Samstag, 11. Juni 2016, 0 Uhr
Hinweis für Zartbesaitete: Dem düsteren Titel zum Trotz ein vielfach heiterer Laufbericht
Kein langes Vorwort, erst einmal loslaufen; der Weg ist weit und der Bericht wird es mutmaßlich auch werden … Kurz vor Mitternacht. Tiefe Dunkelheit liegt über der dünn besiedelten Landschaft nördlich von Coburg, beidseits der ehemaligen Grenze zwischen DDR und BRD. Heute scheidet der Strich auf der Landkarte nur noch Bayern von Thüringen. Eine Handvoll Verrückter harrt vorm Zielbanner des Borderland Ultralaufes aus, um sich gemeinsam ins Ungewisse aufzumachen. Ein bisschen verrückt muss man mindestens sein, um sich zu dieser Uhrzeit 111 km und irgendwas um die 2.200 Höhenmeter anzutun. „Los geht’s!“ - solchermaßen unspektakulär, eher halblaut dahin gesprochen, entlässt uns einer der Organisatoren zu unserem nächtlichen Abenteuer.
Stirnlampe an, Uhr starten und zur Dorfstraße von Streufdorf in Thüringen traben. Quer durch den Ort und dann auf asphaltiertem Weg - keine Ahnung, was für ein Weg - ziemlich lange schnurgerade in Richtung schwarze Nacht. Sollten sie den „schlechtest Vorbereiteten des Tages“ (oder der Nacht) küren, dann stehe ich auf dem Siegerpodest ganz oben. Ich weiß praktisch nichts von den Schwierigkeiten, die mich erwarten. Klar kenne ich die groben Richtwerte: Erst eine etwa Marathon lange Schleife, mit 1.000 Höhenmetern, die sich auf zwei zu erklimmende Höhenzüge konzentrieren. Die bilden sich im Profil als spitze „Reißzähne“ ab. Wie haarig es tatsächlich werden wird, nicht zuletzt auch vom Untergrund her ... um es mit den Worten eines berühmten bayerischen Zeitgenossen auszudrücken:
„Schaun mer mal …“
Dasselbe gilt für die zweite, 69 km lange Runde, sicher dann schon im Hellen, wenn wir uns am Start/Ziel vom Marathon zurückgemeldet haben. Im Profil der zweiten Schleife verstecken sich 1.200 Höhenmeter, jedoch auf viele Zacken verteilt, von denen keiner mehr als etwa 100 Höhenmeter fordert. Auf soooo viel Strecke verteilt klingt das ziemlich harmlos.
Wie gesagt: „Schaun mer mal …“
Gleich auf den ersten zwei, drei Kilometern Düsternis kehre ich zwei Gewohnheiten wie selbstverständlich ins Gegenteil: Normalerweise laufe ich am liebsten allein. Anders heute: In Unkenntnis von Strecke und Markierungsfleiß hefte ich mich an die Fersen meiner Mitläufer. Motto: Gemeinsam verlaufen ist weniger wahrscheinlich. Rasch zersplittern die paar „Lauf-Hanseln“ in Untergrüppchen. Ich schließe mich jenem an, von dem ich hoffe, dass man die Sache nicht zu forsch angeht.
Auch das ist anders: Nachts laufen nervt mich. Also mach’ ich’s nur, wenn ein Wettkampf es fordert und bin dabei eher mies drauf. Keinerlei seelische Notdurft sucht mich in dieser Nacht heim, um dem weiteren Geschehen in dieser Hinsicht vorzugreifen. Und das, obwohl ich richtig Bammel vor dieser Aufgabe hatte. Bedenke Distanz, Höhenmeter und Umstände! - Welche Umstände? - Heute angereist, nicht geschlafen, nach Briefing und Pastaparty seit etwa 18 Uhr Zeit totgeschlagen und nun ins Blaue - pardon: ins Schwarze - hinein laufen …
(Anmerkung der Redaktion: Der Läufer Udo wunderte sich im Vorfeld über die generell recht langen Laufzeiten im Vorjahr (keiner schneller als 13:24 h, Mittelfeld etwa bei 17 h), meinte dennoch den Weg in ausgeprägter Unkenntnis des Tatsächlichen einfach mal so antreten zu können …)
Mehrfach checke ich unseren Durchschnitt. Kurzstreckler bis Marathon sorgen sich eher um zu niedrige Pace, ich dagegen fürchte ein zu hohes Tempo. Vor allem natürlich wegen der Länge des Wettkampfs; in diesem Fall aber auch, weil ich mich für den frühen Start 0 Uhr und gegen den späten (2 Uhr) entschied. Nun „muss“ ich für die Marathonrunde plus die ersten ca. 5 km der zweiten Runde, bis zu deren erstem Kontrollpunkt, mindestens sechs Stunden verbrauchen. Die Station ist erst ab 6 Uhr besetzt.
Meine Begleiter tun mir den Gefallen ein moderates Tempo vorzulegen, das sich recht bald auf (grob gemittelt) 7 min/km einpendelt. Von den Lichtkegeln der Stirnlampen und zig Reflexen auf Laufkleidung und -schuhen abgesehen erreicht meine Sehnerven wenig. Der jeweilige Boden vor meinen Füßen, Wegränder an denen Gräser, Getreidehalme oder Bäume wachsen und manchmal ein paar Sterne an der sonst lichtlosen Kuppel über mir. Ach so, das Wetter: Den ganzen Tag über war es sonnig und warm. Selten genug für diesen bisher so unbeständig nassen Frühsommer. Nun ein sternenklarer Himmel und heute Nachmittag soll es sich bereits wieder eintrüben, später regnen. Für die Nacht habe ich eine superdünne Laufjacke übergestreift, was sich als richtige Entscheidung herausstellen wird.
Da es außer gelegentlichem Tempocheck und Spähen nach Markierungen nichts zu tun gibt, unterhalte ich mich mit Fotoexperimenten. Gar nicht einfach mit dem leistungsschwachen Blitz meiner Digicam ein brauchbares Foto - beispielsweise von meinen Mitläufern - einzufangen. Natürlich blitze ich sie nur von hinten (und einmal von der Seite) an. Blitze in vom Nachtdunkel geweitete Pupillen zu schleudern trüge mir keine Freunde ein. Irgendwie bin ich zu Schabernack aufgelegt. Schieße erst ein paar Bildchen von meinen arbeitenden Beinen, später auch noch ein Kopf-Rumpf-Selfie. Seltsam, seltsam: Udo rennt inmitten allumfassender Finsternis und ist gut drauf!? Wieder mal ein Trick des unbewussten Selbst? Wähnt es sich in einem unzureichend trainierten Körper und fürchtet Niedergeschlagenheit, ließe es mich zu lange grübeln? - Das mag weit hergeholt klingen. Doch ich versichere dir: Laufe sehr lange Strecken, manövriere dich dabei häufig in körperlich-seelische Grenzbereiche und du wirst dich auf bis dahin ungeahnte Weise selbst erfahren.
Einen ersten Buckel haben wir hinter uns. Nichts von Belang, nur einmal kurz, für hundert Meter, war die Steigung fordernd. Prompt gingen einige. Ich natürlich nicht. Mein Kodex „Laufen so lange die Kraft dafür reicht!“ verbietet mir das. Abwärts sammelten sie mich wieder ein und deshalb treffen wir nach gut acht Kilometern gemeinsam auf das erste, „verlassene“ Getränkedepot. Zunächst entsorge ich Abwasser in seitlichem Dunkel, dann tanke ich Frischwasser: Iso mit Kohlensäure. Nicht ideal für den Magen aber angesichts des langsamen Tempos kein Problem. Außerdem wird mir das schmackhafte, säuerliche Prickeln der Kohlensäure mit den Stunden helfen überhaupt noch was runterzukriegen. Zusätzlich gönne ich mir die „private“ Energie eines mitgeführten Gels. Alles in allem brauche ich länger als mein Rudel, setze mich folglich mit etwas Verspätung auf dessen Fährte …
Da gab’s einen winzigen Weiler kurz vorm Verpflegungspunkt. Natürlich menschenleer um diese Zeit. Weit voraus kann man nun wieder ein paar trübe Straßenlaternen ahnen, auf die wir uns offensichtlich zu bewegen. Mal auf Feldwegen, mal auf Straßen. Seit 10 Kilometern kein „humanoides“ Leben! Ein Gefühl der Verlorenheit stellt sich nicht ein, schließlich bin ich in Gesellschaft. Komme mir ein bisschen vor, wie ein Teilnehmer an einer interplanetarischen Expedition. Nach langem Flug auf einem Himmelskörper mit - Oh Wunder! - atembarer Luft gelandet, ausgerüstet mit Überlebensset und nun im gelb leuchtenden, leichten Astronautenanzug auf fieberhafter Suche nach einer intelligenten Spezies. Vielleicht habe ich aber einfach nur zu viele Science Fiction Geschichten in meiner Jugend gelesen …
Das rote Positionslicht auf dem mit angepassten Augen gegen den Nachthimmel gut sichtbaren Hügelkamm querab lässt eine Mitläuferin fragen: „Müssen wir da rauf?“ Habe Lust auf Späße (seltsam, seltsam) und ulke darum: „Ich fürchte schon!“ Dann wieder Schweigen. - Eindeutig irdisches Leben, wie könnte ich sonst die Ortstafel lesen: „Gleichamberg“. Irgendwie so ähnlich heißen die beiden Berge auch, die wir „besteigen“ werden, hatte es anlässlich der Einweisung nicht richtig verstanden (als „Großer und Kleiner Gleichberg“ stehen sie in der Karte). Vom Ortsschild an gewinnt der Kurs an Höhe, wird in einer Seitenstraße steiler und wendet sich schließlich endgültig bergwärts. Ende Asphalt, dafür ein brauchbar geschotterter Waldweg. Bei rundherum Wald - im Schein meiner Funzel oder gegen den Nachthimmel nur schemenhaft auszumachen - wird es nun für lange Zeit bleiben. Sobald sich das ändert, mache ich dich drauf aufmerksam. Einverstanden?
