Donnerstag, 25. Mai 2017, Vatertag

Je weiter man läuft, umso kleiner wird die Welt  -  Über-Drüber-Ultramarathon 2017

8:25 Uhr: Wie lange müsste ich leben, wie viele Wettkämpfe bestreiten, um nicht mehr überrascht zu werden? Und dann noch auf so sympathisch fürsorgliche Weise: Bevor er die Startnummer „8“ abhakt, erkundigt sich der Offizielle, ob ich einen Chip am Fuß trage. Anscheinend irritiert ihn, dass der Transponder in der Schuhverschnürung fehlt. Als ich auf das Klettband am Knöchel deute setzt er zufrieden einen Haken hinter die „8“. Ein Mitkämpfer fehlt noch, wird mit lauter Stimme ausgerufen. Ach ja, genau! Wo ist der rothaarige Mann, mit dem ich beim Frühstück saß? Sekunden später eilt er von irgendwoher herbei und damit ist das Feld komplett: 3 Frauen und 14 Männer. Schnuckelig klein. Trotz Überschaubarkeit des Feldes und obwohl ich mich weit abseits heimatlicher Kreise bewege, kenne ich zwei Läufer. Nicht nur das: Zwei, drei weitere Gesichter - da bin ich halbwegs sicher - begegneten mir bereits irgendwo im Ultralaufkosmos. Die beiden Bekannten traf ich vordem beim „Sommeralm Marathon“ in der Steiermark, wo ich - um dem Zufall ein kleines Krönchen aufzusetzen - einen der beiden am nächsten Wochenende wieder sehen werde.

Paragraph eins der Ultralaufgesetze: Je weiter man läuft, umso kleiner wird die Welt …

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Ultrawettkampf an einem Donnerstag, am Himmelfahrts- und Vatertag? Da darf Udo keinesfalls fehlen, zumal er dafür nur etwa drei Stunden weit ins Nachbarland, nach Oberösterreich, fahren muss. Ein-, zwei- oder dreimal Halbmarathon hat Kirchdorf an der Krems zu bieten. „Über-Drüber-Ultramarathon“ - so die Bezeichnung für insgesamt 63,3 km Distanz - klingt recht beschwingt, wie dem Motto einer fröhlichen Tanzveranstaltung nachempfunden. In Wahrheit ist „Über-Drüber“ Programm und Warnung zugleich, steht für 650 Höhenmeter pro Runde!

Nach der grässlich-gefährlichen „Bizau-Quälerei“ vorletztes Wochenende geben mir insgesamt etwa 2.000 Höhenmeter allerdings nicht einmal Anlass zu Besorgnis. Und „80 Prozent Asphalt“ klingt in Straßenläuferohren geradezu nach Schlaraffenland. Entsprechend gelöst und von Vorfreude beseelt sehe ich dem Lauf entgegen. Was nicht heißen soll, dass ich die Aufgabe unterschätze. Ganz und gar nicht. Vor allem nicht nach der strapaziösenTrainingsserie, die ich nach dem „Bizau Ultra Trail“ auflegte: Sieben Tage ohne Laufpause, mit täglich gesteigertem Pensum und in - für mich - flottem Tempo:

Von Dienstag bis Montag: 10 + 15 + 20 + 25 + 30 + 30 + 10 = 140 km

Die 7-Tage-Trainingsserie steht im Zusammenhang mit meinem Saisonhöhepunkt „10 Marathons in 10 Tagen“ Anfang Juli. Nach dem kritischen Einstieg ins Laufjahr 2017 wollte ich mir ausreichend körperliche Stabilität attestieren, um mehrere Tage hintereinander lange Distanzen ohne „orthopädischen Kollaps“ bewältigen zu können.

Am letzten Tag der Trainingswoche, dem vergangenen Montag, fühlte ich mich derart „ausgelutscht“, dass ich mir vor dem „Über-Drüber“ erstmal zwei Ruhetage verordnete. Einschließlich geplantem „Regensburg Marathon“ am kommenden Sonntag werde ich die vorgesehene Wochenkilometerleistung trotzdem erreichen. Die 63 bergigen Kilometer heute dienen im Grunde zwei Zwecken: Als harte, lange Trainingseinheit sollen sie meine Ausdauerbasis verbreitern, zugleich überprüfen, inwieweit mein Körper die 7-Tage-Belastung wegstecken konnte.

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„Durchgecheckt“ stehen wir im Halbkreis und lassen uns kurz vom Vorausradfahrer - zugleich Streckenmarkierer - einweisen. Er beschränkt sich auf die Art der Wegweisung und den Hinweis, dass der als „Steilanstieg“ in der Streckenbeschreibung ausgewiesene Trailabschnitt infolge abendlichen Gewitterregens in schlechter Verfassung sein könnte. Ich fokussiere gedanklich auf die „80 Prozent Asphalt“ und lasse mich nicht erschüttern. In meinem Läuferdasein nach „Bizau“ wird mich so rasch nichts „Trailiges“ mehr aus der Ruhe bringen. „Und beschwert euch bei mir, falls ihr euch verlauft!“ feixt der Radler abschließend - Vor der Probe aufs Laufexempel weiß man den Humorgehalt einer solchen Bemerkung natürlich nicht einzuschätzen. Aber was soll auf ganz überwiegend asphaltierten Wegen schon groß schiefgehen?

