13. August 2017

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf!  -  Allgäu Panorama Marathon

Warum läuft ein Mensch? - Auf diese Frage gibt es viele Antworten, je nach Situation und Persönlichkeit des Läufers. Ein Motiv dürfte allerdings die Hitliste der Beweggründe anführen: Weil es Spaß macht! Es ist durchaus möglich, dass mir der „Allgäu Panorama Marathon“ (APM) besagte Freude am Laufen an diesem Sonntag vorenthalten wird. Das liegt sicher nicht an der Route, die zu den reizvollsten überhaupt gehört. Keine vorschnelle Wertung, kenne ich doch viele Strecken und hatte jene des APM bereits zweimal bei herrlichstem Sonnenschein unter meinen Sohlen. Auch die zum Start um acht Uhr überwiegend geschlossene, hohe Wolkendecke wird sich nicht als Spaßbremse auswirken. Es ist trocken, windstill, erträglich kühl und die Wettervorhersage lässt auf Sonne hoffen.

Was mich dem Erlebnis APM skeptisch entgegensehen lässt, ist mein Ausdauerzustand genau fünf Wochen nach dem letzten von zehn Marathons in Bad Blumau. Etwa 20 Kilometer betrug seither die weiteste Laufstrecke. Das aber nur einmal, am vergangenen Montag, angereichert mit einigen Höhenmetern, um mich halbwegs für die steilen Passagen des APM zu wappnen. Ansonsten beschränkte ich mich auf Zehn-Kilometer-Joggs ein paarmal die Woche. Diverse Zipperlein, wie Pilze nach warmem Regen im Waldboden „hochploppend“, vor allem jedoch die überwunden geglaubten Schmerzen an der Achillessehne, vereitelten zaghafte Versuche die Zone der Regeneration wieder zu verlassen.

Und doch muss das Dahindümpeln im Training ein Ende haben! Genau jetzt, heute, hier in Sonthofen. Um den weiteren Verfall meiner Ausdauer zu stoppen. Dafür schicke ich mich auf einen Weg, der mich zwischendurch in Steilstücken und vor allem am Ende sehr „hart rannehmen“ wird. Dafür gehe ich das Risiko ein die 1.500 Höhenmeter dieses Marathons weitgehend „spaßbefreit“ zu überwinden. Dafür werde ich - wenn nötig - hinnehmen die Erinnerung an zwei der schönsten Lauferlebnisse mit einem höllischen zu torpedieren. Dabei fürchte ich weniger Schwächephasen infolge mangelnder Ausdauer, als mit hoher Wahrscheinlichkeit nach ein paar hundert Höhenmetern einsetzende Achillessehnenschmerzen.

Seite an Seite posiere ich mit meinem steiermärkischen Lauffreund Kraxi für ein Vorstartfoto. Kraxi wird lange vor mir das Ziel erreichen - falls ihn die rätselhaften Fußschmerzen der vergangenen Wochen nicht davon abhalten. Drei Minuten vor „Los!“ verabschiede ich mich von meiner Frau Ines, um in der Mitte des Feldes Position zu beziehen. Zum dritten Mal APM, zum zweiten Mal ohne Roxi. Unsere Hündin wird Ines Gesellschaft leisten und offen gestanden bin ich dankbar, mich heute allein auf meine Belange konzentrieren zu können. Irgendwie 42 km weit laufen, die vielen Höhenmeter bewältigen und ein paar Trailpassagen überstehen. Irgendwie …

Der Auftakt gestaltet sich harmlos: Ein Stück Sonthofener Straße, in Minutenfrist über die Illerbrücke, auf flachem Kiesweg weiter, alsbald am Ufer eines Badesees entlang. Stückweit folge ich einem Läuferpaar, das mir bereits im Startbereich auffiel. Zweifelsfrei Israelis, wovon ein großer Davidstern und die Farben der israelischen Flagge auf ihrem Trikot Zeugnis ablegen. Ein zu ruchlosen Zeiten so genannter „Judenstern“ öffentlich und mit völliger Selbstverständlichkeit gezeigt. Es sei an jene Periode erinnert, lange vor Gründung des Staates Israel, da man hierzulande Deutsche jüdischen Glaubens zwang einen gelben „Judenstern“ auf der Kleidung zu tragen, so sie ihre Behausung verließen. Ob sich die beiden der Tatsache bewusst sind, freiwillig zu tun, womit ihre Urväter stigmatisiert, gedemütigt und ausgegrenzt wurden? Oder muss man Deutscher sein, zumal einer mit Geschichtsbewusstsein, damit sich derlei Gedanken und Schlussfolgerungen einstellen?

