Samstag, 20. August 2016

War irgendwas im Morgenkaffee?  -  Müritz-Lauf 2016

Unentschieden: Nicht kalt und nicht warm, weder sonnig, noch regnerisch. Himmel bedeckt, schätzungsweise 16, 17 °C. Entschieden: Verzicht auf Armlinge und Kappe. Ersteres passt auf jeden Fall, friere ich doch kurzärmlig nicht mal vorm Start. Wird es regnen? Wird sich die Sonne zeigen? Auf „Wetter-Punkt-Dingsda“ las ich gestern von 44 Prozent Regenwahrscheinlichkeit zur Startzeit 8 Uhr, die der älter werdende Tag alsbald gegen null Prozent eindampfen sollte. „44 Prozent Wahrscheinlichkeit“. Aha. Und was bedeutet das? Null Prozent lässt keinen Spielraum für Spekulationen. Null is’ nix, nothing, niente: Kein Regen. Auch 100 Prozent enthebt einen des Nachdenkens: Petrus wird dich nicht verschonen! Aber alles dazwischen? Sagen wir mal 6 Prozent!? Ziehst du bei 6 Prozent Regenwahrscheinlichkeit eine Radtour samt Picknick mit der Familie durch? 6 von 100 ist doch nur ein Klacks. Andererseits: Die Wahrscheinlichkeit im Lotto einen Sechser einzufahren liegt extrem nahe null und doch ereilt dieses üble Schicksal Woche für Woche den einen oder anderen Glücksspieler …

44 Prozent … Ich schaue mich um: Keiner meiner knapp hundert Mitstreiter rechnet mit Regen - alle luftig leicht für ein „Trockenläufchen“ bedresst. Das gilt auch für Mike, den Berliner. Einer von 35 glücklichen Deutschen, die in diesem Jahr denselben Traum leben wie ich: „Spartathlon“! Auch wenn das einigermaßen abgehoben in dir widerhallen mag: Wir sind beide zum Trainieren hier. 75 Kilometer Ausdauertraining. Mike wird sich dabei der Nachwirkungen des „Mauerweglaufs“ (100 Meilen von Berlin) erwehren müssen, den er letztes Wochenende als Vorbereitung zum „Spartathlon“ absolvierte. Mit seinem 100 Meilen-Trainingsergebnis war er unzufrieden, was sich vor allem in der betont zurückhaltenden Formulierung heutiger Absichten/Möglichkeiten ausdrückt. Und ich? - Letztes Wochenende hatte ich „lauffrei“. Davor Regenerationswoche. Samstag und Sonntag Bergtour mit Hüttenübernachtung. Viele Höhenmeter rauf und runter mit schwerem Rucksack, ergo plagte mich am Montag ein leichter Muskelkater. Die Bergtour als „Event“ zum Regenerieren war jetzt nicht soooo optimal … In der laufenden Woche, Montag bis Freitag, fünf Trainingsläufe in dieser Abfolge: 21+41+38+20+8 = 128 km. Nachher im Ziel werde ich folglich 203 Wochenkilometer in den Beinen haben …

Der hohe Wochenumfang setzt ein Fragezeichen, jedoch nicht hinsichtlich Ausdauer und Durchhaltevermögen. Beides wird ausreichen, um laufend das Ziel zu erreichen. Irgendwie. Notfalls frühzeitig leidend, mit hohem Willenseinsatz. Was mich eher bewegt, ist das Zwicken all überall, vor allem im Bereich Hüfte, Adduktoren, Gesäßmuskulatur, das nach den forschen Trainings der vergangenen Woche jeweils zu spüren war. Aber bitte richtig verstehen und einordnen: Diese Körperwahrnehmungen setzen ein Fragezeichen, wirkliche Sorgen plagen mich ihretwegen nicht. Fragezeichen stehen hinter Fragesätzen und das Erlebnis „Müritz-Lauf“ wird mir (unter anderem) beantworten, wie ich das Training der kommenden Woche gestalten muss …

Wir hatten uns nicht abgesprochen, laufen dennoch seit dem Startkommando im Stadthafen von „Waren an der Müritz“ Seite an Seite. Zum Auftakt durch rundum „blickdichten“, vom grauen Himmel nicht gerade mit Licht verwöhnten Wald. Also kaum Gelegenheit für Udo sich „optisch zu verwirklichen“. Horizontal bleibt sein Blick an zahllosen Stämmen hängen und fast alle, der in Bewegung geschossenen Fotos misslingen. Läufer mutieren zu bunten Flecken, eingerahmt von reichlich verwischtem Grün. Und doch ist der Typ heute sagenhaft gut drauf. Nee, nicht körperlich, Aussagen dazu wären absolut verfrüht. Gemeint ist seine „mentale Tagesform“: Wer Udo kennt, erkennt das an seiner geradezu sensationellen Redseligkeit. Und Mike, der wohl einen muffig stummen Kilometerfresser erwartete, staunt, was er aber erst viel später zu Protokoll geben wird.