8:30 Uhr: Countdown und Startschuss. In den Häusern um den Rathausplatz schläft ab diesem Moment niemand mehr! 34 Beine setzen sich in Bewegung und auf den ersten Metern kommt es mir vor, als wollten wir uns gegenseitig in Sachen Tempozurückhaltung überbieten. Relativ geschlossen und - zu früher Stunde für einen Feiertag - großenteils unbemerkt traben wir durch Kirchdorf. Gesprächsfetzen fliegen im Feld hin und her, bis es sich nach ein paar Minuten auseinander zu ziehen beginnt. Meine Stimmung würde ich als „vorsichtig aber verlässlich optimistisch“ bezeichnen. Dennoch liegt mir gegenwärtig nichts ferner als „verbale Betätigung“. Beim Einlaufen beschleicht mich ohnehin stets ein Gefühl, als dürfte ich das Anlaufen der alten Aggregate nicht noch zusätzlich erschweren. Etwa durch Atemvergeudung infolge überflüssigen Plapperns …

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Wie üblich wusste ich vorab herzlich wenig von der Strecke: 80 Prozent Asphalt und rund 650 Höhenmeter entlang der halbmarathon-langen Runde. Beim Frühstück erfuhr ich darüber hinaus vom Trail-Charakter des „Steilanstieges“. Damit du, lieber Leser, dich nicht zwischen Erzählzeilen verirrst, will ich das „Drehbuch“ des Kurses voranstellen, bevor ich es nach und nach in Szenen umsetze: Wirklich ebene Abschnitte kommen nicht vor. Entweder läuft man auf- oder abwärts, durchaus aber auch einige (verteilte) Kilometer in geringem bzw. kaum spürbarem Profil. Drei Anstiege haben es in sich. Auf den ersten beiden hat man Asphalt unter den Füßen. Der dritte, der so genannte „Steilanstieg“, erstreckt sich über einen Trail.

1. Anstieg: Km 0,9 bis 2,2 = 1,3 km; Steigung durchschnittlich ~ 9 %

2. Anstieg: Km 5 bis 9,6 = 4,6 (!) Kilometer; Steigung durchschnittlich ~ 7 %

3. Anstieg: Km 12,8 bis 13,7 = 900 m; Steigung durchschnittlich ~ 14,5 % (Trail)

Während positive Höhenmeter vorwiegend „Ausdauer-Körner“ verzehren, verschleißen Abstiege die exzentrischen Kraftvorräte, leisten so einem etwaigen Muskelkater Vorschub. Vor Letzterem fühle ich mich nach den 3.000 Höhenmetern in „Bizau“ vor anderthalb Wochen gefeit, wenngleich ich einen ziemlichen Teil davon gehend im Abstieg überwand. Flott auf festem Untergrund abwärts laufen ist dann noch mal eine andere Hausnummer. In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist der lange „Zielschuss“ des Über-Drüber-Kurses: Er beginnt im Grunde im Zenit des Trail-Steilanstiegs und erstreckt sich über 7,3 km (abzüglich eines harmlosen, etwa einen Kilometer langen Gegenanstieges). Im „Zielschuss“ müssen die Beinmuskeln das Gewicht auf bis zu 20% steilem Gefälle abfangen …

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Ein knapper, einigermaßen flacher Kilometer soll heute zum Einlaufen reichen, dann wendet sich das Sträßchen am Ortsausgang von Kirchdorf bergwärts. Spontan überfällt mich ein Gefühl als hätte ich meinem ganzen Leben noch keinen Meter Steigung im Laufschritt genommen. Ich übe mich in Geduld mit meinem Körper. Früher Morgen - früh zumindest für mich, im Hinblick auf Ausdauerleistungen - und noch lange nicht eingelaufen. Spontan der Wunsch zu gehen, was ich jedoch als üblen Sündenfall empfände. Nach dem Bergwandertag in „Bizau“ verzehre ich mich geradezu nach einem mit reichlich Höhenmetern gespickten Hundert-Prozent-Lauferlebnis.

Alles laufen, nicht gehen! Die anfängliche Quälerei wird mir alsbald versüßt. Einer der jüngeren Mitläufer „kommt längsseits“ und bedankt sich für die - so wörtlich - „tolle Internetseite“, auf der er schon vieles gelesen habe. Unter anderem auch mein Konzept zur Erstellung von Ultratrainingsplänen. „Gesprächsfinal“ jammere ich noch ein klein wenig an ihn hin - „Ich hoffe, dass mein Motor bald anspringt!?“ -, spüre die Anstrengung aber längst nicht mehr so intensiv. Woran das wohl liegen mag?

Dankbar registriere ich glatten Asphalt unter den Füßen und finde alsbald einen Laufrhythmus. Langsam aber stetig bergan. Die Steigung zieht sich. Auf endlich leistungsbereiten und frischen Beinen macht mir das nichts aus. Es bleibt sogar genügend Puste und Kraft für Fotos. Mit jedem gewonnenen Höhenmeter überblicke ich mehr vom Kremstal und feiere in Gedanken den herrlich grünen Rundumblick. Am frühen Morgen hingen noch Reste von Regenwolken zwischen den Bergen und der Himmel lockerte nur zögerlich auf. Inzwischen scheint dann und wann sogar die Sonne. Ihre Strahlen plus immerhin etwa 15°C warme Luft plus Steigung treiben mir erste Schweißperlen auf die Stirn. Das Wetterglück scheint uns - oder zumindest mir, andere mögen’s eher kühl - heute hold zu sein.

Nach gut einem, ermutigend locker ertrabten Steigungskilometer endet die Straße: Sackgasse. Asphalt geht in einen schmalen Wanderweg über, der sich in launigem Auf und Ab - mehrheitlich „ab“ - durch Wald und über eine Wiese zieht. Kurze Trailpassagen wechseln sich mit Wirtschaftswegen ab. Wo „trailig“, verlangt der Pfad Konzentration, will ich nicht über diverse Wurzeln stolpern. Alles in allem verdient sich der Streckenabschnitt jedoch das Prädikat „unterhaltsam“ eher, als „risikoreich“.

