17. Dezember 2017

Lasst uns froh und munter sein  -  Sunrise to Sunset Ultralauf Hamburg 2017

Dritter Advent - der Tag atmet das nahe Weihnachtsfest, duftet nach Glühwein und Zimtplätzchen, erinnert an traute Kaffeestunden im milden Licht flackernder Kerzen, erzählt allenfalls von frostschwangeren Spaziergängen in halbdunklem Wald. Auch der ein oder andere Jogg verkürzte mir die Dezembersonntage vergangener Jahre. Für begrenzte Zeit tummelte ich mich in frisch gefallenem Pulverschnee oder genoss die frische, klare Luft in meinen Lungen. Aber ein ultralanger Wettkampf im Dezember? - Wer meine Abneigung gegen langes Laufen im unwirtlichen Winter kennt, wird mir anlässlich eines solchen Vorhabens ein gewisses Maß an Verzweiflung unterstellen. Und tatsächlich: Wenn ich nicht „müsste“, keine zehn Pferde brächten mich nach Hamburg, um von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang ultralang Runden zu drehen …

Das „Müssen“ ergibt sich aus dem „Wollen“: Wer im Mai 2018 beim „Olympian Race“ in Griechenland starten will, muss dafür schon im Winterhalbjahr mit dem Aufbau der Ausdauer für 180 km und etliche Höhenmeter beginnen. Mithin darf ich mich nicht wie sonst im November zum läuferischen Winterschlaf (= stark reduzierte Umfänge) zurückziehen und geruhsam Anfang März mit einem Marathon wieder einsteigen. Stattdessen gilt es heuer dranzubleiben, Ultraausdauer zu pflegen, den in der kalten Jahreszeit eher widerborstigen Bewegungsapparat in Gang zu halten. Gegen massive innere Widerstände, deren jährliche Wiederkehr ich mir sicher nicht einbilde: Im Winterhalbjahr bin ich läuferisch allenfalls die Hälfe wert! Woraus sich diese Widerstände letztlich speisen, weiß ich nicht. Im Zentrum meiner Abneigung gegen lange Winterläufe steht jedoch eine (übermäßige?) Kälteempfindlichkeit. Die bringe ich häufiger mit einem Kernsatz meines läuferischen Glaubensbekenntnisses auf den Punkt: Lieber 10 Stunden bei 30°C, als eine Minute in frostiger Luft laufen! Natürlich weiß ich den Reiz eines Lustläufchens in verschneiter Landschaft zu schätzen. Derlei Lust wandelt sich jedoch augenblicklich in Frust, wenn mir ein Trainingsplan zig Kilometer oder hohe Belastungen abverlangt …

Drittes Adventswochenende in Hamburg. Das Wetterglück hält mir die Treue, wie schon zuletzt auf der Ultrarunde um Stuttgart. Trockene, windstille -2°C am Morgen und zur Tagesmitte hin soll die Sonne ein großzügiges Gastspiel geben. Um mir den hanseatischen Ultrawunsch zu erfüllen, startete ich am gestrigen Samstag zu ungewohnter Expedition: Anreise mit dem Zug, zwei Nächtigungen im Hotel, lokale Beweglichkeit per U-Bahn und per pedes. Was die Sache kompliziert, ist das Fehlen jeglicher Infrastruktur am Veranstaltungsort, von Verpflegung einmal abgesehen. Gestern nach der Anreise habe ich mich vor Ort schon umgesehen und daraufhin mein Ausrüstungskonzept modifiziert: Alle nötigen Utensilien trage ich in einem Kunststoffbeutel bei mir, eine Garnitur Wechselklamotten, die ich nach Laufende überstreifen will, inklusive.