Während pausenlos undurchdringlicher Wald an den beiden vorüber zieht, spinnen Rede und Gegenrede ein dichter werdendes Netz um den „Spartathlon“: Hoffnungen, Bedingungen, mögliche Schwierigkeiten, eventuelle Problemlösungen, sowas … Aber auch Gott und die Welt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden im Müritz-Forst erörtert. Und immer wieder schürt der ansonsten so mundfaule Udo das Gespräch. Einigermaßen unbegreiflich, auch für ihn selbst. In Gesprächspausen fragt er sich, woran das wohl liegen mag. War irgendwas im Morgenkaffe? Eine Droge vielleicht, die Mundfaule zu Plaudertaschen aufputscht? Es liegt wohl eher an der aktuellen Grundstimmung: „Die Welt ist schön!“. Und die Aussicht stückweit mit dem sympathischen Mike unterwegs zu sein, dämmt Mitteilungsbedürfnis und Wissbegier auch nicht gerade ein …

Auch wenn davon hinter grünen Wänden nichts zu sehen ist: Wir umrunden Deutschlands größten Binnensee! Natürlich protzt der Bodensee mit mehr Fläche, doch den teilen sich die Teutonen bekanntlich mit Österreichern und Eidgenossen. Die Strecke ist mit „79 % Asphalt, 17 % Forststraßen/Schotter, und 4 % Singletrails“ ausgeschrieben. Auf den etwa zehneinhalb Kilometern bis zum ersten Verpflegungspunkt arbeiten wir überwiegend Forstwege ab und schon hier erweist sich der Kurs als wellig. Jeweils nicht mehr als ein paar Meter auf und ab, doch über Ultradistanz summiert sich das bekanntlich.

Unser Tempo? Was mich angeht, so überlasse ich das einmal mehr meinem Laufgefühl und Mike hält einfach mit (oder hält er sich etwa zurück?). Knapp sechs Minuten brauchen wir pro Kilometer. Um einiges schneller also als Mikes mir gegenüber geäußerte Absicht. Das weiß er natürlich selbst, dennoch fühle ich mich verpflichtet ihn darauf hinzuweisen. Es scheint ihm aber wichtiger, unterhaltsamer, erfolgversprechender - was auch immer - gemeinsam unterwegs zu sein, als läuferischer Vorsicht zu gehorchen …

Morgendliche Kühle, zumal zwischen Bäumen, spart Schweiß. Trotzdem fülle ich mich an der ersten Tränke ab: Zwei Becher Wasser, um das Gel zu verdünnen und obendrauf noch zwei Portionen Cola. Die nächste Flüssigkeit gibt’s erst in gut einer Dreiviertelstunde. Glücklicherweise übersteigt meine Trinkleistung diejenige meiner Beine um ein Vielfaches. Für Mike entsteht also kaum Wartezeit und nach kurzer Einkehr nimmt das Tandem den nächsten Waldabschnitt in Angriff … Erste Sonnenflecken auf dem Waldboden lenken meinen Blick gen Himmel: Nach „trübem Beginn“ überwiegt nun die Farbe Blau zwischen Ast- und Blattwerk. Ein paar Minuten weiter, bei erstmals freier Sicht über Feuchtwiesen und angrenzende Waldstreifen, ist meine Verblüffung dann komplett. Präsentierte sich die Welt vor einer guten Stunde noch in Variationen von Grau, so hat sie sich inzwischen das Kleid eines strahlend schönen Tages übergestreift. - Zunächst ungewisse Aussichten, dann der rasante Wandel zu „meinem Wetter“ - das vervielfacht alle positiven Empfindungen und öffnet die Sinne. Auch jene, die sich nicht wissenschaftlich belegen lassen. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt, da noch mehr als 60 Kilometer erlaufen sein wollen, prophezeien sie mir einen glücklichen Ausgang der Müritz-Ultrarunde …