Ich bin jetzt auf dem „Panoramaweg“ unterwegs, eine Bezeichnung, die überwiegend gelogen scheint. Auf grünem, von Bäumen umstandenem Anger und mitten im Wald gibt’s nun mal kein „Panorama“. Nur zwischendrin, mal für ’ne Minute streift der Blick übers Tal und weit hinaus ins oberösterreichische Voralpenland. Die nächste Ortschaft - Schlierbach - empfängt uns mit festem Straßenbelag, auf dem wir weiter talwärts streben, bis schließlich eine erste Labe - so heißen die Verpflegungsstationen in Österreich - den Lauf für ein paar Sekunden unterbricht. Mit Blick zum Himmel unterstelle ich ab den späteren Vormittagsstunden schweißtreibende Temperaturen und trinke vorsorglich „über den Durst“. Denn: Zu viel könnte ich entsorgen, zu wenig leider nicht mehr kompensieren …

Seit Minuten habe ich einen Begleiter. Im Grunde meines Herzens bin ich ein redefauler Mensch, vor allem während ich laufe. Das kann sich jedoch in Abhängigkeit von Stimmungslage und Thema von jetzt auf gleich radikal ändern. Meine Stimmung scheint prächtig und das Thema „schwatzfördernd“. Jedenfalls rede ich wie ein Wasserfall, wenn ich nicht gerade zuhöre. Wir tauschen uns über Lauferlebnisse aus. Anfänglich. Wer, was, wann und wie. Unterdessen biegen wir westwärts ab und die Straße steigt wieder an. „Harzquerung“ und „Rennsteig“ werden durchgekaut und natürlich der „Spartathlon“. Irgendwann, meist recht bald, lande ich in jedem Läufergespräch beim „Spartathlon“. Zunächst war ich verwundert, als ich mir in dieser Hinsicht auf die Schliche kam. Seit der Erkenntnis, welch überragenden Stellenwert ich dem „Spartathlon“ in meinem läuferischen Werdegang beimesse, nicht mehr: Ein mehrkarätiger Solitär, dessen Glanz die vielen anderen funkelnden Diamanten überstrahlt …

Seit einiger Zeit kennt das schmale Sträßchen vertikal nur eine Orientierung: Rauf. Wie es mir gelingt munter zu traben und dabei noch Luft zum Quatschen abzuzweigen, wird mir ein paar Stunden später Rätsel aufgeben. Die Route schickt uns durch eine reizvolle Landschaft: Wiesen und Wald im Wechsel. Auch die Dramaturgie am Himmel hinterlässt Eindruck: Quellende Wolken, mal düster drohend, bald harmlos als Schäfchen, dazwischen große, blaue Flächen. Und Sonne. Immer wieder Sonne.

Unser Gespräch kommt nicht zum Erliegen. Mittlerweile tauschen wir nicht nur Erinnerungen und Absichten, sondern auch Erfahrungen und Einstellungen aus. Jeder Schritt bringt uns ein paar Zentimeter höher und - nach einer Kehre - vor die nächste Labe. Wieder trinke ich auf Vorrat. Gleich hinter der Labe die nächste Kehre. Wir nehmen sie schwatzend und - was mich angeht - erstaunlich leichten Fußes. Vermutlich ist das auch verbaler Ablenkung geschuldet. Wer redet, muss sich überlegen, was er sagt. Und Nachdenken blockiert einen Teil der Wahrnehmung. Egal, ob es um innere oder äußere Eindrücke geht.

Je höher wir kommen, umso mehr erinnert mich die Landschaft an den „Sommeralm Marathon“. Weite Grasflächen, immer wieder unterbrochen von Waldstreifen, da und dort ein Wohnhaus oder ein Hof. Obwohl meine Begeisterung wächst, versäume ich mehrmals Gesehenes mit der Digicam einzufangen. Auch eine Folge des Dialogs. Wenn mir die verpassten Fotogelegenheiten in den Sinn kommen, tröste ich mich mit den bevorstehenden Runden zwei und drei …

„Der Anstieg zieht sich ganz schön in die Länge!“ - Halb Erstaunen, halb die nicht mehr zu verdrängende Empfindung angestrengter Beine lässt mich die Tatsache aussprechen. Die im Kilometerabstand aufgestellten Tafeln belegen meine Aussage. Unterdessen müssen wir drei, vier Kilometer Steigung hinter uns haben. Dass wir ziemlich an Höhe gewonnen haben, beweist auch die inzwischen grandiose Fernsicht über einen Flickenteppich aus Hell- und Dunkelgrün in jeder Schattierung. Wiesen, Felder und Wald so weit das Auge reicht …

Ein letzter, nun sanfterer Anstieg, dann stehen wir wieder vor einer Verpflegungsstelle. Nach dem extrem langen Anstieg wundere ich mich nicht mehr, wieso auf relativ kurzem Abschnitt von vielleicht sechs Kilometern drei Verpflegungspunkte eingerichtet wurden. - Erholsam und kurzweilig voran, hoch und runter, im Schnitt nur wenig Höhe einbüßend. Ich kann mich an der Landschaft kaum sattsehen und genieße es. Genieße einen Lauf, bei dem ich über Minuten sorglos einen Fuß vor den anderen setzen, mich unterhalten und die Umgebung betrachten kann. Einzig auf den Verkehr müssen wir achten. Hier oben hat er zugenommen, was der vorgerückten Uhrzeit und/oder dem Panorama geschuldet sein kann. In abschüssiger Rechtskurve röhrt eine Kolonne Motorräder vorbei. Fünf, … zehn, … fünfzehn? Wie immer, wenn ich laufe und Bikes vorbeizischen, fühle ich mich unwohl und bedroht. Vor allem, wenn sie mich außerorts auf der falschen, der rechten Straßenseite joggend überholen. Nachdem das letzte Blubbern der schweren Maschinen verklungen ist, schlage ich einen Wechsel der Straßenseite vor.

