14. Oktober 2017

Sonnensucher  -  Ultramaratona del Tricolore 2017

Die sechs Stunden von Reggio nell’Emilia

Obschon Germane im Geiste und von Geblüt treibt es mich immer wieder in mediterrane Gefilde - im Urlaub, aber auch zum Laufen. Bisher machte ich mir nicht die Mühe Ursachen für dieses Zugvogelgehabe zu ergründen. Wozu auch? - Ich fühle mich dort wohl und allein das zählt. Der Menschenschlag in Italien, Griechenland, Spanien spielt dabei eine Rolle, die selbstverständliche Gastfreundschaft, oft sogar Herzenswärme. Und natürlich die Sonne! Entlang jener Breitengrade scheint sie häufiger und intensiver als zu Hause. Was also liegt näher, als den Wettkampfsommer im Rahmen eines dreiwöchigen Urlaubs südlich der Alpen zu verlängern?

Allerdings hat die Sache diesmal einen Haken: Räumlich und (gerade so eben) vom Anspruch her passte nur eine Veranstaltung in unsere Terminplanung, ein Sechs-Stundenlauf in Reggio nell’Emilia, einer Großstadt mit 100.000 Einwohnern in der Poebene. Erst am letzten Urlaubswochenende, nach drei Wochen (!) Völlerei, sollte ich meine Ultra-Visitenkarte in Bella Italia abgeben. Das mit der Völlerei darfst du wörtlich nehmen: Gut essen, viel essen, gut trinken, viel trinken und Letzteres ganz sicher nicht alkoholfrei, wie überwiegend zu Hause praktiziert. Da bläht sich der Rettungsring rasend schnell um Bauch und Hüften, viel rascher als ich ihn mit urlaubsbedingt reduziertem Training „runterrennen“ könnte. Damit wäre das erste Handicap - das einkalkulierte - hinreichend skizziert.

Zwischen letztem Marathon (ebmpapst-Marathon, siehe Laufbericht) und geplantem Sechs-Stundenlauf lagen fünf Wochen. Meine Ausdauer wollte ich im Urlaub mit einigen harten Trainingseinheiten weitgehend konservieren. In unseren drei Urlaubsstationen, den Bergen Südtirols, den Hügeln des italienischen Piemont und dem um felsige Gipfel nicht verlegenen Korsika, würde es mir sicher leicht fallen das Prädikat „hart“ im Training zu erfüllen. Zwei bis drei längere Läufe, Minimum zweieinhalb Stunden, sollten das Trainingsprogramm ergänzen. Allein es kam anders. Nach dem letzten Marathon spielte meine linke Achillessehne einmal mehr verrückt. Um es kurz zu machen: Anlässlich seltener, kurzer Läufe - mehr Bewegungstherapie denn Training - und nur eines langen, entlang der korsischen Küste, bettelte die Sehne unablässig um Erlösung. Auch unsere (Berg-) Wanderungen trugen nicht wirklich zur Entspannung der Lage bei …

Unzweideutig und schonungslos offen formuliert: Jemand in meiner körperlichen Verfassung gehört nicht in einen Sechs-Stundenlauf! Streng genommen besitze ich zum Urlaubsende hin nicht einmal mehr Marathonreife - den Anspruch an mich selbst als Maßstab genommen. Ich hege folglich keine Illusionen und erwarte ein sportliches Fiasko! Wenn ich dennoch keinen Rückzieher mache, den ich - völlig untypisch für Udo - in den Urlaubswochen mehrfach erwog, dann liegt das einzig am Austragungsmodus von Stundenläufen: Niemand schreibt dir tatsächliche Laufdauer und Tempo vor, noch Anzahl und Dauer der Pausen oder wann du deinen Auftritt beendest. Bis Marathondistanz meine ich mich „durchschleppen“ zu können und danach … mal sehen. Danach werden Reste von Ausdauer und Schmerzniveau der Sehne den Weg weisen oder verwehren.

Samstagmorgen, kurz vor 10 Uhr: Ich stehe am Ende des knapp 70 Köpfe umfassenden Starterfeldes. Das durchaus mögliche, katastrophale Scheitern vor Augen, muss meine überraschend gute Laune andere als sportliche Gründe haben. Einer davon strahlt aus wolkenlosem Himmel: Die Sonne scheint über Reggio nell’Emilia, schon jetzt umlullt mich erträgliche temperierte Luft und am frühen Nachmittag wird das Quecksilber 25°C erreichen. Der Traum vom verlängerten Laufsommer unter südlicher Sonne wird sich erfüllen! Die anderen Gründe bewegen sich samt und sonders auf zwei Beinen. Das Vergnügen sie dir vorzustellen hebe ich mir wohlweislich noch ein Weilchen auf. Es wird wehtun: Mir das Laufen und dir das Lesen. Mit Freude unterlegte Intermezzi sollen uns zu gegebener Zeit ein wenig entspannen …

Vor mir nimmt man noch kurz Aufstellung für ein Erinnerungsfoto, dann knallt es unvermittelt und im Widerhall des Schusses zwischen den Gebäuden, mit ein, zwei Sekunden Verzögerung, drücke ich meine Uhr ab. Wir passieren die unsichtbare Startlinie unterm schwindelerregend hoch aufragenden Wasserturm, wetzen um eine Hallenecke und reihen uns in die lose Kette der Zwölf-Stundenläufer ein. Die 35 Männer und Frauen des langen Bewerbes sind zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Stunden unterwegs. Erste Schritte meinerseits, vorbei an Ines, die eine erste Fotoserie schießt. Zwar lächele ich ihr entgegen, die Fotos beweisen es, meine Wahrnehmung gilt jedoch hauptsächlich der Sehne. Ich erinnere mich an keinen (Trainings-) Lauf der letzten Monate, bei dem das anders gewesen wäre. In den ersten Minuten spüre ich nichts, widme mich derweil mit Hingabe der „fotografischen Streckendokumentation“.

