Sonntag, 8. Mai 2016

Was wirklich zählt   -   Stromberg Extrem-Lauf 2016

Vierundfünfzig Kilometer sind zwölf mehr als Marathon. Und schon beim Marathon vor einer Woche, wenige Tage nach dem Ende des verordneten Laufverbots, hatte ich Mühe das Ziel zu erreichen. Wie soll das also gehen, heute noch eine gewichtige Schippe draufzupacken? Zumal die Ultrastrecke am, um, auf dem Stromberg zusätzlich mit fast 1.200 Höhenmetern aufwartet? - In der vergangenen Woche hatte ich es tunlichst vermieden allzu intensiv über dieses Vorhaben nachzudenken. Hinfahren, loslaufen und voilà: Hier bin ich und laufe. Seit mehr als einer Stunde arbeite ich mich bereits am Stromberg ab und bin guten Mutes. Das liegt an zwei, drei herben Anstiegen, die meine Beine überraschend unbeeindruckt bewältigen konnten. Ich hatte mit mehr Mühe gerechnet, weil mein Motor nach der Zwangspause erst wieder in Gang kommen muss. Außerdem war ich die Woche über nicht faul: Sollte der Kraftakt heute gelingen, dann werden über 90 km Wochenpensum in meinem Trainingsbuch stehen.

Ich kämpfe nicht allein gegen den Stromberg. Meine etwa gleichaltrige Gefährtin scheint mit dem Auf und Ab allerdings nur einen Bruchteil meiner Mühe zu haben. Bisweilen schießt sie ein paar Meter voraus, manchmal sogar außer Sichtweite, gewährt mir aber die Gunst sich immer wieder einholen zu lassen. Wir sind ein ebenso ungleiches wie verschworenes Duo, die Hundedame Roxi und ich. Letzte Woche ließ ich sie noch infolge hündischen Trainingsrückstandes zu Hause, heute durfte sie mit. Roxi schnüffelt sich seit bald neun Hundejahren durchs Leben, mit sieben multipliziert steht sie mir folglich an Lenzen nicht nach. Allerdings gibt diese lineare Umrechnung von Hunde- in Menschenjahre den Lebenszyklus der Vierbeiner nicht korrekt wieder. Davon zeugen Roxis noch immer ungebrochene Wildheit und ihre scheinbar unbegrenzte Ausdauer. Die Sorge, sie könnte mit einer Ultrastrecke überfordert sein, treibt mich dennoch um. Mein Herzklopfen auf der Fahrt hierher entsprang demnach nicht nur der Ungewissheit, wie es mir heute ergehen wird …

Roxi und ich nehmen es nicht allein gegen den Stromberg auf. Insgesamt etwa 50 Ultras tippeln gleich uns durch die Wälder und Weinberge. Die meisten vor, einige wenige hinter uns, eine Handvoll ganz in unserer Nähe. Beim und kurz nach dem Start im Ort Ochsenbach bildeten wir das Schlusslicht. Nicht anders möglich, wenn du statt zu laufen eine scheinbar tollwütige Bestie bändigen musst, die wild kläffend den Versuch unternimmt dir den Arm auszureißen. Ich werde nicht müde es immer wieder so zu schildern: Unter allen Umständen überzeugt Roxi als wohlerzogene, ihre erlernten Kommandos wortgetreu befolgende, ganz und gar friedfertige Hundedame, mit der immerwährenden Absicht ihr Rudel zufriedenzustellen. Unter allen Umständen - nur eben nicht in dieser einen speziellen Situation, am Start eines Wettkampfs.

Keuchend, gurgelnd, sich nahezu erwürgend, krallenscharrend auf Asphalt zerrt mich Roxi hinter dem davon eilenden Feld her. Die Muskulatur meines linken Armes muss enorme Kräfte entwickeln, um sich ihrer adrenalin-induzierten Attacke zu erwehren. Ende des bösen Spiels: Am Ortsausgang befreie ich Roxi von der Leine und lasse sie mit Kommando „Rechts!“ kontrolliert an meiner Seite laufen. Fünf Minuten weiter verlassen wir den gesperrten Straßenabschnitt und streben auf einem Feldweg dem nahen Wald zu. Nach „Roxi lauf!“ zischt ein schwarz-befelltes Etwas in den Wald und mit unglaublicher Geschwindigkeit den markant ansteigenden Weg hinauf. Für Sekunden verliere ich Roxi aus den Augen, bis ihr Hormonpegel fällt, sie sich ihres weit weniger quicken Herrchens erinnert und mir suchend entgegen tippelt. Um es abzukürzen: Die ersten Kilometer absolviert Roxi dieser Taktik folgend doppelt. Alsbald wird sie jedoch ruhiger, bis sie schließlich mehr oder weniger ständig mit ein paar Metern Vorsprung die Vorhut übernimmt. Manchmal erledigt sie einen „Schnüffeljob“, gerät ins Hintertreffen, um sich wenig später im Sprint wieder vor mich zu setzen.