Zeitweise mannshohes Schilf beidseits des inzwischen asphaltierten Radweges zeugt vom sumpfigen Charakter der Umgebung. Unterstrichen wird diese Bodenbeschaffenheit von einer Art Kanal - unwahrscheinlich, dass Mutter Natur einen schnurgeraden Wasserlauf im Sinn hatte -, an dessen Rand sich unser Weiterweg orientiert. Erlen und Himmel spiegeln sich im stillen Wasser, Seerosen vollenden den Anblick zum Naturidyll. - Auch auf dem nächsten, wie mit dem Lineal gezogenen Abschnitt, den Kilometern 16 bis 17, hält sich der Müritzsee versteckt. Geographische Tatsachen, etwa, dass wir hier mit geringem Abstand parallel zum Müritz-Ufer unterwegs sind, oder, dass der „Kanal“ von vorhin die „Müritz“* mit einem ihrer kleineren Trabanten, dem „Specker See“, verbindet, lassen sich nur in der Draufsicht bei Google Earth erkennen. Aber auch so spart dieser Streckenteil nicht mit - überwiegend grünen - Reizen.

*) „Die Müritz“ bezeichnet den größten, ausschließlich deutschen Binnensee. Der sonst im Sprachgebrauch übliche Zusatz „-see“ ist für die „Müritz“ nicht gebräuchlich.

Nach der zweiten Verpflegungsstation im Weiler „Boek“ offenbart der Kurs ein neues Gesicht. Fortan folgen wir dem Radweg parallel zur Straße, blicken über angrenzende Wiesen und passieren die Weiler „Boeker Mühle“ und „Bolter Schleuse“. Es wäre weit gefehlt dem Tourismus im Grundsatz eine überwiegend segensreiche Wirkung anzudichten. Monströse, oft auch die Natur in Mitleidenschaft ziehende „touristische Geschwüre“ gibt es zum Beispiel im Alpenraum haufenweise zu besichtigen. „Ballermann“ und „Teutonengrill“ taugen auch nicht gerade als Vorbilder für sanften Tourismus. Rund um die Müritz scheint jedoch vor allem ältere, zu DDR-Zeiten vernachlässigte Bausubtanz von Urlaubern und Ausflüglern zu profitieren. Einen Beleg dafür liefert die hübsch restaurierte „Bolter Mühle“, jetzt Hotel und Restaurant, die wir gerade passieren. Sogar ein Mühlrad dreht sich hier wieder, wo noch vor wenigen Jahren Verfall regierte. Und Mike war vor zwei Stunden, kurz nach dem Start in „Waren“, begeistert, dass sich das Urlauber-Städtchen inzwischen vom hässlichen Vor-Wende-Entlein zum stolzen Schwan gemausert hat.

„Rechlin“ begrüßt mich mit Bekanntem, Rätselhaftem und endlich Wasseransichten - in genau dieser Reihenfolge. Nur zu „bekannt“ mutet mich die Kasernenanlage des „Materialdepots Müritz“ an, deren Zaun die Route stückweit folgt. Nicht, dass ich schon mal hier gewesen wäre - nur sehen Kasernen alle irgendwie gleich aus … Über drei Jahrzehnte als Berufssoldat mit Aufenthalten in diversen militärischen Anlagen liegen diesem Eindruck zugrunde. „Rätselhaft“ bleibt einstweilen das Gerippe eines am Kasernenzaun vor sich hin rottenden, hölzernen Schiffskörpers. Daheim vorgenommene www-Recherchen ergeben, dass es sich dabei um Reste eines alten „Treidelkahns“ handeln soll. Treidelkähne waren Wasserfahrzeuge, die von Zugtieren oder Menschen von Uferwegen aus gezogen - „getreidelt“ - wurden. Im Schatten der Uferbäume besichtigen wir dann den „Claassee“, den ich fälschlicherweise als Bucht der Müritz einstufe (der etwa 200 Meter lange Kanal zur Müritz bleibt mir verborgen). Die malerische Wasseransicht endet mit zwanzig Meter steilem Anstieg zur Straße und einem weiteren Rätsel: Stilisierte Flugzeugmodelle auf einer Verkehrsinsel deuten einen fliegerischen Bezug des Ortes an, auf den wir uns allerdings keinen Reim machen können* …

*) Dem Internet sei Dank: Unweit der Verkehrsinsel befindet sich die Pforte zum „Luftfahrttechnischen Museum Rechlin“.