Höchste Zeit den Schauplatz dieser Veranstaltung genauer zu lokalisieren und zu beschreiben. Geografisch hier: Europa, Italien, Poebene - mich erwartet also ein brettflacher Kurs. Komplett asphaltiert ist er obendrein. An der politischen Gliederung orientiert findest du mich dort: Europäische Union, Italienische Republik, Region Emilia-Romagna, Provinz Reggio Emilia, Stadt Reggio nell’Emilia (im Folgenden kurz „Reggio“). Tourismus gibt es in Reggio so gut wie keinen. Das liegt weniger an der Stadt selbst, die wie jeder italienische Ort einen wunderschönen, historischen Kern besitzt, als an ihren berühmteren Nachbarn Parma, Modena, Bologna, um nur ein paar Orte zu nennen. Zudem fehlen landschaftliche Attraktionen in der platten, weithin landwirtschaftlich genutzten Wanne der Poebene, vor allem aber Meer und Strand. Die sind weit weg.

Stundenläufe finden in relativ begrenztem Zirkel statt. Der heutige misst genau 1.578 m und steht dem Liebreiz eines Abrissviertels nur wenig nach. Der ausrichtende Verein, „Podistica Biasola“, fand mit der Firma „Kohler Engines“ einen Sponsor, der sein Firmengelände bereitstellt, um zwischen Produktions-, Lager- und sonstigen Hallen einen Kurs zu trassieren. In der Draufsicht erinnert die Route an eine umgefallene, etwas kantige „8“, wobei sich Hin- und Rückweg für etwa 100 m berühren, wo sich die Linie des Achters beim Schreiben eigentlich nur kreuzt. Jenseits der Umzäunung rauscht ganztägig der Verkehr vorbei. Im Süden Autos auf einer belebten Ausfallstraße, an der Nordseite Züge, im Fünfminutentakt und mit hoher Geschwindigkeit auf einer der sicher belebtesten Schienentrassen des italienischen Stiefels. Kaum erbauliche Ansichten also, was jedoch - wie ich seit Langem weiß - allenfalls in der Anfangsphase von Stundenläufen eine Rolle spielt. Bereits nach wenigen Runden beginnt die schleichende „Entkopplung“ zwischen Außen- und Innenwelt. Je schlechter meine Verfassung, umso früher setzt der Prozess ein. Ab dann hat nur noch Bedeutung, was den jeweils nächsten Schritt ermöglicht oder erschwert …

Anfänglich existiert menschliches Leben nur in der Spur vor (vermutlich auch hinter) mir und nach Passieren einer breiten Gasse zwischen hölzernen Transportpaletten auch im Start-/Zielbereich. Linksseitig, unterm überkragenden Hallendach stehen Stühle und Tische, markieren den zur Eigenversorgung offiziell eingeräumten Bereich. Hier und nur hier - in dieser Hinsicht halten sich Italiener offensichtlich strikt an international geltende Regeln - darf man sich privat verpflegen oder von Begleitern betreuen lassen. Mein „Equipment“ liegt auf einem der Tische. Es besteht aus lediglich acht Beuteln Gel und ein paar „sanitären Utensilien“. Letzteres hoffe ich nicht nutzen zu müssen und darüber hinaus gehende Ausrüstung ist für einen Sechsstundenorbit und bei diesem Traumwetter überflüssig.

Hinter der „Holzpalettenfurt“, jenseits der äußeren Absperrung, wartet Ines mit schussbereiter Kamera. Mit Lächeln und Handzeichen signalisiere ich das verhaltene Hoch meines Stimmungsbarometers, halte danach auf den Zielbogen zu. Ein unüberhörbares „Doppel-Pfüüüt“ der Elektronik sorgt für augenblickliche Entspannung. Zwar ließ ich mir vom Zeitnehmer das korrekte Einbinden der Transponderstreifen in die Schnürsenkel absegnen, doch dieses mir bislang unbekannte System wäre nicht die erste Zeitnahme, die mich böswillig zu ignorieren versucht. Und deshalb beruhigt so ein „Pfüüüt“ ungemein.

Runde zwei: Ich sammele Fotos und bedanke mich bei meiner Sehne für einstweiliges Stillhalten. Dass „da was ist“ spüre ich, mehr nicht. Wer in meiner desolaten Verfassung einen elend langen Lauf antritt, weiß, was ihn erwartet. Wider alle Gesetze lebender Biomechanik hoffe ich dennoch auf ein Wunder; wenn schon nicht die Ausdauer betreffend, dann wenigstens auf eine Art „Spontanheilung“ der Sehne. Zum zweiten Mal bleibt die Zone der hölzernen Paletten hinter mir zurück, biege ich um die Hallenecke. Wie abgesprochen und erwartet, ist Ines zum Shoppen und anderem Zeitvertreib entschwunden. Gut so. Weder will ich, dass sie sich hier sechs Stunden langweilt, noch ihr mein nach und nach einsetzendes Siechtum vorführen.

Vielleicht fragst du dich, was ich hier eigentlich will!? - Drei Absichten oder Grundgedanken bewegen mich. Wie immer fröne ich der „Sammelleidenschaft“, werde heute Marathon Nummer 210 einfahren. Darüber hinaus sollte der Lauf meine Langzeitausdauer stabilisieren. Da mir aus erwähnten Gründen ein Großteil davon abhanden kam, will ich sie nun teilweise restaurieren. Und wenn ich schon drei Wochen lang mediterrane Gefilde bereise, dann soll dabei auch ein Lauf unter fremdem Himmel rausspringen. Megavorteil und ökologisches Plus: Mörderisch lange Anfahrt erspart!

