorausfahrenden Blaulicht eines Streifenwagens und ergießt sich in eine Gasse neben dem Rathaus. Von dort geht es auf die unweit des Rathauses den Fluss überspannende Alte Mainbrücke. Ein Weg, den ich zuletzt 2007 anlässlich des Würzburg Marathons zurücklegte und der jetzt zahlreiche Erinnerungen wachruft. Auf der Brücke genießt man einen der schönsten Ausblicke, die Würzburg zu bieten hat: Hoch oben jenseits des Mains, über gepflegten Weingärten, thront die Festung Marienberg. Die geschichtsträchtige Ansicht könnte einen den Untergang des mittelalterlichen Würzburgs im Feuersturm vor 73 Jahren fast vergessen lassen. Jenseits der Brücke streben wir dem Mainufer zu und traben auf Spazier- und Radwegen weiter.

Erste, schwache Windböen fegen uns entgegen. Von „Warmlaufen“ kann nach einer Viertelstunde im eisigen Ostwind keine Rede sein, „Einlaufen“ trifft die Sache schon eher. Dann und wann tauschen wir Gedanken aus. Kein Gespräch im eigentlichen Sinne. Halbsätze, die Eindrücke wiedergeben, Empfindungen in Worte fassen. Die Kälte schneidet zumindest mir im wahrsten Sinne des Wortes die Rede ab. - Reben bedecken den Hang auf der gegenüberliegenden Mainseite. Ein landschaftliches Juwel dieses Flusstal. Ein Gedanke, den kaum Emotionen begleiten. Um ins Schwärmen zu geraten, fehlen ein paar Grad und vor allem Sonne … „Die könnten auch in Schottland stehen!“ - Mike deutet auf ein paar Gebäude, die wie kleine Burgen anmuten, hoch über den Weingärten.

Ein bisschen sorge ich mich um den Freund an meiner Seite, weil der erst vor ein paar Tagen eine heftige Erkältung überstanden hat. Und nun joggen wir drei Tage vorm kalendarischen Frühlingsanfang durch diese Kältekammer mit Windmaschine. Zum Glück findet der Wind im engen Maintal nördlich von Würzburg keine Einfallschneise. Eventuell steht er auch nur günstig für uns … egal, Hauptsache erträglich …

Vielleicht sollte ich mich weniger um Mike, dafür mehr um mich sorgen!? - Auf eine Weise, die schwer in Worte zu fassen ist, fühle ich mich … „unwohl“ klänge zu sehr nach Bauchweh … „ungut“ trifft es besser. Spüre ein bisschen was von allem, das einem das Laufen erschweren kann: Zu kalte Luft in den Bronchien, Zwicken da und dort im Gebein und - wie könnte es anders sein - auch die Achillessehne benimmt sich daneben. Vor allem aber lähmt mich die Kälte. Verursacht zähe Bewegungen, als kämpften die Muskeln gegen unerklärliche Widerstände. Nicht neu dieser Befund, so war es auch früher schon im Winter. In diesem Jahr hatte ich allerdings auch in Wettkämpfen reichlich Gelegenheit mein „inneres Kälteecho“ zu studieren. Inzwischen bin ich sicher, dass der „Bremsklotz“ weniger zu Lasten reiner Unlust geht, als ich mir all die Jahre unterstellte. Die Kraftentwicklung ist nicht zuletzt auch physiologisch gehemmt. Mein Energiestoffwechsel stellt Ausdauer zögerlicher zur Verfügung und das ist es, was ich spüre. Und Mike, als Griechenland-Fan gleichfalls ein „Kind der Sonne“, empfindet nicht anders, wenn ich seine Bemerkungen richtig zusammenfasse.