Und schon bin ich solo. Der Rest meines Laufrudels zieht es vor zu gehen. Bammel vorm Verlaufen habe ich längst nicht mehr, weil der Weg bisher nicht zu verfehlen war. Aufgesprühte blaue Pfeile mit Kürzel „BE“ (Borderland Extrem) oder im Schein der Lampe grell aufleuchtende „Katzenaugen“ geben Sicherheit. Nur selten und für ein paar Meter steigern steilere Abschnitte meine Atemfrequenz. Ansonsten fällt es mir leicht den moderaten Trab beizubehalten. Recht bald schließe ich zu den vordem Enteilten auf, weil sie alle gehen. Wie die wohl über einen wie mich urteilen? Schließlich vermag sich niemand einen Reim darauf zu machen, weshalb ich nicht gleichfalls meine Kräfte schone. Keiner kennt mein „Gelübde“.
Ich überhole ein Läuferpaar mit Walking-Stecken, in scheinbar endlosen Dialog vertieft. Der Stecken und des Dauergesprächs wegen, fielen sie mir anfangs schon auf. Und weil sie noch eine wichtige Rolle spielen werden, lasse ich einen der beiden stellvertretend sprechen, gegen meinen Rücken gerichtet, just als ich die Lücke zwischen ihren Spießen zum Überholen nutze: „Da läuft meine Motivation!“ scherzt er und ergänzt, als sich der Abstand vergrößert „Und nun isse weg!“ Hab ich was geantwortet? Wohl eher ein Lächeln in die Dunkelheit entsandt, da ich nichts mit Esprit zu entgegen weiß. Ein paar Minuten später lasse ich eine weitere Gruppe hinter mir, und dann ist vor mir nur noch Schwärze.
Oben angekommen. Die in der Ruhebank am Wegrand eingravierte Schrift bezeugt es unzweideutig: „Es ist vollbracht, der Gipfel ist geschafft“. Allerdings deckt sich meine (ungenaue) Kenntnis der Streckenkarte nicht mit den Infos der Einweisung. Sollte jetzt nicht irgendwo eine Zange hängen, mit der ich meine Kontrollkarte lochen muss? Ich lasse die eben überholten Läufer passieren, weil sie abwärts ohnehin schneller sein werden. Keiner von ihnen sucht nach der Zange, also verhält es sich anders. Während ich mich sehr vorsichtig über den mit knubbeligen Steinen gepflasterten Weg des Gipfelplateaus und anschließend abwärts taste, wird mir klar, dass die Zange vermutlich auf dem zweiten Gipfel deponiert wurde. Moderat abwärts, glücklicherweise alsbald auf ungefährlich breitem Waldweg.
Ich laufe mit Handicap und das sitzt mitten auf der Stirn. Meine selten genutzten Stirnlampen (die zweite trage ich im Beckengurt als Reserve bei mir) sind in die Jahre gekommen. Vorhin konnte ich aktuelle LED-Leuchten „bei der Arbeit“ beobachten. Deren Streulicht bot mehr Orientierung als das Zentrum meines mickrigen Lichtkreises. Ich verbuche dieses Erlebnis als wichtige Erkenntnis: Für den über Nacht zu laufenden „Spartathlon“ in Griechenland, Ende September, 246 km, 3.000 Höhenmeter, brauche ich dringend eine dem Stand der Technik entsprechende, leistungsfähige Stirnlampe! - Allerdings hilft mir diese Einsicht heute Nacht nicht „übern Berg“. Wohl oder übel werde ich schlechteres Sehen durch mehr Vorsicht kompensieren müssen.
Licht zwischen den Bäumen, rasch näher kommend, die zweite Verpflegungsstelle, diesmal doppelt bemannt, respektive „befraut“. Die weibliche, in einem Campingstuhl ausharrende Hälfte der Besatzung hat sich mit einer Decke gegen die Nachtkälte gewappnet. Iso trinken, Salzstangen naschen, zwei Minuten verweilen und dann weiter, zum zweiten Aufstieg. Die beiden jungen Kerle mit den Walking-Stecken halten es nur wenige Sekunden länger aus, folgen mir also fast auf Hörweite …
Geradeaus, fordernd bergan. Ich stelle ausreichend minimierte Schrittchen ein und steppe gen Gipfel. Gehend und mit Stecken halten meine Verfolger problemlos den Abstand konstant. Im stillen Wald vermag ich das an der Lautstärke ihres Endlosdialoges gut einzuschätzen. Nach einer Weile holen sie sogar auf, nicht zuletzt während meiner Schnappschüsse. Die Dokumentation der Verhältnisse scheint mir jetzt geboten, da sich der Weg zunehmend verschlechtert. Steine, Steine und noch mal Steine. Derzeit noch als eine Art Pflaster, jedoch sehr holprig verlegt. Konzentriert arbeite ich mich aufwärts, kann dem Gespräch in meinem Rücken allerdings nicht entgehen. Mit intervallartigem „Hm! … Hm! … Hm!“ kommentiert der Zuhörer, während der Erzähler Erlebnisse zum Besten gibt. Es geht um seine Zeit bei der Bundeswehr, was mich schmunzeln lässt. Er kann ja nicht wissen, dass seine Sätze auch das verstehende Ohr eines ehemaligen Berufssoldaten erreichen …
Der bisher breite, erträglich steinige, stur geradeaus aufwärts führende Weg wendet sich nach halblinks und nimmt den Charakter eines Bergpfades an. Vor meiner „Läuferkarriere“ hätte ich Menschen, die solches Terrain in anderen als festen Bergschuhen betreten unter der Kategorie „Bruder Leichtfuß“ verbucht. Mehrmals sind hohe Tritte zwischen Steinen zu überwinden, die man fast schon als Fels einstufen muss. Baumwurzeln grinsen mich im Schein der Funzel höhnisch an: „Lauf nur! Werden dich schon noch erwischen!“ Ich bin körperlich bestens drauf und bewege mich hochkonzentriert. Extremere Stellen bewältige ich mit zwei, drei Schritten, die mit Laufen nicht mehr viel gemein haben. Mangelnde Vorsorge ist folglich nicht die Ursache; vielleicht das trübe Licht der Stirnfunzel oder schlicht der Faktor „Dumm gelaufen“. Ob an Stein oder Wurzel eingehakt spielt keine Rolle, wenn man plötzlich hart auf dem Boden aufschlägt. Rasch sind die Stöckler zur Stelle und helfen dem alten Mann zurück auf die Füße. Folgen der Havarie: Linkes Knie ramponiert, nicht schlimm, kein Blutsturz, eher ein Grund für amüsiertes Kopfschütteln: Die nach den Stürzen beim Rennsteiglauf gerade verheilte Haut gehört zum frischesten Gewebe, das mein Körper anzubieten hat. Die Brille sitzt verschoben auf dem Kopf und neben dem linken Auge piekt es ein bisschen. Meine Samariter kontrollieren die Stelle und geben Entwarnung, nur eine winzige Schramme. Keine weiteren Blessuren*. Also trabe ich wieder an … ab jetzt noch ein gerüttelt Maß vorsichtiger!
*) Später spüre ich einen leichten Druckschmerz in Höhe der linken Rippenbögen, der sich tags drauf als leichte Rippenprellung herausstellt. Muss wohl mit dem Brustkorb auf einen Stein gefallen sein.
Umgestürzter Baum quer zum Weg: Drunter durch schlüpfen. Ständig hindern Wackersteine und Stolperwurzeln: Füße beim Laufen ungewohnt hoch heben, um nicht einzufädeln. Niemand mehr in meiner Nähe und absolute Dunkelheit: Blick saugt sich am gefährlichen Geläuf fest. Orientierung quasi aus dem Augenwinkel, von Katzenauge zu Katzenauge. Immer weiter aufwärts traben, die Sinne reichlich, der Bewegungsapparat kaum gefordert. ‚Danke Sommeralm Marathon vom letzten Wochenende!’ schießt es mir einmal durch den Kopf und: ‚Deine 1.730 Höhenmeter haben mich bestens konditioniert’. Da kommt fast schon so etwas wie Vorfreude auf ein nicht allzu schweres Finish auf, auch wenn ich erst 20 Kilometer hinter und noch gewaltige 90 vor mir habe. Ich lasse das trügerische Gefühl zu, obwohl ich mich damit unter Garantie selbst belüge. Die Lüge ändert nichts an der Realität, hält mich aber jetzt und hier, mitten im schwarzen Nichts, bei Laune.