Die Begegnung mit der Müritz war nur ein kurzes Zwischenspiel. Unterschwellig „blubbert“ ein wenig Enttäuschung durchs Oberstübchen, als der Kurs einmal mehr einen Radweg neben gut frequentierter Straße nutzt. Trotzdem lasse ich mir die Stimmung nicht vermiesen, denn erstens scheint die Sonne - ein Umstand, der vieles wettmacht! -, zudem hat die Route noch 45 km weit Gelegenheit mich mit Seepanoramen zu erfreuen. Zuvor passieren wir allerdings den Ortskern, die Ansiedlung vorhin war wohl nur ein Ableger von „Rechlin“. Etwa zur Mitte hin wurde die Ortsdurchfahrt - sie zieht sich mehr als einen Kilometer schnurgeradeaus - für die Läufer abgeriegelt. Uns Solisten erwartet ein weiterer Verpflegungspunkt und die Staffelläufer ein Wechsel. Beifall brandet auf. Ob er von wartenden Staffelläufern oder Zuschauern ausgeht, vermag ich nicht zu sagen. Längst suchen meine Augen zwischen Pulks Umherstehender die Tränke, auf die Mike und ich dann schnurstracks zuhalten. Gel, Wasser, Cola und weiter …

„Rechlin“ Ende und beinahe übergangslos in den nächsten Ort. Wie er heißt? - Ich erinnere mich nicht. Eine stark befahrene Kreuzung fordert meine Aufmerksamkeit. Zwei Polizisten regeln den Verkehr, sperren uns den Überweg frei. Wie schon so oft geht mir durch den Kopf, wie viele hilfreiche Geister aufgeboten werden müssen, um eine solche Veranstaltung zu realisieren. Um vorab alles in die Wege zu leiten, am Lauftag die Lokalitäten zu arrangieren, uns Läufer sicher zu geleiten, zu verpflegen und anschließend alle Spuren wieder zu beseitigen. Grund genug zu danken, worin Mike und ich uns entlang der Strecke vielfach wiederholen, auch gegenüber diesen Polizisten.

Zwar finden wir uns neuerlich neben stark befahrener Straße wieder, doch endlich gibt es Wasser zu beäugen. Zunächst überqueren wir einen Kanal, der die Müritz offenbar mit anderen Seen verbindet*. Auch wenn ich die Gegend nicht kenne, so weiß ich doch, dass die Flüsse Spree und Havel über diverse Kanäle engmaschig mit der Mecklenburgischen Seenplatte vernetzt sind. Mein Hunger auf Natur stillt sein Verlangen für ein, zwei Minuten mit der Beobachtung von vier Störchen; 2 x 2, augenscheinlich zwei Pärchen, nur einen Steinwurf voneinander getrennt. Sie stehen zwar mehrere hundert Meter entfernt in einer Wiese, sind aber gut sichtbar. Mike schaut genauer hin und widerspricht: Zwei der „Störche“ hält er für Kraniche, weil sie größer sind und auch nicht das schwarz-weiße Federkleid von Störchen zur Schau stellen.

*) Es handelt sich um die „Müritz-Havel-Wasserstraße“.

Wieder Wasser, beidseits der Straße, die neuerlich gegen einen Brückenscheitel hin ansteigt. Ein Schild gibt Auskunft: „Kleine Müritz“. Also queren wir keinen Zu- oder Abfluss des Sees, sondern eine sehr schmale Bucht. - Alsbald nach der Brücke erlöst uns das Dorf „Vipperow“ von der stark befahrenen Hauptstraße. Wir biegen zur Dorfmitte hin ab und für ein paar Minuten fühle ich mich in vergangene Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte versetzt. Dafür sorgt einerseits ruppig grobes Chausseepflaster, sicher das gröbste, das ich je in Augenschein nehmen durfte. Handballdicke, offensichtlich nicht oder kaum behauene Steine dicht aneinander gepackt, lediglich von sehr langer Nutzung ein wenig „eingeebnet“. Meinen Füßen muss ich dieses grobschlächtige Geläuf nicht zumuten, der Bürgersteig besteht zum Glück aus flachen Platten. Dann schiebt sich das alte, aus ebensolchen, groben Steinen errichtete Kirchlein des Ortes ins Blickfeld und um das Gotteshaus herum gruppieren sich ein paar gut restaurierte Bauernhäuser. Ein uralter Dorfkern und er erweckt den Eindruck von Ruhe und Frieden. Die im Schatten hoher Bäume rastenden und vor sich hin träumenden Radler empfinden das wohl auch so. Warum eigentlich? Wieso vermittelt malerische, alte Dorfsubstanz den Anschein „friedvoller Stille“?