Nur in Kanälen fließt Wasser geradlinig von A nach B. Naturbelassene Gewässer mäandern in der Landschaft. Fanden vor Jahrmillionen das Flussbett des geringsten Widerstandes, erweiterten es zum tief eingeschnittenen Tal. Ein am Ufer orientierter Läufer ändert mit dem Strom die Himmelsrichtung. Erst erwischt uns der eklige Ostwind seitlich von vorn, zuletzt frontal. Der Windchill beißt geradezu arktisch in mein ungeschütztes Gesicht. Und der Winddruck auf der Brust fordert seinen Tribut an Kraft, weil wir Tempoverlust zumindest vorerst nicht zulassen. Sporadisch kontrollierte Anzeigen der GPS-Uhr bestätigen meinen Eindruck einer konstanten Pace unter 6 min/km.

Wie dankbar ich Büschen und Bäumen begegne! Zwar verwehren sie uns zeitweise den Blick zum Fluss, zügeln aber auch die Wucht heranbrausender Böen. Graugrüntrübe Fluten schimmern durchs Geäst. Hie und da schraubt sich ein PS-gewaltiger Schiffsdiesel stromaufwärts, lässt sogar meine Bauchdecke wummernd erbeben. Ausschließlich stromaufwärts übrigens, was mir zwar auffällt, in der unterkühlten Großhirnrinde allerdings nicht die naheliegende Frage aufwirft: Warum überholt uns keiner der Kähne? - Schreibend erinnere ich mich an die Wahrnehmung und wage eine Antwort: Der Zufall mag eine Rolle spielen, zum anderen sind Binnenschiffe nicht viel schneller unterwegs als Läufer am Ufer.

Der „Würzburger Gedächtnislauf“ wurde nicht als Wettkampf ausgeschrieben. Es erfolgt keine offizielle Zeitmessung, folglich werden auch keine Ranglisten veröffentlicht. Das Gedenken steht im Mittelpunkt. Darüber hinaus reichende Motive muss jeder Teilnehmer mit sich selbst abmachen. Zum Nachweis der Teilnahme liegen Blanko-Urkunden aus, sowohl vorm Start, als auch im Ziel, in die du deine selbst gestoppte Zeit eintragen kannst. Ein Beweis tatsächlich erbrachter Leistung lässt sich mit freizügig erhältlichem Papier natürlich nicht führen. Schon eher mit dem GPS-Track auf meiner Uhr, über den ich schlussendlich verfügen werde. Doch wozu? Wem wollte, sollte, müsste ich irgendetwas beweisen?

Damit möglichst viele Freizeitläufer der Spur einst fliehender Würzburger folgen, sieht der „Gedächtnislauf“ mehrere Ausstiege vor. Den ersten jetzt, bei knapp 10 Kilometern, in der Ortschaft Margetshöchheim. Ein rotes, quer über den Uferweg gespanntes Transparent markiert das Ziel. Und ein paar Meter dahinter, erwartet uns die erste Tränke. Mike fragt nach warmem Tee … Doch es steht nur Wasser bereit, das wir in der Konsistenz von Eiswürfeln lutschen müssten, wäre es auch nur minimal kälter. Wasser, das mich von innen schockgefriert und wie ein Stein im Magen liegt. Spontan reagieren empfindliche Sensoren beim Schlucken, provozieren einen Anflug von Kopfschmerzen unmittelbar hinter der Stirn. Widerliche Beschwerden, die zum Glück rasch abklingen.

Ich brauche ein paar Minuten, um wieder auf Betriebstemperatur und Touren zu kommen. Vielleicht wäre es besser gewesen auf Getränke zu verzichten, auch wenn noch mehr als 30 Kilometer vor uns liegen. Andererseits darf ich den Verlust an Körperwasser nicht unterschätzen, auch wenn ich stets knapp vorm Zähneklappern unterwegs bin. Erfahrung lehrte mich, dass Schwitzen und Frieren sich nicht ausschließen - zumindest nicht beim Laufen.