Runde 3, 4, 5: Für eine Weile vermag ich meine Handicaps auszublenden, entdecke nach und nach Details, die meine Mitläufer sicher längst registrierten. Zum Beispiel den Monitor mit den Zwischenständen, ein paar Schritte nach der Zeitnehmung, dem Buffet mit der Verpflegung des Veranstalters gegenüber. Wer steht und trinkt, kann sich zugleich informieren. Eingeblendet sind Name, Startnummer, Anzahl der Runden und gesammelte Kilometer. Nach dem vierten Umlauf und etwas mehr als 40 min greife ich das erste Gel vom Tisch, trabe die paar Meter zum Buffet und spüle die Süße mit Wasser runter. Nur selten musste ich mir bisher Schweißtropfen vom Gesicht wischen, verspüre darum auch keinen Durst.

Die Geschichte lehrt, dass auch Feldherren mit stark unterlegenen Kräften Schlachten gewinnen konnten, so sie dem Feind mit raffinierter Taktik die Stirn boten. Meine Wettkampftaktik mag nicht sonderlich ausgefeilt erscheinen, aber immerhin habe ich eine erdacht, um unter sparsamem Einsatz begrenzter Ressourcen einigermaßen ungeschoren davonzukommen. Acht Gels erlauben mir etwa alle 40 min Kraft zu bunkern, also jeweils nach vier Runden. Eine Rundenzeit von 10:15 min entspricht dem Lauftempo 6:30 min/km. Auf diesen Wert habe ich meine Beine inzwischen geeicht. Multipliziert mit 50 Gesamtkilometern ergibt das etwa 4:25 Stunden. Will ich diese Distanz erreichen, bleiben mir folglich 35 min zum Verpflegen und als Puffer für die zum Ende hin lahmeren Schritte. Mehr dürfte heute nicht drin sein. Und falls doch … aber diesen Gedanken spinne ich nicht weiter, denn da gibt es noch das leidige Sehnenproblem.

Die Achillessehne. Bereits in Runde sechs (oder war’s sieben?) erhebt sie klagend ihre Stimme, verhalten noch aber drohend. Ich nehm’s mit Gleichmut, eine andere Wahl habe ich nicht. Die einzig mögliche Abhilfe entließe mich todunglücklich nach Hause. Ich versuche locker zu bleiben und die Warnung von links unten auszublenden. Weitestgehend gelingt mir das, auch wenn die Strecke so gut wie keine Ablenkung zu bieten hat. Linksseitig geben dunkelbraungrau gestrichene, meist nicht mal von Fenstern unterbrochene Hallenfronten den Ton an. Hie und da ein paar zur Zierde gepflanzte Bäume oder Büsche. Zu meiner Rechten der Zaun, dahinter Verkehr und Gewerbegebiete. Zweimal pro Runde empfängt mein Riechorgan angenehme Reize: Den bereits zitierten Paletten entströmt der angenehm würzige Geruch von frisch gesägtem Holz. Jeweils ein paar Minuten davor und nur für drei, vier Schritte zieht ein aromatisch exotischer Duft durch die Nase, der von einem nahen Strauch ausgehen dürfte. Zu kurz, um ihn mit Duftmustern meiner Erinnerung abgleichen zu können.

Am erbaulichsten empfinde ich den Blick in den dunstig lichtblauen Himmel über der Poebene, mache deshalb häufigen Gebrauch davon. Licht, Sonne, Wärme - Mal um Mal bin ich mir bewusst, wie sehr ich mich danach sehne. In der Rückschau der Jahrzehnte erkannte ich, dass das immer schon so war. Nur nicht so ausgeprägt, wie nun im Herbst meines Lebens. Die meisten komplexeren Organismen können ohne Licht und Sonne nicht existieren - lehrt und beweist die Wissenschaft. Die brauche ich nicht, um das zu begreifen, weil ich es fühlen kann. In Licht und Wärme blühe ich auf, in Dunkelheit gefangen warte ich auf den nächsten strahlenden Tag.

Heller Tag ergibt eine helle Stimmungslage, die Gleichung scheint aufzugehen. In ihr wirken aber auch Stimmungsaufheller auf zwei Beinen. Einer davon düst gerade im Zentrum der „umgekippten Strecken-8“ auf Gegenkurs vorbei, feuert andere Läufer an. Auch mich streift sein Gruß, den er mit einem aufputschenden „Vai Udo!“* unterstreicht. Ich winke Antonio freudig zu und unwillkürlich schweifen die Gedanken zurück zum gestrigen Abend, an dem wir Antonios Gastfreundschaft genießen durften …

*) Vai!: Vorwärts! Lauf!

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„Pasta Party (per atleti, familiari e sostenitori), Venerdi 13 ottobre ore 20.00 … in Reggio Emilia. Presso abitazione di Antonio Tallarita. Obbligatoria la prenotazione.” Vielleicht erschließt sich dir der Sinn dieser Sätze in der Ausschreibung auch so, zur Sicherheit übersetze ich ihn: “Pasta Party (für Athleten, deren Familie und Betreuer), am Freitag den 13. Oktober um 20 Uhr in Reggio Emilia. Nahe der Wohnung von Antonio Tallarita. Voranmeldung erforderlich.“ - Die Einladung zur Pasta Party war mir bei der Online-Anmeldung entgangen, vermutlich weil sie in der Eingabemaske fehlte. Kurz entschlossen wählt Ines am Donnerstagabend die angegebene Telefonnummer und meldet uns für die Pasta Party nach. „Uns“ schließt Ines, mich und unsere Hündin Roxi ein. Roxis Anwesenheit bringt unsere Teilnahme kurz ins Wanken: Es ist schlicht unüblich, wäre ein Novum, brächte jemand seinen Hund zur Pasta Party mit. Andererseits sieht die „Gegenseite“ ein, dass die „Tedeschi“* ihren „cane“* nicht alleine im Hotel lassen wollen. Umgehend stimmt besagter Antonio zu und Roxi darf mit. Abholung vorm Hotel um 19:45 Uhr …