Ein asphaltiertes Sträßchen bringt uns voran. Zwischen Bäumen, stückweit entfernt, schimmert ein blauer Streifen der kleinen Müritz herüber. Zwischendurch kontrolliere ich das Lauftempo, weil ich immer mehr spüre am Limit zu laufen. Tatsächlich werden ohne Trinkpausen gelaufene Kilometer ausnahmslos mit Zeiten knapp unter 6 Minuten angezeigt. „Das kann nicht gut gehen! Nicht bei dem Gegenwind unter praller Sonne!“ wende ich mich an Mike, füge aber angesichts seiner offensichtlichen Leichtfüßigkeit hinzu: „Jedenfalls, was mich angeht!“ Kaum eine Minute weiter knickt der Kurs im rechten Winkel zum Wald hin ab, was meine Sorgen einstweilen relativiert: Sofort Wind von der Seite und kurz darauf tauchen wir in dichtem Urwald unter …

Und doch: Die Situation ist gänzlich neu für mich. Nie zuvor bildete ich mit einem Läufer ein Duo, der gleichermaßen, wenn nicht besser ausdauertrainiert war als ich. Wenn ich Marathonaspiranten als Pacemaker begleitete, dann in einem Tempo, das deutlich unter meiner jeweiligen Tagesform rangierte. Wirkt sich mit Mike zu laufen tempoverschärfend aus? Ließe ich es inzwischen ruhiger angehen, vielleicht 10, 15 Sekunden auf den Kilometer langsamer, wenn ich allein unterwegs wäre? Eine klare Antwort dazu finde ich nicht, bin jedoch entschlossen (für mich) keine Tempoerhöhung zuzulassen. Mir fällt auf, dass ich mich seit geraumer Zeit und unbewusst ständig ein paar Schritte hinter Mike halte. Soweit dieses „Hinterherlaufen“ nicht von Fotostopps mit anschließendem Anschluss gewinnen herrührt, signalisiert es vermutlich meine defensive Haltung: „Bitte-nicht-schneller“.

Der schmale, mit Loch- und anderen Platten auch an Regentagen passierbar gemachte Pfad durch den „Müritz-Dschungel“ entlässt uns nach nur wenigen Minuten in eine herrliche Wiesenlandschaft und … in die pralle Sonne. Neuerlich leuchtet die blaue Müritz herüber und versöhnt mich mit den etwas öden Straßenkilometern von vorhin. In „Zielow“ - ein Dörfchen mit kaum mehr als 50 Anwesen - wartet wieder flüssige Labsal und eine unschöne Kilometertafel: „Zielow noch 40,7 km“ verkündet das Schild, was laut GPS-Anzeige nicht stimmen kann: In der stehen bereits 37 km zu Buche, folglich wären es noch 38 Kilometer bis „Waren“. Einen GPS-Messfehler meines Forerunners von fast drei Kilometern (!) in flacher Landschaft halte ich nach allen bisherigen Erfahrungen für ausgeschlossen. Was also stimmt? Das offizielle „Orakel“ wirbelt meine Gedanken durcheinander. Vielleicht übersehe ich deshalb den Widerspruch, der sich aus einer zweiten, darunter angebrachten Tafel ergibt: „4. Wechsel, 39,6 km Zielow“. Wie kann ich mich in Höhe des 4. Wechsels bei 39,6 km befinden, wenn noch 40,7 km zu laufen sind? 40,7 + 39,6 ergeben 80,3 km Gesamtstrecke …

„Zielow“ bleibt hinter uns zurück. Das Dorf markiert das Ende eines - ich habe nachgerechnet - 25 km langen, nahezu flachen Abschnitts. Zumindest empfand ich ihn als flach. Damit ist es nun abrupt und - so viel sei vorweg genommen - bis zum Ziel vorbei. Der asphaltierte, ufernahe Radweg reiht nun Bodenwelle an Bodenwelle. Nichts wirklich Heftiges, Höhenunterschiede von ein paar Metern. „Kleinvieh“, das, wenn man es lange genug gewähren lässt, auch eine Menge „Mist anhäufen“ kann. Optisch gewinnt der Kurs enorm, weil die Müritz, von den Kuppen aus betrachtet, ihren vollen landschaftlichen Reiz entfaltet. Das empfinde nicht nur ich so, was ich aus Mikes begeisterten Bemerkungen schlussfolgere …