Ich muss mal wieder konkret jammern (beiläufig künden etliche Zeilen davon), sonst bleibt am Ende der Eindruck „die Sache mit dem eisigen Ostwind“ wäre nicht so schlimm gewesen. Ist sie aber! Er setzt uns zu, mal mehr, mal weniger, selten verschont er uns. Fegt übers Wasser, sucht sich Schneisen im Uferbewuchs, schneidet bestenfalls von der Seite oder von schräg vorne ins Gesicht. Häufig rauscht er auch frontal auf uns zu, böig auffrischend. Wer leidet, neigt zu Übertreibungen. Dies ist keine: Die Brise wird von Stunde zu Stunde lebhafter …

Mikes gerötetes Konterfei erübrigt Nachfragen. Auch ihn beutelt die klirrende Kälte. Nur scheint sein liebenswert munteres Naturell damit besser umgehen zu können. Unternehmungslustig nimmt er mir die Digicam aus den Händen, spurtet voraus und fertigt ein paar Schnappschüsse von mir. Damit nicht genug. Sekunden nach diesem Manöver erspäht er in einem Garten die Fränkische Fahne. Er flitzt neuerlich voraus, um den flatternden Wimpel samt Udo mit seiner Handycam einzufangen. Adressaten des Fotos sind unsere fränkischen Spartathlon-Kameraden, die Zwillinge Rüdiger und Frank. Keine Minute später melden deren Smartphones mit charakteristischem Pfeifton die Ankunft einer Bilddatei.

Wie können zwei so unterschiedliche Männer Freunde sein? - Nicht zum ersten Mal stelle ich mir in Mikes Gegenwart diese Frage. Der eine überwiegend extro- der andere eher introvertiert. Letzterer mundfaul, abwartend, häufig sich abschottend, der andere zupackend, kommunikativ und sozial integrativ. Welchen Narren haben wir aneinander gefressen? - In Höhe vertäut am Ufer liegender Schiffe fordert Mike einmal mehr meine Kamera, verschafft sich einen Vorsprung und verewigt das Motiv „Udo vor Binnenschiff“. Die Kähne liegen im winzigen Binnenhafen von Himmelstadt vor Anker. Ein Ortsname, der einstweilen nicht mehr als Bedauern zeitigt, da vom Himmel über Himmelstadt heute nur die langweilige, graue Version zu besichtigen ist.

Himmelstadt liegt halbmarathon-weit von Würzburg entfernt, offeriert Ziel Nummer zwei und eine weitere Tränke. Wieder nur kalte Getränke, doch diesmal erträglich kalt und nicht eisig. Mein „vergrätzter“ Magen „goutiert“ die Brühe dennoch nicht. Ich schlucke zusätzlich ein in der Jackentasche mitgeführtes Gel. Die Hoffnung auf körperwarm temperierte Süße bleibt unerfüllt. Dazu hätte ich mir das Beutelchen direkt auf die Haut kleben müssen.

Anderthalb Minuten kostet uns der Stopp - ich hab’s daheim im GPS-Track überprüft. Anderthalb Minuten zu lang! Erneut brauche ich einige Zeit, um meine Kältestarre zu überwinden. Zeit, die wir auf gepflegten Parkwegen in Himmelstadt „vertraben“ … H-i-m-m-e-l-s-t-a-d-t !!! Plötzlich fällt der Groschen. Woher er gerollt kam und warum er ausgerechnet in diesem Moment klimpert? - Keine Ahnung. In Himmelstadt befindet sich das bayerische Weihnachtspostamt. Jedes Jahr vor Weihnachten schreiben tausende von Kindern „An das Christkind“ in „97267 Himmelstadt“. Und weil der Zufall ein Schelm ist, hörte ich in der letzten Woche im Radio eine Reporterin davon berichten, dass die Mitarbeiter des Himmelstädter Postamts längst noch nicht alle Briefe der Kinder beantworten konnten …