Ungefähr zehn Minuten flaches Einlaufen bewilligt der Streckenplaner, dann beginnt der Ernst des (Marathon-) Läuferlebens. Zwischen und über Wiesen steigt die Strecke an. Moderat zunächst, weswegen nur vereinzelt bunte Leiber aus dem sich träge aufwärts windenden „Lindwurm“ ausscheren und gehen. Im dicht geschlossenen Feld treffe ich auf den nahe Augsburg wohnenden Bernie Manhard. Wie bei jeder unserer eher seltenen Begegnungen scheint er haargenau zu wissen, was ich mir läuferisch in letzter Zeit zu Schulden kommen ließ. Natürlich will er wissen, wie viele Pfeile ich heute im Köcher habe. Ich erwähne den Trainingsrückstand und formuliere die Hoffnung ungeschoren durchzukommen, werde jedoch rasch und unverdienterweise als notorischer Tiefstapler abgestempelt. Einem wie mir, der mehrfach mit Läufen auffällt, die andere als „extrem“ einstufen, nimmt man behauptete Einschränkungen nicht so leicht ab. „Obwohl …“ relativiert Bernie dann seine Einschätzung „ … für dich ist die Strecke schon ein Problem. Du musst ja alles laufen!“

Da ist es wieder, mein läuferisches Glaubensbekenntnis: Alles laufen, nach Möglichkeit auch an steilen Hängen, gehen nur, wenn die Kräfte versagen. Einigermaßen seltsam meine Gesinnung aus anderem Mund zu vernehmen. Wie ein unerwartetes Echo, einzig dem Umstand geschuldet, dass ich sie in Laufberichten gebetsmühlenhaft wiederhole und erkläre, um nicht missverstanden zu werden. Bin Läufer und kein Geher - steht da häufig. Aber auch, dass nicht elitäres Überheben zugrunde liegt, sondern einzig die Vermeidung von Unzufriedenheit. „Lieber bleibe ich ein paar Sekunden zum Erholen stehen, als einen Meter zu gehen!“ Bernie hört es, ob er’s auch versteht … wer weiß? - Tatsächlich bietet mein „Alter Ego“ als laufender Bildreporter die Chance solche Verschnaufpausen quasi „laufzeit-neutral“ zu gestalten. Häufig verharre ich ein paar Momente, um Szenen eines Laufs verwacklungsfrei einzufangen. Wieso also nicht genau dann, wenn die Beine ein paar Sekunden Pause erflehen?

Am ersten Verpflegungspunkt verliere ich Bernie aus den Augen. Dahinter gewinnt das Asphaltsträßchen rasch an Steigung. Die wechselt mehrmals zwischen „geht so“ und heftig, sieht mich aber unablässig trabend. Derzeit und sicher noch eine ganze Weile verspüre ich keine Not. Wenn ich stehen bleibe, dann einzig um scharfe Bilder zu schießen. Bilder der atemberaubend schönen, bereits nach wenigen Höhenmetern weithin einsehbaren Arena des oberen Illertals. Kaum Sonne und trotzdem überaus reizvoll: Sonthofen im Talkessel, dahinter die Kulisse des Allgäuer Hochgebirges und zu meinen Füßen der wellig grüne Teppich ausgedehnter Wiesen. Alsbald passiere ich eine fotografisch elektrisierende Stelle des Kurses - allerdings nur, wenn die Sonne vom Himmel lacht. Dann verzaubert Gegenlicht die Szene, verleiht Landschaft und Umrissen der Läufer eine geheimnisvolle Aura. So auch heute: Just zur rechten Zeit reißen die Wolken auf, gönnen mir die Erneuerung vormaligen Fotoglücks …

