10. September 2017

Charakter aber keine Gefühle  -  ebmpapst-Marathon 2017

Nimmst du gelegentlich an Wettkämpfen teil? - Falls ja: Welche Fragen stellst du dir in den letzten Tagen und Stunden davor? - Sicherlich nicht wenige und ihre Brisanz wird von deiner persönlichen Situation abhängen. Das ist bei mir nicht anders, wenngleich sich unsere Fragen hinsichtlich Inhalt und Prioritätensetzung unterscheiden dürften. Ich frage mich zum Beispiel höchst selten, ob ich einer Laufaufgabe gewachsen bin. Davon gehe ich schlichtweg aus, zumal bei einem Marathon. Ich müsste schon vom Blitz getroffen oder von einem Auto überfahren werden, wollte böses Schicksal mein Finish vereiteln. Nicht Hochmut stützt diese Einstellung, sondern die stete Wiederholung von Marathon- und Ultrastrecken.

Meine Sorge gilt in erster Linie der Tagesbefindlichkeit meines Bewegungsapparats und - du ahnst es - dem Wetter. Beides hat mit Lebensalter und dem Jahresumfang an Kilometern zu tun. Im Jahr bin ich etwa 4.000 km weit in Laufschuhen unterwegs. Grob gerechnet sind das 400 bis 450 Stunden, die ich - mehr oder weniger leicht bekleidet - im Freien verbringe. Da mag ich’s nach Möglichkeit warm und sonnig. Aus genau diesem Grund jogge ich nun wieder den für mich wenig erbaulichen Monaten des Jahres entgegen … Aber doch bitte nicht schon Anfang September! Als ich um fünf Uhr früh daheim aufbreche, unausgeschlafen und im Dunkeln, regnet es. Dem Regen entkomme ich schließlich über A8, A7 und A6 in Richtung Nordwesten. Insgesamt gut zwei Fahrstunden später lenke ich auf trockener Straße mein Auto ins Tal des Kochers hinunter und … stecke im Nebel bei „frostigen“ 11°C.

Im Kleinstädtchen Niedernhall, etwa 40 km Luftlinie nordöstlich von Heilbronn gelegen, steuere ich den noch leeren Parkplatz an. Bereits um 8:30 Uhr fällt der Startschuss zum Marathon, die anderen Bewerbe beginnen später. Entsprechend ruhig geht es im Start-/Zielgelände zu, wo alle wichtigen Einrichtungen auf engem Raum beieinander liegen. Meine von der sehr übersichtlich gestalteten Internetseite des „ebmpapst-Marathons“ geschürten Erwartungen werden nicht enttäuscht. Alles klappt wie am Schnürchen. In der Sporthalle angekommen halte ich bereits nach Minutenfrist meine Startnummer in Händen.

Draußen vor der Halle lässt eine gewaltige Ansammlung von Zelten, Buden und anderen Aufbauten auf ein geplantes Volksfest schließen, das wohl in den späteren Vormittagsstunden Fahrt aufnehmen wird. Die eigentliche Überraschung hält allerdings der Blick zum Himmel Richtung Nordwesten bereit: Der unerwartet rasch zu Wolken formierte Nebel gibt einen breiten, blauen Streifen frei, als wollte in Kürze Morgensonne einen Hauch von Spätsommer verbreiten.

Eine Viertelstunde vorm Start spielt Petrus noch immer den Unentschlossenen. Ich mache mir aufs Wetter meinen eigenen (Ausrüstungs-) Reim: Es wird weder regnen noch wirklich warm werden. Folglich trete ich die Anfangsschleife durchs Städchen barhäuptig an, streife mir „umschmeichelt“ von frischen 13°C allerdings Armlinge über. Schon damit komme ich mir unter 200 Gleichgesinnten (Marathon und Duo-Marathon) ziemlich „overdressed“ vor. Egal. Im Moment bin ich dankbar für die Hüllen, bei Bedarf pelle ich sie runter.

Die Route schickt uns durchs romantischste Gässchen von Niedernhall, vorbei an prachtvoll restaurierten Bürgerhäusern, deren Fachwerk zumindest meine Blicke einfängt. Mit romantischen Anwandlungen kann mein Gemüt zu dieser Zeit - früh am Morgen und früh im Wettkampf - allerdings noch nicht dienen. Einstweilen, während wir wieder auf den Start-/Zielbereich zuhalten, mühe ich mich um „Betriebstemperatur“ und stoisches Gleichmaß der Schritte. Nach den ersten tausend Metern bin ich von beidem noch weit entfernt und von der Zwischenzeit 5:18 min überrascht. Erheblich zu schnell, begünstigt von Kraftüberschuss und fehlendem Laufgefühl in der Anfangsphase. Der übliche Anfängerfehler.