Nächste Tränke. Seit der zweiten Versorgung in „Boek“ (ca. Km 20) stehen in kurzen Abständen von 3 bis 5 Kilometern mindestens Wasser und Cola bereit. Das kommt meiner Gewohnheit viel zu trinken entgegen und enthebt mich der Notwendigkeit jeweils Flüssigkeit einzufüllen, bis sich die „Bauchdecke wölbt“. Allerdings: Entweder habe ich die Flüssigkeitszufuhr in der letzten Stunde übertrieben oder das richtige Mischungsverhältnis von Gel, Wasser und Cola falsch eingeschätzt. Mein Magen-Darmtrakt versendet jedenfalls Hilferufe und ich beschließe mich an dieser und den nächsten Tränken mit einem Becher Wasser zu bescheiden …

Mike entdeckt den Storch in „Ludorf“ zuerst. Sein kapitaler Horst thront an der Spitze eines hölzernen Mastes in etwa sechs, sieben Metern Höhe. Der müde „Meister Adebar“ lugt nur mit Kopf und Schnabel über den Nestrand. Zu wenig Vogel, um ein eindrucksvolles Foto zu schießen. Dann bin ich vorbei und drehe mich noch einmal um. Offensichtlich hat Herr Storch sein eklatantes Fehlverhalten eingesehen, sich flugs vom Lager erhoben und steht nun für touristische Aufnahmen Modell.

Drei Kilometer infolge vorbei donnernder Fahrzeuge und mangels Radweg nicht ganz ungefährliche Landstraße verbinden „Ludorf“ mit dem Städtchen „Röbel“. Auch ohne Wasseransicht fördert mein umherstreifender Blick reizvolle Ansichten einer sanft gewellten Landschaft zu Tage. Die steilen Pyramiden zweier Kirchtürme, zunächst Felder und Wiesen nur mit der Turmspitze überragend, künden von der Existenz einer größeren Ansiedlung. Sie lassen nicht erahnen, was mich in „Röbel“ erwartet: Pittoreske Kleinstadtansichten und ein bisschen touristischer Rummel. Herrlich restaurierte, vielfach in kräftigen Farben gehaltene Fachwerkhäuser säumen unseren Weg. Vermutlich entgeht uns ein Großteil des architektonischen Augenschmauses, weil wir nur eine Straße des alten Stadtkerns passieren. Schnappschuss um Schnappschuss fängt meine Kamera ein und der Abstand zu Mike vergrößert sich stetig …

Da er einen Gang zurückschaltet und ich für ein paar hundert Meter einen hoch, erleben wir den Menschenauflauf im Hafen von Röbel dann wieder gemeinsam. Am Verpflegungspunkt braucht diesmal Mike mehr Zeit. Ich signalisiere schon mal langsam voraus zu laufen, will ohne Eile noch ein paar Fotos in den Kasten bekommen: Vom gerade anlegenden Ausflugsdampfer „Stadt Röbel“, diversen Sklupturen an der Uferpromenade und der attraktiven Aussicht über die Bucht zu den Häusern des Städtchens. In den letzten Minuten hat sich der Himmel über der Müritz geradezu dramatisch verändert. Die Sonne verschwand hinter fetten, dunklen Wolken, die für die verbleibenden 28 Kilometer nun doch noch mit Regen drohen …

Der Kurs weiß auch weiterhin mit hübschen Ansichten zu gefallen. Uferwege mit Ausblicken übers Wasser und, wo sich der Weg landeinwärts wendet, solche über die von Landwirtschaft geprägten Hügel der Gegend. Begriffliche Wandlung bemerkt? Aus Bodenwellen wurden Hügel! Entsprechend erhöht sich der Kraftaufwand - längere Anstiege, stellenweise auch ein wenig steiler … Wir sind nun zweifelsfrei in der „Kernzone der touristischen Müritz“ angekommen. Häufig begegnen uns Spaziergänger, Wanderer oder pedalierende Zeitgenossen - ein paar schwitzende Ultrafreaks gehen da fast schon unter. Aber nur fast: Immer wieder einmal heimsen wir spontanen Beifall von Passanten ein.