Links voraus erkennt man seit einiger Zeit einen bewaldeten Höhenrücken. Mein Begleiter, der die Strecke vorab genauer studierte, hegt keinen Zweifel den angedrohten Trail-Steilanstieg vor sich zu haben. Beeindruckt mich nicht, weil der „Buckel“ aus gegenwärtiger Entfernung und Position kein bisschen imposant aussieht. Meine Erfahrung könnte mich darüber belehren, wie sehr einen perspektivische Verharmlosungen des Geländes foppen können. Ich befrage sie aber nicht, meine Erfahrungen, nehme die Täuschung gerne für bare Münze. Ändern würde die Wahrheit ohnehin nichts.

Die Wahrheit beginnt hinter einem Abzweig. „Da runter gibt’s eine Abkürzung!“ ruft mein Mitläufer dem Streckenposten lachend zu und deutet mit dem Arm in Richtung der ab hier talwärts weiterführenden Straße. - „Die lassen wir heute weg!“ entgegnet der amüsierte Helfer gleichermaßen humorvoll. Als bisher steilstes Stück Asphalt setzt sich die „Wahrheit“ hinter der Abbiegung fort. „Ich werd’ dann mal gehen!“ verkündet mein Begleiter, worauf ich mit einem entschlossenen „Und ich versuch zu laufen!“ antworte. - Unser gemeinsamer Weg war lang genug, ihm meine Einstellung zum Laufsport zu verdeutlichen, das immerwährende Bedürfnis möglichst jeden Meter einer Strecke zu laufen. Ich muss also nicht befürchten als Blödmann abgestempelt zu werden.

Steiler Asphalt, zweihundert Meter, verkürzte Tippelschritte, kein Problem. Wie das in Runde 2 und 3 aussehen wird, darüber denke ich derzeit lieber nicht nach. Ende Asphalt, Beginn des Wanderpfades. Der ist mal mehr, mal weniger steil. Das „Mehr“ überwiegt jedoch. Beinahe ohne Verzug lässt der beginnende Stepptanz alle Körperfunktionen auf Volllast schnellen. Steinig ist der Pfad, dann wieder von Gras überwuchert, bisweilen erdig-schmierig, vom Gewitterregen aufgeweicht und irgendwann verlegt mir sogar eine matschige Kuhle den Weg. Ich umgehe - genauer: umtippele - sie am erhöhten Wegrand, zwischen dort wachsenden Büschen und Bäumen. Zwei-, dreimal verharre ich am Hang für Fotos. Und, um frustriert die Ineffizienz meiner Aufwärtsbewegung einzusehen. Der gewaltige Kraftaufwand verschafft mir nur ein paar Meter Vorsprung auf den gehenden Mitläufer …

Mehrmals hoffe ich auf den höchsten Punkt hinter einer Geländekante, nur um mich der nächsten gegenüber zu sehen, sobald der Absatz erreicht ist. Wie hoch und wie weit? Schlecht zu schätzen unter solchen Bedingungen. Irgendwann stehe ich dann doch auf dem höchsten Plateau, zugleich Kehre eines Waldweges. Dem folgt die Strecke nicht, taucht dafür gleich wieder auf schmalem Trail talwärts zwischen Bäumen ab. Vorsicht! Schmieriges Gefälle! Feuchte Steine, Erde, Gras und später auch Wurzeln. Die Sohlen greifen, jeder meiner hochkonzentrierten Schritte sitzt. Drei-, vierhundert Meter, dann entkomme ich dem Trail auf ein Sträßchen.

Trink- und Essbares belohnt den Läufer an Labe Nummer vier, alsbald nachdem er den trailigen Buckel besiegte. Ich greife mir ein Gel vom Büffet, bekämpfe aufkeimenden Durst mit Iso und verabschiede ich mich anschließend salopp von den beiden älteren Herren hinterm Tisch: „Danke und bis nachher!“

Eingefriedete Wiesen, ein warnend tickendes Weidezaungerät und ein gewaltiger Trecker samt monumentalem, voll beladenem Langholzanhänger, der mich auf engem Sträßchen in rücksichtsvollem Schneckentempo überholt, offenbaren die Nutzung der Umgebung. Hier oben dominieren Vieh- und Forstwirtschaft, auch wenn ich keine Kühe, noch andere Weidetiere entdecke. Als kilometerweit geschwungenes „S“ erschließt der Weg immer mehr einer herrlich ausladenden Mulde. Blumenwiesen säumen das Sträßchen, hinter denen sich von Wald gekrönte Hügel staffeln. Zu meiner Rechten erhebt sich ein Wiesenhang, auf dessen Grat einzeln stehende (Obst?) Bäume einen malerischen Kontrast vorm Weiß-Blau des Himmels bilden. Und das Beste: Ich kann laufen und dabei schauen. Muss nicht fürchten jeder Schritt in prächtiger Kulisse könnte mein letzter sein, sollte ich mich ablenken lassen …

Ein paar Höhenmeter noch, dann ist das Joch der Talmulde bezwungen. Steil bergab jetzt. Sehr steil, aber gleichermaßen problemlos auf glatter Straße. Zwei weniger abschüssige Kurven später offeriert der Kurs neuerlich einen fantastischen Ausblick. Erst beim zweiten oder dritten Hinsehen fällt mir die gut erhaltene Burg auf einem kleinen Felsplateau ins Auge. Wehrhaft überragen ihre Mauern die steil abfallende Umgebung. Auf dem nächsten Kilometer verliere ich sie jeweils nur kurz aus den Augen. Um den spitzwinkligen Abzweig der Strecke nicht zu verpassen und wenn dichter Wald die Sicht verwehrt.