Ich bin aber kein Anfänger. Sollte ich heute das Ziel erreichen, dann zum 209. Mal auf einer Marathonstrecke oder weiter. Wahrscheinlich achtete ich mehr auf etwaiges Wehklagen aus der orthopädischen Abteilung als aufs Tempo. Es lässt sich „verträglich“ an, so viel kann ich schon sagen. Kein Anfänger aber ganz bestimmt ein rotzfrecher Bruder Leichtfuß! Behielte ich sonst das aller Voraussicht nach zu hohe Tempo bei? - An mögliche Konsequenzen verschwende ich schlichtweg keinen Gedanken. Huldige stattdessen dem vordergründigen Argument eines alsbald zu erwartenden Anstiegs, der mein kleines Zeitpolster wieder abschmelzen wird.

„Zeitpolster“ klingt entschlossen und nach genauer Zielzeitvorgabe. In Wahrheit hege ich eher diffus formulierte Absichten: Nach Möglichkeit unter vier Stunden, vielleicht geht es auch ein bisschen schneller. Und sollte es nicht wunschgemäß laufen, bin ich durchaus bereit meine Ansprüche zurückzuschrauben. Klingt vernünftig, schließlich weiß ich nicht im Detail, was mich erwartet, auch wenn das Profil der Route nicht sonderlich fordernd aussieht: Längster Anstieg 100 Höhenmeter, nach ungefähr fünf flachen Kilometern. Danach ein paar harmlose „Zacken“ und wieder runter auf Anfangsniveau. Zuletzt noch einmal 80 Höhenmeter. Etwa in Höhe Halbmarathondistanz ist der Höhenmeterspuk vorbei und Traben in vergleichsweise flachem Terrain angesagt - so jedenfalls „las“ ich die Profilzeichnung.

Wir verlassen den Start-/Zielbereich ostwärts, folgen dem asphaltierten Radweg unweit und parallel zum Kocher, dem zweitgrößten Nebenfluss des Neckars. Viel Platz zum Leben und Arbeiten lässt der Fluss den Menschen auf schmalem Talgrund nicht. Vermutlich aus diesem Grund wurden weite Flächen der steil, etwa 150 Meter abfallenden, zu Urzeiten ausschließlich bewaldeten Hänge besiedelt. Am gegenüberliegenden Nordufer des Kochers bietet sich ein anderes, das Herz eines jeden Zechers erfreuendes Bild: Weinstöcke so weit das Auge reicht! Wahrscheinlich werden wir die noch aus der Nähe besichtigen, das würde zumindest die vom Profil angedrohten Höhenmeter erklären.

Vermutlich ernährten sich die Menschen früherer Zeiten von dem, was der fruchtbare Boden im Talgrund hervorbrachte. Zu kostbar die Erde, um sie menschlicher Bauwut, der Versiegelung mit Beton und Asphalt, zu überlassen. In unseren Tagen ist davon leider nur allzu wenig übrig. Immer wieder, auch zwischen den Ortschaften, passieren wir Gewerbeansiedlungen. Eine Vielzahl mittelständischer Unternehmen, von denen bereits das Städtchen Niedernhall geprägt war, siedelten sich hier an. „Schaffe, schaffe, Häusle baue!“ - die dem Schwaben nachgesagte Lebenseinstellung scheint sich im Kochertal zu bewahrheiten. „G’schafft“ wird in der Fabrik im Tal, „s’ Häusle“ am Hang gebaut, vor Hochwasser geschützt und sicher mit toller Aussicht …

Infolge „zivilisatorischen Kahlschlags“ fängt mein auf Weitwinkel eingestelltes Objektiv so gut wie keine Landschaftsaufnahme ein, in der nicht wenigstens ein paar Häuser, eine Brücke, ein Strommast oder sonstige Vorrichtungen verbliebene Natur konterkarieren. Dem Prädikat „Landschaftslauf“ - vorm Start vollmundig vom Kommentator vergeben - stimme ich daher nur mit Einschränkung zu. Reizvolles bietet sich den Augen trotzdem: Blicke hinüber zu den Weinbergen, da und dort taunasse Wiesen, hin und wieder Blicke zum nahen Fluss.