Unablässig rinnt der Schweiß: Vom Sträßchen auf eine Wiese, von der Wiese auf einen wurzelbewehrten Pfad durch ein Waldstück. Plattgetretene Pfadspur in der Wiese und Waldboden triefen nur so vor Nässe. Wann hat es hier zuletzt geregnet? Vermutlich heute Nacht noch. Ich ahne stellenweise schwierige Wegverhältnisse voraus und soll Recht behalten … Vom Wald in die Wiese, von dort zurück aufs Asphaltband. Die Steigung ändert sich ständig, bestimmt meine Atemfrequenz. Doch einstweilen beschert mir der Hang keine Schwierigkeiten, weder meiner Ausdauer, noch der Achillessehne, deren Wohlverhalten ich ständig ängstlich belauere.

Es wird gebaut auf’m Berg. Neben bestehendem Hotelkomplex wachsen neue Gebäude empor. Zwei himmelwärts fingernde Baukräne verschandeln für Minuten die Aussicht. Dann wende ich der Baustelle den Rücken zu, habe weidende Rindviecher vor Augen und einen steilen, scheinbar nicht enden wollenden Aufschwung. Asphalt! Gottlob glatter Asphalt, der mich im Kampf gegen die Schwerkraft unterstützt. Was habe ich in diesem Jahr nicht schon alles an Höhen gemeistert, alpin und in deutschen Mittelgebirgen!? Und nun schnaufe ich diesen Berg hoch, als wär’s der erste in meinem Leben. Aber so war es schon immer: Jegliche Form der Ausdauer verliere ich um ein Vielfaches schneller, als sie mir unter unsäglichen Mühen zuwächst. Noch kurz vor granatenharten Saisonhöhepunkten, wie etwa dem „Spartathlon“ oder den „10 Marathons in 10 Tagen“, forderte ich meinem Körper Gewaltiges ab. „Wie kann er so was tun? Wie geht das? - Niemand zieht drei Wochen vor dem „Spartathlon“ einen 24h-Lauf durch!“ So stand es geschrieben und so las ich es in diversen ungläubigen Mienen. Doch der Erfolg gab mir stets Recht. Will ich am Tag X in Bestform starten, dann muss mein Tapering später und mit weniger Reduzierung einsetzen als andere Läufer das praktizieren.

Endlich flacht der Weg ein wenig ab und bringt mich nach etwa acht Kilometern zur zweiten Tränke. Drei Becher Wasser müssen rein! Der Schweißverlust war enorm, obschon die seit einiger Zeit wieder dichter geschlossene Wolkendecke kaum Sonnenstrahlen passieren ließ. Als ich wieder aufbreche narrt mich meine Erinnerung. Statt des erwarteten flacheren Abschnitts steigt das Asphaltband noch eine Weile an und geht dann sogar für ein paar hundert Meter in Gefälle über. Streckenänderung? In meiner Verwirrung drängt sich diese Schlussfolgerung auf, bis ich hinter einer Wegbiegung eine Alphütte ausmache und wenig später an ihr vorbei laufe: Hier war ich definitiv schon zweimal, ließ Roxi am Wassertrog vor der Hütte ihren Durst stillen.*

*) Tatsächlich wurde hier, unterhalb des „Ofterschwanger Horns“, irgendwann seit 2013 die Strecke geändert. Vormals umlief man die Kuppe auf der Nord- diesmal auf der Südseite.

Die Alphütte bewacht den Sattel zwischen „Ofterschwanger“ und „Sigiswanger Horn“, folglich steigt der Weg nun wieder an. Zudem mausert sich das Asphaltsträßchen binnen weniger Minuten und nach zwei Weidedurchlässen* zum alpinen, technisch anspruchsvollen Steig. Immer weiter aufwärts, für eine Weile im Wald, zwischen Steinen jedweder Größe und zahllosen Wurzeln. Hohe Tritte und nach ergiebigen Niederschlägen schmieriges Geläuf erschweren das Vorwärtskommen zusätzlich. Ich war auf den abrupt beginnenden Knochenbrecherpfad vorbereitet. Dass er sich derart lange hinzieht, war mir allerdings entfallen. Ich schufte und schwitze wie ein Berserker, bleibe mir aber treu und überwinde alle Hindernisse im Lauf- und Tippelschritt. Noch verfüge ich über ausreichend Kraft für diese Gangart … Wie lange noch?