Links, rechts, dabei weiter rauf, schließlich flacher, dann eben. Anscheinend bin ich auf dem Gipfelplateau des „Kleinen Gleichberges“ angekommen. Ein paar Meter später stehe ich vor einem Unterstand und halte die besagte Zange in der Hand. Nichts weiter als ein Locheisen, mit dem für gewöhnlich Löcher in Leder gestanzt werden. Da abgenutzt und verbogen, gibt sich das Ding widerspenstig, schenkt mir nach mehrmaligen Versuchen dennoch das begehrte Loch im Kontrollkärtchen. Nach mir versuchen meine „Sanitäter“ ihr Glück, die sich anscheinend zunächst die Aussicht von hier oben gegönnt haben. Die muss wunderschön sein - so man denn etwas sehen kann. Im Moment beschränkt sie sich auf ein paar mit Lichtpunkten gesprenkelte Bezirke. Ortschaften, in denen Menschen jetzt, gegen Viertel vor drei Uhr nachts, Dellen in ihre Kopfkissen drücken. Wie plemplem muss sein, wer um diese nachtschlafene Zeit über holprige Hügel rennt?
Die zwei Stöckler haben es nicht eilig, also mache ich mich alleine auf den zunächst identischen Rückweg. Kein schlechtes Gefühl sie in meinem Rücken zu wissen, sollte ich noch einmal … Extrem vorsichtig, als hätte ich rohe Eier unter den Füßen, tippele ich abwärts. Setze mein Gelübde drei-, viermal an Stellen außer Kraft, wo mir der Pfad Herzklopfen verursacht. Eine hellere Lampe und der Job wäre weniger gefährlich! Nach und nach begegnen mir andere Nachteulen auf ihrem Weg zum Locheisen. Von Zeit zu Zeit bleibe ich kurz stehen, um mich an den Katzenaugen zu orientieren. Bloß keinen falschen Weg einschlagen! Und beim Laufen traue ich mich keinen Moment den Blick vom mit klobigen Steinen gespickten Weg zu heben. Noch heimtückischer begegnen mir allerdings gelegentliche Baumwurzeln. Ihre farblich der Umgebung angepasste Tarnung macht sie beinahe unsichtbar …
Zurück am Verpflegungstisch. Ein ziemlich mieser Job, den das hier in der kalten und feuchten Dunkelheit ausharrende Pärchen zu erledigen hat. Da laufe ich tausendmal lieber, auch wenn mich am Ende völlige Erschöpfung erwartet … Iso noch und nöcher, dazu ein Gel von meinem Vorrat, schließlich auch Kräcker und Salzstangen. Ich mute meinem Magen zu, was mit aller Gewalt reingeht. Während ich auf dem salzigen Zeug ‘rum mümmele, treffen meine Wohltäter ein. Ich frage die zwei hinterm Verpflegungstisch nach dem Weg und mache mich auf denselben. Rückfall in alte Verhaltensmuster: Ich laufe eben doch am liebsten allein …
Guter Waldweg, eben, dann leicht bergan, bergab und wieder bergan. Keine Viertelstunde vergeht und schon verfluche ich den Entschluss ohne Rückendeckung aufgebrochen zu sein. Keine Markierung mehr! Seit vielleicht … keine Ahnung … einem halben Kilometer? Und bei der Einweisung hieß es: „Wenn ihr einen halben Kilometer gelaufen seid und keine Markierung mehr gesehen habt, dann seid ihr falsch!“ Ich beschließe meine Notdurft zu verrichten, die ist ohnehin bald fällig. Vielleicht holen die Stöckler mich in dieser Zeit ein … Nichts! Kein Lichtschein hinter mir! Mist verdammter! Ich renne noch ein paar Meter weiter … „Katzenaugen“ gab’s ohnehin keine mehr. Nur Stücke von weißem Trassenband um Äste geschlungen und mit meiner trüben Funzel erst nahebei auszumachen … Okay, Einsicht ins Faktische: Ich habe mich verlaufen! Trabe fluchend zurück, trabe, trabe, trabe … vielleicht drei Minuten, dann sehe ich Licht. Meine Retter retten mich erneut, diesmal vor noch mehr überflüssiger Strecke. Sie kennen sich aus, verfügen zudem über einen GPS-Track auf ihrem Navi. Ich war auf dem richtigen Weg!
Ein paar hundert Meter weiter hängt tatsächlich ein Stück Trassenband im Geäst, nur leider zu weit oben, als dass meine „doofe“ Lampe es hätte aufstöbern können. „Sind aber auch ziemlich schlecht zu erkennen diese Bänder!“ meint lapidar einer meiner Begleiter. Für den Eintrag ins „ewige Buch ultraläufiger Irrtümer“ sei nach häuslichem Nachmessen angemerkt: 2 x ca. 450 = 900 Meter umfasst mein kleiner Extraschlenker.
Gemeinsam weiter ohne relevante Begebenheiten. Wir reden über dies und das. Markierungen hängen spärlich, sind aber im Licht von zweikommafünf Lampen ohne weiteres auszumachen. Irgendwo zwischen Kilometer 25 und 26 endet der Wald. Ostwärts entdecke ich einen fahlen Streifen Licht überm Horizont. Erst kurz nach vier Uhr morgens und bereits jetzt das Versprechen auf Sonnenlicht! - Auf einem Sträßchen nähern wir uns einsam stehenden Häusern. Und dann passieren wir einen Abzweig, an dem ich mich unter Garantie wirklich verlaufen hätte. Die beiden anderen übrigens auch: Wir übersehen die Signalisierung scharf links abzubiegen und zwischen den Gebäuden eines bäuerlichen Anwesens Richtung Felder weiterzulaufen. Dank abweichender Aussage des GPS-Tracks halten wir jedoch an, suchen in verschiedenen Richtungen und finden schlussendlich die korrekte Wegweisung.
Wo erst einmal Verunsicherung gesät, da gedeiht der Zweifel prächtig. Meine Begleiter werden unsicher. Vielleicht, weil der Feldweg irgendwie kein Weg mehr ist, von hüfthohem Gras überwuchert. Und Markierung gab’s auch keine mehr. Zudem verweist der bisher verlässliche GPS-Track nun auf eine Spur weit abseits unserer Position. Einer kehrt um, ich folge ein Stück, keine dreißig Meter, dann entdecken wir den Streifen Trassenband, versteckt im Astwerk des Busches. Also weiter. Feldwege, lang, länger, am längsten. Bestünden Zweifel, wo ich mich aufhalte, sie verflögen rasch. Felder mit so gigantischen Flächen entstanden, als Bauern zum Wohle des „werktätigen Volkes“ ihren Grund und Boden an „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG)“ abgeben mussten. Seit der neuen deutschen Zeitrechnung haben sich zwar rechtliche und Besitzverhältnisse geändert, nicht jedoch die Ausdehnung der Parzellen.
Die Dämmerung schreitet fort. Gegen 4:30 Uhr entschließen wir uns die Lampen auszuschalten. Ich verstaue meine im Beckengurt. Zwei Minuten durch ein menschenleeres Dorf. Ein Stück Straße, alsbald Abzweig Richtung Feld. Aus mir unerfindlichen Gründen erhöhen die beiden anderen ihr Tempo. Vielleicht merken sie es einfach nicht. Auf dem gerölligen (Aua meine Füße!) Feldweg vergrößern sie den Abstand, bis ich sie in Höhe eines Hains wenig später wieder einhole. Warum stoppen sie jetzt? Weiter, eine Kuppe auf miserablem Untergrund nehmend. Dann wieder runter, mittlerweile auf einem der elendsten Wege, die ich je unter meinen Läuferfüßen hatte. Eigentlich ist das kein Weg, jedenfalls keiner für fußläufige Zweibeiner. In Wahrheit handelt es sich um nicht bestellten Acker, der sich zur Feldbestellung, also für Traktoren und anderes Gerät, kilometerweit zwischen zwei Megafeldern erstreckt. Bewachsen mit allem Möglichen, gespickt mit teichgroßen Pfützen, wo er bergab führt, mit schluchtartigen, vom Wasser ausgewaschenen Rinnen durchsetzt. Würde ich meine verwöhnten Läuferfüßchen auf solche Wege setzen, so es mir keine Streckenmarkierung vorschriebe? Wohl nur zur Not. Solche Momente sind erhellend, weil sie die Überzeugung auffrischen, dass Traillaufen für mich die Ausnahme von der Regel bleiben soll.
Prompt verirrt sich ein Stein in meinen Schuh. Während ich das Corpus Delicti nach mühsamem Aufschnüren des Schuhs entferne, überholen mich die beiden Stöcketräger wieder. Schon Minuten danach, an der nächsten Verpflegungsstelle, feiern wir Wiedervereinigung. Aber keine wirkliche, weil sie mir viel zu lange pausieren. Ich bin an Brust und Rücken schweißnass und fröstele in der morgendlichen Kälte. Dank an die Helfer und weiter. Dass ich meine beiden „Retter nach Sturz und vorm Verirren“ nicht wieder sehen werde, kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Darum an dieser Stelle herzlichen Dank für die wichtige Unterstützung!