Insgesamt gefällt mir, was ich sehe. Und da auch mein Fahrgestell einen der besseren Tage erwischt zu haben scheint, fühle ich mich richtig gut. Okay, die Quecksilbersäule stünde 10 Teilstriche höher, wenn es nach mir ginge und den Himmel wiese ich an sein Versprechen auf Sonnenschein endlich einzulösen. Aber ich laufe in Deutschland und bin deshalb froh, dass es wenigstens nicht regnet, wie noch vor ein paar Stunden. Meine Zwischenzeiten liegen auf den ersten sechs Kilometern mehrheitlich unter 5:30 min/km. Die relative Unangestrengtheit, mit der ich sie einsammle - ganz anders als vor zwei Wochen im Hunsrück -, stimmt mich zusätzlich optimistisch. Daran ändert auch der Unkenruf des Läufers zu meinen Linken nichts, der nach Queren der Hauptstraße „den Berg“ ankündigt. Entweder verfrüht oder schamlos übertrieben übrigens, weil der Radweg nur minimal an Steigung gewinnt. Als ich einen weiteren Kilometer später den Veranstalter der arglistigen Profilfälschung zu verdächtigen beginne, geht es dann doch noch richtig zur Sache: Spitzkehre und fortan fordernd bergan …

Der Anstieg bereitet mir keine ernsthaften Schwierigkeiten. Zwar hält er mich gut zwei Kilometer weit in Atem, jedoch bei durchschnittlich nur vier Prozent Steigung. Frohgemut und für meine Verhältnisse flott jogge ich empor. Nach Wald, Wiesen und Schafgehege finde ich mich - wie erwartet - zwischen Weingärten wieder. Während unten im Talgrund Windstille herrschte, weht mir hier oben ein kaltes Lüftchen entgegen. Kein Wunder, denn mittlerweile orientiert sich der Streckenverlauf wieder gen Westen und der Himmel erstickt jede Hoffnung auf Sonne in Wolkengrau.

Wild fotografierend folge ich dem Winzersträßchen, das bergab meine Schritte beschleunigt. Einfache Rechnung: Bergab werde ich das mäßige Tempo des langen Anstiegs teilweise ausgleichen, den Rest kompensiert anfänglicher Zeitgewinn. Hübsche Ausblicke hat dieser Abschnitt zu bieten, hinunter ins Kochertal und hinüber zum mehrheitlich mit Wiesen und Wald gesegneten Gegenhang. Meine Schritte reihen sich weitgehend „unkontrolliert“ aneinander. Nicht Vorsicht noch reichlich vorhandene Erfahrung schlagen den Takt, ich überlasse mich rein dem Hochgefühl des Augenblicks.

Wieder rauf, kürzer zwar als zuvor, dafür aber steiler. ‚Nicht zu viel Zeit verlieren, Tempo einigermaßen halten!’ Dieser Gedanke beherrscht mich, obschon es dafür eigentlich keine Veranlassung gibt. Zeitziel hin, Zeitziel her: Im Kern habe ich mit diesem Marathon nichts anderes im Sinn als meine Ausdauer für lange Strecken zu konservieren … und natürlich Spaß haben.

Wieder runter, nicht weit, dann abermals bergauf. Steil bergauf. Schweiß bricht aus allen Poren. Angesichts erneuter Schinderei und unerwartet schwerer Beine ergreift erstmals die Opposition das Wort: Wie alt musst du werden, damit dir wenigstens in Phasen regenerativen oder formerhaltenden Trainings ein mit Muße und Genuss gelaufener Marathon genügt? Warum treibst du dich ohne klare Zielvorgabe ans Limit? Brauchst du das? - Einige Weinberge später, nach wiederholt steilem Auf und Ab, gebe ich eine ehrliche Antwort: Ja, anscheinend brauche ich das. Mich immer wieder zu kasteien, vielleicht nicht in der Hölle selbst, aber zumindest im Fegefeuer zu verweilen. Menschen handeln wenn es notwendig ist, aus inneren Zwängen heraus, oder weil sie sich dabei gut fühlen. Es ist weder notwendig, noch fühlt es sich gut an, wenn ich mich diese Schrägen hochjage. Ergo folge ich wohl einem inneren Zwang …

Ich überlasse dem Ehrgeiz das Ruder, verbanne zeitweilig aus Atemnot und Beinschwäche aufsteigenden Zweifel ins hinterste Eck meines Bewusstseins. Eine einmal gefasste Absicht fallen lassen - und sei sie auch unverbindlich formuliert -, offenbar bin ich dessen nicht fähig. Ich kämpfe hinan, trudele abwärts, ringe mit dem Berg, ignoriere dabei die Uhr, um nicht zu erfahren, wie viel Zeit ich verliere. Entsetzlich viel Zeit unterstellt mein Gefühl. Dann endlich ganz hinab ins Tal, eine Ortschaft fängt mich auf. Auf der langen, nur einmal kurz unterbrochenen Gefällestrecke hetze ich hinab, versuche den unterstellten Zeitverlust wettzumachen.