*) Als „Weidedurchlass“ bezeichnet man die „Schnittstellen“ zwischen Viehweide und Wandergebiet oder auch zwischen benachbarten Weiden. Aufgabe: Menschen dürfen passieren, Viecher nicht. Zur Verwendung kommen verschiedenste Ausführungen, von einfachen hölzernen Konstruktionen, über metallene Drehkreuze bis hin zu kleinen Toren (siehe Bild).

Ruhigeres Fahrwasser jetzt, der Wald liegt hinter mir und für ein paar köstliche Minuten macht die Steigung eine Pause. „Schrittverkürzung“ lautet das Zauberwort. Schrittverkürzung, um am steilen Hang überhaupt noch irgendwie laufend vorwärts zu kommen. Schrittverkürzung auch jetzt, um wieder Atem zu schöpfen und Energie in den Beinmuskeln nachzuladen. Langsam normalisieren sich meine Körperparameter und ich nehme etwas Fahrt auf. Kurz nur, dann gewinnt der Steig neuerlich und rapide an Höhe. Ich nähere mich einer der wenigen üblen Passagen der Strecke. Zuletzt wahnsinnig steil auf grob zerklüftetem Untergrund - zumindest fische ich genau solche Bilder aus meinem Gedächtnis. Die Realität des Laufjahres 2017 belehrt mich jedoch eines Besseren: Flacher präsentiert sich der Weg zwar nicht, dafür aber bestens und wie es scheint erst kürzlich präpariert. Kein Geröll, keine Rinnen, stattdessen ein mit Holzeinfassungen stufig gestalteter, fest geschotterter Pfad, der sogar anhaltenden Regengüssen standhielt.

Neuerlich ein kurzes Wegstück zum Erholen. Bucklig zwar, aber ohne nennenswerte Steigung. Zum Erholen und Schauen, südwärts, wo sich die Gipfel des Allgäuer Hochgebirges zur imposanten, vielfach gezackten Skyline vereinigen. Unter grauer Wolkendecke fehlt dieser Aussicht das Berückende, der Glanz, den ich bereits zweimal von dieser Warte aus schauen durfte. Spektakulär bleibt das Panorama trotzdem … Wie gesagt: Ein kurzes Wegstück zum Verschnaufen, dann schicke ich mich in den nächsten, diesmal über längere Distanz brachial steilen Aufschwung. Die Dramaturgie des Kampfes entlang der Hörnerkette hat sich meinem Gedächtnis eingebrannt. Folglich bin ich weder überrascht, noch gestatte ich mir ein Stöhnen. Tippeln, Steppen auf den Fußballen, kaum Spannweite im Schritt und niedrige Trittfrequenz. Puls schnellt nach oben, Schweiß sprudelt aus allen Poren. Famose Fern- und Aussicht? - In diesen Minuten körperlicher Bedrängnis völlig einerlei. Zweimal stoppe ich dennoch kurz für Fotos, realisiere „laufzeitneutrale“ Verschnaufpausen, dann stehe ich vorm Gipfelkreuz des „Weiherkopfs“, dem mit 1.665 Metern höchsten Punkt dieses Trails.

Ich folge dem Beispiel anderer „Lauftouristen“ und verewige mich in Selfie-Manier vorm Bergpanorama. Die werte Leserschar möge mir verzeihen, wenn ich ihr meine verschwitzte, von der Kameralinse verzerrte „Rübe“ vorenthalte; Scham und Eitelkeit erzwingen solches Handeln. Ganz gewiss wird dieser herrliche Ort an Attraktivität gewinnen, sobald ich weg bin! „Weg“ bedeutet in diesem Fall den steilen und aus diesem Grund rutschigen Weg bergab zu nehmen. Wo vormals infolge Trockenheit loses Geröll die Sohlen ihrer Standfestigkeit beraubte, droht man heute auf schlüpfrigem Untergrund den Halt zu verlieren. Eine Vorausläuferin warnt mich gerade noch rechtzeitig, weswegen es mir gelingt einer der gefährlichsten Stellen auszuweichen. Dann Fotostopp auf halber Höhe, während von hinten eine weitere Amazone naht. „Soll ich ein Bild von dir machen?“ fragt sie, um im Nebensatz zu ergänzen, dass wir „schließlich nicht in Eile“ sind. Warum sagt sie das? Und für wen? Es klingt, als wolle sie sich selbst die Absolution für langsames Vorwärtskommen erteilen. Hatte sie mit mehr Tempo gerechnet, musste dann aber wegen schlechter Tagesform oder unerwarteter Schwere der Aufgabe kapitulieren?