Ende Asphalt, weiter auf zunehmend holprigem Geläuf. Wechselnde, mit einfachen Worten nicht zu beschreibende Beschaffenheiten des Weges. Alles dabei: Erde, Gras, Steine, Geröll, Waldboden, Furchen, Querrinnen. Mal flacher, dann wieder abschüssiger, jedoch unausgesetzt hinab. Vereinzelt begegnen mir Wanderer, Mitläufer kann ich weder optisch noch akustisch ausmachen. Vor sehr spät einsehbarem, „sausteilem“ Hohlweg steht eine Warntafel für Mountainbiker. Auf klatschnassem, möglicherweise rutschigem Untergrund nehme ich mir die auch als Fußgänger zu Herzen! Alsbald wieder auf Asphalt und zuletzt auch in moderaterem Gefälle.

Der unverkennbare Geruch zieht bereits seit einigen Minuten durch meine Nase. Nunmehr so intensiv, dass kein Zweifel mehr möglich ist. Ein ausgedehnter Teppich aus blühendem Bärlauch säumt den Weg, nötigt mich zu einem Schnappschuss. Nach kurzem Stopp vernehme ich Schrittgeräusche hinter mir, die ich meinem einstigen Mitläufer zuschreibe. Vermutlich wird er bald zu mir aufschließen.

Noch zwei Kilometer bis ins Zwischenziel. Manchmal gibt der am Hang verlaufende Waldweg den Blick ins Tal frei, dann erkennt man bereits die Häuser von Kirchdorf links voraus. Eine kurze Erhebung will genommen werden, dann wieder leicht abschüssig und zurück in dichten, kühlen Wald. Der Vorausradler kommt mir entgegen. Warum nicht mal mit Worten den Ehrenamtlichen belohnen? - „Die Strecke ist super markiert! Da kann man sich gar nicht verlaufen!“

Der Waldrand bleibt zurück, ich passiere die Ortstafel von Kirchdorf an der Krems. Nun innerstädtisch rasant bergab. Nach nunmehr über 20 Kilometern spüre ich einen gewissen Grad der Abnutzung. Welcher Teil davon geht zu Lasten der langen, ruppigen Schussfahrt seit dem Joch und was muss ich aufs Konto vorzeitiger Ermüdung buchen?

Einmündende Wohnstraßen kreuzend, an einer Parkanlage entlang, auf einen Schulkomplex zu und zuletzt durch die heute komplett gesperrte Innenstadt. Auf den letzten Metern höre ich meinen Namen und für welchen Verein ich laufe. Unerwartet viele Zuschauer applaudieren, was mich wieder einmal daran erinnert, wo ich bin. Im sportverrückten Österreich genießen auch Läufer mehr Aufmerksamkeit als zu Hause.

2:20 Stunden brauchte ich für diesen ersten Umlauf. Damit steht fest, dass ich die Aufgabe erst nach mehr als sieben Stunden werde abschließen können. Die Pace der Auftaktrunde zu wiederholen gilt mir als aussichtslos. Vermutlich war ich für meine derzeitigen Verhältnisse - nicht zuletzt mangels fehlender Regeneration - zu schnell unterwegs.

Runde zwei

Gleich am ersten langen Berg bestraft mich mein Körper für das anmaßend hohe Anfangstempo mit schweren, müden Beinen. Dennoch trabe ich unverdrossen optimistisch empor. Keine Läuferseele vor oder hinter mir, wovon ich mich am Ende einer längeren Geraden durch kurze Blickwendung überzeuge. Die Sonne lässt sich sehen. Obschon in kühler Luft unterwegs, heizt sie mir am Berg gewaltig ein. Ende Asphalt, kurzer und kurzweiliger Trail über Wiese und durch Wald, nun wieder abwärts und bald wieder auf die Sträßchen der nächsten Ortschaft.

Irgendwo auf diesem Abschnitt zischt eine laufende Rakete vorbei. Ich überschlage kurz die Uhrzeit und vermute, dass die Halbmarathon- und Marathonläufer kurz nach mir in Kirchdorf auf ihre Runde (-n) entsandt wurden. Schon vor dem zweiten, langen Anstieg überholen die nächsten schnellen Läufer. Normalerweise weckt das Vorbeipreschen ausgeruhter Kämpfer eher unangenehme Gefühle. Heute freue ich mich darüber, nehme es als Versprechen auf ein paar hübsche, mit Läufern dekorierte Aufnahmen.

Zum zweiten Mal nehme ich den superlangen Anstieg in Angriff und merke mir diesmal, dass er bei Kilometer „5“ beginnt. Verstohlen und aus dem Augenwinkel peilt so mancher Überholer meine Startnummer an; will an der Farbe ermessen, für welchen Grad der Quälerei ich mich entschied. Nicht selten wird mir mit dürren Worten oder knapper Geste eines hochgereckten Daumens - so es gerade an Puste fehlt - Zuspruch zuteil. Ich geb’s nicht gerne zu, aber mit jedem eroberten Höhenmeter habe ich Ansporn nötiger. Wie hemmungslos ich auf Runde eins überzog wird mit jedem Schritt klarer. Natürlich war das zu hohe Tempo auch dem ausufernden Dialog geschuldet. So lange ich quatsche kann ich mich nicht auf anderes konzentrieren, schon gar nicht auf leise Körpersignale infolge zu hohen Anfangstempos. Als Entschuldigung hat das keinen Bestand, schließlich laufe ich nicht erst seit gestern Ultras. Es war mir schlicht egal. Heute ist einer der wunderbaren (Lauf-) Tage, an denen mich pure Sorglosigkeit regiert. Weil ich spüre, dass nichts schiefgehen wird. Irgendwie wird’s schon gehen!