Als wir - einen Mitstreiter traf ich vorhin in der U-Bahn - gegen 7:50 Uhr im Startbereich ankommen, stoßen wir im Halbdunkel gerade mal auf eine weitere Läuferin … und ungefähr 50 sollen es werden. Vom Veranstalter und sonstigen Vorbereitungen entdecke ich keine Spur. Was mich jedoch nicht wundert. Christian Hottas, seines Zeichens Weltrekordhalter in Sachen „jemals gelaufene Marathons“, veranstaltet auf dieser Strecke Woche für Woche mehrere Marathons, besitzt also Routine. Kurz darauf trifft er ein und nur Minuten später ist der Verpflegungstisch hergerichtet … Der Ort des heutigen Laufgeschehens, das Naturschutzgebiet „Volksdorfer Teichwiesen“ in Hamburg, ist im Hinblick auf ganzjährig und massenhaft veranstaltete Marathons überregional bekannt. In der kommenden Woche, über die Feiertage hinweg, bietet Hottas eine Serie von elf Marathons an. Und auch gestern rannten hier fünf Teilnehmer marathonweit im Kreis herum.

Heute ist jedoch einiges anders für Christian Hottas als sonst. Weder bei einem Marathon, noch anlässlich gelegentlich stattfindender Ultras standen je so viele Läufer am Start. Und es wären mehr geworden, hätte er das Feld nicht auf 50 Voranmelder beschränkt. Entgegen meiner Erwartungen läuft er selbst nicht mit, betätigt sich stattdessen als Mundschenk und Rundenzähler. Höchste Zeit die heutige Veranstaltung, den „Sunrise to Sunset Ultramarathon“ im Detail vorzustellen: Gelaufen wird auf besagter 2,583 km-Rundstrecke im Naturschutzgebiet „Volksdorfer Teichwiesen“. Start ist bei Sonnenaufgang um 8:32 Uhr. Der Lauf endet bei Sonnenuntergang um 16:02 Uhr, also exakt 7:30 Stunden später. Das Reglement entspricht im Grunde dem eines beliebigen Stundenlaufes, von zwei wichtigen Unterschieden abgesehen: In die Wertung kommt nur, wer bei „Sunrise“ startet und bis „Sunset“ irgendwie durchhält. Im Ziel das baldige Wettkampfende abwarten darf lediglich, wer keine komplette Runde mehr schaffen kann. Das Schlussklassement verzeichnet nur volle Runden. Bei Rundengleichstand entscheidet, wann die letzte Runde beendet wurde. Vorm Start der Auslegung der Regeln lauschend und dabei bibbernd rumstehend bin ich bereits jetzt entschlossen hier keine Minute untätig herumzulungern. Sollte final Zeit übrig bleiben, werde ich sie irgendwie tippelnd vertrödeln, um nicht zu erfrieren …

Pathos und Feierlichkeit haben am Start des „Sunrise to Sunset“ nicht den Hauch einer Chance. Versammelt sind allesamt ultrafähige, überdies vom frostigen Dezembermorgen reichlich unterkühlte Leute, die der „-zigsten“ Wiederholung eines Marathonstarts entsprechend „gefasst“ entgegen sehen. Für einen gemeinsam runter gebeteten Countdown reicht es dann aber doch. Nur bei mir nicht, weil ich dergleichen schon immer sinnlos fand, zudem lieber mit den Zähnen klappern würde … Um mich her trabt „man“ los, ohne Eile und Hektik, die angesichts bevorstehender siebeneinhalb Stunden wohl auch läuferischem Harakiri entsprächen. Ich finde in einen Tippelschritt, den ich erst einmal beibehalte. Vielleicht sieht es nicht einmal wie „Tippeln“ aus. Womöglich entspricht die anfängliche Schrittlänge lediglich dem, was mein Kraftvorrat heute vorschreibt. Doch selbst wenn ich wollte, würde es mir sehr schwer fallen in diesen „Eiskaltstart“ mehr Tempo zu investieren. Das hat aber auch sein Gutes: Infolge „Frostlähmung der Gliedmaßen“ brauche ich nicht wie sonst aufs Anfangstempo achtgeben.

