Montag, 14. November 2016

„RunMob“ im Schaichtal   -  Super-Vollmond-Marathon 2016

Lichtlos heißt nicht trostlos, wenngleich die Aussicht auf 46 Kilometer stockdunklen Blindflug mir ebendies einreden will. Vor fünf Minuten gab Volker - Veranstalter und zugleich einer der Teilnehmer - das Startsignal. Zum Auftakt bringen wir eine Drei-Kilometer-Schleife im Wald oberhalb des Schaichtals hinter uns. Durch diesen „Laufmehrwert“ mutiert der einstige Marathon zum Mini-Ultra und mir winkt ein weiterer Eintrag in meiner DUV-Statistik*. Im und um das Schaichtal war ich dieses Jahr bereits im April unterwegs. Damals allerdings tagsüber und auf kürzerer, nicht ganz identischer Strecke. An diesem Novemberabend lastet über der Gegend eine undurchdringliche Wolkendecke. Ihr werfe ich vor uns um das Kuriosum zu betrügen, dessentwegen wir 13 Verrückten eigentlich hier sind - den Super-Vollmond.

*) Die Deutsche Ultramarathon Vereinigung (DUV) führt für alle deutschen Frauen und Männer eine Statistik weltweit absolvierter Ultraläufe. Es soll LäuferInnen geben, denen das lange verborgen bleibt.

Just an diesem 14. November im Jahr 2016 nach Christus präsentiert sich der Erdtrabant als volle Scheibe. Mehr noch: Da er der Erde nah ist wie selten, soll er ein paar Prozentpunkte mehr vom Nachthimmel für sich beanspruchen. Ich habe keinen Schimmer, ob das stimmt und ehrlich gesagt interessieren mich astronomische Aspekte des Laufs auch nur am Rande. Ich fand einfach die Idee witzig, an einem Montag(!)abend im November einen Marathon im Mondlicht zu bestreiten. Deshalb habe ich mich bereits im letzten Jahr - oder war’s gar im vorletzten? - für dieses Unternehmen angemeldet. Starttag und -zeit (19 Uhr) sorgen zudem für ein hohes Maß an „Sozialverträglichkeit“: Spätem Aufbruch folgen nächtliche Wiederkehr und gemeinsames Aufwachen. Die Bedeutung eines im Alltag „beinahe unbemerkt“ absolvierten Marathons gewinnt mit der Anzahl absolvierter Marathon-/Ultra-Wettkämpfe (= Wochenendabwesenheiten) pro Jahr exponentiell an Bedeutung … Mea culpa, mea maxima culpa!

Allerdings fuhr ich reichlich spät zu Hause los. Wusstest du, dass der Monat November in der Verkehrsstatistik mit den meisten Staukilometern „glänzt“? Eine kleine Stauauswahl durfte ich auf dem Weg hierher abarbeiten. Aus den bei freier Fahrt weniger als zwei Stunden Anreise wurden über drei. Zu schlechter letzt noch ein Feierabendverkehr-plus-blöde-Baustelle-Desaster kurz vorm Zielgebiet. Dankenswerterweise verschob Volker infolge meines Notrufs den Start um ein paar Minuten …

Die Auftaktschleife endet etwa hundert Meter oberhalb des Parkplatzes. Für die nächsten Minuten halten wir uns am Waldrand auf einem Abschnitt, den ich kenne. Weiter vorne setzen sich ein paar der Schnelleren immer weiter ab, die um Volker herum gruppierte Mehrheit aber bleibt zusammen. Obschon mich das eingeschlagene Tempo eigentlich überfordert und ich den nun folgenden Abschnitt von zwei Marathonläufen aus diesem und dem vorletzten Jahr kenne, versuche ich Anschluss zu halten. Volker hat zwei „Umleitungen“ angekündigt und im Dunkeln den rechten Weg alleine zu finden scheint mir irgendwie nicht geheuer.