Ein Schild in Höhe des Weidegatters warnt Passanten, dass sie den Bereich auf eigenes Risiko betreten. Schritt für Schritt umfängt mich nun eine ganz eigentümliche Stimmung. Unwillkürlich halte ich Ausschau nach „lebensbedrohlichen“ Tieren, meine allerdings lediglich die Rücken zweier dösender Kühe in einiger Entfernung auszumachen. Von Rindviechern abgesehen, erwarte ich nichts, kann auch nicht ahnen, ein außergewöhnliches Areal* zu durchqueren. Trotzdem erfasst mich eine undefinierbare Spannung und ich fühle mich weit weg versetzt, tief hinein ins grüne Herz Afrikas. Diese offensichtlich abgegraste, grüne Ebene seitlich des Weges, darin ein breites Wasserloch, erinnert mich an morgendliche Pirschfahrten durch die grüne „Massai Mara“ und den Amboseli Nationalpark am Fuße des Kilimandscharo in Kenia oder an die Erlebnisse in den Nationalparks Südafrikas vom letzten Jahr. Ich stehe und staune, fotografiere und überlasse mich kurzzeitig meinen Erinnerungen …
*) Nur durch Zufall entdecke ich anlässlich nachträglicher Recherchen im Internet, dass es sich bei der betretenen „Weide“ um die so genannte „Hutelandschaft Rodachaue“ handelt, auf deren Grünland ganzjährig „Konikpferde“ (Nachfahren der Tarpane) und „Heckrinder“ (Rückzüchtung) grasen.
Zwanzig Meter „verlaufen“. Nach hauptsächlich nächtens runtergetrabten 38 Kilometern und tief versunken in Gedanken, übersieht man schon mal Markierungen. Übersieht sie vielleicht nicht mal, so blau und eindeutig, wie sie auf dem Stückchen Asphalt die Richtung vorgeben. Wahrscheinlich hat der Fluss der Gedanken das vom Sehnerv gelieferte Bildmaterial einfach nicht in die Hirnregion „Erkennen“ durchgelassen. Doch wieso merke ich dann mit einem Versatz von lediglich zwanzig Metern, dass ich ins Ungewisse laufe? Instinkt? Siebter Sinn? Ich bleibe stehen, äuge in Richtung des gerade passierten Abzweigs: Oh! Dort muss ich lang …
Felder, Wiesen und Buschgruppen gestalten die wellige Landschaft. In einiger Entfernung Waldstreifen, von denen mich die Route jedoch dauerhaft fern hält. Stumpfes Grün ringsum, durchbrochen lediglich vom Grau der Wege, nach oben begrenzt vom Wabern der Morgendämmerung. Mit Ausnahme der Gleichberge, die ich in der Ferne zu identifizieren glaube, keine markanten Erhebungen. Der Himmel enttäuscht. Ich hoffte auf einen strahlenden Sonnenaufgang - wenn ich mir schon die Nacht um die Ohren schlage und den anbrechenden Morgen erlebe (was bei Morgenmuffeln höchst selten vorkommt). Der Himmel bereitet mir auch ein bisschen Sorge. Laut Wetterbericht wird es später am Tag noch regnen. Doch wie spät? Endsendet Petrus die „grauen Betttücher“ da oben als Vorboten und Warnung? Bald bin ich zurück am Auto und muss mich für die lange, zweite Runde ausstaffieren. Was anziehen und was mitnehmen?
Die Wege sind mal wieder keine mehr. Nicht für Fußgänger. Erst nutze ich frei gebliebenes Ackerland, hüfthoch mit Gras bewachsen, bollig, stollig, knollig und handele mir prompt taufeuchte Füße ein. - Gedankliche Fußnoten: ‚Nachher Strümpfe wechseln??’ und: ‚Du bist ein Weichei Udo, aus dir wird nie ein Trailläufer!’ - Die Graspiste endet abrupt und die Markierung schickt mich nach rechts. Was ist denn das??? Mein Gott, wie unbedarft ich hier durch die Gegend renne! Ich verharre kurz, für ein Foto und um die überfallartige Erkenntnis zu verdauen: Ab jetzt bewege ich mich entlang der ehemaligen Grenze zwischen (relativer) Freiheit und (ziemlicher) Unfreiheit. Auf dem so genannten „Kolonnenweg“ also, auf dem die Grenzsoldaten der Volksarmee der DDR ihre ständigen Wachfahrten unternahmen. Teil zwei der Erkenntnis: Als Untergrund für die Fahrzeuge wurden Betonplatten über hunderte Kilometer verlegt. Betonplatten, die zumindest in dieser Region teuflisch große, viereckige Löcher aufweisen. So groß, dass ein Kinderfuß komplett reinpasst und der eines Erwachsenen zumindest umknicken oder hängen bleiben kann …
Aber dafür ist der Untergrund nun betonhart und schont meine Kräfte - frohlocke ich auf den ersten Metern. Schritt für Schritt weicht voreilige Freude der Ernüchterung: Betonhart zwar, doch halten die hinterhältigen Löcher einen Abstand ein, der keine „normale Laufspur“ zulässt. Das bedeutet: Ich muss meine Füße weiter auseinander als gewohnt aufsetzen, um den Steg zwischen den Öffnungen im Beton zu treffen. In letzter Konsequenz bedeutet das Kraftverlust und Reduzierung des Lauftempos …
Das sind also die „Lochplatten“, vor denen bei der Einweisung gewarnt wurde. Na ja, das war jetzt nicht so schlimm. Nach nicht mal einem Kilometer habe ich wieder „festen“ Boden unter den Füßen und der soll sich gleich als viel ekelhafter entpuppen. Zunächst fange ich die Eindrücke der Umgebung noch mit der Kamera ein: Eine grüne Senke, keinerlei Landwirtschaft, wogendes, hohes Gras, Büsche, Wald in einiger Entfernung. Mir dämmert: Ich stehe mitten im ehemaligen Todesstreifen. Und infolge der sich unwillkürlich stellenden Frage, ob hier oder in unmittelbarer Nähe Menschen auf versuchter Flucht zu Tode kamen, ist es nicht die morgendliche Kälte, die mir ekelhaft am Rücken hoch kriecht …
Freies Land als Laufweg, kaum Spuren von menschlichem Betreten, erst recht nicht Befahren. Einigermaßen mühsam aufwärts, was wohl den 42 Kilometern geschuldet ist, die sich nun in meinen Beinen bemerkbar machen. Den Grenzbereich meiner Ausdauer spüre ich dabei trotzdem nicht, was angesichts des „Restprogramms“ auch fatal wäre. Bin weiterhin gut gelaunt und zuversichtlich unterwegs. Bedenke ich die Nichtwege, die meine Füße nun martern, ein schieres Wunder: Von „irgendwie mit Gras bewachsen oder auch mal steinig“ wechsele ich auf Brachland zwischen Feldern. Wieder Verkehrswege für Traktoren, Mähdrescher und ähnlich Geländegängiges. Aber nicht für meine „Primanerfüßchen“. Dass es unmöglich ist hier einen Laufrhythmus zu finden, könnte ich verschmerzen. Der Umstand kostet schließlich nur Zeit und Kraft. Weit unangenehmer sind die Schmerzen, die das Knollig-Bollig-Stollig-Furchig-Rinnig-Steinig-Stolprige meinen Füßen verursacht …
Nicht mehr weit: In der Senke unterhalb erkenne ich seit längerem das Start-Ziel-Dorf Straufhain. Wie „Straufhain“? Weiter oben hieß der Ort doch „Streufdorf“!? Leider kam ich nicht dazu die Frage zu klären. Doch irgendwie führt der Ort zwei alternative Bezeichnungen. Ich entkomme der Fußfolter nach einem entsetzlichen Kilometer auf einen Feldweg und trabe - parallel zum Dorfrand - den letzten halben Kilometer von insgesamt etwas mehr als 43 runter.
Checkliste des weiteren Vorgehens:
Befriedigung und Sorge ringen um meine Läuferseele. Zufriedenheit entspringt der goldrichtigen Entscheidung bereits um Mitternacht gestartet zu sein. In Unkenntnis der Strecke konnte ich mir nicht vorstellen für die Marathonschleife über sechs (!) Stunden zu benötigen, auch wenn ich von Beginn an und ganz bewusst nur im Schneckentempo unterwegs war. Auch die 1.000 Höhenmeter erklären den enormen Zeitbedarf nicht. Verständlich wird er erst, wenn man die zeitraubenden Trails hinter sich hat.
Sorge bereiten mir die heftigen Wiederanlaufbeschwerden als ich nach mehr als 10 Minuten Versorgungshalt aufbreche. Immerhin habe ich weitere 69 Kilometer vor mir. Ich bin Realist und tapfer genug die Wahrheit zuzulassen: Mir steht ein überaus schmerzhafter Weg bevor und er wird mich in jeder Weise ans Limit führen! Was also tun? - Was ich immer bei solchen Aussichten tue: Das Unerbittliche als Herausforderung empfinden, sich ihm stellen und obsiegen. - Ein halber Kilometer Radweg südwärts reicht, um wieder in Schwung zu kommen. Die Beschwerden verkrümeln sich, machen Zuversicht Platz. Rechts weg und … einen Wiesenhang empor. Mist hoch drei! Binnen weniger Schritte habe ich nasse Füße vom taunassen Gras. Sich Gamaschen für die Schuhe zu wünschen hat keinen Zweck. Die habe ich nicht mal zu Hause im Schrank, besitze keine, bin schließlich kein Trailläufer. Gras am Hang, Gras auf der Kuppe, Gras in der Mulde, Gras auf der nächsten Kuppe … - ich überhole zwei Mitläufer, die sich zum Gehen entschlossen haben - Gras, immer weiter Gras, Gras zwischen Feldern, bis ich endlich einen wirklichen Feldweg erreiche.