Vor ein paar applaudieren Zuschauern gewinne ich wieder festen, sicheren Boden unter den Füßen. Neuerlich ein asphaltierter Wirtschaftsweg, der mich etwa einen Kilometer weit zwingt Höhe aufzugeben, um sie schlussendlich und mühsamst wieder zu erklettern. Zum Lohn gibt’s Getränke an einer weiteren Verpflegungsstelle. Mir bleibt keine andere Wahl als schluckweise zu trinken. Dazwischen Atem holen, nicht wie sonst üblich Becher um Becher einfach runterstürzen. Als sich meine Lunge vom Steilhang erholt hat, sind drei Becherinhalte in meinen Eingeweiden verschwunden. Also mache ich mich auf den Weg, um das letzte Joch zu „erstürmen“ …

Diesen Vorsatz ohne nasse Füße zu verwirklichen will mir nicht gelingen. Immer wieder muss ich schlammigen Kuhlen ausweichen, manchmal rinnt gar Wasser übern Pfad. Weiche Grassoden und rutschige Wegstücke prüfen meinen Gleichgewichtssinn, während ich langsam und unter wachsendem Krafteinsatz Höhe gewinne. Rindviecher auf Almwiesen bilden ein willkommenes Fotomotiv. Weniger beliebt sind sie bei Läufern, wenn sie die Trails mit ihren Klauen derart „durchpflügen“ wie auf diesem Abschnitt. Irgendwann gebe ich auf und latsche mitten durch die Pampe. Zumindest dort, wo der Brei nicht so hoch steht, dass er mir in die Schuhe laufen könnte … Fast bin ich dem Pfad dankbar als er an Steilheit zunimmt, denn merke: Im steilen Gelände fließt Wasser besser ab!

In zweierlei Hinsicht überrascht stehe ich schließlich am höchsten Punkt des Jochs, blicke zurück, fotografiere. Noch vor Halbstundenfrist drohte ein düsterer Himmel mit Wetterverschlechterung, nun dominiert in Richtung Nordwesten die Farbe Blau, von harmlosen Wolkenresten postkartenreif aufgehübscht. Überrascht bin ich auch, weil mich dieser Anstieg nicht ans Limit brachte. Das war beim letzten Mal anders. Vermutlich, weil ich mir heute meine Kräfte besser einteilte, als 2013. Damals wollte ich als „Solist“ - also ohne unsere Hündin Roxi - unbedingt unter fünf Stunden bleiben. Diese Marke liegt heute außer Reichweite. Bereits für die erst 17 Kilometer bis hier herauf zum Joch brauchte ich ziemlich genau zweieinhalb Stunden. Wollte ich die verbleibenden gut 25 km in weiteren zweieinhalb Stunden schaffen, müsste ich einen Sechserschnitt hinlegen. Das zu versuchen wäre vermessen, obschon die Restdistanz überwiegend bergab oder flach im Illertal zu überwinden ist. Realistisch betrachtet werde ich irgendwann zwischen 5:10 und 5:30 Stunden Laufzeit das Ziel erreichen.