Etliche vor mir, einige hinter mir, nach einigen hundert Metern zieht sich der Pulk bereits in die Länge. Vielstimmiges Meckern der Art „Och nöh, nicht schon wieder! Kein Bock!“ erreicht nach und nach die Schaltzentrale dicht unterhalb meines Haupthaars. Die Quelle des Unmuts steckt in den Beinen. Zwar schläft die geplagte Achillessehne noch, ich habe aber keinen Zweifel, dass ihr Bariton binnen Minuten den Chor der orthopädischen Nörgler verstärken wird. Der Himmel zeigt sich zu zwei Dritteln bedeckt, tendiert jedoch zu heiterem Wetter. Bereits zu erahnende Streckenreize lässt die Morgendämmerung einstweilen nicht zur Geltung kommen. Läuferische Morgenmuffel meiner Prägung schlagen diese Stunde eher der Nacht als dem Tag zu. Für einzelne, zu früher Stunde „privat“ vorbei joggende Menschen habe ich daher wenig mehr als Unverständnis übrig. Der frühe Vogel fängt den Wurm - mag sein, doch selbst Würmer pennen um diese Zeit noch …

Grob betrachtet gleicht die „Runde“ einem lang gestreckten Viereck. Die beiden langen Seiten verlaufen überwiegend im Waldsaum der „Teichwiesen“. Kein ausgedehnter, kompakter Wald, eher Waldreste, die von der Nobelbesiedlung des Hamburger Stadtteils Volksdorf verschont blieben. Schritt für Schritt entdecke ich meine Umgebung, mache mich trabend bekannt, begründe mit Sinnen erste Freundschaften. Etwa mit dem vielfach glatten, derzeit steinhart gefrorenen Boden. Setze hie und da die Füße auf Flickenteppiche aus schmutzig braunem, von ungezählten Füßen platt getretenem Herbstlaub. Wir laufen im Uhrzeigersinn, weswegen der Kopf häufig in ein paar Grad Rechtsdrehung verharrt, den Blick auf die Teichwiesen gerichtet. Die verdanken ihren Namen der physikalischen Gesetzmäßigkeit, wonach Wasser der Schwerkraft folgt und sich am tiefsten Punkt sammelt. Hier in zahlreichen Weihern und Tümpeln, die unser Kurs überwiegend erschließt. Die größte Wasserfläche, der „Große See“, an dem auch der Start-/Zielbereich liegt, ziert den westlichen Zipfel der Runde. An den kurzen Seiten des Vierecks queren wir die Senke, was minimales Streckenprofil in Form mehrerer Buckel hinreichend erklärt. Einigermaßen steil gibt sich nur einer, taugt aber auch langfristig kaum zum „Killer“, da die Beschleunigung von Herz- und Atemfrequenz bereits nach mäßigen zwanzig Metern endet …

Da bin ich also nun und kreise, versuche mich in der Situation so gut es geht einzurichten. Einstweilen ohne nennenswerte Schwierigkeiten, weil mich muskuläre Verbrennungswärme angenehm temperiert. Außerdem greift das praktizierte „Geschleiche“ - etwa 6:40 bis 7 min/km - meine Form nicht nennenswert an - zumindest nicht in der ersten Stunde. Zu mehr Tempo mag ich mich auch eingelaufen nicht aufraffen. Weil mir das auf volle Wettkampfdauer gerechnet nicht gut bekäme, orakelt mein Laufgefühl. Und, weil es absolut unnötig ist, setzt die Vernunft noch eins drauf. Bereits ein Schnitt von 7:30 min/km „over all“, also einschließlich Verpflegungs- und sonstiger Pausen - bedeutete ein Tagespensum von 60 km. Und genau diese Zahl schwirrt mir seit Tagen durch den Kopf. Auch wenn mich Zweifel immer wieder nach Wolfsmanier anspringen - 60 Kilometer sollten eigentlich drin sein.