Auch wenn dich meine Quengelei nervt: Hiermit reiche ich eine Art „Sammelklage“ gegen den eisigen Ostwind ein. Hier und da und dort fegt er uns entgegen, unmöglich zu dokumentieren, wann, wo und aus welcher Richtung. Später werden wir uns darauf verständigen, etwa auf 30 bis 40 Prozent der Strecke stärkerem Wind ausgesetzt gewesen zu sein. Abschnittsweise weht nun auch eine stetig steife Brise von vorne. So heftig, dass Mike vorschlägt sich im Gänsemarsch abwechselnd ein bisschen Windschatten zu verschaffen. Fürs Erste setzt er sich an die Spitze und fordert mich auf möglichst dicht hinter ihm zu bleiben … Okay, er ist der läuferisch Stärkere von uns beiden und jünger. Dennoch würde ich die Reihenfolge gerne umkehren. Sein Infekt ist erst ein paar Tage überwunden. Ich weiß, dass er sich um seine möglicherweise noch nicht völlig stabile Gesundheit sorgt. Denken und Handeln decken sich nicht. Mir fehlt einfach die Kraft die seit Stunden anhaltende Lähmung zu überwinden und Mike ins hintere Glied zu schicken … Also tappe ich stumm und mit ansatzweise schlechtem Gewissen hinter ihm her …

Das eiskalte Metall der Kamera entzieht meiner rechten Hand Körperwärme. Ich hatte mich für relativ dünne Fleece-Handschuhe entschieden. Wahrscheinlich ein Fehler. Mehrfach erwäge ich die Kamera in die Jackentasche zu verfrachten. Wie paralysiert einher trottend sammele ich ohnehin kaum noch Bilder. Derselben Antriebslosigkeit dürfte geschuldet sein, dass ich letztlich tatenlos dem Einfrieren meiner Handfläche beiwohne. Und nur deshalb gelingt mir der kurioseste Schnappschuss des Tages: Zwischen zwei Ortschaften, weit abseits von allem, was nach Stall oder Koppel aussähe, kommt uns eine Frau entgegen. Mit der rechten Hand führt sie ein Pferd, mit der linken ein Pony. Woher? Wohin? Warum? - Verständliche Neugier. Trotzdem bleibe ich stumm, woran die Kälte ausnahmsweise keine Mitschuld trifft.

Die an sich wunderschöne Landschaft, beispielsweise die spektakulär geschichteten Felsformationen, die nun auf der anderen Uferseite vorüberziehen, spricht mich heute kein bisschen an. Stumpfe Grautöne herrschen vor. Sie lösen kein Zucken des „Fotografenfingers“ aus. Erst die nächste Ortschaft, genauer gesagt ihr dekoratives Kirchlein mit seinem wie ein Dolch in den Himmel pieksenden Kirchturmdach, lässt mich wieder einmal auf den Auslöser drücken.

Keine Viertelstunde später, kurz vor Karlstadt, spricht Mike gelinde erbost von „Zumutung!“. Recht hat er. Bislang folgten wir unausgesetzt dem ufernahen Radweg. In Ortschaften oder auf freiem Feld davon abzuweichen wäre uns nicht in den Sinn gekommen. Wozu auch, schließlich liegt unser Ziel gleichfalls am Fluss. Orientieren leicht gemacht, auch ohne Markierungen. Urplötzlich, hinter einer Brücke, biegt einer der wenigen noch verbliebenen Läufer links ab, verlässt den geradeaus weiterführenden Weg. „Bist du sicher?“ ruft Mike ihm zu. Schwerhörig oder nicht mehr in dieser Welt weilend? So oder so, der Angerufene nimmt keine Notiz von uns … „Ja! Passt! Nach links und über die Brücke, dann durch die Innenstadt!“ versichert uns ein von hinten nahender, vor Minutenfrist überholter Mitkämpfer. Ein Wegkundiger vor und einer hinter uns - purer Zufall ausgerechnet an dieser Stelle. Meist waren wir in der letzten Stunde allein auf weiter Flur unterwegs. Rein gar nichts deutet hinter der Brücke auf die Richtungsänderung hin, ebenso wenig wie jenseits des Flusses, auf dem Weg ins Städtchen. Einigermaßen irritiert lassen wir uns führen und erreichen nur deswegen die Fußgängerzone ohne Verlaufen …