Abwärts jetzt auf asphaltiertem Wanderweg. Asphaltierter Wanderweg??? Asphalt ist mir bekanntermaßen als Läufer willkommen. Aber nicht in dieser Umgebung und ganz sicher nicht auf einem Trail! Was für einen Sinn soll es haben Wanderwege zu asphaltieren? Damit man sich vom Parkplatz dort unten, 200 Meter tiefer gelegen, mit jeder Form berguntauglichen Schuhwerks in die Höhe schleppen kann? In der Absicht diese herrliche Bergwelt zu „nutzen“, ohne sich ihren Eigenheiten und ihrer Natur auch nur im Mindesten anzupassen und damit bewusst zu werden? Gibt es nicht schon genügend Bergbahnen, die reine Schautouristen und bequeme Zeitgenossen binnen Minuten in solche Höhen katapultieren? - Während der paar Minuten Schussfahrt genieße ich schöne Blicke hinüber zum „Hohen Ifen“ (2.230 m), einem der seltsamsten Alpengipfel, die ich kenne. Als flacher, lang gestreckter Tafelberg kehrt er mir seine nicht allzu hohen Felsabstürze zu, die so genannten „Gottesackerwände“. Das Plateau des Berges, den „Gottesacker“, vermag ich von meiner Warte aus nicht einzusehen.

Mein Tempo erhöht sich natürlich abwärts und auf sicherem Geläuf. Allerdings verfüge ich nicht über genügend „Schmalz“ in den Oberschenkeln, um nun völlig hemmungslos talwärts zu stürmen. Auch in Voraussicht auf den morgigen Tag, den Ines und ich zu einer Bergtour hier in den Allgäuer Bergen nutzen wollen, übe ich solchen Verzicht. Wiewohl ich inständig hoffe, mich auf der Reststrecke nicht völlig verausgaben zu müssen. Ein paar Körner werde ich heute Nachmittag noch brauchen, wenn wir mit gut gefüllten Wanderrucksäcken anderthalb Stunden zur Hütte aufsteigen, um die Nacht in den Bergen zu verbringen …

Auf dem Parkplatz vor der Grasgehrenhütte erwartet mich die nächste Tränke mit leckerem Kuchenbuffet. Im heftigen Bedauern diese Köstlichkeit wie üblich verschmähen zu müssen hätte ich fast die angebotenen Gels übersehen. Tatsächlich Gel! Mit sechs Gels brach ich heute früh auf und habe drei bereits verbraucht. Hocherfreut nütze ich die Gelegenheit und gönne mir zwei vom Veranstalter. Wasser hinterher und wieder los, stückweit noch bergab, alsbald die stark befahrene Riedbergpassstraße überquerend. Ab hier habe ich den Bergstock des „Beslers“ mit seinen Felsköpfen und grünen, von Nadelwald gegliederten Matten vor Augen. Um dieses Hindernis herum führt mich der weitere Weg, zunächst sanft abwärts auf einem Alphüttenzuweg, alsbald eine Almwiese in der Bergflanke querend und wieder hinan …

Der Waldrand markiert nicht nur den Übergang von Sonne nach Schatten, sondern auch von komfortabel laufend nach achtsam „trailend“. Links, rechts, auf und ab, ständig am Fuß des jäh aufragenden Berges. Zuletzt den Abstürzen des „Beslers“ auf einer vorgelagerten Felsrippe entkommend, unter steter Vorsicht auf gerölligem Pfad und bisweilen steil hinab. Unterdessen haben meine Oberschenkel die dauernde Bremsarbeit satt und meckern vehement … Vorbei an Wanderern und überholt von Mountainbikern betreten meine Füße nach zehn fordernden Minuten und fast 23 Kilometern wieder sicheren, glatt asphaltierten Boden.

Die nächsten, nach meiner Schätzung etwa sieben Kilometer versprechen rasches Vorwärtskommen: Ausschließlich Asphalt und überwiegend bergab. Zuversicht und Freude wachsen, immerhin habe ich die Anstiege bis auf einen Rest von vielleicht 200 Höhenmetern bereits überstanden. Außerdem nehme ich der seit dem Joch fast pausenlos scheinenden Sonne ein Versprechen für „mein Wetter“ ab: Warm, wärmer, gerne auch heiß.