*) Tedeschi: die Deutschen / cane: Hund

Abholung? - In meiner Vorstellung fährt ein Bus vor, in dem bereits zahlreiche Teilnehmer sitzen und eine kleine Traube von Menschen, Läufer, die in unserem Hotel abgestiegen sind, steigt zu. In solcher Ahnungslosigkeit stehen wir zur angegeben Zeit vorm Hoteleingang und was schließlich vorfährt, ist ein VW Passat. Hinterm Steuer sitzt ein gewinnend lächelnder Herr, der sich als Antonio Tallarita vorstellt. Der Orga-Boss höchst persönlich holt uns ab!? Damit er uns später nicht zurückbringen muss, folgen wir mit eigenem Wagen. Drei Kreisverkehre und fünf Minuten später hält er vor einem mehrstöckigen Wohnkomplex. Noch immer ohne blassen Schimmer, was da auf uns zukommt, unterstellen wir eine weitere Abholung. Doch Antonio steigt aus und bedeutet uns zu folgen. Erst sein ausgestreckter, auf die hell erleuchtete Dachterrasse deutender Arm, hoch oben im fünften Stock, beseitigt meine Denkblockade. Schlussendlich geleitet uns Antonio in seine Wohnung und stellt uns seiner Frau vor …

Es wird ein denkwürdiger Abend. Nach und nach treffen weitere Läuferinnen und Läufer ein, man kennt, schätzt und herzt sich, das Hallo wird immer größer. Letztlich scharen Antonio und seine Frau etwa 25 Läufer um sich. Meine italienischen Mitläufer sprechen kaum Englisch und unser Italienisch reicht gerade so aus, um in Bella Italia nicht zu verhungern. Ein Problem die Ausländer zu integrieren hat die Runde dennoch nicht. Verständigung ist möglich und wo Worte fehlen, helfen gestikulierende Hände. Man begegnet uns herzlich, offen und mit derselben Selbstverständlichkeit, die wir von der „Ultraszene“ daheim kennen. Vermutlich sind läuferisches Denken und Fühlen international und nicht an eine Kultur gebunden, an die Sprache schon gar nicht. Einen Sonderstatus genießt Roxi: Tatsächlich setzte bis dato nie ein Tier seine Pfoten über die Schwelle der Tallaritas!

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10 Runden, knapp 16 Kilometer, liegen hinter mir. Meine mentale Verfassung fährt ein bisschen Achterbahn, wechselt durchaus häufiger zwischen Optimismus und läuferischem Weltuntergang. Gerade bade ich mal wieder in einer Wanne voll Selbstmitleid. Die Sehne nervt und nach 16 Kilometern bereits schwere Beine zu haben schlägt tiefe Dellen ins erfolgsverwöhnte Ultra-Ego. In Panik gerate ich nicht. Einerseits scheint sich die Sehne auf Strich 1 von 10 auf der Unerträglichkeitsskala zu beschränken. Und der viel zu frühen Akkuentladung werde ich mit der verlässlichsten meiner Ultra-Eigenschaften begegnen: Leidenkönnen.

Sonne und Mitläufer pusten die schwarzen Wölkchen immer wieder rasch aus meinem Kopf. Tatsächlich scheinen Verdruss und Vergnügen an diesem Tag in meinem Gemüt koexistieren zu können. Gerade überhole ich Angela und raune ihr ein „Vai Angela! Forza!“ zu. Angela Gargano - sollte dir der Name bekannt vorkommen, dann hast du vermutlich meinen Bericht zu den „10 Marathons in 10 Tagen“ gelesen. Dort lernte ich Angela im Juli kennen und schätzen. Zur Erinnerung: Angela ist in Italien die Frau mit den meisten Finishes Marathon und weiter. Auf 785 steht ihre Rekordmarke augenblicklich. Ich freute mir fast ein Loch in den Bauch als ich Angela vor ein paar Wochen in der Meldeliste fand. Und nicht nur sie: Auch ihr Lebensgefährte Michele Rizzitelli, gleichfalls mit mehr als 750 Medaillen ausgezeichnet, kreist hier irgendwo zwischen den Werkshallen. Noch nicht anlässlich der herzlichen Begrüßung vor ein paar Stunden, inzwischen aber bei jeder Begegnung im Rund wird mir bewusst: Mittlerweile treffe ich schon bei Läufen in der italienischen Provinz auf Laufbekannte. Das und weniger meine Lauferfolge erfüllt mich mit Stolz. Mit Stolz und natürlich mit Freude. Zumal es nicht beim Wiedererkennen von Angela und Michele bleiben wird. Aber lass mich erst noch ein paar der zunehmend härteren Runden hinter mich bringen …

Die Anzahl erforderlicher Umläufe, um hinter meinem Minimalziel Marathon einen Haken setzen zu dürfen, habe ich längst errechnet: 27. Nach nunmehr 16 vollen Orbits, also etwas mehr als 25 Kilometern, weiß ich, dass das erhoffte „Wunder von Reggio“ ausbleiben wird. Mit schweren, erlahmenden Beinen schleppe ich mich voran. Von außen mag es nicht so dramatisch aussehen, es fühlt sich aber so an. Denke: ‚Was soll’s, es war dir vorher klar, dass es so kommen muss, also steh’s durch!’ Noch 11 Runden bis Marathon. Wie das gehen soll, weiß ich nicht, dass es gelingen wird, steht jedoch außer Frage.