Asphalt nun unter den Füßen, hinab in eine Wiesenmulde, Schritt um Schritt mehr Distanz zum Wald aufbauend. Jenseits fordernd hinan, zuletzt per Brücke über eine vierspurige Bundesstraße, auf der ich noch vor einer Dreiviertelstunde im Stau stand … Sodann vorbei am „Theaterheim“, das allen bisherigen Läufen im Schaichtal als Start und Ziel diente. Unter anderem, weil die „Spielbude“ des örtlichen Theatervereins nicht mehr zur Verfügung steht, änderte Volker den Austragungsmodus seiner Läufe. Von nun an firmieren sie unter der Bezeichnung „RunMob“ in Anlehnung an den neuhochdeutschen Begriff „Flashmob“, den Wikipedia wie folgt definiert: „Der Begriff Flashmob … bezeichnet einen kurzen, scheinbar spontanen Menschenauflauf auf öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen, bei denen sich die Teilnehmer persönlich nicht kennen und ungewöhnliche Dinge tun.“ - Was wir hier „tun“ ist nicht grundsätzlich, mitten in der Woche und im düsteren November aber durchaus ungewöhnlich: Mehr als marathonweit laufen …

Auf baumfreier Hochfläche weht uns ein nicht sonderlich starker, dafür steter und eiskalter Wind entgegen. Beidseits des Weges erstrecken sich Felder, im Dunkeln und dem fahlen Schein unserer Stirnlampen nur zu erahnen. Wir bewegen uns parallel zum Schaichtal, dessen bewaldete Hänge ein paar hundert Meter links von mir abfallen. Rechter Hand schweift der Blick über das Neckartal, in dem man die Lichter zahlreicher Ortschaften erkennt - wenn man mehr als flüchtige Blicke riskiert. Meine Augen fixieren meist den Boden vor mir, eifrig bestrebt jedweden Fehltritt zu vermeiden. Schemenhaft schält sich alsbald der bekannte Wasserturm vor mir aus dem Dunkel. In gespenstisch dunkler Szenerie unterliegt man eher noch als am helllichten Tag dem Trugbild eines auf einer Säule gelandeten Ufos …

Die ersten werden die Letzten sein! Mit lautem Rufen bringt Volker die falsch abgebogene Vorhut auf den rechten Weg zurück. Es dauert ein paar Minuten - nun schon per Radweg auf die nächste Ortschaft zuhaltend - bis die flotten Männer uns wieder enteilen. Der vor ziemlich genau sechs Wochen absolvierte „Spartathlon“ beschäftigt und beherrscht mich in vielfältigerweise auch an diesem Abend … Oh ja! Der Spartathlon! Mit diesem gewaltigsten meiner Lauferlebnisse bin ich noch lange nicht fertig! Nicht körperlich und erst recht nicht mental. Nicht körperlich, weil die Regeneration nach einem Wettkampf über 246 km und fast 35 Stunden nicht binnen sechs Wochen abgeschlossen sein kann. Und nicht mental, weil sich mir die Geschehnisse zwischen Athen und Sparta sehr häufig, beim Drechseln am Laufbericht oder auch nur tagträumend, aufdrängen …

Gegenwärtig fordert mein Nebenmann ein paar Antworten zu jenen Tagen in Griechenland ein. Prinzipiell lasse ich mich derzeit zu keinem Thema bereitwilliger befragen, um es vorsichtig zu formulieren. Aber nicht gerade jetzt, da eisiger Gegenwind meine Gosche lähmt. Um das Absterben der Finger in den zu dünnen Fleece-Handschuhen zu stoppen, balle ich sie immer wieder kräftig zur Faust. Zugleich habe ich Mühe das nach wie vor stramme Tempo mitzugehen. Auch ein Relikt des Spartathlons und der vielen, langsamen Trainingskilometer davor: Jedes über längere Zeit und merklich unter 6 min/km durchzustehende Tempo fasst mich ziemlich rabiat an. Mir bleibt aber keine Wahl als mich auf diese Weise zu fordern, will ich in der ersten Runde mit ihren unbekannten Wegabschnitten der Gruppe um Volker folgen …

Wir mussten ein paar Höhenmeter preisgeben, die wir uns nun auf asphaltiertem Feldweg hügelan wieder zurückholen. Mit dem Neckartal habe ich nun auch den beißend kalten Wind im Rücken. Langsam kehrt in mein unterkühltes Gesicht und die Finger so etwas wie Wärme zurück. Kaum den Buckel erobert, geht es auch schon wieder abwärts, direkt auf das Schaichtal zuhaltend. Volker trabt irgendwo hinter uns, blieb vorhin an einem Abzweig zurück, wegweisend, damit sich niemand verläuft. Da ich diesen Teil der Runde nicht kenne, trabe ich verhalten bergab und achte auf Markierungen, die es geben soll. Tatsächlich schicken mich wenig später grüne Pfeile nach rechts. Und warum liefen die zwei da vorne geradeaus weiter?

Mein Alarmgeschrei veranlasst die beiden augenblicklich zur Umkehr. Selbst verharre ich ein paar Sekunden an diesem Abzweig, um das Eintreffen von Volker abzuwarten und mir die Richtung bestätigen zu lassen. Im Pulk mit Volker vereint streben wir weiter dem Schaichtal entgegen. Es vergehen nur Minuten bis ich mich wieder auskenne: In Höhe eines großen Insektenhotels mündet unbekannte in mir bekannte Strecke. Bekannt aber nur für ein paar Meter, auf denen wir einmal mehr die vierspurige Bundesstraße unterqueren. Graffiti habe ich auf den Betonwänden des Tunnels erwartet und Graffiti bekomme ich, allerdings nicht die erwarteten. Den „Läufer“ mit der obszönen Verunstaltung hat man mit einer neuen Grafik übertüncht. Für ein paar Sekunden des Betrachtens lang lasse ich zu, dass der Pulk der Mitläufer sich entfernt … Immerhin gewähren mir die Darstellungen auf den Betonwänden der Unterführung die erste, wirklich bemerkenswerte Wahrnehmung im Reich der Finsternis …

Ich werde die anderen nicht noch einmal davon ziehen lassen! Obschon leichtes Gefälle ausnutzend raubt mir die nötige Tempoverschärfung, um zur Gruppe aufzuschließen, spürbar Substanz. Außerdem ist mir diese Wegvariante, nun wieder dichten Wald durchquerend, gänzlich unbekannt. Jetzt einigermaßen steil bergab, auf beständig mieser werdendem Geläuf. Äste, Pfützen, grobe Steine und jede Menge Unebenheiten erzwingen volle Konzentration. Zum Glück nur ein paar hundert Meter abwärts, dann mündet der holprige Pfad in einen gut ausgebauten Waldweg. Anscheinend ist die Talsohle erreicht, denn Volker schickt uns nach links. Was im Grunde gar nicht nötig wäre, da eine wegweisende Tafel die Richtung zweifelsfrei vorgibt.

Sekunden nach dem Richtungswechsel macht er uns auf einen Gedenkstein aufmerksam. Das Denkmal steht an jener Stelle, wo einst ein Damm errichtet werden sollte. Ein Damm, hinter dem das komplette Schaichtal in den Fluten eines Stausees versunken wäre. Warum das Projekt scheiterte, weiß ich nicht. Nach zwei Stippvisiten bei Tageslicht mit ausgiebig Zeit zum Schauen steht für mich jedoch fest, dass der Stausee ein Stück wunderschöne und schützenswerte Natur für immer zerstört hätte. Ich nehme mir vor den Gedenkstein beim zweiten Umlauf, den ich in „beschaulicher Einsamkeit“ und sehr langsam vollziehen werde, zu fotografieren (eine Absicht, die leider meiner Schusseligkeit zum Opfer fallen wird). Gegenwärtig konzentriere ich mich lieber darauf in Volkers Nähe zu bleiben …

Ich frage mich, ob das Licht des vollen Supermondes etwas vom Reiz der Umgebung enthüllt hätte. In der gegenwärtig herrschenden totalen Dunkelheit sehe nur so weit wie meine Lampe reicht, und deren Schein konzentriert sich auf den Boden vor meinen Füßen. Seitwärts und über mir regiert das schwarze Nichts. Wir überqueren eine erste Brücke, ab der ich mich wieder auf bekannter Fährte weiß. In der Absicht meine Erinnerungen an den idyllisch dahin glucksenden Bach wiederzubeleben, leuchte ich über das Brückengeländer in die Tiefe. Ein Versuch, den ich umgehend abbreche, weil im fahlen Schein der Lampe alles bleich und tot erscheint. Es braucht den Tag, besser noch die Sonne, um den Auwald in kräftigem Grün leuchten und himmelblaue Reflexe übers plätschernde Gewässer tanzen zu lassen.

Der breite Wald- und Wanderweg durchs Schaichtal fordert mit beständiger, leichter Steigung. Innere Automatismen, auf die ich keinen bewussten Einfluss nehme, reduzieren mein Tempo entsprechend. Volker, der seine Laufgeschwindigkeit den veränderten Bedingungen nicht anpasst, entfernt sich mit jedem Schritt. Ich überlege ihm zu folgen, was ich aber ziemlich sicher und spätestens auf Runde zwei bitter bereuen würde. Andererseits erwartet mich eine weitere Streckenänderung, die ich ohne Führung verfehlen könnte. Da zwei weitere Mitläufer ihm gleichfalls die Gefolgschaft verweigern, ersetze ich die bislang vorsichtige durch eine fatalistische Haltung: ‚Lass ihn laufen, irgendwie werde ich den Weg schon finden!’

Bisweilen neben, meist jedoch hinter den beiden Mitläufern trabe ich stur und stumm vor mich hin. Manch mundfaulen Zeitgenossen mag Tippeln im dunklen Wald zur Redseligkeit bekehren, mich ganz offensichtlich nicht. Schon seit einer Weile „warte“ ich auf die Quelle, die nun bald am rechten Wegrand auftauchen muss. Dieser Quelle wegen habe ich auf die Mitnahme einer Trinkflasche verzichtet. Durst verspüre ich zwar keinen, will aber trotzdem trinken, um Schweißverluste auszugleichen. Im Grunde wundere ich mich, dass wir den Brunnen - der übrigens nicht zu übersehen ist - nicht längst erreicht haben ... wirklich verlässlich scheint meine Streckenkenntnis nach zwei Schaichtal Marathons mit je zwei Runden nicht zu sein. Wir wechseln zur anderen Bachseite, ohne die Quelle gesichtet zu haben. Was mich irritiert, weil wir die Quelle eigentlich vor dem Seitenwechsel hätten sehen müssen. Oder nicht? Wahrscheinlich narrt mich meine Erinnerung …

Irgendwo rechts von mir fließt der Bach. Sehe ihn nicht, weiß es nur. Dass ich unter Bäumen laufe, ist im Streulicht der Lampen schemenhaft zu erkennen. Dann und wann streift mein Blick einen der Mitläufer, was meine Wahrnehmung allerdings auch nicht wesentlich bereichert. Wir könnten irgendwo in einem Wald in der Dunkelzone des Planeten vorwärts stapfen, ganz gleich wo, die Eindrücke wären überall dieselben. Stumpf einen Fuß vor den anderen setzen und dem Lichtkegel der Stirnlampe folgen … Klingt als wäre ich ziemlich bescheiden drauf. Gemessen an der Tatsache, dass ich längere Zeit im Dunkeln zu laufen eigentlich verabscheue, bin ich allerdings blendend gut gelaunt. Dennoch beginne ich mich zu fragen, was ich mir seinerzeit bei der Anmeldung von diesem Lauf versprochen hatte. „Super-Vollmond-Marathon“? - Nach zweiundsechzig in germanischer Hemisphäre erlebten Novembern hätte mir eigentlich klar sein müssen, wie winzig die Chance auf einen klaren Nachthimmel zu dieser Jahreszeit ist …

Über den Bach zu anderen Seite und nun muss der Brunnen jeden Moment auf der rechten Seite auftauchen. Immer wieder schwenke ich den Lichtkegel Lampe zur Seite, um die steile Böschung, aus der meiner Erinnerung nach das köstliche Nass entspringt, nicht zu verpassen. So verfahre ich ein, zwei Kilometer; bis wir erneut die Bachseite wechseln und mir endgültig klar wird, dass ich das eigentlich Unmögliche geschafft und den Brunnen verfehlt habe. Denn ab hier windet sich der Weg am Hang aufwärts, um das Schaichtal wieder zu verlassen. Möglicherweise war ich während der drei, vier, fünf Sekunden, in denen der Brunnen im Lampenlicht sichtbar wurde, durch irgendwas abgelenkt. Trotzdem: Wie konnte ich übersehen, was eigentlich nicht zu übersehen ist? Sehr, sehr mysteriös.

Meine beiden Mitläufer bleiben zurück. Zumindest bei einem scheint mir klar weshalb, weil seine Schritte hinter mir im knirschenden Kies abrupt einem anderen Rhythmus gehorchen. Er geht, während ich langsam aber stetig tippelnd der Steigung trotze. Wieso auch nicht? Der Weg ist nicht wirklich steil. Diesen Abschnitt der Strecke kenne ich noch: Stetig hinan, alsbald eine Linkskehre nehmend, auf die eine Rechtskurve folgt und dann ein ziemliches Stück relativ geradlinig voran. Ein bisschen komme ich mir wie ein Rallye-Fahrer vor, der blind den Ansagen seines Beifahrers aus dem Roadbook folgt … Zuletzt über Asphalt auf eine Wegkreuzung zuhaltend. Achtgeben jetzt! Ab hier muss ich dem geänderten, unbekannten Weg folgen. Sich zu orientieren erweist sich als völlig problemlos, weil eine von Volkers Tafeln, unübersehbar an einen Baumstamm geheftet, die Richtung vorgibt.

Weiter aufwärts auf gutem Weg in lang gezogener Rechtskurve. Lauf- und Schnaufgeräusche stückweit hinter mir … Einer der abhanden gekommen Mitläufer scheint wieder aufzuholen. Im unterdessen flacheren Teil des Anstieges gibt er Fersengeld, will mich offensichtlich einholen. Bevor er seine Absicht vollenden kann, vernehme ich anschwellendes Motorgeräusch hinter mir und drehe mich ziemlich verdattert um. Keine Sinnestäuschung: Neun Uhr abends vorbei und Frau am Steuer rattert, eine Abkürzung nehmend (?), durch den Wald …

Zu dritt wiedervereint nehmen wir die letzten beiden Kilometer von Runde eins in Angriff. Kurze Unsicherheit auf einem Wandererparkplatz, die sich jedoch rasch in Luft auflöst, weil neben der hier touchierten Straße nur ein Waldweg in unsere Richtung führt. Dem folgen wir, lassen uns auch von einer Absperrung wegen Holzeinschlags nicht abhalten. Gegen halb zehn abends fällt hier sicher niemand mehr Bäume. Ein paar Minuten noch in längst flachem Terrain und alsbald auch am Waldrand entlang. Für ihn sei nach dieser Runde Schluss, lässt sich einer meiner Mitläufer auf den letzten Metern der ersten Runde ein. Ob geplant oder wachsender Not gehorchend, vermag ich seinen Worten nicht zu entnehmen.

Unsere Autos stehen etwa hundert Meter hügelabwärts. Um mir diesen Abstecher zu ersparen, habe ich hier an der Wegkreuzung eine Trinkflasche deponiert. Nach knapp 25 Kilometern die ersten Schlucke Wasser, gefolgt von zwei Gels, um ein bisschen Energie nachzulegen. Anschließend setze ich die Halbliterflasche neuerlich an, um sie in langen, gierigen Zügen zu leeren. Keine gute Idee, weil mir die eisige Flüssigkeit fast Kopfschmerzen verursacht. Zuletzt streife ich die Handschuhe über die inzwischen klammen Finger und mache mich nach drei, vielleicht vier Minuten Verpflegungspause wieder auf den Weg …

Der noch verbliebene Mitläufer ist längst enteilt. Ich beschließe das ganz „okay“ zu finden. Vor allem, weil es mich der Notwendigkeit enthebt hin und wieder auf Ansprache zu reagieren, zu der ich immer weniger Lust verspüre. Es würde mir nun auch beständig schwerer fallen, weil ich mit jedem Schritt tiefer „einfriere“. Auf der Hochebene hinter dem zum zweiten Mal passierten Theaterheim bläst mir ein bösartig kalter Wind ins Gesicht. Binnen Minuten sterben die Finger ab, lassen sich diesmal auch mit heftigen Greifbewegungen nicht wieder zum Leben erwecken. Für die herrschenden Verhältnisse bin ich zumindest partiell „underdressed“, hätte die dicken Winterhandschuhe mitnehmen müssen …

Wieso ich den Mitstreiter von Runde eins dann doch wieder einhole, verstehe ich nicht wirklich. Der muss gegangen sein oder auf mich gewartet haben!? Als ich seine Höhe erreiche, schließt er sich mir kommentarlos an und so setzen wir den Weg gemeinsam fort. Zu diesem Zeitpunkt spüre ich meine Finger nicht mehr, muss mir folglich was einfallen lassen. Zunächst verstaue ich die kleine (nutzlose) Taschenlampe und die Digicam in den Jackentaschen, um keinen kalten Gegenstand mehr in Händen halten zu müssen. Dann ziehe ich die Finger aus den Handschuhfingern zurück und balle sie mit heftigem Krafteinsatz und vielfach wiederholt zu Fäusten … Schon Minuten später und unter heftigen Schmerzen spüre ich, wie Leben in die auftauenden Glieder zurückkehrt. Leicht hügelabwärts in Richtung Neckartal, dann auf gleicher Höhe einem Radweg folgend auf das nächste Dorf zu.

Rückeroberung der verlorenen Meter. Die dabei verbrannten Kalorien wärmen mich weiter auf, außerdem habe ich den Wind nun wieder im Rücken. Die „Gefrierfleischphase“ ist fortan Geschichte, denn jenseits des Hügels beginnt der abermalige Abstieg ins alsbald bewaldete, mithin Wind abweisende Schaichtal …

Ziemlich lustlos schieße ich ein paar Fotos. Was ich fotografiere sind Besonderheiten am Wegrand, von denen ich weiß, wo ich sie finde. Etwa das vergleichsweise riesige Insektenhotel. Dieses Öko-Monument nahm ich noch jedes Mal aufs Korn, nun eben im Dunkeln. Oder die Graffiti, nur eine Minute später, in der Unterführung. Die noch im April sichtbaren Motive wurden mittlerweile übersprüht, also sichere ich zumindest hier neue „Beweismittel“. Wie jedes Mal, wenn ich vor solchen gesprühten Grafiken stehe, frage ich mich auch hier: Kunst oder lediglich Effekthascherei aus der Dose? Woran erkenne ich Kunst? Ich weiß schon: Kunst sollte „gewisse“ Emotionen, Assoziationen, Vorstellungen in mir wecken. Keine Chance heute Nacht. Außer Kälte, Stress in den Laufwerkzeugen und dem sehnlichen Wunsch die zweite Runde schnellstmöglich zu beenden werde ich rein gar nichts mehr empfinden …

Mein hartnäckiger Begleiter ließ mich nach dem Fotostopp aufholen und so laufen wir seit einer Viertelstunde wieder gemeinsam durchs Schaichtal. Gemeinsam aber nicht Seite an Seite. Je länger wir unterwegs sind, umso unsteter und ungeduldiger kommt er mir vor. Unentwegt lässt er sich ein paar Meter zurückfallen, um alsbald seine Schritte zu beschleunigen, vorbeizuziehen und ein, zwei Meter Vorsprung heraus zu laufen. Anscheinend nur, um sich sogleich wieder hinter meinen Rücken zurückfallen und das Spiel von vorne beginnen zu lassen. Mit der Zeit ziemlich irritierend! Trotzdem lasse ich mich diesmal von rein gar nichts ablenken, will die Quelle in Runde zwei keinesfalls verpassen. Schließlich und ganz selbstverständlich taucht sie am rechten Wegrand auf. Wie ich schrieb: Unübersehbar! Wie konnte ich den Brunnen vorhin verfehlen?

Zum zweiten Mal lege ich eine mehrminütige Trink- und Verpflegungspause ein. Wieder verliert sich die hell umflorte Silhouette meines Mitläufers irgendwo voraus zwischen Bäumen. Wieder bin ich alles andere als traurig darüber, nun offenbar die letzten zehn, elf Kilometer alleine bestreiten zu müssen. Und wieder habe ich nicht mit der Anhänglichkeit des anderen gerechnet, der sich ein paar Wegkurven später zum dritten Mal einholen lässt. Vor, zurück, vor, zurück - unbeirrt setzt er seinen unsteten „Lebenswandel“ fort, so wie ich meinen stoisch sturen ...

Der anfängliche Thrill des Schrägen und Kuriosen ist verflogen, hat stetig wachsendem Überdruss Platz gemacht. So etwas wie eine „romantisch mystische Vollmondnacht“ hatte ich im Sinn. Was ich bekomme ist harte Laufarbeit, seit dem Auftakt zu Runde zwei zunehmend schmerzende Knochen und das hinlänglich bekannte Unbehagen im Finstern zu laufen. Aus welchem tieferen Grund ließ ich mich zu einem Marathon hinreißen, der bereits im dunklen Nichts beginnt und Stunden später ebendort wieder endet? 46 zu Fuß bewältigte Kilometer, die mir ungefähr dieselbe Anzahl an Eindrücken zugestehen, wie einem angestrengt aus dem Fenster starrenden Zugreisenden im gerade eröffneten 57 km langen Gotthard-Basistunnel …

Mal ganz humorlos gefragt: Warum bin ich hier? Laufen soll Spaß machen und mir war klar, dass genau der alsbald auf der Strecke bleiben würde. Entfaltet da etwas Zwanghaftes in mir seine Wirkung? - „Zwangs-läufig“, was du mir nun vielleicht vorschnell unterstellen könntest, bin ich keineswegs. Ich habe die marathon-/ultrafreie Zeit seit Sparta wahrhaft genossen und freue mich nach wie vor darüber eher regenerativ zu laufen. Außer dem augenblicklichen keine weiteren Wettkämpfe in diesem Jahr mehr zu bestreiten erzeugt keine Spur von Bedauern. Denn eigentlich gilt seit dem Spartathlon: „Ich habe fertig“! Bin ich tatsächlich nur aus den eingangs dargelegten Gründen hier, mehrjährige Voranmeldung und „witziger“, zugleich „sozialverträglicher“ Austragungsmodus?

In einem meiner Laufberichte dieses Jahres thematisierte ich die Begegnung mit einem Gehbehinderten auf der Laufstrecke. Der Mann war als Läufer unterwegs, obschon er bereits Schwierigkeiten beim Gehen hatte. Damals trieb mich die Frage um, weshalb der Mann sich das antut. Und dann auch noch ultraweite Selbstquälerei!? Schließlich hätte er die Möglichkeit diverse Ausdauersportarten zu betreiben, bei denen seine Behinderung weniger bis gar nicht ins Gewicht fiele. Befiehlt mich etwa dasselbe Motiv im dunklen November hierher, zwingt mich gegen meine partielle Behinderung, den Dunkellauf-Frust, anzukämpfen? Um abermals zu erleben, wie übel das ist und dennoch physisch wie mental zu obsiegen? Gibt es einen Menschenschlag, der sich unbewusst und immer wieder mit demjenigen foltert, was er am wenigsten beherrscht oder am meisten verabscheut?

„Null Bock“ im letzten Viertel eines weiten Weges. Wie reagierst du darauf? - Kommt wahrscheinlich auf die Ausdauersituation an. Mir schmerzen zwar die Füße als wäre es mein erstes Mal weiter als rund ums Haus. Dessen ungeachtet verfüge ich anscheinend über ausreichend Kraft das Tempo durchzustehen. Das gilt auch für die Steigung, als mein unsteter Laufpartner und ich dem Schaichtal endgültig den Rücken kehren. Wie auf Runde eins geht er mir auch dieses Mal verloren, weil er nicht mehr laufen mag.

„Null Bock“ auf dem letzten Fünftel eines weiten Weges: Heute mündet Unlust in die Intensivierung meiner Anstrengungen. Mehrmals riskiere ich gar einen Blick auf die verstreichende Zeit, ob noch ein Finish unter fünf Stunden gelingen kann. Alle Kalkulationen führen zum selben Ergebnis: Kannst du vergessen Udo! Hättest nicht so lange zum Verpflegen rasten dürfen.

Stimmt schon: Absolut nichts hängt davon ab, wie viel Zeit ich für diesen Kurzultra brauche. Es ist einfach ein Spiel, das ich mit mir selbst spiele. Ein Spiel, das mir viele meiner längeren Läufe in der Schlussphase verkürzte, weil es mich anspornte. Eine Art Wette gegen mich selbst, die manchmal unerwartet Kräfte in erlahmendem Körper freisetzte: Gelingt es mir binnen einer (meist im laufenden Wettkampf) festgelegten Frist zu finishen oder nicht? Ein jedes Mal von selbst, wie zwanghaft einsetzendes Spiel. Ähnlich dem Gebaren manches Kneipenbesuchers, den es zunächst zum Spielautomaten zieht, um ihn mit Münzen zu füttern, bevor er an der Theke sein Bier bestellt …

Noch vier Kilometer und ich will jetzt nur noch eins: Ins Auto, Heizung an und heim! Aber genau da „sehe“ ich mich einem wachsenden Problem gegenüber. Meine Augen begannen sich während des zweiten Umlaufs einzutrüben. Den Effekt kenne ich seit Jahren*. Nur nicht auf beiden Augen, so wie jetzt. Egal, ist nicht mehr weit und ich verschärfe noch einmal das Tempo. Auf dem letzten Kilometer überhole ich noch einen weiteren Läufer, der offensichtlich seinem anfänglich überhöhten Tempo Tribut zollen muss. Habe ich seinen anerkennenden Zuruf irgendwie beantwortet? Will mich an eine grüßende Geste oder an ein dankbares Brummen erinnern. Beschwören würde ich es allerdings nicht.

*) Die Eintrübung vollzieht sich in der Hornhaut und/oder dem Glaskörper des Auges. Sie hängt nicht mit der Netzhauterkrankung zusammen, die ich in diesem Jahr zu überstehen hatte. Die Erscheinung tritt erst nach stundenlangem Laufen auf und ausschließlich bei kalter Witterung. Meist war davon nur ein Auge betroffen. Wenn ich den Wettkampf nach Einsetzen der Eintrübung länger fortsetze, geht das scharfe Sehen vollständig verloren. Hell, dunkel und Farben werden unterschieden, jedoch wie durch eine dicke Milchglasscheibe wahrgenommen. Ich bin definitiv nicht der einzige, von diesem zeitweiligen Handicap betroffene Läufer. Mein behandelnder Augenarzt führt die Eintrübung auf eine verminderte Durchblutung im Bereich des Auges infolge stundenlanger Ausdauerbelastung zurück. Obschon sich der Effekt als vollständig reversibel und harmlos erweist, gibt der Arzt keine grundsätzliche Entwarnung. Insbesondere rät er Betroffenen zur eingehenden Befundung der Augen, um anderweitige Ursachen auszuschließen.

Die letzten Meter: Kurz an der Kreuzung vorm Parkplatz anhalten, Trinkflasche und leere Geltüten einsammeln, hundert Meter sanft bergab und schlussendlich bei Volker melden. Er hatte eine Liste vorbereitet, in die jene ihre Endzeit eintragen sollten, die die beiden Runden vor ihm beenden. Die Kontrolle bewerkstelligt er über den individuell aufgezeichneten GPS-Track, den wir ihm an den Folgetagen übersenden werden. Volker denkt, der Laufgott lenkt: Leider musste er seine zweite Runde abbrechen, war daher vor allen anderen im Ziel. Dem Vorbild mehrerer Teilnehmer folgend, die offensichtlich kurz vor mir das Ziel erreichten, bedanke ich mich bei Volker für das Ausrichten des Laufes. Startgeld hat er nicht erhoben, weil ihm selbst keine Ausgaben entstanden. Anstelle von Geld investierte er etwas viel Wertvolleres und reichte es als Geschenk an uns, seine Teilnehmer und Mitläufer, weiter: Zeit!

Ergebnis: 5:06:36 h

 

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