Der asphaltierte, nur Anrainern motorisiert zugängliche Wirtschaftsweg erschließt eines der zahllosen, von Viehwirtschaft geprägten Allgäuer Hochtäler. Etwa einen Kilometer weit steigt die Straße noch sanft an, um dann in Höhe der nächsten Tränke unaufhaltsam und dauerhaft an Gefälle zu gewinnen. Jetzt sollte ich ins „Rollen“ kommen, mit zügigen, raumgreifenden Schritten meine Kraftreserven schonen. Doch ebendies will mir zunächst nicht gelingen. Ich trabe auf nicht beschreibbare Weise „eckig und unrund“ vor mich hin; merke, dass der „Ritt“ über Höhen und Trails meinen Beinen bereits arg zusetzte. Also „arbeite“ ich an meinem Laufstil, achte für eine Weile auf „formvollendete“, flüssige Schritte, komme dadurch ganz allmählich besser zurecht und nehme Fahrt auf …

Das fühlt sich nicht sonderlich gut an im „Gebein“, aber immer noch besser als das anfängliche „Krauchen“. Die Straße führt zunehmend steiler nach unten, entsprechend rasch arbeite ich die nächsten Kilometertafeln ab … 25, 26, 27. Kurz vorm steilsten und mit mehreren Serpentinen ausgebauten Abschnitt setze ich zum Überholen an, was bisher die Ausnahme war. Dann bin ich vorbei und werde von hinten mit Namen angesprochen. Wer ist das? Ich erkenne die Stimme nicht und achtete im Vorbeilaufen auch nicht auf das Konterfei*. Stumm und ohne mich umzudrehen danke ich mit Handzeichen für den Gruß. Wieso ich mich nicht umdrehe? - Geht nicht. Zu viel Widerstand. Indem ich für so eine simple, kameradschaftliche Geste nicht mehr genug Willen aufzubieten vermag, erkenne ich den inzwischen eingetretenen Grad an Erschöpfung und Abnutzung. Also gleich an der nächsten Verpflegungsstelle wieder ein Gel einwerfen und retten, was noch zu retten ist …

*) Im Ziel treffe ich den unerkannten Läufer wieder. Wahrlich kein Unbekannter, Wolfgang Bernath, einer der Autoren von marathon4you.

Bin nach (für meine Verhältnisse) furiosem Lauf unten, passiere die 30 km-Marke, stärke mich an der erhofften Tränke mit Gel und Wasser, trabe wieder an, bewältige für etwa einen Kilometer flaches, allenfalls minimal ansteigendes Terrain und habe ein Déjà-vu. Das meint nicht Strecke noch Bilder der Umgebung, denn die erlebe ich ganz bewusst zum dritten Mal. Das Gefühl totaler Schwäche in den Beinen glaube ich auf genau diesem Abschnitt schon einmal in derselben Weise gespürt zu haben. Als wäre alle Energie dort oben zwischen den Bergen geblieben. Und im übertragenen Sinn liegt darin wohl auch der eigentliche Grund für meine Hinfälligkeit. Was mir in Halbstundenfrist zwischen dort und hier „Pudding“ in den Beinen bescherte, war natürlich der Parforceritt ins Tal. Runterlaufen ist nur scheinbar weniger anstrengend und „vernichtend“ als schweißtreibend an Höhe zu gewinnen.

Apropos Höhe gewinnen: Einmal noch heftig und in Etappen bergauf. Zunächst hier im kalten Wald einen Wildbach querend, alsbald zwischen sonnenverwöhnten Wiesen, zuletzt fast meinen Laufwillen brechend steil und steiler einen Hohlweg gewinnend … Stute mit Fohlen in benachbarter Koppel kommen mir gerade recht. Fotostopp: Ein Bild vom entzückenden Pferdenachwuchs werde ich Ines als Gruß überbringen. Dann geht es wieder und ich schlüpfe in den Erlösung versprechenden Wald. Im Forst erwarten mich noch zwei Minuten Knochenarbeit auf steilem Trail, dann bin ich oben. Ab hier noch knapp 10 Kilometer und - meine Erinnerung malt es mir in rosigen Farben - ausschließlich abwärts, später flach!

Die Ortschaft Obermaiselstein gilt es zu queren und infolge lebhaften Ausflugsverkehrs am Sonntag zu überleben. Danach folge ich in schattigem Wald lange, sehr lange der „Weiler Ach“. Schon Flüsschen oder noch Bach? Immerhin rauscht das Gewässer vernehmlich, was mutmaßlich dem vielen Regen der letzten Zeit geschuldet sein dürfte. „Weiler Ach“ - der Bachname klingt fast wie „Weh und Ach“, was den zwischenzeitlichen Zustand meines „Laufapparats“ durchaus treffend beschreibt. Für eine Weile hefte mich an die Fersen eines Mitläufers. Der bewegt sich unübersehbar „eckig“, wird also kaum sein Tempo steigern. Gefangen im nicht mehr zu leugnenden Empfinden von Schwäche lasse ich mich gerne ein wenig „abschleppen“. Allerdings achte ich auf Abstand, um den Mitläufer nicht zu nerven, wie ich das als „Schleppender“ bereits mehrfach selbst erlebte.