Im Winter dominieren Dunkelheit und Kälte. Schon lange habe ich keinen Gedanken mehr an den dafür ursächlichen Lauf der Gestirne verschwendet. Unablässig kreisend und mangels anderer Beschäftigung dauerndem Beobachten überlassen bricht sich die Erkenntnis nun wieder Bahn. Längst ist die Sonne aufgegangen, zu sehen ist sie hinter Bäumen einstweilen nicht. „Kriegt im Winter den Arsch nicht hoch“ meine strahlende Freundin. Steigt nur ein paar Grad übern Horizont, geizt mit Licht und Wärme. 10 Uhr: Noch immer erstarren die Teichwiesen im Frost, noch immer fängt meine Kameralinse stumpfe Farben ein. Ausgedehnte, wenn auch dünne Eisplatten bedecken den Großen Teich. Zum Glück kein Schnee. Vor Tagen war das hier anders - hat man mir erzählt und natürlich verfolgte ich in letzter Zeit das Wettergeschehen im Norden Deutschlands mit wachem Interesse … Zum Glück auch kein Wind. Schon die schwache Luftströmung, die mir westwärts trabend entgegen zieht, lässt mich frösteln.

Gut 17 km meldet mein GPS-Wecker nach zwei Stunden. Nicht berauschend viel, entsprechend „hochfrequent“ wurde ich inzwischen von der Konkurrenz überrundet. Aber auch nicht armselig wenig, bedenkt man die Umstände. Vor allem diese: Es ist Winter und ich bestreite hier meinen vorletzten Wettkampf in Altersklasse M60 … Bedenkt man überdies meine üppige Wettkampfhistorie der letzten Monate und Jahre, scheint das zeitweilige Maulen von „da unten“ eher „zwangs-läufig“. Es detailliert vor dir auszubreiten, ergibt keinen Sinn. Mal ziept es hier, bald kneift es da, die übliche Kakophonie orthopädischer Störenfriede. Es ist doch so: Willst du Klappern, Schleifen, Rattern im Chassis eines alten Autos mit beträchtlichem Kilometerstand nicht hören, dann lass es in der Garage stehen. Andererseits: Unbenutzt rostet die Karre auch vor sich hin, ist nach wenigen Jahren nicht mehr fahrtüchtig und eher als dir lieb ist springt sie nicht mal mehr an …

Am späten Vormittag belebt sich das Teichwiesenrund mit zahlreichen Spaziergängern, Radlern, Gassigehern und immer wieder Joggern. Manche der Jogger beneide ich, auch wenn mir ihr Anblick unwillkürlich eisige Schauer über den Rücken jagt. Strammes Tempo erlaubt leichtere Kleidung, ich sehe es ein. Aber sommerliche Shorts und damit Beinfreiheit bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt? - Ach ja, wäre mir doch ein Quäntchen derartiger Kälteresistenz eigen … Gibt ihr vergleichsweise jugendliches Alter den Ausschlag? War ich in jener Periode meines Lebens weniger empfindlich als heute? - Vielleicht, mag sein, doch im „Turnhöschen“ hätte ich mich auch damals nicht vor die Tür schicken lassen.

Zu Beginn eines jeden Wettkampfs schleppt man eine Menge unbeantworteter Fragen, Unwägbarkeiten und Risiken mit sich rum. Je länger die Wettkampfdistanz, umso stattlicher die Liste. An manche elementaren Fragezeichen verschwende ich schon lange keine Gedanken mehr. Etwa, ob ich durchhalten, es schaffen werde. Wenn du über 200 Mal zu Marathon oder mehr aufgebrochen und genauso oft auch angekommen bist, dann stellt „Abbrechen“ schlicht keine Option mehr dar … Mich bewegen andere Dinge. Heute früh war ich neben den allgegenwärtigen orthopädischen vor allem auf Ausrüstungsfragen fokussiert, die sich aus Neuanschaffungen ergaben …

… In der Vorwoche leistete ich mir noch rasch das wärmste Unterhemd, das ein namhafter Hersteller in seinem Angebot hat; mit einem Anteil an Merinowolle und nicht zuletzt deshalb sündhaft teuer. Unter meiner Laufjacke trage ich nur dieses Hemd. Tatsächlich schützen mich nun zwei Hüllen ausreichend vor Auskühlung, wo ich sonst drei übereinander gepellt hätte. Und das Schönste: Die Wolle kratzt oder juckt nicht! Schon die Vorstellung einen Wollpullover überzustreifen verursachte mir bislang heftigen Juckreiz. Ein wenig solcher Unbill wollte ich heute tapfer ertragen, wenn mich der neue Merinofummel nur hinreichend wärmt … Nun erfüllt er mir nicht nur den Wärmewunsch, er kuschelt auch mit meiner Haut! Selten war ich mit einer Anschaffung derart zufrieden …*

*) Nach dem Wettkampf wird die Zufriedenheit weiter wachsen: Die Merinowolle unterdrückt auch den bei Funktionsfasern üblichen Schweißgeruch!