Das saftige Schmatzen der bisher störungsfrei arbeitenden Einheit „Fuß-Strumpf-Schuh“ hört man sicher noch auf der anderen Erdseite in Neuseeland. Über 60 Restkilometer mit nassen Füßen? Ich hoffe inständig keinen Graspfaden mehr zu begegnen bis der werdende Tag sie abgetrocknet hat. Und möge die „Luftpumpe Laufbewegung“ meine Füße bald trocken legen! - Alsbald tauche ich in dichtem Wald unter und arbeite mich Richtung Gipfel voran. Gipfel von was fragst du? - Ich bin dabei einen Knubbel von etwa hundert Höhenmetern zu erobern. Hübscher Augenfang im ohnehin reizvoll welligen Grün, ganz und gar bewaldet und auf seinem Gipfel eine Ruine tragend. Klebrig, lehmig, schrundig auf dem ersten Wegstück nach oben. Zum Glück weniger mühevoll als es aussieht, so man vielfach „spurwechselnd“ das beste Geläuf wählt. Dann auf besserem Weg in Serpentinen höher, kurz auch mal steiler - Atem geht tiefer aber alles eindeutig im grünen Bereich. Vorbei an einer geologischen Schautafel, die den erdgeschichtlichen Ursprung dieser Erhebung enthüllt: Ich erklimme ein „Geotop“, das die Wissenschaft als „Schlotbrekzie eines Vulkans“ bezeichnet - was immer das auch sein mag …
*) Zu Hause hab ich’s natürlich „ge-wikipedia-t“. An dieser Stelle nur so viel: „Brekzie“ ist eine Gesteinsart. „Brekzien“, die in den Wänden des Auswurfkanals (Schlot) eines Vulkans entstanden, nennt man „Schlotbrekzien“.
Nach langem, zuletzt sanft ansteigendem Bogen um die Hügelflanke empfängt mich der einsame Verpflegungsposten: Trinken (viel), essen (ein bisschen Salzgebäck) und ein Gel. Kontrollkarte raus nesteln und ein zweites Loch vom Helfer einheimsen. Aussicht bewundern und in digitalen Bildern festhalten. Bedauern, dass die Sonne das Land nicht in morgendlich satten Farben aufglühen lässt. Nach der Route erkundigen: Erst einmal auf demselben Weg zurück. Ein Pfeil zeigt seltsamerweise hoch zur Ruine. Der Helfer kann sich darauf auch keinen Reim machen. Ich bin noch weit vom Limit entfernt und ziemlich blöd. Beides in Tateinheit erklärt, wieso ich nun noch den finalen Buckel hoch steppe, um mir die Rückseite der (nicht lohnenden) Ruine, samt Sackgasse anzugucken. Kehrt marsch, mit letztem Danke und Gruß vorbei am Helfer und auf bekannter Route zurück, einstweilen runter …
Kein Problem auf halber Höhe des Hügels den Abzweig zu finden. An Markierungen herrscht wirklich kein Mangel. Im Wald weiter hinab und schließlich gemütlich auf breitem Wirtschaftsweg dahin. Das Schmatzen der Füße hat nachgelassen, jetzt brauchen nur noch die Strümpfe zu trocknen. Sechs von neunundsechzig Kilometer liegen hinter mir. Im Grunde nicht viel, dennoch hebt bereits dieses Teilstück Zuversicht und Stimmung auf ein Tageshoch. Dann ist abrupt „Schluss mit lustig“ und das in einem Ausmaß, das ich gottlob zu diesem Zeitpunkt nicht mal ahnen kann: Am Waldrand runter vom breiten Wirtschaftsweg, scharf rechts und wieder sanft hinan. Zurück auf den Kolonnenweg, zurück auf Betonplatten mit viereckigen Löchern. Anfänglich kommt mir das sogar entgegen. Alles ist besser als irgendwelche taunassen Graspisten!
Im leichten Aufwärtstrab versuche ich meine „Spur“ - also die Aufsetzpunkte meiner Füße - irgendwie mit den Betonstegen zwischen den Löchern zu synchronisieren. Da muss es doch eine Lösung geben, die mir sicheres Traben in brauchbarem Tempo ermöglicht. Ich versuche es mehrfach am minimal breiteren Rand der Platten und auch weiter innen. Erst nehme ich die Löcher zwischen die Füße, dann versuche ich die Sohlen quasi in einer Linie aufzusetzen. Auch mit einem Fuß auf durchgehendem Steg zu landen und mit dem anderen immer zwischen zwei Löchern leitet in keinen verlässlichen, meiner Schrittlänge entsprechenden Rhythmus über. Schließlich gebe ich entnervt auf. Erich und Konsorten haben zwar weit grausamere Verbrechen auf dem Kerbholz. Mit der Gestaltung dieser Drecksbetonplatten vergehen sie sich zu schlechterletzt auch noch an meinen armen Läuferfüßen!
Natürlich fluche ich ein bisschen in der Gegend rum, halblaut hörbar, denn zunächst ist niemand in meiner Nähe und fluchen hilft immer. Tatsächlich amüsiere ich mich jedoch anfangs über die Routenführung. Ist ja auch logisch: „Borderland Ultra Extrem!“ Die Bezeichnung rechtfertigt „schikanöses“ Laufen in jeder Ausprägung. Und „Borderland“ bedeutet auf deutsch nun mal „Grenzland“. Genau da laufe ich jetzt entlang … Bis hierher (übrigens schon vor der Anreise) stellt sich mir eigentlich nur eine Frage: Warum musste das Kind unbedingt einen englischen Namen bekommen? Warum durfte die Veranstaltung nicht einfach „Grenzland Ultra“ heißen?
Auch den ersten steilen Buckel finde ich noch extrem witzig. Höchstens 30 Meter Höhenunterschied, dafür aber gegen 20 Prozent Steigung. Ich halte die Gemeinheit im Bild fest, erst unten, und nachdem ich sie im „gespreizten Steppschritt“ bezwungen hab. „Steppschritt“ auf den Fußballen, wegen der Steilheit und weil ich alles laufen will. „Gespreizt“, weil die blöden Lochplatten mich dazu zwingen. Übrigens wurden die Platten in Kurven und auf Kuppen meist quer verlegt, damit das Geläuf nicht zu leicht ausrechenbar wird … Gibt es in alten Stasi-Akten irgendwo eine Statistik, wie viele Grenzsoldaten in gut 40 Jahren DDR auf diesem Kolonnenweg Fußverletzungen und Stürze hinnehmen mussten?
Ich werde überholt. Einmal, später noch einmal. Sind entweder Staffel- oder Einzelläufer, die sich auf die 69 km-Tagesschleife beschränken. Die flitzen in einem mir unbegreiflichen Tempo vorbei. Wie kriegen die das mit den Löchern geregelt? Bei dem Tempo? Zwischenzeitlich habe ich zwei, drei „Lochkilometer“ hinter mir und das Scherzen ist mir vergangen. Auch das wiederkehrende, sausteile Auf und Ab des Kolonnenweges, mehrmals an die 20 Prozent, zehrt an Kraft und Nerven. Meist verläuft die Grenze ohne Aussicht im Wald. Unerheblich, denn den Blick kann ich ohnehin nur von den nach meinen Füßen schnappenden Löchern lösen, wenn ich stehen bleibe. Gönne ich mir aber selten und wenn, dann nur um die Grausamkeit des Kolonnenweges zu dokumentieren.
Einen Kilometer weiter hat sich bereits ziemlicher Verdruss in Udos Großhirn angestaut. Nach jeder Biegung und hinter jeder Kuppe ein weiteres Stück des vermaledeiten Lochplattenwegs. Soll das auf den verbleibenden 60 Kilometern so weiter gehen? Glaub ich ja nicht, aber was, wenn doch? Schon jetzt fühlen sich meine Laufwerkzeuge wie geschreddert an. Nur selten hat Erdreich die Löcher aufgefüllt. Meist wachsen Schösslinge aus den Öffnungen, nicht selten erkenne ich die typische Blattform der Walderdbeere. Mehr als ein Vierteljahrhundert nachdem dieses Zeugnis von Dummheit und Barbarei geschleift wurde, sollte der Kolonnenweg längst überwuchert sein. Ist er aber nur stellenweise. Wer hält die Trasse eigentlich frei? Jäger, Wildhüter oder Förster mit ihren Fahrzeugen? Wanderer mit den Füßen? - Nach fünf Kilometern „Laufrhythmusstörung“ werde ich endlich erlöst. Bänder und Pfeile „verbannen“ mich aus der einstigen Todeszone auf einen geradezu paradiesischen Waldweg. Aufwallende Freude wird von der an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit getrübt, dass mir der Streckenplaner nur einen „Urlaub“ vom Kolonnenweg zugesteht.