Selbstverständlich „geht es“, allerdings schleppend und unter erheblichem Wasserverlust. Nach dem miesen Frühjahr bin ich meiner strahlenden Freundin in glühender Liebe zugetan, wenn sie mir wieder und wieder ihr gleißendes Antlitz zuwendet. Doch leider bringt einen gerade die feurigste Geliebte als erste zur Strecke ... Becherweise Flüssiges an der Labe hinter der Kehre. Davor und danach reihenweise Fotos, denn endlich beleben Läufer die sonnige Szene. Weiter aufwärts traben. Traben. Traben. Als ich schließlich den vorläufigen Zenit erreiche, lese ich viereinhalb Kilometer mehr ab als am Fuß des Berges. Viereinhalb Kilometer Steigung und das zum zweiten Mal. Kein Wunder, dass ich mich von derweil über 30 Kilometern heftig „angefasst“ fühle …

Auch wenn er mir längst meine Grenzen aufzeigt, genieße ich den zweiten Umlauf. Schufte und schaue, erfreue mich an sattgrünen, mit Sonne getränkten Aus- und Fernsichten. Dass meine Achillessehne meckert - keine Ahnung seit wann - ertrage gleichermaßen schicksalsergeben wie die müden Haxen. So die Sehne der Dramaturgie der letzten längeren Läufe folgt, wird sie ihren Protest ohnehin irgendwann aufgeben.

„Trailiger Steilanstieg“ die Zweite: Inmitten einer lockeren Folge aus Halb- und Vollmarathonis erkämpfe ich mir den holprigen, grasigen, steinigen, nun noch rutschigeren Hang ein zweites Mal. Ich tippele, die anderen gehen. Einen Temponachteil erleiden sie dadurch nicht. Es geht mir aber auch nicht um Schnelligkeit, will nur mein „Gelübde“ erfüllen. Diesmal wähle ich den Weg mitten durch die matschige Kuhle, um mir den höheren, also anstrengenderen Randweg zu ersparen. Schon drei schmatzende Schritte weiter, mit Blick auf meine „eingesauten“ Schuhe, bereue ich den Fehler. Entkomme der Suhle, tippele hart am Limit, schnaufe wie ein Walross, vergieße Ströme von Schweiß. Sturheit hat ihren Preis. Das war schon immer so. Oben angekommen darf ich immerhin für mich in Anspruch nehmen einmal mehr meine Vorgabe erfüllt zu haben: Kein Schritt gegangen!

Abwärts, vorsichtig tastend, unterstellend, dass so viele Halb- und Vollmarathonfüße die Spur wohl kaum verfestigten. Schließlich auf die Straße und auf die nächste Labe zu. Dabei werde ich Zeuge einer munteren Plauderei hinter meinem Rücken. Der „Eine“ erzählt dem „Anderen“ von erstaunlichen Leistungen im Sattel seines Fahrrades. Und der „Andere“ murmelt irgendwas von „lauter Verrückten, die hier unterwegs sind“. Kurze Blickwendung: Verdacht bestätigt. In jenem „Anderen“, der von „Verrückten“ (oder war’s ein anderes Wort?) sprach, erkenne ich meinen vormaligen Begleiter. Noch vor der Labe zieht das Duo hurtigen Schrittes an mir vorbei. Ich wundere mich ein bisschen, woraus der „Andere“ jetzt noch die Kraft für das hohe Tempo schöpft. Vorhin, an meiner Seite, wirkte er keineswegs so stark, wie er sich nun präsentiert …

Trinken, viel trinken an der Labe und ein weiteres Gel - ich werde es brauchen. Die beiden im Dialog verstrickten Läufer sind bereits außer Sichtweite, als ich mich nach „Danke!“ zum Gehen wende. Die Skepsis über das flotte Tempo des „Anderen“ ist gewichen. An ihre Stelle tritt die Empfindung eigener Unterlegenheit, die mir wieder einmal vorgeführt wird. Einerlei: Ich bin zu Trainings- und Erlebniszwecken hier und nicht, um mir irgendwelche Meriten an die Brust zu heften. - Wieder durchs lang gezogene „S“ in bezaubernder Umgebung. Ich freue mich über die umwerfenden, von Läufern dekorierten Ansichten und knipse, was die Linse hergibt. Auf Runde drei werde ich mutmaßlich wieder allein auf weiter Flur unterwegs sein.

Der Himmel macht seit geraumer Zeit Anstalten sich zu verfinstern. Unumkehrbar scheint mir die Tendenz jedoch nicht. Wenn die Sonne gerade mal ein paar Minuten ausbleibt, lässt mich jeder Luftzug frösteln - auch hier neben duftenden Blumenwiesen in ausladender Mulde. Famose Aussichten begleiten mich im sanften Anstieg bis zum Joch, vor dem einige Läufer der anderen Bewerbe gehen. Erfreut registriere ich, dass mich die mäßige Steigung immer noch deutlich unterm Limit fordert. Joch erreicht und nun bis ins Ziel bergab.