Zweites Novum ist der GPS-Wecker an meinem Handgelenk, eine „Ambit3 Peak“ von Suunto. Ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk, das ich mir gönnte, bevor der Akku meines betagten Forerunners XT310 demnächst den Geist aufgibt. Wert lege ich bei so einem Elektronikhelferlein vor allem auf GPS-Genauigkeit und Akkukapazität (die übrigen „Fietschers“ gelten mir lediglich als „neiss-tu-häf“). Erstere scheint nicht übel zu sein. Das Ergebnis der mehrfach im Kopf ausgeführten Multiplikation von Rundenzahl mit Rundenlänge kommt der jeweils angezeigten Distanz verblüffend nahe*. Nicht zuletzt dieser Kontrollmöglichkeit wegen lasse ich die vom Veranstalter und nur einem weiteren Helfer über lange 7:30 Stunden praktizierte „händische Rundenzählung“ - Startnummer ansagen und Rundenvermerk in einer Kladde - ziemlich entspannt über mich ergehen. „War das deine elfte Runde Udo? 28,4 Kilometer?“ - Anlässlich einer kurzen Verpflegungspause checkt Christian Hottas, ob sich seine offizielle und meine individuelle Rundenzählung decken. Diese offensichtliche Bereitschaft Zählfehler zu korrigieren, vertreibt den letzten Rest von Argwohn in Sachen „Rundenzählung“ …

*) Am Ende des immerhin siebeneinhalbstündigen Wettkampfs wird die Ambit3 Peak lediglich 80 Laufmeter zu viel anzeigen, was bei rund 60 km einer Abweichung von nur + 0,13 Prozent (!) entspricht.

An ein, zwei Gesichter meiner Mitläufer meine ich mich anlässlich früherer Laufveranstaltungen zu erinnern, bin aber nicht sicher. Rico, den jungen, unverwechselbaren Schlaks ohne Windwiderstand, dem ich zuletzt 2016 beim „Triple Marathon“ (3 Marathons an einem Tag) begegnete, kenne ich dafür recht gut. Bereits nach etwa einer Stunde überholte oder überrundete (?) mich Rico. Seitdem sind fast vier Stunden verstrichen, ohne dass ich ihn wiedergesehen hätte. Vier Stunden in denen die Bewölkung nach und nach auflockerte, die Sonne knapp über die kahlen Baumwipfel stieg und zu meiner großen Freude den beginnenden Nachmittag in warmes Licht taucht.

3:45 Stunden sind um, Halbzeit. Etwas mehr als 12 Runden, ungefähr 32 Kilometer stehen zwischenzeitlich zu Buche. Schwer zu sagen, wie das heute für mich ausgehen wird. Eben durchzog mich unerwartet und etwa eine Runde weit ein Anflug von Schwäche, auf die ich mit dem vorgezogenen „Genuss“ eines weiteren Gels reagierte. Das „Wachsweiche“ in den Beinen hat sich gegeben und nun scheinen mir die anvisierten 60 Kilometer wieder so wahrscheinlich wie ehedem. - Kreisen und schauen, traben und die Gedanken schweifen lassen. Massenhaft Zeit, in der du mit wenig mehr als deinem physischen, mehr noch dem mentalen Selbst konfrontiert bist. Unverstellte Selbstbetrachtung, nicht selten ein weiteres Puzzleteil im lebenslang währenden Prozess der Selbsterkenntnis zutage fördernd. Darum: Wer ultralang laufen möchte, muss sich selbst leiden können - ansonsten hielte er es nicht mit sich aus …

Langes Laufen ist Kopfsache! Objektiv macht es sicher kaum einen Unterschied, ob die Sonne scheint oder nicht. Auf mehr als drei, vier Grad Celsius vermag sie die Luft nicht aufzuheizen. Mir bedeutet sie jedoch mehr. Licht in dunkler Jahreszeit und praktisch eine Erfolgsgarantie: Unter blauem Himmel zu scheitern scheint mir völlig ausgeschlossen. Das erklärt vielleicht auch, warum mir die nächsten Runden spielerisch leicht vom Fuß gehen und alle Zipperlein verstummen.