Noch ein Geschenk: Nach kurzer Zeit im orientiert sich der Weg nun am Rand des Waldes. Leicht erhöht und wie von einer Aussichtsgalerie blickend präsentiert sich mir ein wundervolles Panorama. Mal es in Öl und ich häng’s mir an die Wand: Sattgrüne Wiese im Vordergrund, dahinter ein riesiges Getreidefeld, in pastelligem Gelb schon die beginnende Reifezeit ankündigend, im Hintergrund bewaldete Höhenzüge, auf deren höchstem Punkt ein Ritterfräulein auf mich wartet. Unter Garantie sitzt „Kunigunde“ im Bergfried jener nicht mehr allzu fernen Burg und nimmt die Huld der Ultra-Recken entgegen …
Zupfen von Blütenblättern meiner besonderen Margerite: Mal bin ich ganz sicher: Nachher müssen wir da rauf, zu dieser Burganlage! Dann wendet sich der Weg wieder ab: Also doch nur Burgidylle aus der Ferne! Dann wieder ein Schwenk in Richtung „Kunigunde“ - oder vielleicht doch nicht? Es bleibt lange unentschieden und in dieser Unentschiedenheit steckt Dramatisches: Wieder - verflixt noch mal! - durch quatschnasses Gras. Im Nu saugen sich Schuhe und Strümpfe voll. Neuerlich lässt der Saft die Sohlen quietschen. Noch nicht mal 8 Uhr morgens. So lange die Sonne sich rar macht, werden die Wiesen nicht abtrocknen. Nasse Füße stören mich nicht grundsätzlich, ich fürchte ganz einfach Blasen …
Lost in time and space - das nasse Gras offenbart, wie jung der Morgen ist. Mein völlig in Unordnung geratenes Zeitgefühl unterstellte eine viel spätere Stunde, eher kurz vor Mittag. Wirklich ein Zeit„gefühl“, durch konkrete Gedanken wie bloßgestellt. Ein emotionales „Hoppla! Noch so früh“ ist die Folge. Kann es nicht anders beschreiben. Wie kommt das? Vermutlich weil ich schon so lange unterwegs bin, das Tagwerden miterlebte und höchst selten einmal auf die Uhr schaute. Wozu auch? Ich habe nichts zu überwachen, wofür man eine Uhr bräuchte, keine Tempo- noch eine finale Zeitvorgabe.
Schließlich zwingen mich Wegweiser die „Galerie“ am Waldrand zu verlassen, schicken mich einen verwachsenen (also nassen!) „Unweg“ hinunter und auf ein Sträßchen. Entlang einer S-Kurve genieße ich den obszön glatten, herrlich trockenen Asphalt, halte eine Weile sogar direkt auf „Kunigundes“ Türme und Zinnen zu. Am Fuß des Buckels in ebenem Halbrund auf Straßen weiter, ein Dorf gewinnend und endlich hinan. Kunigunde ich komme!
Eine wahre Geschicht‘: Recke Udo gürtet sich zum Kampf. Doch nicht feindlich‘ Ritter fürcht’ er nun, vielmehr des Hanges steilen Schild! Doch ward Udo angenehm getäuschet: Fürwahr er muss hinan, doch des Hanges Wehr ist allzu schwach. Alsbald gewahrt der Wüterich die vortrefflich ausgestattet‘ Marketenderei vorm Tor der Burg. Labt sich mit Speis und Trank, krönet sein Verweilen mit dem Biss der Zange. Führet zwischenher kluge Gespräche mit fahrendem Volk und andren Recken, die gleich ihm den Berg bezwangen. Allein Kunigunde verwehrt ihm die Huld ihres Erscheinens, verbirgt allen Liebreiz hinter hohen Mauern …
Spiralig wird der Burgberg umlaufen, dabei Höhe aufgebend, schließlich in unbekannter Richtung Wald gewinnend. Kaum Höhenunterschiede und ein fein geschotterter Weg. Noch immer Kraft um zügig zu laufen, auch wenn ich nun schon spüre, dass meine Akku-Ladung endlich ist. Alles in allem fühle ich mich prächtig, was vor allem dem bisherigen Ausbleiben jedweder Beschwerden zu danken ist. Nicht einmal die Tatsache, dass noch immer ca. 50 Kilometer zwischen mir und dem Ziel liegen, vermag meine Stimmung zu trüben … toller Weg, feiner Weg, herrlicher Weg … wie könnte ich da schlecht drauf sein? Das ändert sich zwar nicht schlagartig, dann aber Schritt um Schritt, als mich mein Widersacher - der Kolonnenweg - wieder in die Mangel nimmt. Und wie! Neuerlich rauf und runter, die bekannte „Zwanzig-Prozent-Nummer“, noch und nöcher wiederholt.
Ich ergebe mich meinem Schicksal und leide still vor mich hin. Das ist meine Art dem Grauen dieser ehedem so tödlichen Grenze zu begegnen. Und ist nicht gerade das - selbst zu leiden - eine angemessene Form des Gedenkens, wo so viele an Leib und Seele Schaden nahmen? Ein ums andere Mal stelle ich mir vor, wie sie hier entlang kurvten, im offenen Wagen sitzend, die Maschinenpistole gesichert und locker im Schoß, spähend nach „Grenzverletzern“ und „Republikflüchtlingen“. Kann das Aufheulen der Maschine hören, wenn sie am steilen Hang mit vollem Gas und kleinem Gang empor klettert. Was für eine grausige Ära war das, was für ein verbrecherischer, menschenverachtender Staat?
Wieder runter. Nicht tief. Nein, in keinem Fall tief, aber extrem abschüssig. Bestimmte Fragen stelle ich mir längst nicht mehr: Etwa die, warum die Endzeiten vormaliger Teilnehmer so ausufernd lang waren. Oder, weshalb man den 111 Kilometern das Prädikat „extrem“ verlieh - Halt! Wunderschöne Akaleien gedeihen hier unten im Halbdunkel des Blätterschirms. Intensiv Lila am Grund des Blütenkelches und zu den Spitzen hin weiß abgesetzt. Natürliches Kleinod digital gespeichert, Zeitverlust etwa eine Minute. Einmal mehr steil aufwärts und weiter, die Schredderanlage „Lochplatten“ leistet ganze Arbeit. - Eine Frage stelle ich mir allerdings immer wieder: Auf welcher Seite liegt eigentlich Bayern und wo Thüringen? Anhaltspunkte habe ich keine. Bayern rechter Hand meint das Orientierungsgefühl*, ist sich aber nicht sicher. Der Abschnitt kommt mir so lang vor wie jener vorhin, dabei endet er nach gut zwei Kilometern auf einem Asphaltsträßchen - dem Läuferheiligen sei eine Kerze gestiftet.
*) Mit meinem Orientierungsgefühl liege ich falsch, weil Thüringen im Wettkampfgebiet einen großen „Keil“ ins Bayerische treibt, der am beschriebenen Ort die „Seiten umkehrt“.
Die Straße bringt mich in idyllischem Talgrund nach „Bilmuthausen“. Genauer gesagt zur „Gedenkstätte Bilmuthausen“, die mit Wachturm und Schautafeln der vom DDR-Regime geschleiften, gleichnamigen Ansiedlung gedenkt. Das Dorf wurde platt gemacht, weil Kirche und Häuser zu nah am „antifaschistischen Schutzwall“ lagen. Zu hohes Fluchtpotenzial oder Einengung des Schussfeldes, was weiß ich. So oder so unmenschlich. - Am Brunnen unter einer Birke wird Verpflegung bereitgestellt. Dankbar nutze ich alle Angebote, wasche mir nach über neun verschwitzten Stunden auch mal das klebrige Gesicht. Zu guter Letzt die obligatorische Lochung und zurück auf die Straße. Nach wenigen Metern verzweige ich auf einen Feldweg, überquere das hübsche, bisher hinter üppigem Grün unsichtbare Flüßchen und kehre an dessen Ufer zurück in den Wald …
… alsbald steil aufwärts im Wald. Ein steiler Buckel und fast empfinde ich so etwas wie Genugtuung mal einen „Zwanzig-Prozenter“ nicht auf Lochbeton er-steppen zu müssen. Meinen Beinen ist das reichlich gleichgültig, was sie mir nicht erst jetzt mit exzessiv schmerzhaftem Ziehen klarmachen. Wie lange geht das noch gut? Werde ich irgendwann aufwärts laufen müssen? Noch immer trennen mich etwa 46 Kilometer vom Ziel. - Nein bitte nicht! Wieder Lochbetonplatten, zurück in die Schredderanlage. In irgendeinem Laufbericht schrieb ich mal, dass hart kämpfenden Ultraläufern an der Schwelle zum Himmel ein paar der Sühnestunden im Fegefeuer erlassen werden, weil sie doch schon zu Lebzeiten so oft Buße taten. Ich hielt das für einen gelungenen Scherz. Mal wieder einen dieser Lochplattenbuckel überwindend entfallen letzte Zweifel: Das Fegefeuer fällt für mich aus …
Diesmal lässt der Streckenplaner Gnade walten. Nur ein Kilometer Betonlöcher. Wald bleibt zurück, Wiesenlandschaft, weiter entfernt ein paar Felder, bewaldete Buckel rahmen ein hübsches Tal ein. Erträglicher Feldweg, dann sogar Asphalt, zuletzt auf ein Dorf zu und vor die nächste Tränke. Die reihen sich viel dichter aneinander als ich befürchtete (nicht mal die Distanz der Verpflegungsstellen war mir klar!? Ich gelobe Besserung!). Versorgen, Lochen und ein Schwätzchen mit den Helferinnen. Udo und ein Schwätzchen? Mag für andere selbstverständlich sein, bei mir signalisiert es einen Zustand ausgesprochen guter Stimmung und ungebrochenen Optimismus.
Manchmal verstehe ich mich selbst am allerwenigsten. Inzwischen spüre ich deutlich mein Limit. Vermag nur infolge regelmäßigen Gel-Konsums überhaupt noch mit erträglichem Tempo zu traben, vor allem aufwärts. Orthopädisch ist zwar alles im grünen Bereich, doch nach bald 10 Stunden Wettkampf jammern alle Fasern. Woher also die gute Laune? Natürlich unternehme ich mental-taktisch alles, um sie zu konservieren. Setze mir immer wieder Zwischenziele. Die Halbdistanz, irgendwo auf der Strecke, war vorhin eins und nun der „Marathonrest“, also mir sagen zu können: „Jetzt nur noch ein Marathon. Das ist eine Strecke, die du schon so viele Male erfolgreich hinter dich gebracht hast und nicht wirklich weit!“ Doch summa summarum können die wenigen Pluspunkte das „helle Licht in meinem Oberstübchen“ nicht erklären. Muss wohl von innen kommen.