Drei Stunden sind um, Halbzeit. Noch immer wechseln sich kühler Schatten unter Bäumen oder neben Hallenwänden und warme, nun schon schweißtreibende Passagen unter der Oktobersonne ab. Ich bekräftige die Entdeckung der letzten Tage, dass sich der goldene Herbst in Norditalien weniger von dem zu Hause unterscheidet als ich dachte. Bei uns fehlt das Mediterrane, also die stets hohe Luftfeuchtigkeit und vielleicht bleibt das Quecksilber im Mittel auch den einen oder anderen Strich tiefer hängen. Aber sonst? Das Blätterkleid der Bäume leuchtet in herbstlichen Farben und die Nacht legt sich auch in Reggio unerwünscht früh über die Stadt.

Drei Stunden sind um. Weitere drei für mich, noch unvorstellbar lange sieben für die Zwölf-Stundenläufer. Obschon irrelevant, nährt der Umstand selbst nicht so lange dem Martyrium ausgesetzt zu sein meinen Optimismus. Mehrmals sogar. Ich denke an den Spartathlon, kaum ein Jahr her. Fast 35 Stunden lief ich durch Griechenland. Wirklich ich? Das ist so unglaublich weit weg, geschah in einem Paralleluniversum, vollbracht von einem Doppelgänger … Entsetzlich wie schnell Ausdauer verfliegt!

Ich werde stetig langsamer. Innere Sensorik gibt verlässlich Auskunft, die Kontrolle der Rundenzeiten habe ich schon lange aufgegeben. Sie sind mir von Herzen gleichgültig. Habe kaum trainiert, bin überdies angeschlagen - ich darf Schwächeln, bin entschuldigt, brauche mich nicht vorm ehrgeizigen Selbst zu rechtfertigen. Unterdessen gönne ich mir auch ein paar Sekunden mehr am Buffet zum Trinken und kehre dort häufiger ein. Es begann mit trockenem Mund und nun plagt mich seit einigen Runden heftiger Durst. Offenbar war der Schweißverlust weit höher als unterstellt. Ohne vorher Gel konsumiert zu haben, darf ich auch anderes als Wasser trinken, lasse also den Blick über das Angebot schweifen: Wasser mit und ohne „Frizzante“, Tee, zweierlei Limonaden, Cola und - fast glaube ich zu halluzinieren - alkoholfreies Bier. Italienisches! Würzig herb und angenehm prickelnd rinnt es die Kehle runter, kurbelt den Stoffwechsel und ein kleines bisschen auch meine Zuversicht an.

Ich mag beinmüde sein, der Kopf ist immer noch hellwach, entsprechend perlen die Gedanken. „Ultramaratona del Tricolore“ heißt der Lauf. Beim gestrigen Stadtbummel fiel mir auf, dass auf vielen (jeder?) Hausnummern „Reggio nell’Emilia“ steht, darunter „Città del Tricolore“*. Meinem Forscherdrang in Wikipedia nachgebend stellte sich heraus, dass just in Reggio die Farbgebung der italienischen Flagge entschieden wurde. Was ich immer sage: Ultralaufen erfordert häufiges Reisen und Reisen bildet bekanntlich!

*) „Città del Tricolore“: Stadt der Trikolore

Anfänglich ungestüm voran- und immer wieder vorbei preschende Stuten und Hengste haben inzwischen viel von ihrer Dynamik eingebüßt, laufen entweder langsamer oder machen Pausen. Auch die leichtfüßige Gazelle, jene mit dem allerallerknappsten je in einem Lauf gesichteten Laufhöschen, lässt mich die gut belüftete Kehrseite nun viel seltener sehen. Infolge ihres rasanten Tempos durfte ich sie allerdings schon so oft in Augenschein nehmen, dass es ein Leichtes wäre ihre fast bloßliegenden Rundungen mit unschicklicher Detailtreue zu beschreiben - was ich natürlich unterlasse. Unsere Laufseite ist jugendfrei und soll es auch bleiben.

Auch Antonio habe ich längere Zeit nicht mehr wahrgenommen, nun winkt er mir wieder einmal zu. Cheforganisator, zugleich Teil des Zwölf-Stunden-Feldes, gestern Abend Gastgeber … ach ja, die Pasta Party hatte ich noch nicht zu Ende erzählt …

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Fast biegt sich der Tisch auf Antonios Dachterrasse unter aufgetragenen Vorspeisen: Schinken, Käse, Salate, diverse Quiches und mehr. Immer wieder fordert er uns auf kräftig zuzulangen. Später nimmt mich Antonio kurz zur Seite, führt mich in sein Arbeitszimmer. Was kommt nun? Fehler bei der Anmeldung gemacht? Sonstige Unregelmäßigkeit? Klarstellung erforderlich? - Nichts von alledem: Er übergibt mir die Kopie einer Zeitungsseite mit einem Vorbericht zum „Ultramaratona del Tricolore“. Mitten im italienischen Text entdecke ich meinen Namen. Von meiner Heimatzeitung mit Aufmerksamkeit bedacht zu werden kenne ich. In einer fremdsprachigen Zeitung Erwähnung zu finden, ist dagegen neu und lässt mich schmunzeln.