Die Burg rückt wieder ins Blickfeld, zugleich höre ich hinter mir Schritte. Wunderbar! Bis zur Spitzkehre wird die junge Läuferin heran sein, und eine Aufnahme des mittelalterlich anmutenden Gemäuers beleben … „Jetzt habe ich die Burg auch mit Läuferin davor im Kasten!“ gebe ich meiner Freude beredten Ausdruck. Wir wechseln ein paar Sätze, die offenbaren, wie sehr auch ihr die Strecke gefällt. Dann ist sie vorbei und schafft rasch Distanz zwischen uns. Schade, nun weiß ich nicht mal, ob sie Halb- oder Marathon läuft …

Runde drei

Etwa eine halbe Stunde später, im ersten, langen Anstieg von Runde drei, sehe ich besagte junge Dame wieder vor mir. Also läuft sie Marathon! Dann und wann trabt sie, meistens bevorzugt sie Gehschritte. Entsprechend zügig verkürze ich den Abstand zwischen uns. Als das Trailstück beginnt, bin ich dicht hinter ihr und nutze die Chance für weitere „belebte“ Aufnahmen. Abwärts baut sie ihren Vorsprung rasch wieder aus, so dass ich sie erst an der nächsten Labe einhole. Musterte in diesem Augenblick jemand mein bärtiges Konterfei, er hätte keine Chance die sich darin abzeichnende Überraschung zu übersehen: Die junge Läuferin trägt eine der rot unterlegten Startnummern der Ultras …

Viereinhalb Kilometer Anstieg liegen zum dritten Mal vor mir und ich habe ein bisschen Bammel davor, was der elend lange Hang mit mir machen wird. Oder sollte ich eher sagen: Was ich mir, meiner Unnachgiebigkeit gehorchend, selbst zufügen werde … Ich verkürze den Schritt so weit vertretbar. Als „Laufen“ muss er schon noch durchgehen und „rund“ sollte er sich auch anfühlen. Die Sonne versteckt sich auf diesen viereinhalb Kilometern überwiegend hinter Wolken. Und ausnahmsweise bin ich ihr nicht gram deswegen. Der Kampf gegen die Schwerkraft zieht sich endlos hin. Sekunden tröpfeln, fließen zu Minuten zusammen. Kaum Erinnerung, an was ich denke in dieser Zeit. Zu belanglos, zu primitiv, als dass ich es mir einprägen würde. Durchhalteparolen sind dabei, die mir wie Irrlichter in dunkler Nacht durch den Kopf schießen. Teilweise recht blödsinnige, grammatikalisch bockfalsch formulierte Satzfetzen, wie ich in einem der wenigen, noch zu analytischem Denken fähigen Augenblicke selbstkritisch erkenne. Dergleichen füllt Hirn, das nicht denken will, eine so lange Spanne aber auch nicht gedankenstromlos überdauern kann.

Irgendwann im elend endlosen Aufwärts trabe ich an der jungen Läuferin vorbei, die meistenteils geht. Da bin ich mit meinem sturen Kurztippelschritt dann doch noch ein bisschen flotter unterwegs. Labe hinter der Kehre: Trinken und Gel. Weiter. Die Landschaft präsentiert sich noch genauso reizvoll wie vordem. Ich nehme sie nur nicht mehr wirklich wahr. Dafür muss ich zu sehr kämpfen, um mich ein drittes Mal diesen Berg hoch zu wuchten. Leiden und sich quälen ist gefordert, wie immer im letzten Drittel eines Ultralaufs. Aber das beherrsche ich ja, leiden und mich quälen, stellte es oft genug unter Beweis. Und weil ich es kann, erklimme ich schlussendlich die letzte Kuppe dieser vermaledeiten, 4,5 km langen Rampe …

Ich versuche mich zu erholen. Laufe langsam, wenn’s bergab geht, bergauf sowieso. Bis der steile Trail beginnt muss ich meine Widerstandskraft - physisch und mental - wieder restauriert haben. Das Wetter hilft mir dabei, auch wenn ich das Ausbleiben der Sonne bei jedem Frösteln in kaltem Luftzug bedauere. Weit und breit keine Läufernase vor mir. Letztes abschüssiges Straßenstück, links abbiegen und rein in die „Wand“. Schon die ersten zweihundert Meter steilen Asphalts bringen mich an meine Grenze. Aber ich werde mich nicht beugen, werde nicht gehen. Ich will laufen. Ich will! Dann der Pfad. Nach den ersten Schritten wende ich mich noch einmal um und erblicke die junge Läuferin, keine 30 Meter hinter mir.

Willkommen! Sehr willkommen! Nach jeweils dreißig, vierzig kurzen Steppschritten bleibe ich stehen und fotografiere. Bei solch einer Gelegenheit überholt sie mich gehend, wobei wir uns anlächeln. Ich folge ihr tippelnd, dann wieder stehend und knipsend. Und natürlich leide ich, selbstverständlich quäle ich mich, wieder und immer wieder. Aber he! zum letzten Mal hier hoch! Das alleine reicht, um mir immer wieder selbst in den Hintern zu treten … Zum letzten Mal! - Als ich schlussendlich, nach gefühlt unendlich langer Zeit, oben ankomme, entschwindet die Läuferin gerade abwärts zwischen Bäumen. Manche klatschen sich selbst ins Gesicht, um erschlaffte Konzentration und mangelnden Kampfgeist neu zu wecken. Ein ähnliches Prozedere vollziehe ich in Gedanken und mit Worten, bevor ich den ersten Fuß abwärts in die schlüpfrige Spur setze: Jetzt nicht nachlassen, nicht durch Unachtsamkeit den nahen Erfolg gefährden!