Angesichts der idyllischen Kleinstadt erlischt der Groll, bevor er noch richtig auflodert. Fachwerkhäuser und mittelalterliche Stadttore säumen unseren Weg und ein paar verfrorene Zaungäste raffen sich sogar zu Beifall auf. Ziel Nummer drei samt Verpflegungsstation erwartet uns auf dem malerischen, kleinen Marktplatz der Stadt. Sehnsüchtig hält Mike nach dem erhofften heißen Tee Ausschau. Dabei übersieht er den ins Pflaster eingearbeiteten, sommers als Auffangbecken eines Brunnens dienenden Ringwulst. Sein Stolpern bleibt zum Glück ebenso folgenlos, wie der Sturz eines Mitläufers an derselben Stelle ein paar Minuten später …

Ob je ein passionierter Kaffeetrinker gleich mir heißen Tee, den er sonst eher angewidert ablehnt, als lebensrettendes Gottesgeschenk empfand? - Nicht die einzige Gewohnheit, mit der ich in diesen Minuten breche. Ich schnappe mir ein großes Stück des angebotenen Kuchens und mampfe unüberlegt drauflos. Mehr als ungewöhnlich für einen, der 246 Kilometer Spartathlon unter ausschließlichem Konsum von Wasser und Gel meisterte. Normalerweise bleibt mir wettkämpfend feste Nahrung nahezu im Halse stecken. Warum also schlage ich mir jetzt den Bauch mit Kuchen voll? - Ein Winkelzug des Unbewussten, um sich ein paar Minuten Pause zusätzlich an windgeschütztem Ort zu verschaffen? Oder giert mein Körper nach Brennstoff, nach Kohlenhydraten, um äußerer Kälte mit dem inneren Feuer des Stoffwechsels zu begegnen? - Irgendwas in der Art, vielleicht beides in Allianz, geht ziemlich sicher in mir vor. Mein mich selbst verblüffendes Verhalten, die schiere, auf diesen Kuchen gerichtete „Fresslust“, sie kommen nicht von ungefähr.

Zum Aufbruch zückt Mike einmal mehr sein Handy, lichtet mich vor mittelalterlich anmutender Kulisse ab. „Gasse mit Turm und Läufern“ könnte man das Bild titulieren, das nun gleichfalls per WhatsApp den drahtlosen Weg zu unseren Lauffreunden findet … 28 eisige Kilometer liegen hinter, weitere 16 vor uns. Wahrsagerinnen, die ein einträgliches Dasein fristen, zahllose Fiktionen zu Zeitmaschinen, eine als „Zukunftsforschung“ bezeichnete Disziplin der Wissenschaft, das und mehr legen nahe: Ein Urbedürfnis des Menschen gilt der Ergründung seines künftigen Schicksals. In Mikes und meinem Fall bin ich allerdings froh, nicht zu wissen, dass uns die unerbittlichsten Windkilometer noch bevorstehen …

Kilometer, die mir zunächst einigermaßen locker vom Fuß gehen. Nach ein paar Minuten orientiert sich die Strecke wieder am Mainufer, jetzt allerdings ostseitig und auf etlichen Kilometern neben der elektrifizierten, mithin stark befahrenen Bahnstrecke. In den ersten Stunden, die wir auf der gegenüberliegenden Mainseite verbrachten, rauschten diverse Züge, Personen- und ellenlange Gütertransporte, über diese Trasse. Derzeit rauscht hier gar nichts. Schon von weitem fällt mir der Personenzug zum ersten Mal auf. Als wir Minuten später an ihm vorbeilaufen, steht er noch immer vor rotem Haltesignal. Ich stelle Mutmaßungen zu den Gründen an und Mike - schließlich ist er vom Fach - unterstützt mich dabei nach Kräften … spricht von „Wechselbetrieb“, eine häufige Maßnahme an Wochenenden, wenn eins von zwei Gleisen infolge Wartungsarbeiten gesperrt werden muss.