Minimal abwärts - wie könnte der Bach sonst fließen? -, auch wenn es sich nicht so anfühlt. Ein Kilometer, zwei, der Weg zieht sich, scheinbar bis in alle Ewigkeit … Vom Hosenbund an abwärts jault alles, ohne dass ich einzelne Quälgeister benennen könnte. So fühlt es sich halt an, wenn du dir nach mangelhaftem Training ausgerechnet einen Bergmarathon aussuchst! In dieser Hinsicht erfüllt sich meine Prognose. Der befürchtete Aufschrei der Achillessehne blieb und bleibt dagegen aus. Immer wieder einmal zickte sie bergauf, beruhigte sich allerdings wieder. Dem Irrglauben „wundersamer Übernachtheilung“ hänge ich längst nicht mehr an. Was sich heute einmal mehr bewahrheitet, ist die Kraft der Gedanken: Wunsch und entschlossener Wille eine lange Wettkampfdistanz zu wagen verwiesen orthopädische Beschwerden noch meist in ihre Schranken - weil nicht sein kann, was nicht sein darf!

Noch fünf Kilometer. Uferwechsel, drei Bachkilometer vorbei und kein Ende. Traben und Aushalten. Aushalten und Traben. Dann - endlich! - kommt das Ende dieser Passage in Sicht - zunächst eine Unterführung der Bundesstraße nach Oberstdorf, Minuten später der Illerdamm. Es gäbe diverse hübsche Ansichten mit Augen oder Kamera entlang der Iller einzufangen, so sie meine Aufmerksamkeit noch gewinnen könnten. Tatsächlich interessiert mich jetzt nur noch eins: Meter um Meter hinter mich bringen, Schritt um Schritt dem Ziel zustreben, so bald wie möglich das jetzt heftige Leiden beenden!

Immerhin vermag ich mein Tempo zu halten. Manch anderem geht es schlechter als mir. Zumindest unterstelle ich das mehreren überholten Mitläufern. Vielleicht vermögen sie auch nicht mit solcher Inbrunst zu leiden wie ich. Wahrscheinlich war es ihnen bisher nicht vergönnt die Disziplin „Schwäche und Schmerzen ertragen“ so oft und vor allem so entsetzlich lange wie ich zu üben. Ein paar solcher Situationen der letzten Jahre huschen durchs Oberstübchen. Dazwischen Bilder von außen, vom Fluss, vom Damm, von bunten, erschöpften Gestalten. Bin dankbar für jede Ablenkung. Und immer wieder denke ich in „Noch-Distanzen“: Noch drei Kilometer, jetzt noch 2,4 … Nach quälend langen Minuten die letzten 1.000 Meter. Blickverbindung nun zum Ziel vorm Schwimmbad in Sonthofen. Countdown der eigenen Schritte, entsetzlich langsames Schrumpfen der Distanz. Wehe Füße. Einerlei, ich nehme es kaum noch wahr. Auf den letzten vielleicht zweihundert Metern werde ich schneller. Warum? Was weiß ich? Wahrscheinlich automatisches, dem nahen Laufende geschuldetes Verhalten, denn ein Zeitziel habe ich nicht. Noch ein Schlenker vor der Zielgasse, dann schlussendlich und glücklich, nach langen 5:19:12 Stunden, durchs Marathontor.

Ergebnis:

Kraxi: 3:40:34 h, Platz 9 (!) von 379, Platz 2 in M40 von 37 Startern

Udo: 5:19:12 h, Platz 255 von 379, Platz 6 in M60 von 20 Startern

 

Fazit zur Veranstaltung

Siehe meine Kommentare in den Laufberichten der Jahre 2012 und 2013.

 

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