Straße, ein Stück dorfauswärts, dann - immer noch asphaltiert - im spitzen Winkel aufwärts. Wieder einmal erzwingen blühende Schönheiten am Wegrand einen Fotostopp. Weiter aufwärts, dem plötzlichen Ende der Beschau- und Bequemlichkeit entgegen. Drei fette Pfeile samt Beschriftung „BU“ (Borderland Ultra) weisen nach rechts auf brusthohes Gras. Da durch und runter?? Tatsächlich weiß eine schwach sichtbare Schneise von ein paar vorher hier aufgesetzten Füßen zu erzählen. Also durch und runter und gottlob rasch wieder auf einen festen Weg. Vor mir tippeln seit einiger Zeit zwei Damen, unterhalten sich meist. Und was machen die jetzt? Müssen wohl mal und Frauen erledigen das gern gemeinsam. Kennt man ja. Dann erreiche ich dieselbe Stelle und werde gleichfalls zum Austreten geschickt - von blauen, grinsenden Pfeilen. Hundert Meter weglos durch den Busch. Eigentlich sollte mir klar sein, was nun kommt: Melde mich zurück im Betonplattenschredder! Wieder arhythmische Fußführung, wieder Einbußen von Zeit- und noch mehr Kraft.
Rechtskurve und mir bleibt der Mund offen stehen. Die bisher längste, mutmaßlich brutalste Lochplattenwand verwehrt mir den Weiterweg. Foto von unten, dann los. Hilft ja nix. Mittendrin bleibe ich stehen, fotografiere nach oben und unten. Ein Läufer holt auf. „Diese Strecke kann sich nur ein Sadist ausgedacht haben!“ Irgendwie muss ich meine Eindrücke artikulieren. Der Mann lächelt und radebrecht infolge Schnappatmung irgendwas Unverständliches. Da er gleichzeitig nach meiner Kamera greift, bekommen seine Wortfragmente Sinn. Brav steppe ich aufwärts und lasse mich dabei von hinten ablichten. Mit staunenden Kinderaugen sehe ich ihn dann flugs an mir vorbeihecheln (Staffelläufer?) und nun auch von vorn ein Dokument meiner Heldentat verfassen.
Seit einigen Kilometern kein perforierter Beton mehr. Es ist vorbei. Natürlich weiß ich das jetzt noch nicht. Im Moment genieße ich einfach das Gefühl mit weniger Konzentration und flüssiger traben zu können. Gerade jetzt ziehen die ersten Häuser von „Ummerstadt“ an mir vorbei und meine Augen weiten sich mit jedem Schritt: Bestens restauriertes Fachwerk! Der Weg gleicht nun einer Tour durch ein Freilichtmuseum. Das muss doch ein Heidengeld gekostet haben alle (!!) Häuser in diesen frisch renovierten Zustand zu versetzen. - Hab’s übertrieben mit der Besichtigung, nicht auf Markierungen geachtet. Die letzte nahm ich lange vorm Ortseingang wahr und nun nichts mehr. Verlaufen? Kurz bevor ich mich zum Umkehren entscheide, mitten im Ort, dann zum Glück eine Tafel. Die schickt mich ins malerische Herz von Ummerstadt, wo man sich um ein paar hundert Jahre in die Vergangenheit versetzt fühlt: Plätschernder Brunnen im Zentrum eines gepflasterten Marktes, ringsum prächtige Fachwerkhäuser. Mein Entzücken könnte größer nicht sein. Zum Glück wurde am Brunnen eine Verpflegungsstation eingerichtet, so dass mir ein paar Minuten Pause bleiben, um mich am Anblick zu erfreuen. Allein für diesen Höhepunkt hat sich der weite Weg schon gelohnt …
Zwei Kilometer Straße, darin ein fordernder Anstieg, dann ab in den Wald, noch 33 Kilometer. Eine verlässliche Prognose, wann ich das Ziel erreichen werde, ist nicht möglich. Fest steht nur, dass es in 15 Stunden nicht zu schaffen ist. Mehr als 16 oder weniger? Keine Ahnung. Kommt auf die Wegbeschaffenheit an und wie lange ich mein Tempo noch konservieren kann. Zwischenzeitlich hat sich Zähigkeit meiner Laufwerkzeuge bemächtigt. So als hätte jemand Gewichte dran gehängt. Einige Zeit zwischen Feldern, dann neuerlich auf Wald zu. Was ist da vorne los? Parkende Autos, Aufbauten wie für ein kleines Fest. Zwischen Bäumen schimmert der brauntrübe Spiegel eines Weihers herüber. Etliche Angler starren gespannt aufs Wasser. Ein Wettangeln? Ein kleiner Junge begegnet dem müden Läufer, guckt ihn aus leuchtenden Augen an, muss die Sensation unbedingt jemandem erzählen: „Hab heut schon zwei Fische gefangen!“ Spricht’s, hört dafür ein „Na super!!“ und springt beschwingt davon …
Fast habe ich das Dorf erreicht, dann schicken mich die Markierungen in spitzem Winkel wieder zurück zwischen die Felder. Seit geraumer Zeit drückt die Sonne durch die Wolken, rinnt der Schweiß vermehrt. Der trockene Mund erinnert mich an meine beiden Trinkflaschen. Ich gehe ein Stück und leere sie Zug um Zug. Wie schwer mir nun allein schon der Trinkvorgang fällt …
Nächster Ort und wieder eine Tränke, kleines Schwätzchen und der erste Hinweis, dass mein GPS-Knecht die Strecke falsch bemisst. Das bin ich im Grunde gewöhnt, jedoch nicht, dass er eine zu geringe Distanz anzeigt. Wenn stimmt, was die Dame mir sagt, dann unterschlägt mir der Forerunner zwei Kilometer. Ich beschließe daran erst einmal keine Hoffnung zu verschwenden. Denn stellte sich das später, wenn ich mich dem „Ende“ nicht nur räumlich nähere, als Trugschluss heraus, könnte es mir einen mentalen Fangschuss verpassen.
Rauf und runter, hin und her, Geläuf von guter bis mittelprächtiger Qualität. Die Landschaft ändert ihren Charakter nicht, bleibt reizvoll aber unspektakulär. Fotos werden Mangelware ebenso meine Wahrnehmung der Umgebung. Die Kilometer 38 bis 43 hinterlassen nicht eine konkrete Erinnerung, kein Bild und keine Begebenheit. Erst in Höhe der nächsten Tränke gebe ich meine innere Emigration auf und wechsele ein paar Sätze. In den beiden Helfern erkenne ich die Nachteulen, die bereits zwischen den im Finstern erstürmten Gleichbergen Labsal reichten. Auch bei ihnen bestätigt sich die deutlich zu geringe Distanzanzeige meines GPS …
Irgendwie bin ich wieder aufnahmefähiger, sehe mehr von meiner Umgebung. Andererseits kann ich mir keine Müdigkeit vorstellen, die mich an diesem Prachtexemplar einer Eiche, zum Naturdenkmal erhoben und bereits mindestens 300 Jahre alt, achtlos vorbeiziehen ließe. Fotos und dann weiter. Der Wiederanlaufschmerz wächst. Die ersten Meter kosten jeweils richtig Überwindung. Eine Minute, dann stellen die Gräten den Protest ein und es geht wieder. Auf ein Dorf zu, drum herum und wieder von ihm weg. Alles asphaltiert, die Kilometer 46 bis 49 laut Anzeige meines GPS. Ich wende mich um: Der Blick zurück ist um einiges attraktiver als der in Laufrichtung: Die Kirche des Dorfes lugt über den mit Feldern bestellten Hügel, wie auch die Dächer einiger Häuser. Dahinter ziehen sich bewaldete Höhenrücken entlang, auf einem thront die Feste Heldburg, in deren Bann mich vor Stunden „Kunigunde“ so schmählich im Stich ließ.
Kein Fahrzeug belästigt mich auf diesem Sträßchen und einen Kilometer weiter wird klar warum. Abrupt endet der Asphalt und die Füße tappen über einen für Traktoren unbestellt belassenen Acker. Doch selbst diese bäuerlichen Fahrzeuge wichen diversen Schlammlöchern über den festen Boden des Feldes aus. Dass dabei reihenweise Maisschösslinge platt gewalzt wurden, scheint niemand zu stören. Natürlich wieder ein Megafeld, mehr als einen Kilometer lang. - Überraschung: Vom Feld quer über ein Sträßchen und dann blicke ich über einen Grashang zum Ufer eines kleinen Sees hinunter. Und wohin nun? Welche der beiden im Gras flach getretenen Pfade soll ich wählen? Rechts und runter. Heftig fährt mir der steile Abhang ins Gebein. Unten verharre ich erneut und spähe immer noch ratlos in die beiden, vom Ufer vorgegebenen Richtungen. Keine Markierung. Es dauert eine Weile und ist dem Winken des Helfers zu danken, dass ich die fälschlich als „Familie beim Picknick“ eingestuften Leute als Verpflegungsstelle am Seeufer erkenne.