Härter als dem Fahrgestell scheine ich heute meinem Verdauungstrakt zuzusetzen. Dem anfänglich ausgeschenkten Zitronentee konnte man - mit gutem Willen - noch das Prädikat lauwarm verleihen. Immerhin eine magenfreundliche Darreichung, was man von auf Umgebungstemperatur runter gekühlter Cola oder Wasser nun wahrlich nicht behaupten kann. Dasselbe gilt für die nach jeder zweiten Runde genossenen Gels aus meinem Fundus. Jeden Millimeter Speiseröhre lassen mich die eisigen Substanzen auf ihrem Weg nach unten spüren, um, dort angekommen, dauerhaft ein leichtes Unwohlsein auszulösen. Und wenn schon - dafür sind alle anderen Parameter im grünen Bereich.

Auf der Strecke lässt sich gut abschätzen, wie Hamburger Bürger Dezembersonntage im Allgemeinen und diesen tags frostfreien, dritten Advent im Besonderen verbringen: Um die Mittagszeit leerte sich das Rund, schienen die Menschen um ihren Mittagstisch versammelt. Jetzt, am frühen und dauerhaft sonnendurchfluteten Nachmittag, vertritt man sich auf vielfältige Weise die Beine. Spazierend solo und in Trauben, die zu umkurven manchmal etwas Vorsicht und Ausholen erfordern. Auch wieder Radler und Jogger in der Arena, jeder wie es ihm gefällt. Senioren mit Rollator, einmal auch eine Dame im Rollstuhl. Altersschicksale, die ich in Demut und mit Dankbarkeit für die eigene Beweglichkeit passiere. Die Sonne lockt sie alle ins Freie, lässt sie im Kollektiv dem jahreszeitüblichen Fragezeichen huldigen: Wer weiß, wie oft uns in den kommenden Wochen blauer Himmel vergönnt sein wird?

Nach etwa einem Drittel von Runde 17, kurz vorm Ende der fünften Wettkampfstunde, setze ich einen Haken hinter die Marathondistanz. Dann und wann abgelesene Kilometerzeiten bescheinigen mir von Beginn bis jetzt konstantes Tempo. Differenzen zwischen den Rundenzeiten ergeben sich allenfalls aus kurzen Verpflegungspausen oder anderweitigen „technischen“ Stopps. Noch 18 Kilometer, um mein Soll zu erfüllen. Wie viele Runden noch? - Ich beginne zu rechnen, was, der drei Nachkommaziffern der Rundenlänge wegen, nicht ganz einfach ist. Doch alsbald steht fest, dass ich volle 24 Runden und damit etwa 62 km weit werde laufen müssen, wenn ich im Schlussklassement mit einer „6“ in der Zehnerstelle verewigt werden will …

Konstantes Tempo bisher und es fühlt sich auch nicht so an, als müsste ich alsbald mit erlahmenden Laufwerkzeugen rechnen. Kältesteif konnte (und wollte) ich heute früh nicht schneller anlaufen, behielt den moderaten Trott in der Folgezeit bei. Wie es scheint werde ich in den ausstehenden sieben Runden dafür belohnt werden. Belohnt mit ausbleibendem Leiden. Schon eine Weile her, dass ich das jeweilige Schlussdrittel meiner Wettkämpfe nicht als Martyrium empfand.