Die Kilometertafel mit der „17“ huscht vorbei, ein paar hundert Meter noch, dann bin ich unten. Unten, um nach wenigen Schritten den nächsten Anstieg zu beginnen. Vorm inneren Auge erscheint verschwommen das Profilbild: Stimmt! Da waren noch zwei Zacken. Wird schon nicht so schlimm werden! - Wird es dann aber doch. Erstens, weil es schlimm ist: Immerhin ein knapper Kilometer bergan bei durchschnittlich fast neun Prozent Steigung. Und zweitens, weil sich meine Beine inzwischen so dick und schwer anfühlen, wie ich sie zuletzt an lebenden Wesen in Südafrika sah, vor zwei Jahren, im „Addo Elephant National Park“ …

Mit vollem Einsatz wuchte ich meinen Körper auf schmalem Sträßchen aufwärts. Wald umfängt mich schließlich, dämmt die Aktivität meiner Poren ein wenig ein. Trotz kalter Luft und häufig leichtem Gegenwind, trage ich längst keinen trockenen Fetzen mehr am Leib. Eine Radlerin wartet am Straßenrand - auf wen auch immer. Klatscht Beifall als ich mich nähere, ruft mir aufmunternd entgegen, was ich gerne glauben will: „In hundert Metern geht’s links runter!“ - Ungefähr zweihundert Meter weiter, noch immer im Wald und auf müden Stelzen bergwärts trabend, finde ich einmal mehr bestätigt, dass Entfernungen richtig zu schätzen einem Lotteriespiel gleicht. Noch eine Minute und noch eine, dann endlich nach links und im Sauseschritt hinab … Ich lasse es einfach laufen …

Obwohl das Wort „laufen“ nur unzulänglich meine Gangart beschreibt. Es handelt sich eher um „unbeherrschtes Trudeln“. Ein bisschen so wie ein Flugzeug nach Ausfall des Motors und Strömungsabriss aus dem Himmel fällt … Nach und nach erlange ich die Kontrolle über Atmung und Beine zurück, sammle Kräfte in den Beinen. Zumindest bilde ich mir das ein, wohl wissend, wie sehr auch schnelles Abwärtslaufen den Körper schlaucht. Vorbei an massenhaft Rebstöcken, rechts bergauf, links bergab am steilen Hang stehend, über und über mit dunklen Trauben behängt. September, nur noch wenige Tage bis zum Beginn der diesjährigen Lese. Eigentlich ein hübsches Bild. Eins, das mich zum Fotografieren animiert. Normalerweise. Nun nicht mehr, dazu fühle ich mich gegenwärtig zu ausgelutscht. Außerdem ruhen zig ähnliche Bilder bereits im Speicherchip meiner Kamera.

20 km vorbei: Die Hoffnung endlich die finale Schussfahrt ins Kochertal angetreten zu haben und mit bereits reichlich ramponierter Ausdauer in den mutmaßlich flachen Teil der Strecke zu „entkommen“ erfüllt sich nicht. Ich stöhne und fluche. Nicht zum ersten Mal übrigens. Ob innerlich laut oder äußerlich leise, vielleicht gar beides, ich weiß es nicht. Zuversicht und Überschwang - oder war es Hochmut? -, die mich anfänglich am Berg beflügelten, haben sich ins Gegenteil verkehrt. Verdrossen und „strecken-räumlich“ desorientiert stapfe ich empor. Törichterweise prägte ich mir nicht ein, wo genau die Achterbahn endet. Endlich eine Spitzkehre und wieder Gefälle. Ich blicke voraus und runter ins Tal, taxiere den weiteren Streckenverlauf und bin nun sicher: Das war’s mit den Bergen!

Während meine abwärts beanspruchten Knie das nahe Ende der Weinbergtour bejubeln, taucht die Kilometertafel mit der „21“ auf. Ich warte weitere 100 Meter auf meinem Entfernungsmesser ab und … … … dann dämmert mir, dass ich nicht nur strecken-räumlich, sondern auch strecken-zeitlich die Orientierung verlor. Kaum glaubliche 1:59:40 Stunden bescheinigt mir die Uhr! Zum letzten Mal achtete ich in Höhe des Viertelmarathons auf meine Zeit, war sicher auf den vielen Höhenmetern seither viel Zeit liegengelassen und die Zwei-Stunden-Grenze um mehrere Minuten überschritten zu haben. Und nun das! Die geradezu kindliche, naive Freude über die „gute Zeit“ drängt die Wahrheit in den Hintergrund. Über Erfahrung und Einsicht, diese Wahrheit schlagartig zu erkennen, verfüge ich im Übermaß, lasse sie aber nicht an mich heran. Noch nicht.