Zeiten und erlaufene Kilometer registriere ich heute kaum. Auch das sonst übliche Setzen und Abhaken von Zwischenzielen fällt aus. Im Duett mit Mike ist mir sogar der schwerwiegende Lapsus unterlaufen jene Stelle zu verfehlen, an der ich mir üblicherweise ein anspornendes „Jetzt nur noch ein Marathon!“ zurufe. Als ich Mike mit ebendieser Parole „beglücke“, sind wir eigentlich schon zwei Kilometer drüber. Natürlich fordern mich Distanz und Tempo (55 km absolviert, nach wie vor eindeutig unter 6 min/km). Andererseits fällt mir das Laufen immerhin so leicht, dass ich auf sonst übliche Rituale verzichte oder schlichtweg nicht daran denke. Woran das wohl liegen mag?

Meist „missbrauche“ ich Mike zur „Belebung“ meiner Lauffotos. Sein nach wie vor leichter Schritt bleibt mir bei diesen Gelegenheiten nicht verborgen. Zwischendurch fragte ich mich mehrfach, ob ich mit meiner „Tempoverweigerung“ nicht zum Klotz an seinem Bein avanciere. Unser Dialog kam schon vor Stunden zum Erliegen. Irgendwann hast du einfach keine Lust oder keine Puste mehr, um ein Gespräch am Leben zu erhalten. Bis auf kurze Bemerkungen, meist gegenseitiges Hinweisen, herrscht seitdem einträchtiges Schweigen. Ich sollte den Mund aufmachen und ihn auffordern seiner Wege zu ziehen, falls er sich von mir gebremst fühlt. Bevor der Gedanke zum Entschluss reift, klafft plötzlich, nach ziemlich genau sechs Laufstunden, eine dreißig Meter lange Lücke zwischen uns. Und sie wächst stetig. Binnen weniger Minuten, von einer abschüssigen Passage unterstützt, baut Mike den Abstand auf etwa hundert Meter aus. Gibt er Fersengeld oder bin ich langsamer geworden? Die nächste Kilometeranzeige hebt meine Befürchtung einzubrechen auf: 5:40 Minuten! Auf längeren, geraden Abschnitten fangen meine Augen Mikes kleiner werdende Silhouette noch längere Zeit ein, am Verpflegungspunkt in „Sembzin“, Km 63, hätte ich ihn sogar fast noch einmal eingeholt …

Am Ortsausgang von „Sembzin“ fordert mich ein - gemessen an der sonst moderaten Topographie der Gegend - kapitaler Buckel. Im bisher steilsten und längsten Anstieg sammele ich einen gehenden Läufer ein und gewinne Gewissheit: Ich spüre noch genügend Reserven, um die Pace bis ins Ziel durchzustehen. Eventuell doch schneller? Die Versuchung zu Tempoexperimenten und sich bis ans Limit zu knechten ist allgegenwärtig. - Nein! Wozu sollte das gut sein? Außerdem darf ich nach nun fast 200 Wochenkilometern mein (orthopädisches) Schicksal nicht herausfordern. In der gegenwärtig knochenharten Trainingssituation kommt es entscheidend darauf an sich zum richtigen Zeitpunkt zu mäßigen. Und dies scheint mir so ein Zeitpunkt zu sein!

Blaugraue Wolken lasten auf der Meck-Pomm-Seenlandschaft, scheinen einstweilen jedoch keine Tränen überm „Müritz-Lauf“ vergießen zu wollen. Wenn meine Einschätzung zutrifft, werden wir die verbleibende Stunde auch noch trocken über die Runde (-n) bringen. Ein sich beständig windender Pfad unter uralten, ufernahen Buchen dirigiert mich zum nächsten Müritz-Badeort. Auf irgendeiner Tafel lese ich den Ortsnamen: „Klink“. Imposant rückt ein auf der Uferanhöhe errichtetes Schloss ins Blickfeld. „Schloss Klink“ stammt aus dem späten 19. Jahrhundert und wurde im Neorenaissance-Stil, nach dem Vorbild der Schlösser an der Loire erbaut (Wer mehr über die interessante Geschichte des relativ jungen Schlosses erfahren möchte, wird bei Wikipedia bedient). Ein bisschen fühle ich mich auf meinem Weg entlang der Klinker Strandpromenade an die Ostsee erinnert: Yachthafen, Sandstrände, Strandkörbe und dahinter jede Menge Wasser - lediglich die Wellen fehlen …