Antonio lässt mich wissen, dass er meine Ultrastatistik bei der DUV (Deutsche Ultramarathon Vereinigung) konsultierte. So kommen wir auf den Spartathlon zu sprechen, den er 2009 absolvierte und bald wiederholen will. Zuletzt und mit Stolz zeigt er mir seinen offensichtlich wertvollsten Besitz, eine Urkunde die ihm 10 mal 100 km bescheinigt, gelaufen an 10 aufeinander folgenden Tagen …

Zu Hause werde ich „Antonio Tallarita“ googeln und in der Suchmaske der DUV eingeben, infolgedessen auf ganz und gar unglaubliche Laufresultate stoßen: Erst 2004 absolvierte Antonio sein Marathondebüt, mit 44 Jahren. Zwei Jahre später steht der erste Ultra zu Buche, auf Anhieb 100 km. Schon 2009 (!!) absolviert er den „Spartathlon“, in der Fabelzeit von 28:37 Stunden! Schier überirdisch scheint jedoch seine mit den „10 mal 100 km in 10 Tagen“ abgelieferte Leistung. Für den schnellsten Hunderter braucht er dabei 10:06 für den langsamsten 13:46 Stunden. Versuch dir seinen Lebensrhythmus über zehn Tage vorzustellen: Während der ersten Hälfte des Tages läuft er, in der zweiten muss er rasch viel essen und dann lange schlafen ... Nach meinen „10 Marathons in 10 Tagen“ im Juli, habe ich eine leise Ahnung davon, was für eine titanische Leistung hinter einer Serie von zehn Hundertern steckt. Häufig hängte man mir das Etikett „Extremläufer“ um. Von nun an werde ich mich noch vehementer dagegen wehren. Mit Blick auf Antonio weiß ich, welch’ armselige Funzel in meiner bescheidenen Hütte brennt …

„Pasta in five minutes!“ lässt mich Antonio wissen. Will offenbar verhindern, dass seine teutonischen Gäste anders als mit praller Bauchdecke von hinnen ziehen. Und genau so kommt es dann auch, zumindest bei mir. Schuld ist die von Antonios Frau zubereitete Pasta-Soße, die mir genussvolle Schauer über den Rücken jagt. Völlig unbegreiflich, was diese Italiener aus ein paar Tomaten und Kräutern Wohlschmeckendes zaubern! War’s das jetzt? - Aber nein, das Dessert fehlt noch und selbstverständlich kann ich auch dazu nicht nein sagen … Unterläge ich beim Laufen ähnlicher Willensschwäche, ich käme selten über die anfänglichen Kilometer hinaus!

Aufbruchstimmung weht über die Dachterrasse. Die ersten haben Antonios Domizil bereits verlassen, nahmen abschließend noch Startnummer und Erinnerungs-Shirt entgegen. In der jungen Frau, die in der Startliste meinen Namen abhakt, vermute ich Giorgia vor mir zu haben, was sie mir, bevor ich fragen kann, lächelnd und von sich aus bestätigt: „I’m Giorgia. Wie mailed each other!“ - Wir tauschten mehrere Nachrichten aus, weil ich sicher gehen wollte allen Forderungen des Reglements zu entsprechen. Und nachdem mein ärztliches Attest eine Weile ausblieb, erinnerte sie mich daran, dass es noch fehlte, machte sich schlussendlich die Mühe mir mitzuteilen, dass meine Anmeldung nun vollständig sei. - Sehr herzlich bedanken wir uns für die Gastfreundschaft bei Antonio und seiner Frau, verabschieden uns mit einem „a domani!“* von den Verbliebenen. Antonio geleitet uns zur Haustür, dann hat er die erste „Visitatore con quattro zampe en casa sua“* schadlos überlebt …

*) „a domani” : bis morgen / „… Visitatore con quattro zampe en casa sua …“: … Besucherin auf vier Pfoten in seinem Haus …”

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„Ich bin einfach leer!“ stöhne ich Ines entgegen, als sie nach vier Stunden wieder an der Strecke steht. „Dafür siehst du aber noch gut aus!“ entgegnet sie und schenkt mir ein strahlendes Lächeln. Gnadenhalber gelogen oder die Wahrheit? - Einerlei, ich freue mich einfach sie zu sehen und von ca. 36 Kilometern zu berichten, die ich meinem Körper inzwischen abtrotzen konnte. „Nur 36 km!“ sage ich, betone das „nur“, empfinde es auch so. Ines wäre nicht Ines, kehrte sie nicht das Positive in den Vorgrund: „So wie du zur Zeit drauf bist, hätte ich viel weniger erwartet …“ Spricht’s und verabschiedet sich zu einer letzten Stippvisite in Reggio.

Hatte ich je so schwere Beine? Noch immer trennen mich vier unendlich lange Runden von Marathonerfolg Nummer 210. Wie lange kann ich laufen, bis es nicht mehr geht? - Meinen ersten Ultra 2006 bestritt ich unter anderem auch, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Damals glaubte ich noch an eng gezogene Grenzen in der Welt der Supermarathons. Doch die existieren so nicht. Selbst für mich bislang nicht, der ich keine besondere Ausdauerbegabung, dafür reichlich Lebensjahre vorzuweisen hatte. Mein individuelles, ultimatives Dauer- oder Weitenlimit, dem ich mehrfach nachspürte, fand ich nie. „Ein bisschen was“ geht immer auf flacher Strecke. Und deshalb trabe ich auch jetzt noch auf nahezu kraftlosen Beinen vor mich hin. Laufen ist Kopfsache, eine Frage des Willens und der Leidensfähigkeit. Einen Fuß vor den anderen setzen, Schmerzen ausblenden, wachsender Erschöpfung nicht nachgeben. „Pfüüüt!“ sagt die Rundenmessung, jetzt noch drei bis Marathon.

Gelegentlich bringt ein Lüftchen Linderung, wenn ich gen Westen trabe, kühlt mich runter, drosselt die Schweißproduktion. In Gegenrichtung steht die Luft. Die tief über benachbarten Häusern stehende Nachmittagssonne strahlt mit einer Kraft, die man ihr zu dieser Jahreszeit nicht mehr zutraut. Zweimal musste ich heute bereits mit ansehen, wie Läufer am Streckenrand von Sanitätern behandelt wurden. Etwas Schlimmeres scheint gottlob nicht passiert zu sein. Ich liebe diese Wärme, unterschätzte jedoch in den ersten Stunden ihre Wirkung. Inzwischen trinke ich nach fast jeder Runde. Wasser lediglich, um die letzten beiden Gels runterzuspülen, ansonsten reichlich „Birra Italiana senza alcool“.