Endlich unten, endlich flach. Folge dem Rand der scheinbar endlos geradeaus im Kochertal verlaufenden Straße und versuche den optimistischen Udo wiederzubeleben. Relative Einsamkeit: Stückweit voraus zwei Läufer, ansonsten Fehlanzeige. Meine Beine übermitteln eine leider nur allzu bekannte Form der Schwäche. Ungefähr so wie ich sie zuletzt vor vier Wochen beim Allgäu Panorama Marathon empfand. Heftiger damals, nach weitaus mehr Höhenmetern und langem Lauf ins Tal, aber auf exakt dieselbe Weise ermattet und den Anfang vom (Tempo-) Ende ankündigend. Es gelingt mir nicht länger die Stimme im Kopf zu unterdrücken: Du warst viel zu schnell unterwegs! Hast dich in stümperhafter Weise auf unbekannter Strecke vorzeitig verausgabt! Hättest die Zeichen erkennen und danach handeln müssen! Auf derart erschöpften Beinen wirst du dein Vier-Stunden-Ziel nie und nimmer schaffen!

Die Wahrheit zu kennen muss nicht bedeuten klein beizugeben und alle Hoffnung fahren zu lassen. Also behalte ich mein Tempo bei und verweigere mich so gut es geht Zeichen und Signalen. Doch die Barriere wird schwächer, lässt einen Gedanken entwischen. Seit den Weinbergen surrt er nervös wie die Fliege vorm hell erleuchteten Fenster durchs Oberstübchen: Ich überholte den Vier-Stunden-Pacemaker bereits auf dem zweiten Kilometer, brachte mich außer Hörweite in Front. Seitdem habe ich von ihm und seiner Kundschaft nichts mehr gesehen. Schon dieser Umstand hätte mir klarmachen müssen, wie weit ich vor dem Soll liege, dass ich deutlich zu flott unterwegs bin …

Vor und auf der Brücke über den Kocher traben viele halbe und eine Handvoll ganze Marathonis parallel, von Warnbarken und Trassenband fein säuberlich getrennt. Der Grund erschließt sich mir erst später, am Rand des nahen Ortes. Dessen romantisch idyllische Ansicht wirkt wie einem Gemälde von Spitzweg entlehnt. Die Halben verschwinden nach kurzem Anlauf und leicht erhöht im Stadttor. Wir Ganzen biegen rechts ab, setzen auf steinernem Brücklein über einen dem Kocher zufließenden Bach und halten geradewegs auf am Hang stehende Häuser zu. Nur logisch, dass wir davor rechts abbiegen, schließlich „muss“ die Route nun flach dem Talgrund folgen.

Tut sie aber nicht. Mit einem diesmal hörbaren Stöhnen quittiere ich den Anblick der unter meinen Füßen aufwärts führenden Straße. So weit hinan, dass ein Ende nicht erkennbar ist. Ich zürne dem Zeichner des Profils. Angesichts drohenden oder eintretenden Ungemachs sucht das Ego einen Schuldigen. Und man schläft nachts besser, fühlt sich tags zufriedener, wenn dieser Schuldige nicht im eigenen Kopf logiert …

Die Berg-und-Talfahrt geht weiter. Von Steilheit kann zwar keine Rede mehr sein und es gilt jeweils auch nur wenige Höhenmeter zu überwinden, das jedoch unausgesetzt. Die nun eigentlich harmlosen Buckel setzen mir in ähnlicher Weise zu, wie zuvor die längeren Anstiege. Da hilft auch kein Gel, das ich mir vorhin vorzeitig einverleibte. Wie ein Anfänger versäumte ich auf der ersten Streckenhälfte mit Kräften hauszuhalten. Erst daheim beim Auswerten der GPS-Aufzeichnung wird klar, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits etwa 450 Höhenmeter in den Beinen habe, die sich auf wenige Kilometer konzentrierten.

Zunächst viel Grün unter nach wie vor vollständig bedecktem Himmel. Ein leichter Wind lässt mich frösteln, wachsendes Mühen um Schritte gleichzeitig schwitzen. Nach gut drei Kilometern auf welligem, fein asphaltiertem Sträßchen überschreiten wir einmal mehr den Kocher und laufen in Gegenrichtung zurück. 27 Kilometer und eigentlich auch die Hoffnung auf wirklich ebenes Terrain liegen hinter mir. Dann hat es minutenlang den Anschein, als sollte es entlang ufernaher Wiesen doch noch klappen mit dem Laufen im flachen Gelände. Hinter mir vernehme ich seit geraumer Zeit immer wieder Gesprächsfetzen, dann und wann einen Lacher, wie nach gelungenem Scherz. Ich brauche mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer mir da immer dichter auf die Pelle rückt …