Ein letztes Mal durch die wundervolle Landschaft der Mulde. Obwohl das Sträßchen hier leicht ansteigt, entwickele ich noch genügend Kraft für einigermaßen flotte Laufschritte. Das wird nur jene verblüffen, die die Macht des Willens beim Ultralaufen unterbewerten. Nicht mehr weit bis ins Ziel, kein nennenswerter Anstieg mehr, gleich nur noch bergab - und mein Kopf weiß das! Darum fließen mir nun Kräfte zu, über die ich eigentlich nicht mehr verfügen dürfte. Wieder verkürze ich den Abstand zur jungen Läuferin, weil sie dem Joch gehend zustrebt. Ausnahmsweise gestatte ich mir einen Blick zur Uhr und - erstmals an diesem Tag - eine ernsthafte Hochrechnung auf die Zielzeit: 7:35 h sollten zu unterbieten sein, mehr ist nicht drin.

Kurz vorm Buckel des Jochs überhole ich die Mitläuferin und initiiere damit eine wilde Hatz. Dass es dazu kommen wird, ist mir in diesem Moment nicht bewusst. Ich fasse auf extrem abschüssiger Straße lediglich den Entschluss mich nun nicht mehr zu schonen, die „Sache“ so rasch wie möglich zu Ende zu bringen. Was ich noch verantworten und aushalten kann, hole ich aus müden Knochen. Runter über Asphalt, nur kurze, wenig interessierte Seitenblicke zur Burg. Spitzkehre und dann über holpriges Geläuf. Hässlich fühlt sich das an. Die Füße jammern gefoltert, als steckten sie in einem Schraubstock, den die Teufel des Laufsports Windung um Windung weiter zudrehen. Aber juchhu! die Achillessehne schweigt! Seit einiger Zeit schon. Eigentlich die komplette dritte Runde über, wenn ich es recht bedenke. Gut so! Hilf mit Sehne, bald haben wir’s überstanden!

Kaum eine Chance anderes ins Auge zu fassen als jene Fleckchen, auf die ich den jeweils nächsten Fuß setze. Alles andere wäre zu gefährlich. Auf glatterem Abschnitt nehme ich mal wieder die Zeit und setze sie zur Reststrecke - zwei Kilometer - in Beziehung: Etwa 7:31 h Laufzeit ergibt meine Rechnung. Weiter. Schließlich der letzte Kilometer und die Uhr zeigt 7:25:xx. Obwohl es aussichtslos scheint - immerhin müsste ich die verbleibenden 1.000 Meter unter 5 min laufen -, versuche ich die Sub7:30h doch noch zu schaffen …

Auch wenn es sich so anhört - es geht mir überhaupt nicht um die Zeit. Es geht darum sich selbst, den erschöpften Körper, noch einmal herauszufordern, auch wenn schon mehr als sieben Stunden vergangen sind. Es geht darum sich zu beweisen, welche Reserven tatsächlich in einem schlummern, wenn es darauf ankommt. Und es geht darum, in wilder Schlusshatz die letzten Kilometer erträglicher zu gestalten. Es mag sich merkwürdig anhören: Aber je härter ich mich auf den letzten Kilometern fordere - so das noch möglich ist -, umso wohler fühle ich mich.

Als wäre der Leibhaftige hinter mir her spurte ich durch Kirchdorf. Bergab fällt es mir noch einigermaßen leicht, auf dem letzten halben, flachen Kilometer muss ich gewaltig ums Tempo ringen. Unerbittlich rückt der Zeiger gegen 7:30 h vor … Und natürlich steht längst fest, dass ich die Marke nicht unterbieten werde. Was mich aber weder kratzt noch meine Schritte lähmt. Endspurt durch die Innenstadt und unter Glücksgefühlen durchs Ziel …

 

Wettkampfergebnisse:

Laufzeit: 7:30:14 h, Platz 6 gesamt von 10 Männern.

Runde 1: 2:19:58 h; Runde 2: 2:30:58 h; Runde 3: 2:39:17 h

Von 17 gestarteten LäuferInnen erreichten 13 das Ziel. Vier Männer gaben auf, darunter auch mein Begleiter aus der ersten Runde. Die junge Dame, mit der ich mir unbeabsichtigt einen vergnüglichen Zweikampf gegen Ende von Runde zwei und in Runde drei lieferte, finishte als schnellste Frau.

 

Fazit zur Veranstaltung

Läufer fahrt nach Kirchdorf an der Krems! Hochmotivierte, superfreundliche Organisatoren und Helfer gestalten dort mit irrsinnigem Aufwand eine wunderbare, in allen Belangen vorbildliche Laufveranstaltung! Wie sehr den Kirchdorfern ihr Über-Drüber-Lauf am Herzen liegt, erkennt man auch an liebevollen Details. Etwa der wunderschönen, aus Ton geformten Finisher-Medaille. Oder dem Geschenk, das zumindest jeder (!) Ultraläufer erhielt: Ein mit Mehl in den Umrissen eines Läufers bestäubter Leib Brot. Was für eine tolle Idee!

Ultras oder Marathonis sollten sich nicht davon abschrecken lassen, dass sie ihre Kilometer durch Rundenwiederholung sammeln müssen. Die 21 Kilometer um Kirchdorf haben unglaublich schöne Ansichten zu bieten, die man gerne mehrmals sieht. Technisch ist durch zwei Trails für Abwechslung gesorgt, so dass auch Läufer auf ihre Kosten kommen, die nicht so straßen-verliebt sind wie ich.

Fazit: Auf jeden Fall noch mal wieder!

 


Bildnachweis:

Fünf Fotos aus Beständen des Veranstalters www.laufgemeinschaft.at (sh. Vermerk auf den Bildern).

Alle anderen Fotos: Udo Pitsch

 

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