Ich stehe und trinke, lasse mir Zeit, studiere mein Rundenkonto auf dem Monitor gegenüber: 26 Umläufe sind gutgeschrieben, ergibt 41,028 km. Noch eine Runde! Unter diesem Vorzeichen anzutraben, fällt mir leichter als die letzten Male: An der Hallenecke abbiegen, lange Gerade in der Sonne abarbeiten, links rum über den Parkstreifen - stundenlang spendeten hier Bäume kühlen Schatten, nun nicht mehr … Längst ist mir jeder Quadratzentimeter Asphalt vertraut, weiß, wo er den Füßen schmeichelt und wo nicht. Kreierte eine Ideallinie, die neben Hindernissen wie Hallenfluchten, Ecken und Absperrungen auch die Qualität des Straßenbelags einbezieht.

Ist er’s oder ist er’s nicht? - fast bin ich davon überzeugt, den kahlköpfigen Läufer zu kennen. Als „Guidotti 1955“ stellt ihn der Aufdruck auf seinem Laufshirt vor. „Guidotti“ heißt er mit Nachnamen und „1955“ ist sein Jahrgang. Fiel mir nicht ebendieser „Guidotti“ beim „Maratona del Mugello“ (nördlich von Florenz) 2013 erstmals auf? Und war’s nicht derselbe Glatzkopf, dem ich bei den „100 km del Passatore“, auf dem Weg von Florenz nach Faenza, zum zweiten Mal über den Weg lief? Ist er’s oder ist er’s nicht? - Name und Aufmachung decken sich mit dem Bild in meinem Kopf. Er wirkt älter und ein bisschen fülliger als in meiner Erinnerung. Allerdings könnte er dasselbe sicher an mir feststellen, besonders das mit dem Plus an Leibesfülle … - Nein, er kann’s nicht sein, das entscheidende Erkennungsmerkmal fehlt; jenes, das mir sein Konterfei bei der ersten Begegnung unauslöschlich einbrannte und an dem ich ihn zwei Jahre danach in den Hügeln hinter Florenz sicher identifizierte. Es fehlt die schrill-bunte Designerbrille! Vielleicht Kontaktlinsen … oder doch ein Ultra laufender (Zwillings-) Bruder!?*

*) Später und frisch geduscht sehe ich ihn wieder, jetzt trägt er Brille. Nicht dieselbe, jedoch ein ähnlich auffälliges Modell wie 2013 und 2015. Und ein späterer Vergleich der Finisherlisten beseitigt jeden Zweifel: Zum dritten Mal im selben Wettkampf mit „Guidotti 1955“!

Wieder verweile ich vorm Monitor, schlürfe „Birra“, vergewissere mich Nummer 210 tatsächlich „im Sack“ zu haben: 27 Runden, ergibt 42,606 km. Marathon perfekt und was nun? - Natürlich fasse ich nicht erst jetzt einen Entschluss, der reifte bereits während der letzten „Umkreisungen“. Zentrale Frage: Kann ich es mit angeschlagener Sehne verantworten weiterzulaufen? - Sie schmerzt, jedoch weit weniger als ich befürchtete. Wichtiger noch: Die Beschwerden haben sich seit Stunden nicht weiter intensiviert. Also nicht vor der Schwäche den Schwanz einziehen und weiter kreisen …

„Kreisen“ gibt meine Bewegungsform allerdings nicht richtig wieder, klingt zu sehr nach Tempo. Ich schlurfe vor mich hin, weil ich kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen kann. Die Beine fühlen sich kraftlos an und irgendwie blockiert. Physische Erschöpfung. Mental bin ich fit, kein Tunnel, der sich geöffnet hätte, volle Wahrnehmung. Meinen Mitläufern geht es ähnlich. Die stundenlangen Strapazen zeichnen die Gesichter. Kaum einer nimmt noch Notiz vom anderen. Über lange Zeit in munteres Parlieren vertiefte Duos oder Trios haben sich längst aus den Augen verloren. Stumm stapfen sie vor sich hin, den Blick starr auf einen Fleck Asphalt vor ihren Füßen gerichtet. Das gilt auch für Marco Tallarita, Antonios Neffen - einer der Gäste der Pasta Party -, wenngleich der noch vergleichsweise hurtig Schritte setzt. Anfangs ermunterten wir uns gegenseitig mit Blicken und Gesten - lange vorbei.

Ein bisschen Scham mischt sich in die Empfindungen während dieser Runde: Etwa 4:55 Stunden habe ich für diesen brettflachen Marathon verbraucht und damit meine mit Abstand mieseste Marathonzeit eingefahren. Das Gedankenkarussell dreht sich weiter: ‚Nimm’s als Blick in die Zukunft! Bald werden sich altersbedingt die Probleme häufen. Dann wirst du nie mehr schneller laufen können!’ Für Sekunden beunruhigt mich eine ungute Vision vom Ende meiner Ultra- und Marathon-„karriere“. Dass es nicht selbstbestimmt kommen wird und vielleicht auch ganz anders als ich es mir immer vorstellte …

Laufen soll Freude machen. Obgleich ich mich seit Stunden unsäglich quäle und meinen Körper mit eisernem Willen zwinge Schritt an Schritt zu reihen, haben Spuren von Freude dieses „Inferno“ überlebt. Weil ich inmitten liebenswerter Italiener laufe, weil die Sonne scheint, weil es bald vorbei ist, weil ich es wieder einmal durchstehe … Wirklich deshalb? - Was weiß ich?, ist doch auch egal. - Was geht noch? Eine gute halbe Stunde fehlt, um sechs Stunden voll zu machen. Anfangs hätte ich während dieser Spanne drei Runden gedreht. Nun kalkuliere ich Rundenzeiten von 12 bis 13 Minuten, addiere zum Ist das wahrscheinliche Rest-Soll und lande bei knapp unter 50 Gesamtkilometern. Erstaunlich, damit hatte ich angesichts des frühen Kräfteverfalls nicht mehr gerechnet.