30 Kilometer vorbei und noch ein Buckel. Am Rand einer Siedlung, nach wie vor parallel zum Kocher unterwegs, werden die Stimmen hinter meinem Rücken lauter. Auch wenn ich die Sinnlosigkeit des Unterfangens einsehe, wehre ich mich nach Kräften von den Verfolgern eingeholt zu werden. Statt der hetzenden Meute schluckt mich zunächst eine Unterführung. Ihr Ausgang führt mich vor eine Tränke und die bereits vor gut einer Dreiviertelstunde überquerte Kocherbrücke. Eilig trinke - nein: saufe! - ich ein paar Schlucke Wasser und haste weiter, hoffe auf diese Weise den Abstand zu meinen Häschern zu vergrößern. Halte aufs Stadttor des „spitzwegschen“, für mich namenlosen Ortes zu, auch wenn ich teils sehe und richtigerweise vermute, was mich innerorts erwartet: Weitere Höhenmeter. In anfänglich engen Gassen gebe ich, was ich noch habe. Zwischen Häusern ist eine Schikane abzuarbeiten: Etwa einen halben Kilometer hin und teils auf derselben Straße wieder zurück.

Ende der Schikane: Runter zum Uferweg und einstweilen der Kocher folgen. Keine Minute später und knapp 10 km vorm Ziel zieht die Vier-Stunden-Horde unaufhaltsam an mir vorbei. Der Pacemaker outet sich als gute Seele aber reichlich unerfahrener Läufer: „Häng dich dran, wenn du unter vier Stunden bleiben willst!“ - Dass er meine Sohlen allenfalls kurz vor der Ziellinie zu Gesicht bekommen hätte, verfügte ich über ausreichend Körner, um Sub4 zu finishen, liegt mir auf der Zunge. Doch die Gewissheit der bevorstehenden Niederlage und ein Schub an Resignation verschließt mir den Mund. Es fühlt sich an, als saugte mir der Schwarm im Vorbeilaufen alle Energie aus den Zellen. Da mich nun nichts mehr antreibt, nicht mal mehr die Meute hetzt, brechen sich Schwäche und Enttäuschung Bahn. Beinahe übergangslos werde ich langsamer …

Kilometer 33, dann 34: Ich zuckele einher wie ein waidwundes Tier. Erschöpfung greift immer weiter um sich. Ohne die nächste Tränke abzuwarten, verzehre ich das letzte Gel, will mein Tempo auf niedrigem Niveau stabilisieren. Man könnte denken die Strecke bestraft mich. Für ungenaue Planung, meine Leichtfertigkeit, fehlenden Respekt. Doch das ist Quatsch. Jede Marathonstrecke hat ihren eigenen Charakter aber keine Gefühle. Die Strecke ist einfach nur da, bietet sich zum Laufen an. So wie der Berg vor dem Alpinisten aufragt und bestiegen werden will. Macht der einen Fehler, dann stürzt er ab. Schuld ist nie der Berg. Die Marathonstrecke jubelt nicht, wenn ich gewinne, noch gießt sie in der Niederlage Häme über mir aus. Ganz allein mein Fehler, meine Niederlage!

Dieser und jene, die „Ikarus“ in den Weinbergen hinter sich ließ, überholen nun wieder. Auch eine orange-bedresste Amazone. Mit ein paar Sekunden Vorsprung bricht sie von der Verpflegungsstation auf, während ich mir inzwischen Zeit zum Trinken lasse. Motto: Das ist jetzt auch schon egal. Aber weiter muss ich, trabe schließlich an, überwinde Schwäche mit Willenskraft. Plötzlich kommt mir die Orangefarbene wieder entgegen!??? Ein anderer Läufer spricht sie an, fragt, weshalb sie umkehrt. „Wir sind falsch! Ich bin noch keine 39 km gelaufen!“ In diesem Moment fällt mein Blick auf eine Kilometertafel am Wegrand. „39“ steht da!?? Tatsächlich zeigt der Entfernungsmesser nicht mal 35 Kilometer an. Doch wo sollten wir falsch abgebogen sein? Die Wegführung durch Pfeile auf dem Asphalt war überall eindeutig. Verunsichert und bedeutend langsamer halte ich Kurs. Gedanken kreisen unstet, finden keine Erklärung. Sekunden später bleibe ich stehen, wende mich um. Eine andere Läuferin folgt, beruhigt uns allesamt: „Alles okay! Später kommt noch eine Schleife!“

Fünf Minuten nach diesem Intermezzo bin ich bereits wieder unsicher: Kommt da wirklich noch eine Schleife? Ich erinnere mich an eine Schleife im Streckenplan, wähnte sie aber mit der Schikane im letzten Ort schon „abgearbeitet“. Ein Streifenwagen der Polizei mit eingeschaltetem Blaulicht steht stückweit voraus in der Wiese. Ein Streifenwagen? Hier auf dem Radweg? Mit Blaulicht? Dahinter mache ich mindestens drei Sanitätsfahrzeuge aus. Was ist denn hier passiert? Die Schiebetür eines Rotkreuzfahrzeuges steht einen Spalt breit offen, ein Sanitäter versperrt die Sicht. Offenbar hat es einen von uns erwischt. Wie und wie schwer will ich gar nicht wissen. Das Blaulicht spricht Bände …