Die Sache mit der Zukunft des Menschen … nun spekuliere auch ich. Sage Gegenwind voraus, sobald wir die in der Ferne sichtbare Biegung des Maintals gen Osten erreicht haben werden … Was nicht heißt, dass wir vom Wind seit „Karlstadt“ und auf den Kilometern 32, 33, 34 gänzlich verschont geblieben wären. So lange er jedoch nicht stetig von vorn weht, ist er auszuhalten. Zumal uns eine weitere Tränke kurz vor Kilometer 35 einmal mehr mit warmem Tee überrascht. Wir tauschen Mitgefühl aus. Der Helfer am Buffet entwickelt es für uns Läufer, ich dann doch eher für ihn, der stundenlang stehend der Kälte trotzt. Ein kurzer gedanklicher Schlenker der Erinnerung an eigene frostige Helfereinsätze anlässlich der Winterlaufserie meines Heimatvereins genügt, um die Leistung des Mannes hinterm Büffet zu ermessen.

„Manchmal hasse ich es Recht zu behalten!“ - Die Bemerkung gilt dem Wind, der uns nun wie vorhergesagt erwischt. Frontal und stetig drückt er gegen die Brust. Mike antwortet mit einem Geräusch, das Schmunzeln bedeuten muss, in gelähmtem Mienenspiel jedoch regelrecht gefriert. Ich kenne meine Pflicht und setze mich mit vier, fünf schnelleren Schritten vor seine Füße. Mit breiter Brust, wie mich die Natur nun einmal schuf, vermag ich dem Freund sicher ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Ich halte unser Tempo, was - infolge breiter Brust, wie mich die Natur nun einmal schuf - reichlich von meinen Kraftreserven zehrt. Ich halte durch, während meine Beine immer schwerer werden. Halte gefühlt zig Kilometer durch, in Wahrheit vermutlich kaum mehr als einen …

Wir sind nun schon vier Stunden unterwegs. Der Tag wurde älter und wohl auch ein, zwei Grad wärmer. Doch wenn dem so ist, wieso friere ich dann gerade jetzt so erbärmlich? Und warum formt Mikes Mundpartie keine klar artikulierten Sätze mehr? Wirklich niemand, der diese Zeilen unter behaglichen Umständen liest, macht sich einen Begriff davon, wie sehr ich das Ziel in „Gemünden“ herbeisehne. Endlich raus aus dieser Kälte. Endlich kein Wind mehr im Gesicht … Doch bevor die Götter des Laufsports mein Flehen erhören, nach fast 39 Kilometern, stehen wir vor einer letzten Verpflegungsstation. Wasser und Cola im Angebot. Beides „on the rocks“ temperiert, auch ohne Eiswürfel, also nahezu ungenießbar. Nach zwei Schlucken Cola gebe ich auf und schütte den Rest weg. Sch… drauf! Durst ist eine unschöne Sache, ein ruinierter Magen eine weitaus hässlichere.

Der Wind gönnt uns noch einmal eine Verschnaufpause. Mike und ich joggen auf dem letzten Abschnitt wieder Seite an Seite; im selben konstanten Tempo, auf das sich unsere Beinpaare kurz nach dem Start verständigten. Lediglich die teils ausufernden Pausen, wie etwa in Karlstadt, anlässlich meines Tee- und Kuchenexzesses, drücken unseren Schnitt über 6 min/km. Für mich ist das mehr als nur eine passable Pace. Zweifelsohne hätte ich als Sololäufer weitaus länger für die Distanz gebraucht. Unverblümt ausgedrückt: Vielfach wehklagend hätte ich mich da und dort hängen lassen. Mit dem Freund neben, vor oder hinter mir ist das ausgeschlossen.