Knapp unter 50 Kilometer. Vielleicht schaffe ich ja doch noch die „5“ vorne … Allein der Gedanke beschleunigt meine Schritte, ein paar Meter weit, bis Vernunft mich wieder bremst: ‚Halt Udo! Das Ergebnis ist völlig unwichtig! Jetzt kein Risiko mehr! Schon einmal hast du dich durch eine Schlussoffensive ins orthopädische Abseits katapultiert! Damals beim 24h-Lauf in Reichenbach! Erinnere dich an die Folgen!“ Ausgelaugt wie ich bin, fällt es mir leicht der Stimme der Vernunft zu folgen. Also weiter schlappen, Schritt um Schritt.

War das ein Hupen, gerade eben, draußen vorm Zaun? Mit Verzögerung drehe ich den Kopf und sehe für den Bruchteil einer Sekunde Ines vorbeifahren, bevor der Wagen hinter einem Baum verschwindet. Nach dem nächsten Umlauf wird sie wieder da sein!

Schlussendlich bleiben mir noch acht Minuten. „Lauf mir entgegen!“ fordere ich Ines auf. „Ich werde keine ganze Runde mehr schaffen!“ - Natürlich könnte ich jetzt bei Ines stehenbleiben und zusehen, wie die restlichen Minuten und Sekunden im rissigen Asphalt versickern. Nur bringe ich das nicht über mich, egal wie kaputt ich mich auch fühle. Sechs Stunden dauern nun mal sechs und nicht 5:52 Stunden. - Vorm Zielbogen drückt man mir ein Kunststoffröhrchen in die Hand und einen Schwall italienischer Wörter ins Ohr. Ich meine herauszuhören, dass ich meine Startnummer samt Röhrchen an der Schlussposition deponieren soll. Capisci Udo? - Wenn nix „capisci“, dann werden ein paar Meter in der Schlussabrechnung fehlen. Und wenn schon!

Zweimal abbiegen, dann sehe ich Ines, trabe ihr entgegen, an ihr vorbei, winke ihr freudig zu. Noch zwei Minuten. Ich tippele weiter, sie wird mich rasch einholen. Wieder mal typisch! Mutmaßlich werde ich vom Zielbereich genau dann am weitesten entfernt sein, wenn die Zeit um ist. War das bei Stundenläufen je anders? Am weitesten vom Ziel entfernt und überdies durch zwei Hallen und Verkehrslärm davon getrennt. Wie soll ich unter diesen Umständen das Ende des Laufs mitbekommen? - Der Gedanke hallt noch nach als hinter meinem Rücken ein Schuss fällt. Streife mit einem Blick die Uhr: Anderthalb Minuten zu früh. Ich bleibe stehen, drehe mich um und sehe Ines freudig entgegen. Ein Mitläufer trabt auf mich zu und vorbei, fordert mich wild gestikulierend und mit Worten auf weiterzulaufen. Der Mann mit der Pistole, den ich jetzt stückweit entfernt stehend wahrnehme, unterstützt ihn dabei, erklärt, dass sich der Schuss versehentlich zu früh löste. Ich winke lächelnd ab, lasse mich stattdessen von Ines ablichten.

Nach dem Ablegen der Startnummer schlendern wir Richtung Ziel. Genau genommen schlendert nur Ines, bei mir sieht es sicher wie Hinken aus, fühlt sich jedenfalls so an. Dem Offiziellen mit der Pistole ist sein Versehen offenbar extrem peinlich, vor allem, dass er einen Deutschen vor der Zeit bremste. Die Deutschen nehmen doch immer alles so peinlich genau. Mehrmals entschuldigt er sich. Ich lächele ihn an wie weiland Don Camillo den Sünder Peppone, recke den Daumen in den immer noch blauen italienischen Himmel und spreche ihn von seinen Sünden frei: „Tutto bene!“

Ergebnis: 49,4957 km, Platz 25 von 47, Platz 3 von 7 in M60

Der Veranstalter Antonio Tallarita gewann den Zwölf-Stundenbewerb mit sehr guten 124,3472 km!

 

Fazit zur Veranstaltung

Die Burg Canossa liegt 20 km südwestlich von Reggio nell’Emilia auf einem der ersten Hügel des Appenin. Anders als für König Heinrich IV. im Jahr 1076 wurde für mich die Teilnahme am 6h-Lauf keineswegs zum „Gang nach Canossa“. Der weite Weg nach Reggio lohnt auf jeden Fall, um sechs oder zwölf Stunden zu laufen. Vielleicht lässt sich die Veranstaltung, wie bei mir, mit einem Urlaub verbinden. Die Organisation klappte in jeder Hinsicht absolut reibungslos. Anmeldung und Anfragen per E-Mail wurden rasch und auf Englisch beantwortet. Schon dabei wurde das große Engagement deutlich, mit dem alle Offiziellen ihrem Lauf Leben einhauchen. Den Vogel schoss Orga-Chef Antonio Tallarita mit der Pasta Party ab, die er auf der Dachterrasse seiner Wohnung ausrichtete, dabei seine Frau die anwesenden Sportler und mitreisenden Betreuer bekochen ließ … Fantastisch!

In lediglich 35 Euro Startgeld war die Pasta Party ebenso enthalten, wie die Versorgung während des Laufs, ein Erinnerungs-Shirt, die Medaille und anderes mehr.

Neben dem 210. Marathonsieg brachte mir der Lauf ein besonders schönes, von vielen wunderbaren Italien-Lauferlebnissen ein.

Fazit: Jederzeit mit Freuden wieder!

 

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