Fake-Kilometer 40 und immer noch kein Abzweig. Meine innere Unruhe wächst, zumal nun vor mir ein Buckel auftaucht. Was, wenn wir doch in die Irre rennen und ich die ganze Chose doppelt laufen muss? Endlich sehe ich den Abzweig vor mir, etwa zeitgleich kündigt ein Schild ihn an (das hätte besser zwei Kilometer weiter vorne gestanden, an dieser Stelle ergibt es kaum mehr Sinn!). Im spitzen Winkel nach rechts und zurück, doch erst nach nachdem eine Helferin mir ein grell-pinkfarbenes Schweißband übers Armgelenk gestreift hat. Solchermaßen stigmatisiert entferne ich mich in grünem Tunnel und ausnahmsweise mal nicht auf Asphalt wieder vom Zielort.

Kilometer 36: Ich komme langsam voran. Langsam wie eine Schnecke sagt mein Laufgefühl. Objektive Daten habe ich keine, vermied den Blick zur Uhr so gut es ging. Wollte mich von miesen Zwischenzeiten nicht zusätzlich entmutigen lassen. Weiter rückwärts, weiter parallel zum Radweg, der manchmal zwischen Bäumen auszumachen ist. Kilometer 37: Ob mir die Schmach erspart bleiben wird, auch noch vom 4:15-Pacemaker eingesammelt zu werden? Ich kalkuliere grob die Zeit für verbleibende fünf Kilometer und addiere sie zur aktuellen Uhrzeit. Wieder eine Überraschung: Wenn mich nicht alles täuscht, werde ich deutlich unter 4:10 Stunden bleiben.

Wie erhofft konnte ich mich auf niedrigerem Temponiveau stabilisieren. Jeder Schritt fällt schwer, dennoch habe ich keine Zweifel in diesem Tempo das Ziel zu erreichen. Wäre das Ende nah, müsste ich es spüren. Ein paar Kilometer vor Sparta, nach mehr als 34 gelaufenen Stunden, war ich erschöpfter und lief immer noch. Aus dieser und vielen anderen Ultraerfahrungen schöpfe ich Zuversicht anzukommen, wenn es mal hart wird. Egal wie desolat ich auch durch die Gegend trödele, ein bisschen Laufen geht immer …

In Höhe einer bereits überlaufenen Matte der Zeitmessanlage endet die Schleife vorm Radweg. Vorhin kam nur gerade keiner zurück, weswegen mir die Einmündung nicht auffiel. Wiederholung: Gut zwei Kilometer, die ich schon kenne, erst die große Fabrik, noch einmal die Tränke. In Ruhe gönne ich mir einen Becher Cola. Zucker muss rein! Kann sein, dass mir davon übel wird, doch das Risiko gehe ich ein. Mein heute über lange Zeit „unaufgeräumt“ drückender Magen hat sich vorzeiten beruhigt.

Von nicht allzu weit her, in Laufrichtung, höre ich Geräusche eines landenden Hubschraubers. Das Schwirren und Flattern schwillt an, nach Sekunden wieder ab, wird leiser, verebbt schließlich vollends. Wohl eher ein Start als eine Landung. Die Ansammlung von Einsatzfahrzeugen fällt mir wieder ein. Ein Läufer in lebensbedrohlichem Zustand? - Zwei Minuten später passiere ich die Stelle neuerlich. Kein Blaulicht mehr, alle Fahrzeugtüren geschlossen und der erste Krankenwagen rückt ab. Wurde der Behandelte per Hubschrauber ausgeflogen? - Vielleicht spielt mein Kopf mir einen Streich, montiert bruchstückhafte Wahrnehmungen zu einem Horrorszenario, das es gar nicht gegeben hat …

Kilometer 41: Aus Richtung Niedernhall stürmt mir das Feld eines Kinderlaufes entgegen (Minimarathon, 4,2 km). Vorneweg die wildesten Fohlen, einzeln, mit stetig wachsenden Abständen zueinander, dann die Hauptmacht, ruhiger aber nicht weniger angestrengt. Während rechter Hand eine Phalanx übermannshoher Sonnenblumen meine Aufmerksamkeit kurz auf Kleingartenanlagen lenkt, tröpfeln die Schlussläufer des Kinderbewerbes vorbei. Den Abschluss bilden zwei Mädchen, denen mehr am Gespräch als an der sportlichen Herausforderung gelegen scheint.