„Gemünden“, unser Ziel, rückt immer näher. Wenn der Lauf tatsächlich vor/an/in jener Hauptschule endet, wo wir heute Morgen das Auto abgestellt haben, dann erhebt sich die Frage, wie wir den vorgesehenen Weg dorthin finden sollen. Immerhin haben wir bisher keine einzige Markierung gesehen und auch deren von Mike treffend als „Zumutung“ bezeichnetes Fehlen vor „Karlstadt“ nicht vergessen. Meine Sorge erweist sich als überflüssig. Vor einer Bahnunterführung schickt uns ein mit „Laufstrecke“ beschrifteter Pfeil nach rechts … Zwangspause an roter Fußgängerampel. Gelegenheit den Mitstreiter zu mustern. Zum ersten Mal nehme ich an Mike Spuren von Ermüdung war, auch wenn er für meine Kamera den Daumen in den Himmel reckt.

„Werden wohl keine 45 Kilometer werden!“ merke ich nach einem Blick auf meine Uhr an. „Mir reicht es auch so für heute!“ bekomme ich halb genuschelt aus erstarrten Sprechwerkzeugen zu hören. Eine Aussage der ich seufzend beipflichte. Noch durch den alten Kern des kleinen Ortes, über eine Brücke, in spitzem Winkel in eine Seitenstraße verzweigen - dann stehen wir vorm Eingang zu besagter Schule. Das war’s! Ich stoppe meine Uhr nach 4:30:44 Stunden und 43,8 Kilometern.

Drinnen empfängt uns … Wärme! Nichts wichtiger als das: Wärme! Bei einem heißen Becher Kaffee beginnen wir aufzutauen. Erst jetzt entschlüpft meinem Herzen so etwas wie Freude über die erbrachte Leistung. Ich blicke in Mikes Gesicht und finde Übereinstimmung. Gedanklich setzen wir hinter den ersten Teil unseres Wochenend-Doppeldeckers einen Haken. Es hätte der einfachere, vor allem landschaftlich schönere Teil werden sollen. Die unerwartete Rückkehr des zuletzt grimmigen Winters ließ es nicht zu. Morgen geht es nach Fürth zum Sechs-Stundenlauf. Zum reinen Vergnügen wird auch dieser Lauf nicht werden. Reste heutiger Erschöpfung und vor allem die noch kälter vorhergesagte Witterung werden es verhindern. Kümmert uns jetzt nicht. Mit alkoholfreiem Weizenbier feiern wir unseren Erfolg.

 

Fazit zur Veranstaltung

Die Strecke des „Gedächtnislaufes“ wird bei sonnigem, nicht zu kaltem Wetter wahre Begeisterungsstürme bei Liebhabern schöner Flusslandschaften entfachen. Herrliche Natur und nicht zuletzt die stets ufernahe Route garantieren dafür.

Die Durchführung der Veranstaltung kann ich leider nicht in diese Begeisterung einschließen. Zwar wird kein (!) Startgeld erhoben, lediglich um eine Spende für den guten Zweck gebeten (und natürlich gerne gegeben). Sponsoren schultern den Aufwand. Über das an zwei Verpflegungsständen zu kalte Wasser sähe ich kommentarlos hinweg. Was aber gar nicht geht, sind fehlende Markierungen an entscheidenden Stellen in „Karlstadt“. Zufällig lotsten uns kundige Mitläufer zur und durch die Stadt, verhinderten so, dass wir uns verliefen. Dennoch mein …

Fazit: Bei Gelegenheit und hoffentlich frühlingshaftem Wetter gerne wieder.

 

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