Konstantes Tempo: Meine einzige „Waffe“ im Ringen um Platzierungen (auch wenn mir die im Winter noch weniger als in der übrigen Jahreszeit bedeuten). Auf Basis des stoisch sturen Schlappschritts und mit wachsender Rundenzahl mausere ich mich vom Gejagten zum Jäger. Zumindest einige Mitläufer, die mich anfangs überrundeten, müssen sich dasselbe nun von mir gefallen lassen. Manche mehrmals, wenn sie längere Abschnitte nur noch gehend überstehen. Am schlimmsten erwischte es den jüngsten, mutmaßlich unerfahrenen Teilnehmer, Tekleweyni Mekonen. Anfangs kreiste der Zwanzigjährige aus Eritrea wie ein Derwisch an der Spitze des Feldes. Nun kommt er mir vor wie eine ausgebrannte, durch die Atmosphäre trudelnde Raketenstufe …*

*) Später erfahre ich, dass Tekleweyni Mekonen an diesem Tag zum ersten Mal in seinem Läuferleben mehr als 20 km absolvierte. Das sinnlos hohe Anfangstempo laugte ihn dergestalt aus, dass er mittendrin, in Decken verpackt, eine längere Schlafpause einlegen musste, bevor er den Wettkampf fortsetzen und schlussendlich knapp 57 km sammeln konnte.

50 Kilometer geschafft, dann 51, jetzt 52 … Noch 10 Kilometer, wofür mir ungefähr eine Stunde und 20 Minuten bleiben. Reichlich Zeit und nach wie vor kein Erlahmen der Beine zu spüren, nicht einmal, wenn sie die beiden Buckel der Strecke nehmen müssen. Ich werde mein Soll erfüllen, das steht jetzt bereits felsenfest … Wen wundert’s, wenn meine Gedanken abschweifen, sich nun intensiv der Nach-Wettkampf-Wiederbelebungsprozedur widmen. Zuvor hatte ich derlei Gedanken immer mit einem entschiedenen „Bring das hier erst mal erfolgreich zu Ende!“ abgewürgt. Nun nicht mehr: Mein Hotel steht im Ortsteil Wandsbek. Nach Zielschluss hurtig zur U-Bahn wetzen, während der gut viertelstündigen Fahrt aufwärmen, in Wandsbek aussteigen und dann:

1) Heute gestatte ich dem Weichei in mir die Rolltreppen zu nutzen!

2) Noch untertage in der Wandsbeker U-Bahn-Station einen heißen Kaffee kaufen, daran die Hände wärmen, ihn genüsslich schlürfen.

3) Übertage sofort dem nahen kleinen Wandsbeker Weihnachtsmarkt zuwenden und eine Bratwurst erstehen!! Die völlige Sinnentleerung jenes „Weihnachtsmarktes“ wird mir im Gegensatz zu gestern kein gedankliches Stirnrunzeln mehr entlocken. Es wird mir völlig schnurz sein, dass man auf diesem „Weihnachtsmarkt“ ausnahmslos (!) Fress- und Saufstände, nebst zweier Karussells für Vorschulkinder finden kann …

4) Immer wieder von der dann wahrscheinlich köstlichsten aller je verspeisten Bratwürste abbeißend werde ich zum Hotel trotten und dort mein Läuferglück unter der wunderbar, heißen Dusche vollenden …

Drei Runden trennen mich noch von dieser dekadenten Verheißung. Drei Runden, für die ich etwa 6 bis 8 Minuten weniger als die verbleibende Stunde brauchen werde. Die Aussicht im Zielbereich acht Minuten und vermutlich frierend auf den „Sunset“ warten zu müssen lähmt augenblicklich meine Schritte und ich beginne zu trödeln. Unerwartet und auf wunderbare Weise unterstützt die Spätnachmittagssonne meinen Wunsch nach Verzögerung. So eben noch über die Baumwipfel lugend entzündet sie ein Brillantfeuerwerk leuchtender Farben. Alle paar Meter verharre ich für ein Foto und ergötze mich an gelb-rot aufloderndem Astwerk. Lasse neuerlich ein paar, lange Schlagschatten kreuzende Schritte folgen, bis ich abermals stehenbleibe, um erst brennenden Wald und nach einer Vierteldrehung den grell leuchtenden Feuerball im Gegenlicht einzufangen. Was für ein Zauber! Ich empfinde die in warmen Farben badende Welt wie eine Belohnung für die Mühsal der vergangenen Stunden. Wo der „Sunrise“ eher unspektakulär, pastellfarben und kalt daherkam, versetzt mich die großartige Inszenierung des „Sunset“ in Hochstimmung. Einfach nur wunderbar …