Kilometer 69. Bestimmt steht der Tipp an vorderer Stelle im „Einmaleins für Streckenplaner langer Laufveranstaltungen“: Gestalte den Kurs so, dass der Läufer die übelsten oder schwierigsten Streckenabschnitte zum Schluss vorfindet! - Auch wenn diese Unterstellung in die Sammlung unhaltbarer Verschwörungstheorien* gehört, in genau dieser Weise erlebe ich das immer wieder. Jetzt und hier in Form eines Trails (!!!). Erst sandige Fahrstreifen eines überwachsenen Forstweges, dann herum liegendes Geäst, schließlich ein wurzelbewehrter, profilierter Pfad im Halbdunkel eines dichten Laubwaldes, der volle Konzentration einfordert. Die bekommt er auch, aber sie reicht nicht! Im spärlichen Restlicht unter bewölktem Himmel und dichtem Blätterdom übersehe ich die Wurzel und schlage in voller Manneslänge hin. Glücklicherweise vermag ich den Aufprall mit reflexhaft vorgestreckten Händen abzubremsen, lande zudem „weich“ in altem Laub, so dass Blessuren ausbleiben. Ich rappele mich auf, wische notdürftig Sand und Blattreste vom Körper und laufe weiter als wäre nichts gewesen.

*) Deutschland schwirrt zur Zeit nur so von unsinnigen, dumpfen Verschwörungstheorien. Warum sollte ich da nicht mal selbst eine in die Welt setzen ;-)

Noch vier Kilometer: Vorhin den Wald verlassen, ein paar Meter den „Duft der Motorwelt“ entlang der Bundesstraße „genossen“, dabei die „Elde“ - so stand es auf dem Schild vor der Brücke - überquert, schlussendlich am Verpflegungspunkt Getränke dankend abgelehnt. Nun renne ich neuerlich durch Wald, durchaus fordernd auf und ab, vom Geläuf her allerdings risikofrei. Keine Ahnung, wie weit es nun tatsächlich noch ist. Wenn meine GPS-Messung auch nur annähernd stimmt, werde ich eindeutig unter 7:45 h bleiben. Schließlich bleibt der Forst zurück und ich renne mal mit, mal ohne Seeblick an Wochenendhäusern (oder „Datschen“ wie der Ostdeutsche sagt), einem Campingplatz, Schrebergärten, Bootsstegen und Badestränden vorbei. Sind das schon Vorboten der nahen Stadt „Waren“ und damit der Zielgeraden? Eine Vorstellung von der verbleibenden Distanz stellt sich erst ein, als ich ufernah auf derselben Straße laufe, die ich heute Morgen bei der Anfahrt passierte. Nun kann es tatsächlich nicht mehr weit sein, höchstens noch ein Kilometer. Ein rascher Blick zur Uhr lässt mich frohlocken: Möglicherweise bleibe ich sogar noch unter 7:40 min. Zuletzt nehme ich die Parade strandnaher Cafés und Gaststätten ab, schlängele mich durch Passanten und Radfahrer, biege zum Yachthafen hin ab und lasse mich von überraschend vielen Zaungästen auf der Zielgerade feiern. Nach 7:38:14 h überquere ich zufrieden und glücklich die Ziellinie, hinter der Mike - er traf rund drei Minuten früher ein - auf mich wartet. Gegenseitig beglückwünschen wir uns zu einem für beide überaus zufriedenstellenden Ergebnis …

Ergebnis: 7:38:14 h, Platz 24 von 71 Männern, Platz 1 von 4 in M60

 

Fazit zur Veranstaltung

Die Strecke des Müritz-Laufes geizt nicht mit landschaftlichen und baugeschichtlichen Reizen. Ein paar weniger interessante Kilometer verzeiht man da gerne. Wer den Kurs unter die Füße nimmt, sollte sich bewusst sein, dass der anspruchsvollere Teil mit der zweiten Hälfte beginnt. Und für den kurzen Trail bei Kilometer 68, 69 sollte er noch einige Körner aufsparen, um mit voller Konzentration laufen zu können.

Alle Abläufe waren bestens und reibungslos durchorganisiert. Es fehlte an nichts, schon gar nicht an Verpflegung und noch weniger an Freundlichkeit aller Helfer! Beeindruckend!

Fazit: Gerne jederzeit wieder!

 


Bildnachweis

Alle Bilder mit orangefarbenem Rahmen wurden freundlicherweise von der Müritz-Lauf-Seite zur Nutzung bereitgestellt. Alle anderen Fotos: Udo Pitsch

 

Wir über uns Gästebuch Trekkingseiten Ines' Seite Haftung
logo-links logo-rechts

zum Seitenanfang