„Wehe wenn nicht! Dann komme ich zurück!“ scherze ich gut gelaunt. Gern nehme ich alles für bare Münze, was mir der ortskundige, selbst alle Strecken vom Laufen her kennende Helfer versichert. Dass nun lediglich noch 15 Kilometer bis ins Ziel fehlen (mein Forerunner beharrt auf 17,5) und vor allem, dass kaum noch Härten von der Reststrecke zu erwarten sind. Ein rasant steiler, dafür kurzer Aufstieg noch nach dem letzten Verpflegungsposten, ansonsten wohl alles recht flach. Das Ende des Leidens nun schon greifbar nahe zu wissen, stimmt mich ungemein froh. Daran ändert auch der verheerende Zustand meiner Füße nichts. Die rechte Fußsohle brennt bei jedem Schritt und ich brauche keine Fantasie mir die Größe der von nassen Strümpfen geriebenen Blase (Blasen?) vorzustellen.
Egal: Ich überwinde den Widerstand und trabe los. Halbwegs um den See herum, dann auf ein Sträßchen, das sich wieder dem offenen Gelände zuwendet. Traben, traben, traben. Ich bin schrecklich müde. An dieser Erkenntnis geht nun kein Weg mehr vorbei. Ein Gel gönnte ich mir eben am See, zwei Beutelchen bleiben noch, ich werde sie zur Hälfte der Restdistanz gleichzeitig einnehmen.
Schlurfen auf dem flachen Sträßchen. Auf diese Weise, die Füße bei jedem Schritt nur minimal hebend und langsam voreinander setzend, könnte ich sicher noch ein paar Stunden überbrücken. Doch die Gnade flachen Asphalts reicht nur bis zur quer verlaufenden Straße, in die mein Weg mündet. Für mich geht’s an dieser Stelle - Oh nein! - geradeaus weiter, zwischen Feldern auf wieder einmal kniehohem Gras. Ende nicht abzusehen. Wie ich das Schleifgeräusch hasse, das die hoch aufgeschossenen Halme an meinen Schuhen verursachen. Eine Art Ratschen. Ratsch, ratsch, ratsch, ratsch … 200 Meter, 500 und weiter … ratsch, ratsch, ratsch … - Schon mal auf einer Wiese gelaufen? Dabei gespürt, wieviel Kraft oder Tempo - je nachdem, was dir wichtig war - dabei drauf geht? - Meine Gedanken irrlichtern umher: Nicht zum ersten Mal sehe ich Zecken auf meine Beine springen. Fast sehne ich mich nach den Lochplatten zurück (aber nur fast!). Über einen Kilometer weit dieses hohe Gras, dann entkomme ich endlich auf einen fein geschotterten Feldweg.
Das war definitiv nicht der angekündigte „letzte steile“ Buckel, aber eben auch ein ziemlich fordernder Anstieg. Gottlob im Wald, weil die Sonne noch immer durch den Milchsee der Wolken drückt. Der Anstieg hat mir gezeigt, wie „leer gelaufen“ ich bin. Kurzentschlossen musste eines der beiden verbleibenden Gels dran glauben. Wasser hinterher. Mitten im Anstieg. Umso schwerer wieder anzutraben. Aber auch das habe ich geschafft und nun wieder runter. Leider zu stark abschüssig, als dass ich dabei Entlastung empfände. Auf ein Gehöft zu, mittendurch und ein weiteres Mal hügelwärts. Ultrakurze Schrittchen bringen mich nach oben. Um jeden von ihnen muss ich gegen wachsende Erschöpfung ringen. Von wegen keine relevanten Hindernisse mehr. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe: Im Rahmen eines kurzen Feierabendjoggs gilt nicht als Anstieg, was mir nach nun 100 gelaufenen Kilometern wirkliche Nöte verursacht …
Ich schlage mich durch, ließ mich vorhin von einem überholen, der schon etliche Kilometer in meiner Nähe lief. War wohl keiner der „Borderland-Extrem-Fraktion“. Und wenn doch? Vermutlich kann niemand ermessen, wie vollkommen „Wurscht“ mir das jetzt ist. Nur eins zählt noch: Ich habe es bald geschafft! Nur noch 10, dann 9, jetzt 8 Kilometer. Schmerzende Erschöpfung und Freude mischen sich. Ich trabe, trabe, trabe. Steine auf dem Feldweg setzen mir zu. Am schlimmsten ist es, wenn ich mit dem rechten Blasenfuß auf einen drauftrete. Versuche es zu vermeiden. Wieder Asphalt und auf das Dörfchen „Haubinda“ zu. Hab ich mir eingeprägt, der Helfer sprach davon. Minuten später lauter „Letzte“! Das letzte Loch im Kärtchen, die letzte Verpflegung, die letzte aufbauende Ansprache von Helfern, die letzte, wenn auch kurze Rast und das letzte, jetzt überaus schmerzhafte Wiederanlaufen. Zudem gegen leichte Steigung. Zunächst scheint es als tapste ein Bär die Rampe hinauf, dann komme ich doch wieder in die Gänge.
Gel hilf!! Hab mir eben die finale Portion eingeworfen und komme doch kaum vorwärts. Der letzte Drecksbuckel. Es ist mir versprochen! Der wird mich doch jetzt nicht zur Strecke bringen!? Kaum mehr Kraft, kaum mehr Vortrieb. Ich will da rauf laufen. Ich will NICHT gehen! Ich gebe nicht auf! Weiter, rauf da jetzt, nicht weit, nur noch ein paar Schritte … Endlich wird der Kurs flacher, Wald umfängt mich und alles ist gut. Ein Bündel Wegweiser für Wanderer, von dem ich einen zum „Wegweiser des Monats“ küre: „Streufdorf 3,3 km“. Es wird weiter sein, ganz sicher. Die Anzeige meines GPS-Helferleins kann ich allerdings nicht als Zeuge aufrufen, denn der Forerunner hat sich vor ein paar Minuten klammheimlich ausgeschaltet. Sein Akku war noch früher leer als meiner. Das Weichei hielt nur 15 Stunden durch.
Schritte hinter mir und Stimmen. Wenn ich eins nun nicht mehr ertragen kann, dann unangestrengt plaudernde Läufer in meiner Nähe. Ich bleibe kurz stehen und lichte die beiden Staffelläuferinnen ab. „Wenn du noch Fotografieren kannst, dann kannst du auch noch laufen!“ - Ich setze ihnen nach, bleibe aber ein paar Meter weiter wie angewurzelt stehen. Weiße Blumen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Kleine Blüten als Dolde gebündelt. Und bevor sich der Blütenkelch öffnet, bildet die Pflanze ein kleines Kügelchen aus. Wunderschön!
Die beiden Damen (samt Begleitradler) sind weit enteilt. Ich verlasse den Wald und sehe das nahe Streufdorf. Nun ist der Chor der Schmerzen viel leichter zu ertragen. Nicht mehr weit, etwa drei, höchstens vier Kilometer. Irgendeine Schikane erwarte ich noch und bekomme sie auch. Vorm Ortseingang nach links, einen Kilometer weit, dann erst rechts und auf die Ortsmitte zu. Auf diesem Abschnitt vollzieht sich Wunderbares: Ich fühle mich wieder kräftiger und werde wohl auch schneller. Gel oder Psyche? Wahrscheinlich beides. Ist aber egal, so egal. Der Abstand zu den Amazonen verkürzt sich. Das ist nicht meine Absicht, gilt mir aber als Indikator finaler Stabilisierung. Weiter, immer weiter, am Straßenrand im Dorf und nun kenne ich mich aus: 1 km noch! Nur noch einer.
Vielleicht glauben sie es wäre mir wichtig, sie noch vorm Finish zu überholen. Das ist es absolut nicht. Wichtig ist mir lediglich das Leiden nun so rasch wie möglich zu beenden. Nur deshalb werden meine Schritte immer länger und nur deshalb ziehe ich an ihnen vorbei. Über die Straße, ein Stück Radweg und dann zum Zieltor hin abbiegen. Letzte Schritte getragen von Applaus und der Freude diesen wirklich extremen, 111 km langen Weg komplett laufend gepackt zu haben! Dass ich es völlig ohne orthopädische Beschwerden und in 15:40:09 Stunden schaffte, bedeutet mir viel. Besser gesagt die Aussage, die sich hinter dieser Zeit versteckt: Ich bin wieder zurück! Ich kann es schaffen für den Spartathlon rechtzeitig fit zu werden!
Wunderschöne Landschaftsstrecken, die allerdings reichlich Sturzgefahren bergen. Insbesondere nachts auf dem zweiten Anstieg zum „Kleinen Gleichberg“ und tags auf den insgesamt etwa 10 bis 11 Kilometer „Lochbetonplatten“.
Organisatorisch gibt es nichts zu bekritteln. Die Strecke war lückenlos gut markiert. Dass trotzdem da und dort die Gefahr besteht sich zu verlaufen, liegt rein in der Natur des Traillaufens und ist hinzunehmen. Die Verpflegung ist ausgezeichnet und die Helfer waren alle sehr engagiert, zuvorkommend und überaus freundlich. Ein Extra-Dankeschön in ihre Richtung!
Obschon sehr hart für mich, körperlich wie mental: Den Borderland Ultra (69 km) oder den langen Borderland Ultra Extrem (111 km) würde ich wieder unter die Füße nehmen, wenn ich so eine Distanz/Härte suchte. Wer sich mit weniger Strecke begnügen will, dem wird die Auftaktschleife als „Nachtmarathon“ angeboten.