Sonntag, 5. Juni 2016

Wider die Schwerkraft und andere Hindernisse - Sommeralm Marathon 2016

Es gelang mir wochenlang die Herausforderung „Sommeralm Marathon“ zu verharmlosen. Unterschwellig vor allem mit dem Wissen die 1.730 Höhenmeter bereits viermal, als heftigen Kraftakt zwar, jedoch ohne ernsthafte Probleme durchgestanden zu haben. Außerdem steht mir „lediglich“ ein Marathon bevor; eine sehr „überschaubare“ Strecke, wie es der Ultra in mir häufig ausdrückt. Der meint das nicht überheblich aber auch nur halbwegs scherzhaft. Was 1.730 Höhenmeter auf „nur“ 42,195 km Strecke verteilt tatsächlich bedeuten - bedeuten müssen - ließ mich Bruder Leichtfuß in dieser Zeit nicht zu Ende denken: Eine selten unterbrochene Folge teils heftiger Steigungen!

„Du warst schon viermal da, weißt also, was Sache ist!“ - Klingt logisch, entspricht aber nicht dem Erinnerungsvermögen des Langstreckenläufers. Erinnerungen an Lauferfolge geben keine exakten physikalischen Parameter aus dem tatsächlichen Raum-Zeit-Kontinuum wieder. Die bekannte Parole „Schmerz geht, Stolz bleibt“ umschreibt eine der zur Verklärung des Realen führenden Regeln. Ist dieser Prozess abgeschlossen, lässt sich die eigene Leistung - je nach Bedarf - vor mehr oder weniger Gutgläubigen aufblasen oder eben vor sich selbst verharmlosen, so man sich dieselbe Härte erneut aufbürden möchte.

Erst in den letzten Tagen befasste ich mich ernsthaft mit dem Weg zur Sommeralm: Was anziehen? Wie viele Gels mitnehmen? Welche Taktik erlaubt meine augenblickliche Ausdauerverfassung? - die übliche Vor-Lauf-Checkliste. Nach und nach verwandelte sich optimistisches Zuwarten in eine von Skepsis geprägte Haltung. Reste von Lässigkeit fegte dann der Trainingslauf am Vortag des Sommeralm Marathons hinweg, für den ich die letzten 8 km der Marathonstrecke bis hoch zum Windrad unter die Füße nahm. Unausgesetzt aufwärts mit wechselnder Steigung. Die brauchte ich mir nur tags drauf, am Ende eines harten Weges, vorzustellen, um an Stelle des Windrades „On top of the hill“ ein riesiges Fragezeichen zu sehen …

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Noch fünf Minuten bis zum Start. Sollte ich bei meinen Vorbereitungen etwas übersehen oder unterlassen haben, so werde ich damit auf die Strecke gehen müssen. Roxi fordert meine ganze Aufmerksamkeit! Wie jedes Mal wird mich unsere Hündin auch in diesem Jahr auf dem Weg zur Sommeralm begleiten. Und wie immer vorm und beim Start gebärdet sie sich wie im Hundetollhaus. Kläfft, wieselt nervös hin und her, schwänzelt wild, hat längst kapiert, was da in Bälde auf sie zukommt: Laufen!!! Kurzerhand packe ich sie am Halsband, um sie hinter der Startlinie ruhigzustellen: „Sitz!“ Das Kommando kennt sie mindestens genauso gut, wie die Stimme desjenigen, der es mehrfach wiederholt. In ihrem exaltierten Hundeschädel ist der mentale Dreisprung „Hören-Verstehen-Gehorchen“ derzeit allerdings hormonell blockiert. Nur mit Mühe und drohendem „Knurren“ vermag ich sie an Ort und Stelle zu halten. Muss sie sogar wieder „einfangen“, als der Veranstalter, Hannes Kranixfeld, alias „Kraxi“, mit einem Schuss aus der Starterpistole das Feld zur Startansprache um sich schart.

Pünktlich um 7:30 Uhr dann der erlösende „scharfe“ Schuss. Wie der Pfeil von der Bogensehne schnellt Roxi vorwärts, ist im Nu dem Feld um Längen voraus. Ich halte mich trabend am Rand, um die schnellen Leute nicht zu behindern. In ihrem zu Beginn eines Laufes üblichen „Pendelmodus“ beruhigt sich Roxi rasch: Voraus rasen, sich an ihren Begleiter erinnern, zurück tippeln bis sie den „Lahmarsch“ identifiziert, erneut nach vorne sprinten „and so on“ ... Binnen ein, zwei Minuten baut sie Adrenalin ab, „Born to be wild“ mutiert zu einem der gehorsamsten und liebsten Hunde des Planeten.

Roxis Übermaß an anfänglicher Explosivität habe ich nichts annähernd Gleichwertiges entgegen zu setzen. Noch nicht richtig wach und schon gar nicht eingelaufen scheuche ich meinen unwilligen Körper keine hundert Meter hinter der Startlinie bereits den ersten Anstieg hinauf. Danach wieder runter in dichtem Tann, über ein Brücklein, steil durch einen Obstgarten empor, neuerlich runter, rauf, runter, steil nach oben ... Die ersten, vergleichsweise gutartigen Zacken des Streckenprofils wecken die Erinnerung, wie heftig mich der Auftakt noch in jedem Jahr beutelte. Innerhalb kürzester Zeit bricht Schweiß aus allen Poren. Und bedeuteten die Überlastmeldungen meiner Beine ein verlässliches Orakel für mein Wettkampfschicksal - ich könnte mir weitere Schritte sparen ...

... weitere Schritte, auf heute weichen bis morastigen Waldwegen. Die heftige Achterbahnfahrt gerät immer mehr zum „Eiertanz“: Vorsichtig die Füße aufsetzen, jederzeit mit nachgebendem oder glitschigem Untergrund rechnend. Die Unberechenbarkeit des Geläufs ist den Wolkenbrüchen der letzten Zeit geschuldet. Wasser in Mengen, denen die natürliche Drainage des Waldbodens, nicht jedoch die verfestigte der Wege gewachsen war. Seit Wochen drehen sich mitteleuropaweit feuchte Luftmassen um ein stationäres Tief über Deutschland und sorgen unablässig für nassen Nachschub. Dieser Großwetterlage wegen wird es auch heute wieder regnen. Ob auf dem Weg zur Sommeralm, weiß natürlich niemand. Nach meiner Einschätzung stellt sich allerdings nicht die Frage ob, sondern lediglich ab wann es regnen wird. Meine Regenprophylaxe: Eingerollt untern Hosenbund geklemmt harrt eine Schirmkappe ihrer (möglichst späten, besser noch ausbleibenden) Verwendung.

Unfallfrei und mit erstaunlich sauberen Schuhen entkomme ich dem Wäldchen auf eines der zahlreichen, schmalen Sträßchen, typisch für die hiesige Gegend. Sofort ein paar hundert Meter heftiges Gefälle, wo die Schwerkraft ausnahmsweise mal nicht Oberschenkel und Waden auslaugt, stattdessen die Knie malträtiert ... Doch bevor ich dich weiter mit einer „stroboskopischen“ Schilderung des Laufgeschehens belästige, soll zum besseren Verständnis kurz der Streckenverlauf skizziert werden:

Die Punkt-zu-Punkt-Strecke des Sommeralm Marathons beginnt in Winzendorf in der Steiermark, im schönen Österreich. Selbst wenn es dir gelänge, die über zig Hektar hügeligen Landes verteilte Streusiedlung „Winzendorf“ auf der Karte zu finden, bliebe dir der Startort verborgen. Jene einsame Stelle, wo Hannes Kranixfeld, der Veranstalter, die weiße Startlinie quer über das Nebensträßchen eines Nebensträßchens einer Nebenstraße sprühte. „Schlaue“ Navis finden über die Adresse hin, manche nur, wenn du sie mit Koordinaten füttern kannst. Winzendorf also. Ich verzichte auf die Angabe nächstgelegener Kleinstädte, weil deren Bekanntheitsgrad jenseits steiermärkischen Bodens mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt und in Höhe der Staatsgrenze nach Deutschland faktisch dem Wert null entspricht. Der Ort duckt sich zwischen Hügel, ca. 40 km Luftlinie nordöstlich von Graz am Rande des Pöllautales. Zu eben jenem Pöllautal sind Roxi und ich augenblicklich auf schmalem Sträßchen rasch an Höhe verlierend unterwegs ... Später wird sich der Kurs am gegenüberliegenden Hang bis etwa Kilometer 18 empor „hangeln“, um alsbald jäh in eine bewaldete Schlucht abzustürzen. Dieser „Absturz“ fordert die einzig relevanten „negativen“ Höhenmeter. Von da an fast ausschließlich bergan, bis schließlich das Zieltor auf der 1.400 m hohen Sommeralm erreicht ist.

Nach dieser Tor-Tour bleiben dir grandiose Fern- und idyllische Nahblicke im Gedächtnis und die Nachwirkungen von 1.730 positiven Höhenmetern in den Beinen. Mit Sicherheit der „härteste Marathon der Steiermark“ - wovon meine Muskeln ein Lied in bisher vier Strophen zu singen wissen. Da die Beine das Gewicht allerdings von weit unten hauptsächlich empor hieven, „downhill“ lediglich das Sturzflug-Intermezzo verkraften müssen, darf man den Lauf mit Fug und Recht als „gelenkschonend“ bezeichnen - im Vergleich zu anderen Bergmarathons natürlich nur. Dazu trägt übrigens auch bei, dass etwa drei Viertel des Kurses asphaltierte Wege nutzen. Falls es für dich von Bedeutung ist: Ausreichend Ausdauer vorausgesetzt, lässt sich jeder Streckenmeter laufend überwinden. Ja, richtig: Genau das gelang mir bisher viermal und selbstverständlich verpflichtet mich mein „Läufergelübde“ auch heute dazu ...

„Unten“ im Pöllautal angekommen, beginnt der beschaulichste und für sagenhafte anderthalb Kilometer sogar flache Teil der Route. Wäldchen, Obstanbau, bestellte Felder, verstreut liegende Höfe und Wohnhäuser beleben die breite Wanne des Talgrundes. Der beständige Wechsel von Naheindrücken macht jedoch nur einen Teil des Reizes dieser Landschaft aus. Bewaldete Höhen am Ostrand des Tales dominieren die Szenerie, mehr noch die gebieterisch auf einem Hügel thronende Kirche. In der Morgensonne erstrahlt das Gotteshaus in warmen Rottönen, die nichts von der oft einschüchternden Wirkung ähnlich exponiert erichteter Sakralbauten übrig lassen. Leider muss ich diesen Teil der Laufgeschichte aus meiner Erinnerung kramen, weil uns die Morgensonne heute im Stich lässt. Frieren braucht bei etwa 16°C und drückend schwüler Luft dennoch niemand. Nach gerade mal fünf Kilometern, in Höhe der ersten Labestelle, kleben meine Klamotten schon nass am Körper. Mit drei gut gefüllten Bechern Iso versuche ich dem Wasserverlust Einhalt zu gebieten.

„Sonne und blauen Himmel“ wünscht sich Sonnenkind „Udo“ allemal als Laufwetter. Doch dieser milchig eingetrübte Himmel erleichtert die Aufgabe, insbesondere wenn Roxi dabei ist. Ihre „Luftkühlung mittels hechelnder Zunge“ wird ohne direkte Sonneneinstrahlung ausreichen. Das war (unter anderem) im Vorjahr nicht so, als Roxi von Zeit zu Zeit ein Bad im Bach nehmen musste oder ihr schwarzes Fell mit anderweitig „requiriertem Wasser“ mehrfach befeuchtet wurde.

Das Kommando „Wasser!“, neben einem Bach, kaum zweihundert Meter hinter der „Menschentränke“, ausgesprochen, dient demnach nur dem Zweck ihren Durst zu stillen. Ohne merkliche Verzögerung weiter, jetzt wieder hügelwärts und durch ein einsam am Waldrand gelegenes Gehöft. In Sichtweite zweier anderer Läufer tauchen wir im prallen Waldgrün unter. Anfang Juni: Frühling übergibt den Staffelstab an den Sommer. Für mich die schönste Zeit im Jahr, weil die Natur in allen Farben üppigst explodiert und die Nacht auf ein halbes Zifferblatt reduziert. Und natürlich der Wärme wegen, die die „Maskerade“ mit Laufklamotten minimiert. Im Halbdunkel unter Laubbäumen, auf geringfügig ansteigendem Geläuf, realisiere ich erfreut, dass die Bleigewichte des Anfangs von mir abgefallen sind. Übermut brauche ich ob dieser Wahrnehmung nicht zu fürchten, weiß ich doch um die Schwere dessen, was mir noch bevorsteht.

Wald bleibt zurück, Felder links und rechts, alsbald auf ein Sträßchen. Sonntagsruhe all überall, fast mit Händen zu greifen. Obstplantagen säumen nun den Weg; schon jetzt, Monate vor der Ernte, mit feinem Gespinst vor geflügelten Räubern bestens geschützt. Was für ein Aufwand! Die Netze überspannen eine Fläche auf der man dutzende Fußballfelder unterbringen könnte! In weitem Bogen und wieder fordernder aufwärts nähern wir uns der nächsten Verpflegungsstation. Noch kann ich meine Frau nicht sehen, rufe Roxi jedoch vorsorglich an meine Seite: „Roxi rechts!“ Gleich werden wir auf Frauchen mit der Kamera zulaufen und wollen ein möglichst einträchtiges, ganz und gar beherrschtes Motiv abgegeben: Mensch läuft mit Hund.

Als ich Ines erspähe, wieselt sie noch geschäftig zwischen Babsis Auto und Verpflegungstisch hin und her, um Getränkenachschub herbei zu schaffen. Gemeinsam mit Babsi betreibt sie Tränke 2. Nach Passieren des Schlussläufers werden die beiden zum Ziel auf der Sommeralm weiterfahren und dort die Zielverpflegung organisieren. - Du fragst dich, wer die hier erstmals erwähnte Babsi ist?“ - Will man Menschen, die noch nie hier waren, das höchst außergewöhnliche Projekt „Sommeralm Marathon“ wirklichkeitsgetreu näherbringen, muss man die Veranstalter, verkörpert durch die „Doppelspitze“ Babsi und Hannes Kranixfeld, vorstellen:

Vor Jahren reifte bei „Kraxi“, alias Hannes Kranixfeld, die Idee einige der schönsten Abschnitte seiner Trainingsläufe für eine Marathonstrecke aneinander zu reihen. Seit 2012 steht der Sommeralm Marathon in Laufkalendern und erfreut sich steigender Beliebtheit. Selbstverständlich kommen aus dem Heer der Freizeitläufer für ein so anspruchsvolles „Berglaufepos“ nur gut ausdauertrainierte Laufenthusiasten in Frage. Außerdem liegt die Steiermark, aus deutschsprachiger Mitte betrachtet, nun nicht gerade um die Ecke. Die bescheidene Zahl von 20 Einzelstartern der ersten Auflage - so viel sei vorweg genommen - hat sich dennoch in diesem Jahr verdreifacht. Dazu kommen sechs Dreierstaffeln, deren Mitglieder sich die Last der Höhenmeter teilen. Streckenschönheiten alleine können den Erfolg eines Marathons nicht erklären. In Wahrheit haben sich die akribische Vorbereitung des Laufes und eine in allen Details auf die Belange der Läufer zugeschnittene Durchführung herum gesprochen. Lass dich überraschen, was der „Sommeralm Marathon“ neben Naturschönheiten und läufergerechter Versorgung (12 (!) Laben) sonst noch zu bieten hat. An dieser Stelle gilt es lediglich Sachverstand, Herzlichkeit und Frohsinn hervorzuheben, mit denen Babsi und Hannes Kranixfeld dem Lauf ihren unverwechselbaren Stempel aufprägen!

Nach und nach frische ich bekannte Bilder im Kopf wieder auf. Ansichten der Gemeinde Rabental, durch die wir uns seit den Obstplantagen bewegen. Bilder von scheinbar ziellos am Hang umher mäandernden Sträßchen, sattgrünen Wiesen, unreif wogenden Getreidefeldern, Waldstücken unterschiedlicher Ausdehnung und höchst selten einmal ein Haus oder Gehöft. Auch Rabental ist als Streusiedlung angelegt, deren Anwesen sich über ein riesiges Areal entlang der Westflanke des Pöllautales verteilen. Sonntägliche Beschaulichkeit überall, untermalt vom Zirpen der Grillen. Einer offensichtlich genügsamen Grillenspezies, die fehlende Sonne und mäßige Temperatur nicht vom monotonen Musizieren abhält. Nur einmal stört ein Trecker die Ruhe, dann und wann ein Auto. Roxi beordere ich dennoch an meine Seite, wo sie heute etliche Kilometer wird aushalten müssen. Zu tief fuhr mir der Schreck vor zwei Jahren in die Glieder, als ich sie an einsamer, unübersichtlicher Stelle frei laufen ließ, wie immer auf mein Gehör vertrauend. Ohne Vorwarnung tauchte plötzlich ein Milchlaster auf einer Kuppe auf, keine zwanzig Meter vor Roxi. Der Zufall wollte es, dass sie gerade dicht am Straßenrand tippelte, so konnte ihr der Lkw ausweichen ...

Steigung überwiegt: Zwischenzeitlich auch mal ebenerdig, bisweilen ein Gefällestück, doch insgesamt aufwärts, meist sanft, hin und wieder fordernd. Trotz ständig wechselnder vertikaler Orientierung haben meine Beine einen Laufrhythmus eingestellt. Er basiert auf solider Ausdauer. Kein Gefühl ausgesprochener Stärke, doch immerhin scheine ich heute eine passable Tagesform und ausreichend Regeneration mitzuführen. Ich bleibe vorsichtig optimistisch mein Tagestrainingsziel realisieren zu können. Das hieße die schlechte, unter harten Rahmenbedingungen zustande gekommene Zeit des Vorjahres klar zu unterbieten. Weit mehr als fünf Stunden brauchte ich damals. Wie viel genau wollte ich nicht wissen, um mich nicht zu sehr unter Druck zu setzen. Eine Zwischenzeitmarke blieb mir jedoch grob im Gedächtnis; jene an der alten, einsam auf der Passhöhe stehenden Linde bei Kilometer 17,7.

Noch zwei Kilometer bis zum Baum: Zunächst ein paar Kurven am Hang mit den vorerst letzten Höhenmetern. Natürlich spicke ich schon jetzt zur Uhr. Was ich sehe und hochrechne steigert meine Zuversicht und lässt mich die restlichen Höhenmeter vergessen. Wieder einmal erlebe ich ganz bewusst, wie sehr körperliche und mentale Befindlichkeit einander bedingen. Nun ein paar hundert Meter mit ziemlicher Neigung abwärts bis das Nebensträßchen in die ebene, stark befahrene Passstraße einmündet.

Ein halber Kilometer noch bis zum Baum. Autos zischen vorbei. Zur ihrer Sicherheit wiederhole ich mehrmals das Kommando, das Roxi an meiner linken Seite fixiert: „Langsam Roxi! … Langsam!“* Seit einiger Zeit höre ich Schritte hinter mir. Im Moment des Überholmanövers unterläuft mir am ausgefransten Asphaltbelag der Straße ein Fehltritt. Ich strauchele, schubse dabei Roxi zur Seite, kann aber gottlob einen Sturz ins grüne Dickicht des Straßengrabens vermeiden. Der Baum! Noch hundert Meter. Eine riesige, uralte Linde, zum Naturdenkmal erhoben, beherrscht die Passhöhe. Unter ausladenden Ästen, von denen einer mit einem Sockel gestützt werden musste, erwartet uns die nächste Labe. Kurzer Aufenthalt nur: Drei Becher Iso füllen meinen Magen, ein Stück Banane wandert hinterher. Ich bedanke mich bei den Helfern und bin dann mal weg ... Erst jetzt nehme ich die Zwischenzeit: Etwa 1:59 h. Und das ist erfreulich wenig! Letztes Jahr waren es 10 Minuten mehr!

*) Das Kommando „Langsam!“ versteht Roxi nicht als Tempoangabe. Sie wurde mit diesem Schlüsselwort darauf trainiert an der linken Seite des Hundeführers zu laufen.

Das ausgedehnte Plateau der Passhöhe schenkt mir ein paar flache, mit Muße angefüllte Minuten. Roxi darf frei laufen und bedankt sich gleich mit einem übermütigen Sprint durch die angrenzende Wiese. Ihre kurze Extratour signalisiert: Alle Parameter des Hundekörpers im grünen Bereich! So weit unter bedecktem Himmel möglich genieße ich die Aussicht von hier oben. Der Blick reicht weit voraus und hinüber in unser Zielgebiet, das Steirische Almenland, zu dem auch die Sommeralm gehört. Wer genau hinschaut, kann von hier bereits das einsame Windrad auf der Sommeralm erkennen. Das verkneife ich mir heute. Erstens weiß ich, wo es steht und zweitens, wie entsetzlich weit weg es von hier oben wirkt. Sehr wahrscheinlich hätte der Anblick keine demotivierende Wirkung, doch warum soll ich mit dem Teufel spielen?

Wir erreichen die bereits erwartete, von permanentem Zulauf gespeiste Kuhtränke am Straßenrand. Noch in jedem Jahr musste sich Roxi hier eine Abkühlung gefallen lassen. Mehr Gewohnheit als Notwendigkeit gehorchend versuche ich Fräulein Schwarzfell zum Sprung in das Behältnis zu bewegen: „Hopp Roxi!“* Sie gibt die Wasserscheue, wieselt trotz mehrfacher Aufforderung lediglich hin und her. Also versuche ich es mit Nassspritzen, was ob ihrer flinken Ausweichmanöver gleichfalls misslingt. Wäre sie aufgeheizt, ließe sie sich die derbe Behandlung gefallen. Heute ziert sie sich, also lasse ich von meiner Absicht wegen offensichtlicher Sinnlosigkeit ab.

*) Wäre die Weide belebt, würde ich selbstverständlich darauf verzichten Roxi zu einem „Bad“ zu bewegen. Bis irgendwann wieder Kühe das Wasser trinken, hat der Zulauf das Wasserreservoir längst erneuert.

Kilometer 19: Das Sträßchen steigt an und das nicht zu knapp. Erstaunlicherweise setzen mir die Höhenmeter ausgerechnet jetzt ziemlich zu. Wieso jetzt? Warum nicht vorhin? Was hat sich geändert? Binnen zwei, drei flachen Kilometern baut niemand ab. Eines der ungezählten Rätsel, die mir mein Organismus im Zusammenhang mit dem Laufen immer wieder aufgibt. Lösungen oder wenigstens Ansätze dazu finde ich selten. Ich beiße mich durch und dann beginnt der Abstieg. Von 900 Metern Seehöhe an dieser Stelle, hinunter auf 550 Meter. Einstweilen noch auf Asphalt, einer violett gewandeten Amazone auf den Fersen. Orthopädisch haben die inzwischen 20 Kilometer nicht die geringste Spur hinterlassen. Also gestehe ich mir „downhill“ ein recht flottes Tempo zu, das mich nach kurzer Zeit an der Violetten vorbeiziehen lässt. Die diszpliniert und ausdauernd trabende Roxi bedenkt sie mit überschwänglich lobenden Sätzen. Ihre Worte relativieren die Selbstverständlichkeit mit der ich mich auf Roxis Fähigkeiten verlasse. Scheinbar erleben viele Läufer Hunde überwiegend als übergewichtig faule und/oder ungehorsame Spezies, deren Zähne sie obendrein fürchten. In jenen Fällen, da dieses Zerrbild der Wirklichkeit entspricht, hat daran der Zweibeiner alle, der Vierbeiner überhaupt keine Schuld ...

Der Abstieg fordert die Oberschenkel und, da er sich überwiegend auf holprigen Waldwegen vollzieht, auch Füße und Fußgelenke. Dass ich mich beständig bremse, hat allerdings einen anderen Grund: Hier zu stürzen kann das Ende der Laufsaison bedeuten! Zur Erholung streut die Bergflanke ein paar flache, teilweise sogar ansteigende Passagen ein. Sogar an diesem Abhang, wo der Blick beinahe pausenlos den Boden fixiert, ist „Verlaufen“ eine höchst aussichtlose Option. Selbst aus den Augenwinkeln blickend schafft man es nicht die Schilder „Sommeralm Marathon“ mit Richtungspfeilen, weiße Sprühpfeile und Flatterbänder alle paar Meter zu übersehen. Und wo die Marathonstrecke von der „logischen“ Geradeausroute abweicht, verwehrt ein weißer Querstrich das Weiterlaufen.

Wieder auf Asphalt, noch immer steil hinab. Erst vor der nächsten Labe hat die Schussfahrt ein Ende. Nach der bisher offenen, ständig Ausblicke offerierenden Landschaft fühlt man sich hier unten in enger Schlucht mit bewaldeten Abhängen „gefangen“. Eine Schlucht mit ziemlichem Verkehr, weil wir uns nun einen halben Kilometer weit am Rande einer Bundesstraße durchschlagen müssen. Vorbeifahrende Autos sind für Roxi zwar nichts Neues, doch neben dieser Stützmauer und am Grunde der Schlucht macht sie das ungewöhnlich laute Fahrgeräusch sichtlich nervös. Zur Beruhigung wiederhole ich das Kommando von Zeit zu Zeit: „Roxi rechts!“

Vorbei donnernde Autos nerven auch mich, dennoch hätte ich nichts dagegen die relativ flache Passage bis ins Marathonziel auszudehnen. Weiß ich doch, was nun kommt, als wir in ein Nebensträßchen abbiegen. Vor mir baut sich die „Wand“ auf! Etwa zweihundert brutal steile Meter gilt es zum Auftakt des längsten Anstieges zu überwinden, geschätzte 20 Prozent Steigung. Kraxi nimmt's mit Humor und fordert ihn auch von seinen Teilnehmern: „Niemand hat gesagt es wird leicht“ steht auf der Tafel am Straßenrand. Es wird nicht nur nicht leicht werden, sondern verdammt hart! Zum Glück nicht ständig steil, doch unablässig himmelswärts orientiert. Erst 500 Höhen- und 7.000 Streckenmeter weiter oben, geben ein paar flache bis sanft abfallende Kilometer wieder Gelegenheit sich zu erholen. Pünktlich zum beginnenden Aufstieg linst die Sonne durch sich inzwischen wild bauschende Wolkenformationen. Neue Laufformel: Mehr Schwüle plus Anstieg ist gleich Ströme von Schweiß!

Neben purer Folter für die Beine hält der steile Auftakt auch ein paar der idyllischsten Nahbilder bereit. Ein kleines Kirchlein rückt ins schweißgetrübte Blickfeld, danach ein wunderschönes historisches Gasthaus und ein prächtiger Hausaltar. „Maria mit dem Kind“ ließ „Familie Grünbichler“ dort in frischen Farben darstellen. Die Inschrift verweist auf 1770 als offensichtliches Datum der Errichtung und 2005 als Jahr der Restaurierung. Vorbei am Altar und weiter hinan, nun weniger schweißtreibend. Es donnert. Nicht zum ersten Mal jetzt aber unüberhörbar. Mit jedem Meter Höhe, den ich mir erarbeite, wird der Blick freier. Düster drohend lasten die Wolken weit oben auf dem Höhenzug.

Nächste Tränke, becherweise Iso, ein Wortwechsel. Ich drücke meine Sorge über den drohenden Wolkenbruch aus. „Das kommt eh alles auf der anderen Talseite runter!“ Ob aus Überzeugung oder zum Zwecke des Mutmachens gesprochen vermag ich nicht zu unterscheiden. Jedenfalls sage ich „Danke!“ und beginne wieder mit speziellem Trab: Vergleichsweise winzige Schritte, um meine Kräfte nicht vorzeitig zu erschöpfen. Alle paar hundert Meter, je nach Aus- oder Weitsicht, gönne ich mir ein paar Sekunden Fotopause. Manchmal bleibe ich auch stehen, um die Brille zu lupfen und gründlich den Schweiß von Stirn und Schläfen zu wischen. Der rinnt nun ohne Unterlass und in schieren Sturzbächen. Kilometer 28 und 29. Sie kennen nur zwei Vertikalitäten: Steil oder sehr steil. Ich kämpfe mit aller Macht gegen wachsende Ermüdung. Bloß nicht dran denken, wie weit es noch ist! Wie weit und wie hoch! Konzentrier dich auf deinen Schritt! Achte darauf, dass er sehr kurz bleibt! Spare Kraft!

Wieder und wieder brandet Donner heran. Hier oben, mit beinahe Rundumsicht, habe ich drei Gewitter ausgemacht. Sorgen bereitet mir allerdings nur die dunkle Wolkenwand hoch über meinem Kopf. Ob es auch aus ihr heraus grummelt, vermag ich allerdings nicht zu sagen. Roxis Nervosität wächst mit jedem Donnern. Nahes Knallen oder Gewitterdonner verursachen ihr panische Angst. Ich hoffe, dass uns kein wirklich nahes Gewitter erwischt ... Egal, weiter, rauf, rauf, rauf und noch mal rauf.

Vorm Weiler Sallegg wird das Sträßchen flacher und schenkt mir die 30 km-Tafel. Ein paar Meter zur Erholung. Lauf langsam, lass deinen Beinen Zeit sich zu regenerieren. Ich mache mir bewusst, dass zur üblichen Freude in Höhe der 30iger-Marke kein Anlass besteht. Reststrecke zählt bei einem Berglauf wenig, relevant sind die verbleibenden Höhenmeter. Und davon fehlt grob überschlagen noch mehr als ein Drittel! Ein Drittel, das ich auf bereits ziemlich müden Haxen durchstehen muss.

Tränke in Sallegg: Wie an jeder Station auch hier zuvorkommende, überaus herzliche Helfer. Wie meist bekommt Roxi Wasser angeboten, das ich - stellvertretend für meinen Hund - dankend aber eindeutig ablehne. Roxi hat sich mehrmals aus Bächen oder Pfützen bedient. Ich nehme mir ein winziges Stück vom angebotenen Kuchen. Nicht für mich. So was Trockenes kriege ich unterwegs nicht runter. Roxi bekommt den süßen Happen zur Belohnung. Erste Tropfen platschen auf den Verpflegungstisch und sorgen in der Helfertruppe für Unruhe. Alternative Platzierungen unterm Vordach einer nahen Hütte werden erwogen. Ich nestele die fast vergessene, inzwischen klatschnass durchgeschwitzte Schirmkappe hervor und ziehe sie mir über den Kopf. Einziger Zweck der Übung: Regen von meiner Brille fernhalten!

Weiter aufwärts, nicht mehr ganz so steil. Mehrmals hat es den Anschein, als wollte sich Petrus das mit dem Regen noch mal überlegen. Mehrmals bin ich versucht meine Kappe wieder zu verstauen, bis er neuerlich ein paar Tropfen in meine Richtung schleudert. Rauf und vorbei am Hof eines Bergbauern. Betrachtet man die trichterartig und steil abfallenden Wiesen unterhalb des Gehöfts, bekommt man eine Ahnung mit welchen Mühen das Leben eines Landwirts hier oben verknüpft sein muss. Und dann nur 20 Cent für einen Liter Milch? Wahrscheinlich gibt es Ausgleichszahlungen. Die muss es geben. Wie sonst sollte unter diesen topografischen Bedingungen (land-) wirtschaftliches Überleben möglich sein?

Endlich erreichen wir den vorerst höchsten Punkt, knappe 1.100 Höhenmeter, was mir mein GPS-Knecht anlässlich späterer Auswertung verrät. Unter nun stetigem Tröpfeln, von gelegentlichem Donner (weiter entfernt) begleitet, erhole ich mich auf ebenen bis leicht abfallenden Abschnitten des Sträßchens. Genauer gesagt: Ich hoffe mich auf dieser Passage zu erholen! Ob es gelingt, wird der Schlussanstieg zeigen. Kilometer 33, die nächste Verpflegungsstation. Auf deren Betreiber rennt Roxi schwanzwedelnd zu. Marcel und Kevin, die Söhne von Babsi und Hannes, versehen hier oben ihren Dienst. Iso für mich, Streicheleinheiten für Roxi. Lange halten wir uns nicht auf, weil der Regen stärker wird. Also weiter, sanft hinab, für einige Zeit ...

Drei Kilometer weiter entlasse ich Roxi zur nächsten Labe. Wieder begrüßt sie die Besatzung des Stützpunkts freudig erregt. Da spielt es auch keine Rolle, dass der Himmel seine Schleusen mittlerweile sperrangelweit geöffnet hat. Babsis Schwester mit Freund versorgen uns an dieser Stelle. Ich spendiere mir das letzte Gel und hoffe für den ab dieser Stelle beginnenden, finalen Himmelssturm gerüstet zu sein. Für meine Kamera gilt das definitiv nicht, wenn es in Strömen regnet. Also nütze ich die Gunst des speziellen Teams und übergebe Babsis Schwester Conny die Kamera zur trockenen Verwahrung. - Dank an die beiden Helfer und ab. Wild fauchend fahren mir die ersten Höhenmeter in die Beine. Auch nach ein, zwei Minuten will das Gefühl von Schwäche nicht weichen. Keine Reserven mehr, die mich die verbleibenden 6 Kilometer und 400 Höhenmeter nach oben hieven könnten. Mach winzige Schritte! Es wird schon gehen!

Klar geht es - irgendwie. Wenn du bereit bist zu leiden, wenn du den Schmerz erträgst, wenn du dich immer und immer wieder vorwärts-aufwärts treiben kannst, dann geht es. Wasser tropft vom Schirm meiner Kappe, rinnt an meinen nackten Armen herunter. Kein Schweiß mehr, jetzt eiskalter Regen. Natürlich friere ich an den Armen, habe aber keine Möglichkeit dem abzuhelfen. Ist mir im Moment auch egal. Jetzt, hier, erst vorm und nun mitten im absolut grässlichsten, da härtesten Stück des weiten Weges rauf zur Sommeralm. Vom Waldweg wechsele ich auf einen Wanderpfad, der über Waldboden, also Stock und Stein, steil hinan führt. Unter dem Mikroskop kann man sicher erkennen, dass ich tatsächlich noch so etwas wie Laufschritte vollziehe. Immer rascher schnappe ich nach Luft, immer drängender bettelt meine Muskulatur um eine Pause ... Weicher Waldboden: Tief drückt mein Körpergewicht den Fuß ins Geläuf. Steine oder Wurzeln: Mit letzter Kraft und unnatürlichem Kniehub hieve ich meine Füße über die Hindernisse. Keine galaktische Distanz, auch wenn es so klingt. Lächerliche hundert Meter Waldboden nur, doch sie bedeuten dem Erschöpften die Hölle ...

Über eine Wiese, das teuflische Wäldchen im Rücken, etwas weniger steil aber immer noch bergan. Weiches Geläuf, Gras, zusätzliche Schrittdämpfung. Und Dämpfung verzehrt Energie. Das wusstest du noch nicht? Dann weißt du es jetzt und wirst dich für Laufschuhe mit geringer Dämpfung entscheiden, wenn du über gesunde Füße verfügst! Gras Ende, steiler Feldweg, weitere hundert Meter kämpfen und dann ... Nein geschafft habe ich es noch lange nicht, aber von meinem gestrigen Trainingsläufchen ist mir ein moderater weiterer Kilometer in frischer Erinnerung ...

Ich verzichte auf die Darstellung des grandiosen Rundblicks. Selbst im Regen und in Gewitterstimmung kann einem der noch gefallen. Ich verzichte, weil ich mich sonst seit einer Stunde ständig in Superlativen hätte ergehen müssen. Schön, schöner, wunderschön, wunderschöner, Steirisches Almenland.

Die Arme beschweren sich und drohen mit eisigem Absterben. Ich ignoriere sie, greife stattdessen an der letzten Tränke, vier Kilometer vor dem Ziel, zu weiteren Bechern mit Iso. Durst habe ich keinen mehr, ich brauche den Zucker. Der ist jetzt „überlebenswichtig“. Was überleben soll ist die Gangart „Laufen“. Und meine Körperdepots sind so leer, wie ein Heuschober nach rekordverdächtig langem Winter. Noch immer fehlen ungefähr ... etwa ... vielleicht ... na ja, ziemlich viele Höhenmeter (250 Hm ergibt die GPS-Auswertung). Gestern hat mir der Schlussanstieg meine Grenzen aufgezeigt und gestern war ich weit vom jetzigen Erschöpfungszustand entfernt.

Von hier hat man freie Sicht zur Sommeralm. Beim Leeren der Iso-Becher erhoffe ich mir irgendein Anzeichen, dass das Wetter sich dort oben bessert. Ein paar Flecken helleres Grau in dunklem rede ich mir mit viel Optimismus schön: „Vielleicht hört es ja doch noch auf zu schütten!“ „Schütten“ ist nicht übertrieben. Die Tropfen fallen zwar nicht als dichter Vorhang, dafür aber fett wie Murmeln. Auf der Straße vereinigen sie sich zu ergiebigen Bächen. So gut es geht versuche ich der Brühe mit längst nassen Füßen auszuweichen, um den Status „Wasser steht in den Schuhen“ zu vermeiden ...

Wieder und wieder muss ich Roxi mit Kommandos zur Ordnung rufen. Es fällt ihr schwer sich zu konzentrieren, weil sie Angst hat. Vorm gelegentlichen Donner, mehr noch bei den nun häufiger vorbei zischenden Autos. Das Fahrgeräusch auf nasser Straße ist um ein Vielfaches lauter als bei Trockenheit. Ständig blickt sie sich um, läuft mal zu schnell und mal zu langsam. Nur mit Mühe schaffe ich es weitere Laufschritte zu setzen. Im letzten Jahr hatte ich auf diesem finalen Abschnitt noch einiges zuzusetzen, diesmal nicht. Meter um Meter kämpfen, dem Schrei des Körpers nach Stehenbleiben wehren. Neben mir der nervöse Hund, von oben ergiebiger Regen, rechts ständig Autos ... Durchbeißen ist jetzt gefragt. Alles mobilisieren, was mir noch bleibt, im Oberstübchen und in den Beinen.

Wir erreichen einen kleinen Sattel, Ausblicke nach zwei Himmelsrichtungen, zweihundert Meter Erholung. Blödsinn: Erholen werde ich mich nicht mehr, erhöhe auch kaum mein Tippeltempo. Zudem pfeift hier ein heftiger Wind von rechts nach links, kühlt mich aus und nimmt mir die Wahrnehmung überhaupt noch Arme und Hände zu besitzen. Wieder rauf ... ‚Oh Gott! Wie weit denn noch? Frag nicht, du weißt es doch ...’ Langsam, stetig, noch ist Laufleben in mir ... Gleich werde ich den vorletzten steilen Buckel überwunden haben, dann kann ich das Ziel schon sehen ... Vorbei an der Tafel mit der „40“ drauf. Heute vermag sie meinen Nachbrenner nicht zu befeuern. Zweikommazwei Kilometer zwar nur noch, aber immer noch Hööööhenmeter. Weiter rauf, um eine baumbestandene Bergflanke herum, dann flacht die Straße ab und weit voraus kommt das Ziel in Sicht.

Im Schneckentempo nähere ich mich der „Stoakogl Hütte“, wo das Zieltor wartet. Es kann einen mental ausknocken, wenn man es nicht weiß: Zunächst am Zieltor vorbei, einen allerletzten steilen Buckel hinauf, eine Schleife von 700 Metern fehlt noch. Ich passiere die Hütte und erkenne kaum „Leben“. Einerseits, weil sich alle in trockene Deckung zurück gezogen haben. Außerdem darf ich den Kopf nicht wirklich heben, weil der Regen sofort die Brille erblinden ließe. Also dran vorbei und mit dem letzten Rest Substanz nach oben. Vor einer Minute wurde ich überholt. So kurz vorm Ziel eine Demütigung. Normalerweise. Heute nicht. Ich friere und bin am Ende, da finden hochtrabende Gefühle keinen Platz.

Runter von der Straße, rauf auf einen Wanderweg, über Steine, zwischen Pfützen, quatschnasses Gras passierend, ein Stückchen flach, Wind von vorn und nun hinab. Erst gemach, dann steiler. Angst essen Seele auf: Bloß jetzt nicht mehr auf die Schnauze fliegen! Heimtückische Steine warten nur darauf mir tiefe Wunden zu schlagen. Tempo runter. Gar nicht einfach am steilen Hang. „Roxi langsam!“ Zig Mal wiederhole ich das Kommando, um sie an meiner Seite zu fixieren. Roxi findet natürlich festen Halt. Halt, der mir fehlt. Vielleicht auch nicht, will es aber nicht drauf ankommen lassen. Dann der Zaun um die Hütte, darin das Tor und endlich bin ich im Ziel.

Roxi flitzt zu Frauchen, die mich gleich zur Verpflegung winkt. Ich lehne jedoch alles ab, lasse mir lediglich den Autoschlüssel geben und fahre sofort zur fünf Kilometer weit entfernten Dusche. Es bleibt mir gerade noch Zeit Roxi im Kofferaum zu verstauen, eine Decke über den Fahrersitz zu breiten und die Fahrt anzutreten. Dann setzt ein, was mich fluchtartig den Zielort verlassen ließ: Schüttelfrost! Hätte der mich an der Hütte erwischt, wäre ich nicht mal mehr ins Auto gekommen. Übervorsichtig, das Lenkrad verkrampft mit beiden Händen packend, zuckele ich Richtung Tal. Der Blick zum Außenthermometer verstärkt das Frösteln: 10°C!

Mein Ziel ist der Weiler Brandlucken, gleich unterhalb der Sommeralm, wo die Veranstaltung ihren Ausklang nehmen wird. Später, wenn alle das Ziel erreicht haben und mit bereitstehenden Fahrzeugen des Hauptsponsors zum Duschen gefahren wurden. Und was nun kommt, liest sich schon ein wenig wie aus einer anderen Welt: Ich parke auf dem weitläufigen Parkplatz eines Hotels, greife meine Siebensachen und marschiere schnurstracks durch die Halle, dann durch noble Gasträume, vorbei an tafelnden Gästen. Mit jedem Schritt wird es wärmer und als ich den Wellnessbereich des Hotels betrete, wähne ich mich im Paradies. Und genau da bin ich jetzt auch angekommen. 5 zittrige Minuten, dann habe ich mit immer noch klammen Fingern mein nasses Zeug abgestreift, mir ein Saunahandtuch geschnappt und marschiere unter die wunderbarste aller warmen Duschen unserer Galaxis. Und dann - höchstes „Gipfelglück“ - hocke ich mich in die 80°C heiße Sauna ... Es dauert sicher zehn Minuten, bis ich zu schwitzen beginne. Zehn Minuten in denen Leben in meine Arme zurückkehrt. Was für ein unglaublicher Luxus: Vom zehn Grad kalten, regennassen Ziel binnen einer halben Stunde in die heiße Sauna ...

Anderthalb Stunden später sitzen wir alle versammelt beim Drei-Gänge-Menü, das - du ahnst es sicher - im Startgeld eingeschlossen ist. Essen, trinken in trauter Runde, Gespräche, wohlige Gefühle und dann die Siegerehrung. ALLE Läufer werden geehrt, was natürlich Zeit in Anspruch nimmt, angesichts eines Rundumpakets „Sommeralm Marathon“ vom Feinsten aber unabdingbar ist. Das war's jetzt aber - oder? Das war's mitnichten und damit meine ich nicht den organisierten Rücktransport zum Start, was etwa 40 min Fahrzeit in Anspruch nimmt. Davor starten Babsi und Hannes noch ihre Tombola, von der die überwiegende Zahl der Teilnehmer profitiert. Sponsoren ließen sich nicht lumpen: Es gibt Fresskörbe zu gewinnen, etliche Marathonstarts, Überraschungspakete mit Trink- oder Essbarem und als Hauptgewinn einen Gutschein für Laufschuhe.

 

Fazit zum Trainingswettkampf

Mein Tagesziel „deutlich schneller als im Vorjahr“ habe ich erreicht. Tatsächlich entsprechen die 5:09:33 h dieses Jahres meinem zweitbesten von bisher fünf „Anläufen“ zur Sommeralm, wenn auch nur um Haaresbreite:

Folglich darf ich mit dem bisherigen Verlauf des „Wiedereinstiegs“ nach krankheitsbedingter Zwangspause zufrieden sein. Wo ich im Hinblick auf mein Saisonziel, den Spartathlon in Griechenland (246 km, 3.000 Hm), Ende September 2016, tatsächlich stehe, vermag ich dennoch nicht wirklich einzuschätzen. Ich werde jedoch alles daran setzen die für eine so gewaltige Ultradistanz erforderliche Form mit den nächsten Vorbereitungswettkämpfen schrittweise zu erreichen. Wie meist in letzter Zeit, empfinde ich in dieser Hinsicht „vorsichtigen Optimismus“. Will heißen: Wenn ich meine geplante Vorbereitung ohne weitere Ausfälle oder Zwangspausen absolvieren kann, hege ich keinen Zweifel am 1. Oktober 2016 in Sparta durchs Ziel zu laufen.

 

Fazit zur Veranstaltung

Nicht das Mindeste ging schief, Herzlichkeit und Fürsorge waren Trumpf und alle Teilnehmer waren des Lobes voll über eine Laufveranstaltung, wie es sie in dieser Perfektion und mit einer Fülle von Leistungen unter Garantie nirgendwo sonst auf der Welt gibt.

Kleiner Schönheitsfehler: Du musst fähig sein 42,195 Kilometer und 1.730 Höhenmeter zu überwinden und darfst natürlich den weiten Weg in die Steiermark nicht scheuen. Wenn du das schaffst, erfährst du die Gastfreundschaft von Babsi und Hannes Kranixfeld, samt Einsatzfreude eines wunderbaren Helferteams. Dann wird es dir am Ende, wenn du den Ort, reich an Bildern im Kopf und Zählbarem im Gepäck, wieder verlässt, nur an einem mangeln: Kraft in den Beinen!

Es ist sonst nicht meine Art Sponsoren einer Laufveranstaltung auch nur zu erwähnen. Im Falle des „Sommeralm Marathons“ und der Firma „SMB Industrieanlagenbau GmbH“ mache ich eine Ausnahme. Dieser Sponsor unterstützt nicht nur mit Geld und diversen Sachspenden, sondern auch mit Personal, Dienstleistungen und Fahrzeugen für den Personentransport. Ohne die Firma SMB wäre die Durchführung des Laufes auf diesem hohen Niveau schwerlich zu stemmen!

 


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