Ebendiese sportliche Herausforderung widerfährt mir dann unerwartet auch noch. Ein älterer Österreicher überholt mich, den ich irgendwo zwischen den Weinbergen hinter mir ließ. Nicht irgendwer, sondern Gerhard Wally, Österreichs fleißigster Marathonsammler mit über 600 Finishes. Offenbar hat er sich seine Kräfte besser eingeteilt als ich, wirkt in keiner Weise angestrengt und strebt mit lockerem Schritt dem Ziel entgegen. Eine ganze Weile wehre ich mich, will nicht abgehängt werden, vielleicht sogar im Endspurt die Oberhand behalten. Schließlich bröckelt meine Absicht und ich lasse ihn ziehen. Das Vorhaben erscheint mir gleichermaßen aussichtslos wie kindisch.

Sogar auf die „megawichtige“ Altersklassenwertung schiele ich in diesen Minuten: Was, wenn auch er in M60 läuft und mich um einen Platz nach hinten schiebt? - Eine gute Platzierung in der Altersklasse - ungefähr so wichtig wie ein Sandkorn in der Sahara - wäre letztlich nicht mehr als ein wenig Balsam auf meine jaulende Läuferseele. Ich habe mir eine deftige Niederlage beigebracht. Ich selbst. Keiner der Mitläufer, nicht die Umstände und auch nicht die Strecke. Was schmerzt ist nicht das Scheitern an sich. Ich habe es sträflich an Vorsicht, vorausschauender Planung und Respekt vor der Marathonstrecke fehlen lassen. Deshalb taumele ich nun mit erschöpften Beinen dem Ziel entgegen. In einer Weise, die niemand erleben will und meiner Erfahrung Hohn spricht.

Freude kommt unter solchen Umständen keine auf, als ich nach 4:06:54 Stunden über die Ziellinie laufe. Zufriedenheit wird sich erst später einstellen, nach und nach, im selben Maß wie ich mir die Torheit dieses Marathonsonntags verzeihe. Sollte sich vorm Marathontor dennoch ansatzweise ein Lächeln auf meinem Gesicht abgezeichnet haben, dann galt es den Mädchen und Jungen des Mini-10-km-Laufes (1.000 m). Stilistisch unverdorben, herrlich leichtfüßig, mit unbekümmertem Eifer und unterm Jubel ihrer applaudierenden Eltern streben sie nebenan dem Ziel entgegen …

Ergebnis: 4:06:54 h, Platz 81 von 134, Platz 4 in M60 von 9 Teilnehmern

 

Fazit zur Veranstaltung

Hervorzuheben ist die übersichtlich und einsichtig strukturierte Internetpräsenz des ebmpapst-Marathons. Mit wenigen Klicks erhält man alle relevanten Informationen. Mit entsprechend hohen Erwartungen an Organisation und Durchführung fuhr ich nach Niedernhall und wurde nicht enttäuscht. Kurze Wege, an alles ist gedacht, keine Wartezeiten, eine rundum gelungene Veranstaltung.

Bisher machte ich um den ebmpapst-Marathon einen Bogen. Ein „Event“, das ausschließlich den Namen des einzigen (?) Sponsors trägt, schreckt mich ab. Ich habe es dennoch nicht bereut in Niedernhall angetreten zu sein. Ein örtlicher Polizeisportverein zeichnet für die Ausrichtung verantwortlich, bleibt jedoch gänzlich im Hintergrund. Wer oder was nun letztlich für die in allen Aspekten tolle Veranstaltung verantwortlich zeichnet, Esprit des ausrichtenden Vereins oder das viele Geld des Sponsors, uns Läufern soll es gleichgültig sein.

Die Strecke ist reizvoll. Kein reiner Landschaftslauf und dennoch mit einigen schönen An- und Aussichten die Teilnahme lohnend. Der Abschnitt in den Weinbergen erinnert an den Ahraton (Bad Neuenahr) oder einige Passagen des „Stromberg Extremlaufes, 54 km“ (Ochsenbach, nordwestlich von Stuttgart gelegen). Insgesamt fordert der Kurs mit über 500 (!) Höhenmetern, wovon etwa 90 Prozent zwischen den Kilometern 7 und 20 zu bewältigen sind. Wer einem Stelldichein mit dem Hammermann entgehen möchte, sollte folglich die erste Hälfte des ebmpapst-Marathons sehr verhalten angehen. Für die 22. Auflage des Marathons im Jahr 2017 wurde die Streckenführung offenbar erheblich verändert. Möglich daher, dass künftige Korrekturen meine Aussagen zur Strecke relativieren.

Fazit: Gerne wieder.

 

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