Einen Umlauf später ist die Sonne hinter Bäumen verschwunden und es wird spürbar kälter. Die Temperatur fällt mit einer Geschwindigkeit, die zu erklären meteorologische Sachverhalte nicht ausreichen. Die plötzliche Abwesenheit von Licht, von fehlender Blendung, so ich gen Westen blicke, lässt mich auch mental auskühlen. Das spielt auf anderthalb Restrunden aber keine Rolle mehr. Äußerer Reize nun wieder weitgehend entkleidet konzentriere ich mich auf Signale von innen. Erfreut stelle ich fest völlige Erschöpfung vermieden zu haben. Wie es scheint, habe ich mit meinen Kräften gut gewirtschaftet. Der muskuläre Schmerzpegel, das Jammern der Sehnen und Gelenke, bleibt verhalten. „Definitiv die letzte Runde für Nummer 29“ kommentiert der Rundenzähler meinen Übergang von Umlauf 23 zu 24 … Bei fortschreitender Dämmerung verabschiede ich mich von den Volksdorfer Teichwiesen, von eisüberkrusteten Sümpfen, dem Bächlein unter der einzigen Brücke der Strecke, dem Blick über Grasland mit vergessenen, kunststoffumhüllten Heuballen, den sanften Aufs und Abs, dem bössteilen ersten Buckel, den still und zunehmend starr ruhenden Tümpeln, Laub auf Wegen und letzten Spaziergängern …

Als ich im Ziel eintreffe fehlen zum Sunset noch drei Minuten und die überwiegend bereits versammelten Mitläufer empfangen mich mit lautem Hallo. Was nun zu tun ist - ohne jeden Zeitverzug (!) zu tun ist - habe ich in der letzten halben Stunde immer wieder im Kopf durchgespielt: Meinen Beutel greifen, zu einer nahen Bank gehen, feuchte Oberteile ausziehen, trockene überstreifen. Als ich damit durch bin und meine Siebensachen im Kunststoffbeutel verstaut habe, beginnt auch schon die kurze, improvisierte Siegerehrung. Als die Reihe an mir ist, lasse ich mir die Medaille umhängen und verabschiede mich beinahe augenblicklich in Richtung U-Bahn, ohne die Ehrung der übrigen Läufer abzuwarten. Dergleichen Unhöflichkeit käme mir normalerweise nicht in den Sinn. Doch ich spüre bereits wie die Kälte unter meine Klamotten kriecht und ein Kilometer Fußmarsch bis zur Bahn liegt noch vor mir. Ich bedanke mich beim Veranstalter und lasse die Versammlung mit den Worten „Ich muss los, sonst erfriere ich … !“ hinter mir zurück …

Ergebnis:

Reine Laufzeit 7:27:19 h, Distanz 61,992 km, Platz 23 von 41 gewerteten Teilnehmern, Platz 3 von 5 in M60

 

Fazit zur Veranstaltung

Gelungener Siebeneinhalb-Stundenlauf für Ultras, die unter winterlichen Bedingungen mit minimalem Organisationsaufwand zurechtkommen. Geboten werden lediglich vermessene Strecke, Verpflegung und Rundenzählung. Darüber hinaus erhält jeder Finisher eine Medaille.

Nur Teilnehmer, die bis zum Ende des Bewerbs durchhalten, erscheinen in der Rangliste. Vorzeitiger Abbruch, etwa nach Marathondistanz, ist folglich nicht möglich.

Die 2,583 km lange Strecke im Naturschutzgebiet „Volksdorfer Teichwiesen“ bietet so viele reizvolle Ausblicke, dass in keiner meiner 24 Runden Langeweile aufkommen konnte.

Fazit: (Bei Bedarf zu dieser Jahreszeit) Gerne wieder.

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang