Samstag und Sonntag, 10./11 September 2016

Selbstkasteiung   -   24 Stundenlauf Bernau 2016

Bei Wikipedia steht: „... Selbstkasteiung (von lat. castigatio, ‚Züchtigung‘), im mittelalterlichen Deutsch Kestigung, bezeichnet freiwillige Entbehrungen und Leiden um eines höheren Gutes willen.“

Erste und einzige Warnung des Verfassers

Du bevorzugst Texte, die die Freude am Laufsport samt seiner seelisch-körperlichen Wohltaten in den Fokus der Betrachtung stellen? Du willst keinesfalls hören, wie sich jemand mit seiner liebsten Freizeitbeschäftigung quält und das Dasein für etliche Stunden verleidet? Dann fordere ich dich mit Nachdruck auf: Enthalte dich dieser Lektüre! Lies einfach nicht weiter!

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Vieles wird zu erzählen und zu erklären sein. Um dich mit einem Wust an Fakten, Absichten und Fragezeichen eingangs nicht zu „überfordern“ lasse ich Udo erst einmal loslaufen …

Start

Äußerlich und innerlich ruhig steht er da und wartet auf die Startorder. Seid Udo hier im Stadtpark eintraf und seinen „Claim“ neben der Strecke „absteckte“, ebbten die Adrenalinschübe ab. Hormonstöße wie vor wichtigen Prüfungen, die ihn in der vergangenen Woche stets überfielen, wenn er an diesen „Trainingslauf“ auch nur dachte. Ob er es zugeben will oder nicht: Annett, Bienchen, Beate und Tom, ihm ans Herz gewachsene Bekannte der so genannten „Radiergummiliga“, hier zu treffen, half ihm das „Hasenfüßige“ abzuschütteln. Dennoch verweigert er sich dem Mitzählen des Countdowns, vermag die gute Laune der anderen nicht zu teilen. Zu sehr drückt die Schwere der bevorstehenden Aufgabe aufs Gemüt. Vorneweg die Staffelflitzer, geruhsamer im hinteren Feld die Einzelläufer - so beginnt eine höchst ungewisse „Reise“. Anett hat sich irgendwo postiert, um mit Udos Kamera ein paar Bilder vom Auftakt zu schießen. Er kann sie nirgendwo ausmachen. Vielleicht sieht er sie auch, registriert sie nur nicht. Eigentlich bekommt er gar nichts von dem mit, was sich ringsum abspielt, richtet sein Augenmerk einzig auf die Strecke, biegt hinterm Start-/Zieltor und der Zeitnehmerbude sofort rechts ab …

Das Wesen von Stundenläufen

Bei Stundenläufen steht im Gegensatz zu sonstigen Ultrawettkämpfen die Laufzeit vorher fest. Weit verbreitet sind vor allem 6-, 12- und 24 Stundenläufe. Gewonnen hat einen Stundenlauf, wer in vorgegebener Zeit die weiteste Strecke zurücklegt. Möglich sind Stundenläufe nur auf einer vergleichsweise kleinen Runde von einigen hundert Metern bis wenigen Kilometern. Von reinen Stadionrunden, über das Kreisen um einen See, bis hin zum Parcours in einem Stadtpark gibt es die unterschiedlichsten Austragungsorte. Für über Nacht ausgetragene Stundenläufe muss die Strecke beleuchtet sein. Nach Ablauf der Wettkampfzeit beendet ein akustisches Signal (Schuss, Hupton, etc.), das überall auf der Runde zu hören ist, das Kreisen der Teilnehmer, die daraufhin stehen bleiben. Die Leistung eines Teilnehmers ergibt sich durch Multiplikation der gezählten Runden mit der Rundenlänge plus Restmeter. Als Restmeter bezeichnet man die Wegstrecke der letzten, bis zum Ende des Wettkampfs unvollendet gebliebenen Runde. Die Reststrecke wird per Messrad ausgemessen.

Jedem Teilnehmer ist freigestellt, wann und wie lange er sich auf der Strecke bewegt. Die Art der Bewegung - Laufen oder Gehen - ist nicht vorgeschrieben. Pausen können jederzeit und in beliebiger Länge genommen werden. Dabei darf der Kurs verlassen werden. Der Läufer hat lediglich zu gewährleisten, dass er den Wettkampf an derselben Stelle fortsetzt, an der er die Laufstrecke zuvor verließ.

Udos Vorhaben

Die „24 Stunden von Bernau“ bilden den Abschluss des Trainings für den „Spartathlon“ in Griechenland. Genauer gesagt: Den Abschluss der letzten so genannten Belastungswoche. Danach verbleiben Udo noch drei Wochen, in denen er den Trainingsumfang sukzessive reduzieren wird. Drei Wochen mit dem Ziel volle Regeneration sicherzustellen. Sein Trainingsaufbau entsprach im Grundsatz einer 2:1-Zyklisierung. Auf zwei Belastungswochen folgte jeweils eine Regenerationswoche mit geringerem Trainingsumfang. Seit 1. Januar dieses Jahres hat er die Belastung stufenweise von anfänglich etwa 60 km auf inzwischen über 200 erhöht. Diese (auch für ihn) mörderische und vom Zeitbedarf her kaum noch realisierbare Wochenkilometersumme ist dem Anspruch des Zielwettkampfes geschuldet. Beim „Spartathlon“ läuft man 246,8 km weit von Athen nach Sparta, überwindet 3.000 Höhenmeter und hat dafür lediglich 36 Stunden Zeit.

In Bernau will er mindestens 160, besser 170 und höchstens 180 Kilometer sammeln. Das addierte sich mit den unter der Woche bereits gelaufenen 70 km zu einem Wochenumfang von 230 bis 250 km. Darüber hinaus geht es ihm darum, Körper und Geist noch einmal über sehr lange Zeit, einschließlich einer Nacht, für die Bedingungen des Zielwettkampfes „Spartathlon“ zu konditionieren. Diese spezielle Vorbereitung ist mit kürzeren Ultras und vielen Trainingskilometern unter der Woche allein nicht zu erreichen. Einen ähnlich anspruchsvollen Aufbauwettkampf absolvierte er zuletzt Anfang Juli (Kölnpfad 171 km).

Der Haken an der Sache

So weit, so klar. Nur leider hat die „Sache“ einen ziemlichen Haken: Udo hätte sich den 24h-Lauf ein paar Wochen früher gewünscht und nicht zum Trainingsabschluss. Grund: Vor ein paar Wochen lag sein Umfang noch unter 200 km pro Woche. Er hätte damals in der Woche vor dem 24h-Lauf auf Sparflamme trainieren können und nicht dem Zwang unterlegen, stattliche 70 km vorab zu sammeln. Leider lag zum Wunschtermin kein 24h-Wettkampf in Reichweite. In Bernau tritt er folglich ohne jede Erholung an (!) und will einen kompletten Tag lang laufen. Möglich, dass der Körper darauf sauer reagiert, „orthopädisch“ und/oder hinsichtlich der Ausdauer. Er meint „Überlastreaktionen“ des Körpers vermeiden zu können, rechnet jedoch zum Wettkampfende hin mit völliger Erschöpfung. Gesammelte Ultraerfahrung versichert ihm, dass mindestens die zweite Hälfte dieses Laufs einem üblen Martyrium gleichkommen wird …

Die 24 Stunden von Bernau

Bernau liegt nördlich von Berlin und besitzt einen historischen Stadtkern. Teile davon, ein Stück Stadtmauer, Befestigungsgräben, ein Stadttor und einen alten Turm wird Udo ziemlich genau kennen lernen. Rund um diese ehedem zu Schutz und Trutz des Städtchens errichteten Bollwerke erstreckt sich in unseren Tagen der Bernauer Stadtpark. Hohe, alte Bäume (Schatten!) und ein Ententeich ergänzen die grüne Aue. Innerhalb dieses Areals werden die „24 Stunden von Bernau“ ausgetragen.

Der kleinere Teil des enormen, einem hoffnungslos überfüllten Campingplatz nicht unähnlichen Aufmarsches von Autos, Anhängern, Zelten, Partydächern, Wohnwagen, etc. auf geheiligtem Rasen des Stadtparks geht zu Lasten der 24h-Einzelläufer. Überwiegend okkupieren Mitglieder diverser Staffeln die grüne Stadtlunge, was dem Austragungsmodus der Staffelbewerbe geschuldet ist. Ausgeschrieben wurden 4er-, 10er- und sogar 50er-Staffeln, wobei die Teammitglieder jeweils nur eine (!) Runde drehen dürfen, um dann an den nächsten Läufer zu übergeben. Somit besteht grundsätzlich für alle anwesenden Läufer die Notwendigkeit über 24 Stunden wach und einsatzbereit zu bleiben. Ergänzt wird das samstags um 14 Uhr startende Feld von 6h-Einzelläufern und 6h-Staffeln.

Udos Kennenlernrunde

Udo biegt hinterm Start-/Zieltor und der Zeitnehmerbude scharf rechts ab, hält ein paar Meter auf einen schlanken, hohen Rundturm („Pulverturm“) zu, um sich dann in spitzem Winkel nach links der engen Gasse zwischen Stadtmauer und einer Wohnanlage zuzuwenden. Dass der Weg von hier bis auf Höhe des Stadttores minimal ansteigt, wird er erst einige Runden später merken, derzeit sind die Beine einfach noch zu frisch. Zwischen dem aus roten Ziegeln erbauten Stadttor und einem weiteren Mauerrest wechselt die Route auf die andere Mauerseite - leider über ein paar Quadratmeter holprig verlegter Pflastersteine. Im Kopf setzt er einen ersten Merker: Hier jedes Mal aufpassen!

Weiter im Schatten der Mauer auf festem, aber sandigem, beidseits von einer Doppelreihe Pflastersteine eingefasstem Weg. Der wird mehrmals schmäler, dann wieder breiter und zusätzlich von Mauervorsprüngen an diversen Stellen eingeschnürt. Auf der linken Seite recken alte Parkbäume ihre Äste in den Himmel, sorgen selbst jetzt, am sonnigen Nachmittag, für kühles Halbdunkel. Hinter Baumreihe und Pflastersteineinfassung fällt der Boden steil einige Meter zu einem Wassergraben hin ab. Zwei-, dreihundert Meter Mauerweg, dann scharf links und eine grässlich steile Rampe hinab. Unter leicht federnden Holzbohlen verbirgt sich eine Treppe, die uns der Veranstalter gottlob nicht zumutet. Schon diese vielleicht vier, fünf Meter Höhendifferenz auf Holzbohlen - im wahrsten Sinne des Wortes - runter zu „brettern“ ist nicht ohne Risiko. Zweiter Merker: Bei einsetzender Ermüdung verschärft auf den kleinen Absatz unten, den Übergang auf den knirschenden Schotterweg, achten!

Beschaulichkeit im Viereck: 50 x 30 Meter Ententeich ebenerdig von drei Seiten beschauen, dabei unter Trauerweiden und anderen Laubträgern meist im Schatten bleiben. Idyllisch anzuschauen der Weiher, doch wen interessiert das nach ein paar Umläufen noch? Ebenerdig ums Gewässer. Ebenerdig - also frei von Hindernissen? Mitnichten. Unmittelbar hinter der zweiten Ecke lauert eine Wurzel, lugt etwa drei, vier Zentimeter aus dem Sandboden. Holzkante genug, um müden Tippelschrittes daran hängen zu bleiben. Merker Nummer drei: Jedes Mal, im Hellen, mehr noch im Dunkeln der hämisch grinsenden Wurzel ausweichen!

Das Ende des Teichgevierts markiert zugleich den Beginn eines buckligen Walls, dessen höchste Stelle beachtliche acht Meter über jetzigem Niveau liegt. Und nicht nur das: Es beginnt mit einer Stolperfalle aus Pflastersteinen, v-förmig und quer den Weg verlegend. Sie soll verhindern, dass Regenwasser den Boden wegschwemmt. Merker Nummer vier: Udo muss einen Tag lang zumindest an dieser Stelle auf seinen gewohnten Schlappschritt verzichten! Gleichgültig, wie müde er ist!

Hat er diese Hürde genommen, geht es hinan mit wechselnder Steigung. Links fällt der Wall zum vorhin beschriebenen Graben ab, rechts zu einem zweiten. Wieder begrenzt die Doppelreihe Pflastersteine das Geläuf. Pflastersteine, die sich manchmal fausthoch vom Sandboden abheben, teilweise vorspringen oder sich über ihre Nachbarn erheben. Merker Nummer fünf: Immer schön Abstand vom Wegrand halten!

Der Wassergraben linker Hand endet, dafür schiebt sich ein alter Friedhof ins Blickfeld. Dicht an dicht wachsen die Parkbäume beidseits des Walls, spenden Schatten auf mehreren hundert Metern. Bei knapp 30°C am Nachmittag ein Segen, um auch mal eine gute Eigenschaft der Strecke ins Sonnenlicht zu rücken. Denn jetzt kommt es knüppeldick! Mikes* Warnungen vor dieser Strecke erfüllen sich wortgetreu, waren eher untertrieben! Die Steilheit des finalen Hügelchens fährt ihm vehement in die noch ausgeruhten Beine. Sein unhörbares Aufstöhnen gilt jedoch nicht dem Wallbuckel an sich, sondern fünf (!) Querrippen aus Pflastersteinen, jede mehrere Zentimeter über Bodenniveau aufragend. ‚Bin ich denn ein Pferd, dass ich über eine Fünffach-Kombination aus Cavaletti springen soll?’ fragt er sich spontan. Angesichts der über ihm in den Bäumen angebrachten gelben Leuchtröhren kann er nur hoffen, dass sie nächtens genügend Helligkeit verbreiten. Nur dann wird er diesen „Anschlag auf Läufers körperliche Unversehrheit“ heil überstehen. Merker Nummer sechs: Begreife die Friedhofspassage als latente Drohung, Udo! Konzentrier dich jedes Mal, wenn dieser Sandhaufen vor dir auftaucht!

*) Es ist hier von demselben Mike die Rede, mit dem Udo Seite an Seite einen Großteil des „Müritzlaufes“ (75 km) vor vier Wochen bestritt. Mike verfolgt dasselbe Jahresziel, den „Spartathlon“. Heute in Bernau ist Mike als 6h-Läufer mit von der Partie.

Ein Stückchen ebener Wall folgt noch, dann beschleunigt er kurz bergab, überquert einen Bürgersteig, danach eine gepflasterte Straße und entert jenseits mit beherztem Satz das Trottoir. Merker Nummer sieben: Nur einmal unachtsam oder wegen Erschöpfung zu früh, zu spät oder auch nur einen Millimeter zu tief den Schritt angesetzt und Udo liegt in ganzer Manneslänge auf der Nase! Aufpassen!

Nun sanft abwärts auf sandigem Weg, alsbald das Heerlager der campierenden Laufgemeinde passierend. Hier verläuft der Weg am Rand des Parks, wird deshalb einseitig von Bäumen beschattet. Zweihundert gefahrlose Schritte folgen, dann gilt es eine asphaltierte, von rechts einmündende Zufahrt heil zu überstehen. Denn eingefasst ist der Asphalt - wie sollte es anders sein - mit Vielfachreihen der schon bekannten, unebenen Pflastersteine. Merker Nummer acht: Vorm Betreten der Querstraße die Füße heben!

Jenseits der Zufahrt weiter auf hartem Sandboden, wenig später vorbei am Buffet für die Einzelläufer. Weitere etwa 80 Meter Campingtreiben zur Linken beäugen, dann folgt eine spitze Kehre. Auf breitem Asphaltband hält Udo abschließend aufs Ziel zu, das er nach weiteren hundert Metern erreicht.

Zahlenspielereien

Insgesamt legte Udo in dieser ersten Runde 1.615,577 Meter zurück, wobei sich ihm nicht erschließt, wieso man für einen dermaßen „schrundigen“ Kurs ein millimetergenaues Vermessungsergebnis angibt!? Halten wir also großzügig gerundet fest, dass sich seine Kilometersammlung nach jeder Runde um 1,61 km vergrößern wird, was ziemlich genau einer Meile entspricht (1 Meile = 1,60934 km). Und wenn wir schon beim Jonglieren mit Zahlen sind: 100 Runden ergeben als Produkt ungefähr 100 Meilen, etwas über 160 Kilometer, entsprechen somit seinem Minimalziel für diese … äh … Trainingseinheit.

Seltsamer Beginn

Wann ist ein Ultraläufer nach Kaltstart eingelaufen? Nach einer Viertel-, einer halben oder gar erst zu voller Stunde? Udo macht sich Gedanken über die seltsame Befindlichkeit, in der er sich praktisch vom ersten Schritt an und nun schon über eine Stunde gefangen fühlt. Es gelingt ihm nicht wirklich sein Empfinden in Sätze zu fassen, weil es sich nicht an klaren Symptomen festmacht. Unterschwellig „muckert“ da was. Körper und Geist (oder nur der Körper?) finden nicht bereitwillig in einen Laufrhythmus. Nicht so, wie er das sonst spürt. Er versucht sich dem Unbekannten, nicht Beschreibbaren, mit Vergleichen zu nähern, probiert verschiedene aus. Letztlich scheitert der Versuch. Am ehesten kann er noch diesem zustimmen: Es ist, als wäre er in einem hauchdünnen Anzug unterwegs, der alle mit dem Laufen verbundenen Wahrnehmungen dämpft, vielleicht auch geringfügig verzerrt, jedoch keine seiner Bewegungen behindert …

Woher kommt dieser merkwürdige Effekt? - Möglicherweise spielt die Wärme des Nachmittags eine Rolle. Knapp 30°C, von der aufheizenden Wirkung direkter Sonneneinstrahlung ganz abgesehen. Unter Parkbäumen ist es kühler, aber immer noch so warm, dass Schweißwischen in seiner Regelmäßigkeit dem Setzen von Schritten nicht nachsteht. Seltsam nur, dass er sich bei dieser Witterung im Grundsatz und auch heute pudelwohl fühlt. Also eine andere Ursache? - Nur, was für eine? Der Begriff „schlechte Tagesform“ wird „gerne genommen“, wenn es üble Entwicklungen oder Misserfolge zu erklären gilt. Dabei ist „schlechte Tagesform“ nicht mehr als ein Platzhalter für die tatsächlichen, psychophysischen Ursachen, auf die man sich in der Regel keinen Reim machen kann. Außerdem manifestieren sich die Auswirkungen mangelhafter Tagesform nicht schon nach Minuten … und nicht in dieser kurios unbeschreibbaren Weise.

Was tun? - fragt sich unser Mann natürlich. Die Antwort ist rasch gefunden: Gar nichts! Weil er nichts tun kann, außer weiterlaufen und darauf warten und hoffen, dass das Seltsame irgendwann verschwindet. Nebenbei angemerkt: Udo macht sich zwar Gedanken, hegt jedoch keine wirklichen Bedenken. Zu oft hat er erlebt, dass sich nach verkorkstem Beginn letztlich alles wunschgemäß entwickelte.

Wahrnehmungen und Begegnungen der ersten Stunden

Es gehört zur Eigenart von Stundenläufen, dass man weder ortsfest neben der Strecke Postiertem oder sich Ereignendem ausweichen, noch kreisenden Mitläufern „entkommen“ kann. Unter dieser Tatsache subsummiert Notwendiges, Schönes, Angenehmes, aber auch Nerviges, gelegentlich sogar Gefahrvolles. In diesem Zusammenhang notwendig ist zum Beispiel die regelmäßige Einkehr am Buffet der Läuferverpflegung. Es wird auf der Theke einer kleinen Hütte, wie man sie von Weihnachts- oder Jahrmärkten kennt, von zwei eifrig für Nachschub sorgenden Damen* dargeboten. Gleichermaßen unausweichlich zur Versorgung ist ein gelegentlicher Halt in Höhe des eigenen „Claims“.

*) Die Besatzung der Hütte wechselt in der Folgezeit zweimal. Allen Helfern ein herzliches Dankeschön von hier aus!

Was als „schön“ oder „angenehm“ wahrgenommen wird, ist natürlich subjektiv. Udo freut sich beispielsweise auf vielen Runden über ein Lächeln, eine aufmunternde Geste oder einen Zuruf seitens der „Radiergummiliga-Freunde“. Besonders Anett kümmert sich geradezu rührend um unseren Mann, fragt zuweilen, ob er etwas braucht und stellt sicher, dass er stets eine gefüllte Flasche alkfreies Weizenbier auf seinem Tisch vorfindet.

Auch die Dialoge mit Mike - als 6h-Läufer flotter unterwegs und jeweils von hinten aufholend - spenden kurzzeitig mehr Licht im schattigen Stadtpark. Und das, obschon Udo bei diesen Gelegenheiten über seine Schwierigkeiten reden, sie infolgedessen zwangsläufig an sich ranlassen muss. Das Ungute in Worte zu kleiden hilft aber auch - irgendwie. Beim ersten Mal, nach vielleicht anderthalb Stunden, wirkt der Dialog gar wie ein kleiner Nachbrenner, der Udos Hoffnungen potenziert. Als Sekunden später, in Höhe des Start-/Zielbereiches, auch noch die Rocknummer „Relax“ der Gruppe „Frankie goes to Hollywood“ mit hypnotischer Macht aus den Lautsprechern tönt, wallt sogar euphorische Entschlossenheit in ihm auf: Ich packe das! - Leider lässt die Wirkung der Psychodroge allzu rasch nach. Nützt sich ab an Holzbohlen, die in die Tiefe führen. Bleibt an Buckeln haften, die ihm aufwärts Kraft rauben. Kollidiert mit Pflastersteinen, die ihn zu Fall bringen wollen. Reibt sich an inneren Widerständen auf, die einfach nicht weichen …

Was empfindet er sonst noch als „schön“? - Rein optisch kann Udo sich kaum eine schönere als diese Strecke für einen 24h-Lauf vorstellen. Wenn sie das wollen, finden die Augen alle paar Augenblicke andere Bilder, Perspektiven oder Begebenheiten. Doch: Wie lange interessiert einen reizvolle Umgebung, wenn man nicht gut drauf ist? - Schon nach kurzer Zeit erreicht ihn keines der schönen Bilder mehr. Lethargie macht sich breit, vereitelt Lust auf Beobachtungen. Sein übliches Selbst erwacht nur sporadisch zu neuem Leben. Zum Beispiel als die Sonne langsam hinter Bäumen und Stadtmauer versinkt und während mehrerer Umläufe zauberhafte Lichteffekte kreiert. Allerdings: Das Adjektiv „zauberhaft“ ist auf meinem Mist gewachsen. Udo registriert lediglich eine „nicht unschöne Veränderung der Ansicht“, denkt und fühlt kaum etwas dabei. Und zwänge man ihn es zu beschreiben, verliehe er seiner Beobachtung eher schlichten, bereits eingetretener Abstumpfung entsprechenden Ausdruck - so etwas wie „schön“ vielleicht.

Nun zum subjektiv Nervigen, das verständlicherweise mit fortschreitender Wettkampfdauer an Dimension und Bedeutung gewinnt. Bekannt ist Udos musikalische Empfindlichkeit, die - ausdauernde Beschallung vorausgesetzt - emotionale Ausnahmezustände bis hin zu Wutanfällen auslösen kann. Manch melodiöse Scheußlichkeit aus offiziellen Lautsprechern ohrfeigt ihn auch heute. Zudem betreibt ein Staffelteam im Bereich des Campingplatzes ein mobiles, „wattstarkes Wummophon“, das mitunter Brechreiz provozierenden Schall emittiert. Im Großen und Ganzen hält sich die akustische Umweltbelastung allerdings in Grenzen.

Was ihm dagegen extrem „auf den Senkel“ geht, praktisch von Beginn an, alsdann von Stund‘ zu Stund‘ eskalierend, sind die unablässig vorbei stürmenden Staffelheinis. Bereits nach einer Runde übergeben sie das imaginäre Staffelholz, entsprechend fällt ihr Tempo aus. Da kommt sich unser Mann vor wie der letzte schlaffe, vom Winde verwehte Luftballon. Unter uns: So verkehrt ist der Vergleich heute gar nicht - aber muss man dem armen Kerl das unausgesetzt mit rasenden Überholmanövern unter die Nase reiben? - Außerdem birgt die „Sache“ auch Risiken: Rempler etwa, wenn sich so ein adrenalin-getriebener Heißsporn zwischen lahmen Einzelkämpferschnecken durchtankt. Oder der Moment des Hochschreckens, wenn die vorbei donnernden Intercity-Züge in sich versunkene 24-Stünder im engen Tunnel ihres Rest-Bewusstseins an imaginäre Wände drücken …

Abenteuerspielplatz

Ungewöhnlich für eine Laufveranstaltung, zumindest während die Hauptwettkämpfe ausgetragen werden, ist der hohe Kinderanteil. Als Staffelläufer auf der Strecke vom Vorschulalter (!) bis hin zu jeder Stufe des Erwachsenwerdens. Und neben der Strecke tummelt sich - das ist wörtlich zu verstehen - eine wilde Mischung aller Alterstufen. Was unserem zweifachen Großvater anfänglich häufig das Herz wärmt, ihm dann und wann sicher auch ein Lächeln entlockt, wandelt sich leider immer mehr zum Ärgernis. Kindern muss dieser große Park, in dem sie alles finden, was ihren Bedürfnissen entspricht, wie ein großer Abenteuerspielplatz vorkommen. Von Zielen, Beweggründen und schwindender Reaktionsfähigkeit unablässig kreisender Erwachsener machen sie sich keinen Begriff. Zwei komplett ignorante Instanzen kennen diese Zusammenhänge sehr wohl: Zunächst und hauptsächlich Eltern, die ihre Sprösslinge unkontrolliert sich selbst oder spontan sich bildenden „Rasselbanden“ überlassen. Eine Gleichgültigkeit andern gegenüber, die man überall beobachten kann, die einem, so man interveniert, allenfalls das Stigma der Kinderfeindlichkeit einträgt. Augenfällig auch das Organisationsversagen, da keinerlei „Grenzen“ gezogen wurden. Physikalische mit Trassenband dienen lediglich der Orientierung der Sportler und mentale - etwa Durchsagen über Lautsprecher - fehlen völlig. Offensichtlich existiert in dieser Hinsicht keinerlei Problembewusstsein. Da heißt es dann außer Stolperfallen auch noch spielenden Kindern auszuweichen, die nicht selten unmotiviert und unachtsam die Bahn queren. Und das Bein des am Boden sitzenden Mädchens, im selben Alter etwa wie seine älteste Enkelin, das urplötzlich vor seinen müde tappenden Füßen auftaucht und die Last seiner gut anderthalb Zentner Lebendgewicht sicher nicht unbeschadet überstanden hätte, wird er so rasch nicht vergessen …

Roy Black lässt grüßen

Einer aus dem Team der „Radiergummiliga“ wertete den 24h-Lauf als Generalprobe für den „Spartathlon“. Dem widersprach er entschieden. Generalproben erfolgen unter (fast) denselben Bedingungen, die bei der späteren Premiere herrschen. Und davon ist Udo in vielen Belangen ungefähr so weit entfernt wie momentan von zu Hause. Im Hinblick auf die meistenteils neue Bekleidung veranstaltet er jedoch tatsächlich einen Testlauf. Ganz in weiß, um der Sonne Griechenlands zu trotzen. Bewähren soll sich in erster Linie die neue Lauftight. Weiße Hosen sind selten. Bei Männern dominieren die „Farben“ grau, blau, vor allem schwarz. Wer will schon in unschuldigem Weiß auffallen wie der sprichwörtliche bunte Hund? Seine weiße Neuerwerbung wurde zudem als Kompressionshose gewebt. So ein „Teil“ trug er nie zuvor. Die Testreihe begann daheim: Lauf eins über 15 km - alles paletti. Lauf zwei über 30 km - keinerlei Probleme. Heute und morgen soll die „Wurstpelle“ nun ihre Verträglichkeit über 24 Stunden nachweisen …

Fußangeln

Die neuralgischen Punkte der Strecke sind tief im steuernden Zentrum verankert. Udos Füße heben sich sozusagen „vollautomatisch“ hoch genug oder treten bewusst auf die Hindernisse. Es erstaunt ihn selbst ein bisschen, dass er im Verlauf mehrerer Stunden in keine der heimtückischen Fallen tappt. Wie um sein solchermaßen gestörtes Weltbild wieder ins Gleichgewicht zu bringen, lässt ihn ein unbedachter Moment der Doppelreihe Pflastersteine zu nahe kommen. Er bleibt mit der Fußspitze hängen, strauchelt, fängt sich im letzten Moment mit dem Standbein ab. ‚Sch … pflastersteine!’ schimpft er lautlos als der Schrecken weicht. Hasst er wirklich die Steine oder eher die eigene Schusseligkeit?

Platzt der Knoten?

Udos seltsame Befindlichkeit der ersten Stunde scheint gewichen. Vielleicht regiert sie auch noch, er nimmt sie nur nicht mehr wahr, weil stundenlanges Vor-sich-hin-traben innere Spuren hinterlässt. Zwischenzeitlich zweifelt er nicht mehr daran, dass ihn neben fehlender Regeneration auch noch „anderes“ ausbremst. Was das sein könnte, erschließt sich ihm nicht. „Schlechte Tagesform“ also, die übliche Worthülse für unerklärliche Schwächen, wo eigentlich Ausdauer verlässlich tragen sollte.

Noch ein paar Schritte, dann erreicht er Marathondistanz*. Die abgelesene Zeit verpasst ihm einen ordentlichen Dämpfer: 4:35:xx Stunden … Nicht missverstehen: Bezogen auf das Wettkampfziel von 160 bis 180 km ist das immer noch zu schnell. Wie „abgehalftert“ er sich nach diesen 4:35 Stunden und „nur“ einem Marathon bereits fühlt, das treibt ihm Sorgenfalten auf die Stirn! Fehlende Erholung hin oder her: Derart angegriffen dürfte er sich zu diesem frühen Zeitpunkt und nach bisheriger „Schleichfahrt“ nicht fühlen. Und besser wird es nicht mehr werden. Das ist angesichts subjektiver wie objektiver Rahmenbedingungen dieser 24 Stunden ausgeschlossen. Die Schlussfolgerung lässt sich nicht unterdrücken: Ihm steht eine schlimme, eine sehr schlimme Tortur bevor.

*) Verlässliche Auskunft über gesammelte Kilometer gibt ein im Zielbereich aufgestellter Monitor. Merkwürdigerweise stimmt die dort abgelesene Zahl bis auf wenige Meter mit seiner GPS-Anzeige überein. Also weiß Udo ziemlich genau, wo und wann er im Dschungel des Stadtparks die Marathonmarke überschreitet.

Es werde Licht

Sechs Stunden sind um, 20 Uhr vorbei und wo sich Bäume des Stadtparks zum geschlossenen Blätterdach verbünden herrscht bereits tiefe Dunkelheit. Besser gesagt: Dort wäre es bereits stockdunkel, sorgte die Streckenbeleuchtung nicht für ausreichend Helligkeit. Bis auf zwei Stellen im Rund fällt die Ausleuchtung passabel aus. Als unangenehm erweist sich die Blendung durch zu hoch eingestellte Scheinwerfer in Höhe der asphaltierten Zufahrt. Dort hebt Udo vorsichtshalber die Füße höher als üblich. Völlig im Dunkeln liegt auch ein Flecken zwischen Stadttor und Mauer, für die er anfangs „Merker Nummer 1“ setzte. Auch dort hebt er die Füße bewusst an, um nur ja kein Straucheln zu provozieren.

(Vorläufiger) Abschied von Mike

Irgendwann vor neun verabschiedet sich Mike. Sein forsches Tempo bescherte ihm mehr als 58 km in 6 Stunden und ein ziemliches Tief in der letzten Wettkampfstunde. Mike und Udo gehen mit dem Versprechen baldigen Wiedersehens in Griechenland auseinander … Unausgesprochen bleibt dabei beider inständige Hoffnung: Gemeinsam wollen sie in Sparta feiern - das erfolgreiche Finish nach 246 gelaufenen Kilometern …

Die lange Nacht von Bernau

Im Vorfeld klopfte die Wahrheit mehrmals verhalten an, bevor er sie jeweils erfolgreich verdrängte. Die lange Nacht von Bernau! Anfang September wird es um 20 Uhr dunkel und erst gegen 6 Uhr wieder hell. „Ätzend“ lange 10 Stunden Dunkelheit! Ein bisschen viel für jemanden, der Laufen in der Dunkelheit eigentlich nicht mag. Jetzt ist die Nacht Realität und gilt ihm als Zwischenziel: Die Nacht gut überstehen - der Rest wird sich finden!

Natürlich herrschen weder völlige Dunkelheit, noch tatsächliche Nachtruhe im (Wett-) Kampfgebiet. Nach und nach wird es stiller auf dem „Campingplatz“. Der Tross mitgereister Betreuer und Zuschauer hat sich größtenteils in Zelte und Wohnwägen verkrochen. Zu später Abendstunde sind auch alle Kinder verschwunden. Der Austragungsmodus der Staffelbewerbe zwingt den Rest der Teams sich die komplette Nacht um die Ohren zu schlagen. Wenngleich ruhend in Liegestühlen, zugedeckt und chillend, verfolgen doch zig wache Augenpaare den einsamen Rundendreher. Die schläfrig wirkenden „Radiergummis“ leisten dem trabenden Udo Gesellschaft, winken immer mal herüber oder gönnen ihm ein nettes Wort.

22 Uhr vorbei, Zeit zu Hause anzurufen. Er schnappt sich am Tisch sein Handy, joggt ein Stück weiter und spricht mit seiner Frau. In knappen Sätzen schildert er Ines alle Unbilden - äußere und innere. Letztere besonders, wobei er darauf achtet trotzdem optimistisch zu klingen. Vom Zwischenergebnis her hätte er auch allen Grund dazu. Nach 8:10 Stunden stehen immerhin schon knapp 70 km auf dem Zähler. Ihre genaue Wortwahl bleibt ein Geheimnis der Bernauer Nacht, doch zusammenfassend sei verraten: Unmissverständlich, zugleich einfühlsam und anfeuernd bekräftigt Ines, was er eigentlich selbst schon weiß: Du packst das!

Wie entsetzlich langsam Zeit vergehen kann, hat jeder schon einmal erlebt. Wenn man etwas tun muss, was einem schwer fällt, wozu man eigentlich keine Lust hat und/oder unter misslichen Umständen. Udo läuft in einem Universum, wo sich Sekunden auf Minutenlänge dehnen. Die Lust am Laufen - er verpflichtet sich in Dingen des Laufsports stets zur Wahrheit - ist ihm schon in den ersten Stunden vergangen. Zu mühsam fühlte und fühlt es sich an, als dass es Spaß machen könnte. Und genau diese Mühe, die Notwendigkeit mehr und mehr über Willenseinsatz Energie für Schritte zu mobilisieren, rückt das Morgengrauen in entsetzlich weite Ferne. Sein Kopf formt solche Gedanken und er lässt sie zu. Auch auf die Gefahr hin, dass sich zum sicheren physischen Martyrium auch noch das mentale gesellt. „Lang“ und „hart“ blieben dann nicht die einzigen Prädikate der Bernauer Nacht. Er hätte mindestens noch „grauenhaft“ zu ergänzen …

Unerhörtes stößt Udo in der langen Nacht von Bernau zu! Eine Begebenheit sei nur kurz „gestreift“, weil sie in einer vollständigen und ehrlichen Darstellung dessen, was Ultraläufern widerfahren kann, nun einmal nicht fehlen darf. - Der Toilettenwagen steht im Zielbereich. Udo hat die Stelle gerade passiert, als ein „Rühren“ im Unterbauch einsetzt und sich mit jedem Schritt verstärkt. Zunächst misst er den Signalen keine Bedeutung bei, begreift sie ein paar hundert Meter weiter dann aber doch als ultimative Drohung. ‚Wie kann das sein? Dergleichen ist mir noch nie passiert! Mitten in der Nacht und obschon ich seid 12 Uhr Mittag nichts mehr gegessen hab!’ - Irgendwann ist für alles das erste Mal. Zum Glück gewährt im sein Unterbauch noch ein paar Minuten Aufschub, um die Runde zu beenden … Zeitbedarf für die „unerhörte“ Zwangspause: Etwa acht Minuten.

Unschön auch die Sache mit „Platz 3“: Lange Zeit krebste unser Läufer auf Platz 6 des Klassements herum, mit mäßigem Abstand nach oben und unten. Platzierungen dürfen ihn heute nicht interessieren und er widmet ihnen auch keine Aufmerksamkeit. Bis er dann unversehens auf Platz 3 aufrückt. Dieser Umstand macht Udo zu schaffen. Aber anders, als man das bei ehrgeizigen, leistungsorientierten Kerlen seiner Prägung vermuten würde: Einerseits freut ihn die Tatsache, andererseits fürchtet er die Versuchung. Noch spürt er genügend Kraft, um „für etwas“ zu kämpfen und nicht nur „gegen“ totale Erschöpfung. Aber eben genau das darf er auf keinen Fall tun!! Das augenblickliche Tempo wird nachlassen. Und sollte das wider Erwarten nicht geschehen, dann wird er Pausen einlegen müssen, um keinesfalls mehr als die angepeilten Kilometer anzuhäufen. Nach jeder Runde blickt er nun „hassliebend“ auf die „3“ vor seinem Namen. Freut sich, hofft insgeheim es bliebe so; wünscht sich zugleich die Verfolger möchten ihn doch endlich wieder auf weniger exponierte Ränge verdrängen, damit er die Bewachung des „ehrgeizigen inneren Werwolfs“ einstellen kann …

Stundenlang geht das so. Inzwischen guckt er nur noch selten aufs Bord. Irgendwann beschließt Udo zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er ist ohnehin zu flott unterwegs, seinem Soll voraus und beginnt zu trödeln. Sucht Gespräche, wo er glaubt welche zu finden. Verwickelt auch Anett in einen langen Dialog, als er mal wieder zum Versorgen in Höhe seines Claims Station macht. Auf diese Weise verschwenderisch Zeit totzuschlagen genügt aber nicht, um endlich den „doofen“ Treppchenplatz loszuwerden. Erst besagte Acht-Minuten-Investition, um der Attacke des eigenen Wanstes zu wehren, lässt ihn wieder auf Rang 5 abrutschen. Er war sich seiner selbst nicht sicher, hat es aber gehofft: Das Verdrängtwerden lässt ihn vollkommen kalt.

Irgendwer hat noch ein paar Lampen organisiert und damit die Dunkelzone zwischen Stadttor und Mauer erhellt. Sogar eine weihnachtlich bunte Lichterkette - anscheinend aus privatem Fundus - wurde herbeigeschafft, um Unfälle beim Übergang vom Mauergässchen in den Park zu vermeiden. Vermutlich ist es der Intervention des dort ausharrenden Streckenpostens zu danken, dass die Gefahrenquelle beseitigt wurde. Vorsorglich bedankt sich unser Mann für diese Initiative.

Jacke und Armlinge werden nicht zum Einsatz kommen. Die Luft über Brandenburg kühlt nicht in dem Maße ab, wie er das von daheim in Bayern gewohnt ist. Tiefer als 17, 18°C sinkt das Quecksilber nicht. Mehrmals erwägt Udo einen Wechsel von Unterhemd und Träger-Shirt, verwirft den Gedanken aber ebenso häufig. Er sieht einfach keinen Sinn darin.

Zeit für ein paar Nachtaufnahmen zur Illustrierung des späteren Laufberichts. Auch die kosten Zeit. Zum Finden geeigneten „Schussfeldes“ und durch Fehlversuche, weil es schwierig ist das verzögerte Auslösen des Blitzes so zu steuern, dass das Objektiv einen Läufer einfängt. - Hoppla! Was ist das? - Alle Aufnahmen hinter der Stadtmauer sind unscharf und zeigen Lichtreflexe!? Objektiv verschmutzt? - Sein von unablässigem Kreisen behinderter Denkapparat braucht mehrere Ansätze bis er begreift: Die Luft ist voller Staub, den Läuferfüße beständig aufwirbeln. Die Kameraautomatik versucht auf diese Partikel scharf zu stellen. Nachtaufnahmen sind daher nur auf befestigten Abschnitten möglich.

Du würdest ihn gern fragen, wie er es schafft an und in dieser ewigen Finsternis nicht zu verzweifeln? Nicht um Mitternacht, als ihm noch ein Vierteltag Dunkelheit bevorsteht, nicht um 2 Uhr, zur Halbzeit, da bis zur Morgendämmerung weitere vier quälend lange Stunden zu durchtraben sind, auch nicht um 3, noch um 4 … letztlich zu keinem der unendlich vielen nächtlichen Momente … Er würde dir ohne Zögern antworten, weil er sich die Frage selbst mehrfach vorlegte: Der Hauptgrund besteht im Wissen solche scheinbar ausweglosen Situationen schon oft, mehrfach auch sehr lange, ausgehalten zu haben und dabei nicht einmal in depressive Stimmungen „abgeschmiert“ zu sein. Zumindest war es in den letzten Jahren so. Mit anderen Worten: Er hat das Aushalten von Hoffnungslosigkeit in selbstquälerischer Manier vielfach trainiert. Sich ihr ausgesetzt, sie erfolgreich überstanden und sich auf diese Weise einen mentalen Panzer zugelegt. Darüber hinaus hilft ihm, sich auf das anwachsende Kilometerkonto zu fokussieren und die Uhrzeit weitgehend zu ignorieren.

Und das Konto wächst: Fast 97 km hat er zur Halbzeit gesammelt. Zwei Umläufe später feiert er die Dreistelligkeit, noch als Drittplatzierter, der im Orbit kreisenden Satelliten und peilt als nächstes Zwischenziel 110 an. Die Meilenlänge der Strecke bedingt einen unsteten Zählrhythmus. Nach „doofen“ Runden erhöht sich der Kilometerstand nur um eins, nach „netten“ Umläufen dagegen gleich um zwei. Immer schön wechselweise: Doofe Runde - nette Runde - doofe Runde - nette Runde …*

*) Du siehst das vollkommen korrekt: Kilometersammeln im Kreis kann man nicht ungestraft über längere Zeit betreiben, soll die geistige Gesundheit nicht auf der Strecke bleiben …

Udo könnte sich gedeihlichere Beschäftigungen vorstellen als hier den 24 Stunden-Dauerläufer zu geben. Schlafen wäre schon mal ein toller Anfang … Würde man ihn auffordern seine nächtliche Grundstimmung in ein Wort zu fassen, es lautete „gedrückt“. Was ein gelegentliches Lächeln allerdings nicht ausschließt. Meist natürlich, wenn die „Radiergummis“ ihn mal wieder aufmuntern. Einmal jedoch auch beim Passieren der Stadtmauer. Wie oft ist er nun schon hier vorbei gelaufen, ohne den Namen der Gasse zu registrieren. Jetzt erst fällt er ihm über den hell erleuchteten Hausnummern der Wohnanlage auf: „Am Henkerhaus“ steht da. Die Herren von der Stadtverwaltung scheinen einen seltsamen Humor zu besitzen. Stell dir vor, es fragt dich einer wo du wohnst. In „Bernau bei Berlin“ lautet deine Antwort. Ach ja, meint der Frager, davon habe ich schon gehört. Und wo in „Bernau“ lebst du. Und dann wirst du wahrheitsgetreu Auskunft geben: Ich wohne „Am Henkerhaus“ …

Zwei Streckenpunkte sind Tag und Nacht besetzt; zum einen der bereits erwähnte in Höhe des Stadttores - vermutlich, weil dort immer wieder Passanten und Radfahrer die mit Trassenband gesperrte, durchs Tor führende Straße nutzen. Das untere Ende der hölzernen Rampe genießt besondere Aufmerksamkeit. Nach Einbruch der Dunkelheit zogen der dort postierte Mann ab und dafür zwei schwarz uniformierte Security-Leute auf. Eine weitere Doppelstreife der Security wacht (wahrscheinlich als Eingreifreserve) in Höhe des Läuferbuffets. Ob dieser Ort strategische Bedeutung hat, weiß ich nicht. Am Buffet gibt’s jedenfalls die ganze Nacht über heißen Kaffee und auch was zu futtern … Im Dunkeln bleibt im Dunkeln, weshalb der Veranstalter für Security-Personal tief in die Tasche greift. Erst nach Ende des Wettkampfes, anlässlich einer Dankadresse an die Wachleute, erfährt man von massivem Ärger mit Randalierern in einem der Vorjahre …

Udo fühlt sich nach jeder vertippelten Viertelstunde zerschlagener. Weniger schwindende Ausdauer macht ihm zu schaffen: Der Prozess der Entkräftung vollzieht sich extrem langsam, lässt sich überdies mit zuckersüßem Gel, Temporeduzierung und vermehrtem Willenseinsatz beinahe endlos verlängern. Um das Entscheidende salopp zu formulieren: Alle Knochen von der Taille an abwärts tun ihm zwischenzeitlich weh. Mal mehr an dieser, mal an jener Stelle. Wenn überhaupt ein Zentrum „orthopädischen Protestes“ zu lokalisieren ist, dann im Bereich der linken Hüfte. Er kennt dieses Ziehen von langen Trainingsläufen. Seltsamerweise trat es jedoch so gut wie nie bei Aufbauwettkämpfen in Erscheinung. Heute schon. Da bahnt sich ein hässlicher Schmerz an, intermittierend, wie der übrige Chor der Beschwerden. „Intermittierend“ bedeutet „mit Unterbrechungen“. Allerdings werden die Pausenintervalle kürzer …

Man könnte diverse Vergleiche, Metaphern, Sinnbilder, Parabeln, Parallelen - such dir was aus! - bemühen, um Überdruss, Leere, Vereinsamung und Misslichkeit seiner augenblicklichen Verfassung nachvollziehbar zu vermitteln. Ihm selbst drängten sich solche Bilder bei früheren Gelegenheiten auf. Etwa das vom „Hamster in seinem Rad“ oder von „Sisyphos“, den die Götter dazu verdammten bis ans Ende aller Tage den stets wieder zu Tal kullernden Stein auf den Berg zu rollen. Nichts dergleichen regt sich heute Nacht in seinem tauben Oberstübchen. Er leidet einfach still vor sich hin. Hält aus, was nicht zu ändern ist - es sei denn durch … aber diese Alternative ist keine wirkliche. Nicht für ihn. Er wird so lange laufen, wie ihm das physisch möglich ist und so lange keine Verletzungsgefahr droht …

Um einen Aspekt seiner Situation kreisen die lahmen Gedanken allerdings wiederkehrend: Woran werde ich merken, dass ich abbrechen muss? Welche Signale wird mein Körper aussenden, denen ich mich zu unterwerfen habe? Müdigkeit und Schmerz allein bieten keine sichere Orientierung. Etliche Male widerstand er Schmerz und Erschöpfung folgenlos. Nur einmal führte ein Lauf in die Verletzung, doch das nach vollen zwei Tagen Verzögerung. Und seinerzeit gab es keinerlei warnenden Vorzeichen, die ihn über das übliche „orthopädische Meckern“ hinaus alarmiert hätten. Er hat schlicht keine Erfahrung mit Abbruchsituationen vorzuweisen. Erlebte keine wie auch immer geartete Schwäche und keinen Schmerz, die ihn ernsthaft geängstigt hätten … Also wie wird es sich anfühlen, wenn sein Körper ihm die gelbe Karte zeigt?

Mit Tagesanbruch ist nichts gewonnen

Rasch verdrängt das Licht des anbrechenden Tages die künstliche Beleuchtung. Lediglich im Blättertunnel auf dem Wall und im Bann der Stadtmauer hält sich das Zwielicht länger. Halb sieben Uhr am Morgen. Jetzt ist es hell, die Nacht überstanden und damit ein wichtiges Teilziel erreicht. Der Wunsch alsbald wieder im Tageslicht zu laufen hat ihn vorwärts getrieben, alles Sehnen durchdrungen. Nun ist es so weit und ihm wird bewusst, was er erfolgreich verdrängte: Noch sieben und eine halbe Stunde Restwettkampf. Eine verdammte Ewigkeit, wenn man alles lieber täte als laufen, überdies alle Fasern jaulen und fortschreitende Ermüdung den Akku bereits weit entladen hat. Eine neue Strategie muss her …

Der Blick auf die wachsende Kilometerleistung offenbart ein weiteres Dilemma: Um Viertel nach sieben stehen bereits 130 Kilometer zu Buche. Sammelt er weiter in diesem Tempo Kilometer, überschritte er sein Maximalziel. Unterdessen ist ihm jedoch zweierlei absolut klar: So wie sich bereits diese 130 km im „Gebein“ anfühlen, darf er unter keinen Umständen weiter als 160 bis 170 Kilometer laufen. Zudem lässt sich der Kräfteverfall auch mit geballten Zuckerrationen aus Gels und Cola nicht weiter verzögern. Also wird auch die Ausdauer nicht mehr als diese 160 bis 170 km zulassen.

Also noch mehr trödeln, noch längere Verpflegungspausen, noch mehr Gespräche, dabei Rumstehen. Gehen kommt nicht in Frage. Erstens, weil es nicht nötig ist. Die Kraft für langsame Laufschritte wird noch lange reichen. Außerdem entspräche es nicht der gewünschten Trainingsform. Laufen gilt es zu trainieren, endlos langes Laufen, nicht Gehen. Drittens und letztens wehrt sich alles in ihm Gehschritte auf dem Kurs zu setzen. Schon Gehschritte anlässlich unausweichlicher Verrichtungen sind ihm im Grunde zuwider.

Das neue Ziel heißt „140 Kilometer“. Nach jeder Runde kontrolliert er den Zuwachs. Manchmal hat er das Gefühl auf der Stelle zu treten, dem Zwischenziel nur im Ultraschneckentempo näher zu kommen. Dann wieder schaltet der Zähler zwei Kilometer auf einmal weiter und seine Zuversicht erfährt einen Schub. Mühsam, sehr, sehr mühsam.

Lohnt sich das?

Er ist des Laufens überdrüssig. Ganz und gar. „Spartathlon“ hin, „Spartathlon“ her. Lohnt es sich wirklich, über inzwischen mehr als acht Monate unablässig Gewalt gegen sich selbst zu richten, sich vorwärts zu peitschen, ständig die Wochenumfänge zu erhöhen, Schmerz und Erschöpfung zu ertragen und alle begleitenden Nicklichkeiten, die ein leistungsorientiertes Läuferleben mit sich bringt? - Lohnt sich das? - Von Identitätskrise zu sprechen wäre übertrieben. Ob es sich lohnt, über so lange Zeit vieles andere zu vernachlässigen, wird erst die Zukunft zeigen. Aber eines weiß er auch jetzt ganz sicher: Er will diesen verfluchten „Spartathlon“ laufen und finishen! Und dafür muss er sich quälen. Seit Monaten schon, gegenwärtig über diese 24 unendlich langen Stunden und erst recht dann in Griechenland …

Das nächste Ziel lautet „150 Kilometer“. Zeitlich kann sich Udo nun jeden erdenklichen „Luxus“ leisten. Fast vier Stunden Zeit für zwanzig Kilometer. Noch langsamer zu traben geht eigentlich nicht. Also großzügig Minuten verplempern, für dies und jenes. Häufiges Schweißwischen mit dem Handtuch, mehr oder weniger tiefsinnige Gespräche führen, ausgiebig zum Verpflegen rasten, mal wieder eine Fotorunde einlegen und sich mehrmals bei Anett nach ihrem Befinden erkundigen …

Ach so, das hatte ich noch nicht erwähnt: Die bedauernswerte Anett stürzte auf ihrer Staffelrunde und schlug sich dabei das Knie auf. Es schwoll an und sie entschied den Wettkampf zu beenden. Wie das passieren konnte? - Im Grunde habe ich die Situation in Form verschiedener Risiken bereits beschrieben. Zwei Umstände kamen bei ihr zusammen: Zwei nebeneinander laufende Teilnehmer blockierten die Strecke an einer Engstelle. Anett überholte und blieb mit der Fußspitze an der Doppelreihe Pflastersteine hängen …

Die Temperatur steigt und scheint heute kein Limit zu kennen (erst bei 29°C wird das Quecksilber sein Klettern einstellen). Udo spürt die Wärme, empfindet sie aber selbst im desolaten Zustand dieser finalen Wettkampfphase nicht als störend. Rasch triefen die in der Nacht weitgehend abgetrockneten Klamotten wieder. Er fragt sich, ob er wohl eine unangenehme „Duftspur“ hinter sich her zieht und, ob er sich umziehen soll. Zeit wäre massenhaft dafür vorhanden. Außerdem fühlt er sich schmutzig wie selten. Von der Hüfte an abwärts bedeckt Staub die Klamotten. Besonders Kompressionsstulpen und Schuhe sind von einer fetten Schmutzschicht bedeckt. Also umziehen? Er verwirft den Gedanken. Sich aus dem feuchten Zeug zu pellen würde ihn zu einer ziemlichen Kraftanstrengung nötigen. Noch mehr Pein auf einem auch so schon leidvollen Weg und wirklich erforderlich ist es nicht …

No-Go

Mittlerweile schafft er es nur noch selten an der Verpflegungshütte ohne Rast vorbei zu kommen. Weil Zeit keine Rolle mehr spielt und ihn auch sonst nichts drängt. Gelegentlich setzt er sich zum Trinken sogar auf die bereitstehende Bank. An sich ein völliges No-Go und anlässlich entsprechender Angebote durch die „Radiergummis“ stets mit schlagendem Argument abgelehnt: „Wenn ich mich setze, muss ich wieder aufstehen!“ Auch die Überwindung beim Aufstehen macht ihm zwischenzeitlich nichts mehr aus. 150 sind im Kasten und 160 Kilometer nicht mehr allzu weit. Volle 170 nicht mehr anzustreben hat der innere Kriegsrat vor einiger Zeit beschlossen. Der ziehende Schmerz (oder ist es eher ein Drücken?) in der linken Hüfte, nun beständig beim Laufen spürbar, mahnt zur Mäßigung …

Der Abenteuerspielplatz hat seinen Betrieb wieder aufgenommen. Mit gedankenlosem Queren des Kurses muss neuerlich jederzeit und überall gerechnet werden. Kinder und Jugendliche laufen seit dem frühen Morgen auch wieder vermehrt für ihre Staffeln (Punkt 6 Uhr begegnete Udo der erste kleine Junge auf der Runde!). Gekreische hier, Gejohle dort, wenn mal wieder ein Halbwüchsiger den Standort seiner Staffel passiert. Das läuferisch Fragwürdigste war ein kleiner Junge, vielleicht 4, 5 Jahre alt, der von seiner Mutter begleitet werden musste, um sicher über die Strecke zu kommen. Wenn er stehen blieb, was nach 20 Metern „Vollgas“ notgedrungen der Fall war, feuerte sie ihn an weiter zu laufen. Zweimal war Udo gezwungen einen Bogen um den nicht gerade schmalen Körper des „Muttertieres“ zu schlagen. Und die Unberechenbarkeit ihres Sprösslings forderte auch ihm weiträumig auszuweichen. Was um alles in der Welt geht in den Köpfen solcher Menschen vor? Und warum lässt der Veranstalter eines 24 Stundenlaufes, der ganz genau um die Härte des Wettkampfs für die Einzelläufer weiß, dergleichen geschehen?

Immer mehr Läufer beenden das Rundendrehen vorzeitig oder legen gleich Udo lange Pausen an der Verpflegungshütte ein. Gespräche entspinnen sich. Einer bricht vorzeitig wieder auf, um seinen „6. Platz“ zu verteidigen. Udo bietet ihm an ihn doch zu überholen und verspricht: „Ich werde nicht viel mehr als 160 Kilometer sammeln!“ Das ist pure Koketterie, weiß er doch um die Ermüdung des anderen. Selbst ausgeruht wäre der kaum fähig die gegenwärtigen 10 km Vorsprung aufzuholen.

Noch eine Stunde. Noch einmal 60 Minuten mit irrsinnig vielen Sekunden. Stimmungsmäßig hat er sich längst aus dem Sumpf der ersten Morgenstunden gezogen. Man fragt sich, wie das geht, wenn sich einer so dem Ende nahe fühlt wie er. Wenn ein wahres Symphonieorchester aus Schmerzen bei jedem Schritt ein weithin hörbares Crescendo intoniert. Er selbst denkt darüber längst nicht mehr nach. Ihm ist nur wichtig, dass er DAS kann: Aushalten! Durchhalten! Auch nach vielen durchlittenen Stunden noch. Denn das wird er brauchen in Griechenland. Genau das!

Noch ein No-Go

Runde 100 muss das sein und als sie hinter ihm liegt stehen 161,xxx Kilometer auf dem Zähler. Vierzig Minuten bleiben noch. Er steht bei den „Radiergummis“ und Anett fragt, ob er noch eine Runde drehen wird. „Ach, eine geht noch!“ meint er und bricht auf … Einkehr bei der Verpflegungshütte: Zum zweiten Mal schnappt er sich eine Brötchenhälfte mit Frischkäse. Noch so ein No-Go: Schwer Verdauliches im Wettkampf mampfen. Aber der ist so gut wie gelaufen und Udo hat Hunger. Hunger auf anderes als dieses widerlich süße Zeug aus Beuteln und Bechern …

Wieder pausiert er bei den „Radiergummis“ und wieder wird das Weiterlaufen „ausdiskutiert“. „Ich laufe jetzt noch genau eine Runde und dann melde ich mich bei den Zeitnehmern ab.“ Bricht auf, nimmt ein letztes Mal die Strecke unter die wehen Füße. Wie sich gezeigt hat, eine brutal harte Strecke. Stoppt noch einmal vor der Tränke, stillt seinen Durst, tippelt wieder los und freut sich vor allem über das nahe Ende der Quälerei. Auf die Zielgerade, noch 50 Meter, die finalen 20, ein letztes Mal über die Induktionsschleifen der Messanlage und: SCHLUSS! - sechs Minuten vor Ultimo.

Ergebnis: 164,788 Kilometer, Platz 5 gesamt von 44, Platz 1 in M60

 

Fazit zum Wettkampf

Die Strecke hat Vorteile: Abwechslungsreiche und hübsche Ansichten im Stadtpark. Alter Baumbestand gewährleistet kühlen Schatten auf etwa zwei Dritteln des Kurses. Die Nachteile sind gravierend: 8 Höhenmeter Steigung in Form von Buckeln auf jeder Runde. Eine Holzrampe, die 5 Meter Schussfahrt in die Tiefe fordert. Fester Sandboden auf etwa zwei Dritteln der Strecke. Etliche Stolperfallen im Kurs (Reihen von Pflastersteinen, Wurzeln, Randsteine, unebenes Pflaster).

Die Organisation des Laufes lässt keine Wünsche offen, was Abläufe und Versorgung der Läufer angeht. Allerdings leidet die Sicherheit erheblich infolge Volksfestcharakters der Veranstaltung und spielenden Kindern auf dem Wettkampfareal. Der Veranstalter ließ keine Bemühungen erkennen diesem Problem abzuhelfen.

Der Austragungsmodus der Staffelwettbewerbe führt zwangsläufig dazu, dass die langsamen Einzelläufer immer wieder von Läufern „aufgescheucht“ und/oder behindert werden, die ehrgeizig mit hohem Tempo und nicht selten rücksichtslos vorbeipreschen.

Fazit: Kein 24h-Lauf, den ich weiter empfehlen würde oder selbst noch einmal durchstehen möchte.

 

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