Der Auftakt des Laufs beschert mir den erhofften Frühlingstraum. Intensiver für alle Sinne, als ich das von meinem Debüt am Stromberg im Jahr 2014 in Erinnerung hatte. Vielleicht liegt es daran, dass die eklig kalten Tage im April mit letztem Schnee noch keine zwei Wochen her sind. Nach kurzem Waldintermezzo lenken wir unsere Schritte wieder talwärts, passieren weidende Kühe und schwenken vor der Verbindungsstraße auf den Radweg. Längst trabt Roxi wieder an meiner Seite, jeglicher Gefahr entzogen. In diesem Moment durchzieht ein herrlicher Duft meine Nase. Ach was die Nase: Mitten im Riechzentrum des Gehirns explodiert er! Würzig, lieblich, von Kenzo über Davidoff bis Chanel alles Wohlriechende in den Schatten stellend. Heuduft mit einer verführerisch süßen, durchdringenden Note. Am ehesten noch mit dem prallen Aroma des Heus von sommerlichen Almen zu vergleichen und doch anders. Zieh mir diese Duftmoleküle auf Flaschen und ich gebe mein letztes Hemd dafür! Zwanzig, dreißig Schritte sinnliches Schlingern entlang gemähter Böschung, dann atme ich wieder die „normale“ Luft des frischen Morgens.

Wir folgen dem Waldrand. „Wir“ meint eine „Besetzung“, die sich nun für einige Kilometer nicht mehr ändern wird. Vier Läuferinnen und Läufer eines Vereins hier aus der Nähe, als Gruppe unterwegs, ein paar andere solo, ergänzt durch Roxi und mich. Lediglich die Positionen zueinander wechseln, wegen unterschiedlicher Verweildauern an Verpflegungspunkten und differierender Lauftaktiken am Berg. Meiner üblichen „Verbohrtheit“ gehorchend laufe ich jeden Meter, auch die etwas steileren, wo viele andere gehen. Zudem bringt mich jeder Fotostopp ein paar Meter ins Hintertreffen. Vom Waldrand reicht der Blick über blühende Obstbäume hinüber zum malerisch auf der Kuppe eines Weinbergs thronenden Dörfchen Hohenhaslach. Die tief stehende Morgensonne bringt das Panorama zum Leuchten und hüllt die Welt in eine friedvolle Atmosphäre. Hinreißend schön, „unbeschreiblich“ im eigentlichen Wortsinn. Man möchte schauend verweilen, darf als Läufer die Stimmung aber nur ein paar flüchtige Sekunden lang genießen.

Bedauern darob kommt dennoch nicht auf, denn nach jeder Richtungsänderung erobern neue reizvolle Ansichten das Gesichtsfeld. So auch jetzt: Leicht ansteigend lenkt uns ein asphaltierter „Luxusfeldweg“ zum Fuß eines dicht an dicht mit Rebstöcken bepflanzten Südhangs. Roxi stoppt 30 Meter voraus am Wegrand, gibt - bei flüchtigem oder unkundigem Hinsehen - den sitzenden Hund. Beginn des Entzückens: „Schau mal, der Hund setzt sich hin und wartet!“ Eklatante Falschinterpretation, die prompte Richtigstellung erzwingt: „Sie sitzt nicht, sie pieselt!“ werfe ich lakonisch ein, worauf die Damen des Vereinsquartetts ihrem Entzücken weiteren Ausdruck verleihen. Die ersten von Roxi Hingerissenen heute, aber beileibe nicht die letzten. Mit Hund in einem Wettkampf - umso mehr, wenn er frei läuft - so positiv angenommen zu werden ist mir wichtig. Ich habe schon erlebt, dass Mitläufer Roxi misstrauisch beäugten oder einen großen Bogen um sie machten. Ich verstehe und akzeptiere diese Zurückhaltung, gleich, ob sie einer erlebten Beißattacke oder der Urangst des Menschen vorm Wolf entspringt. In solchen Fällen nehme ich Roxi an meine Seite, bis der von Panik gebeutelte Mitstreiter außer Reichweite ist. Im Vorgriff: Heute wird das nicht nötig werden. Vielleicht leiden hart gesottene Ultras weniger häufig unter Canophobie* als der Rest der Läuferschaft. Oder die hundertfache Begegnung mit dem „Schrecken auf vier Pfoten“ auf abertausenden von Trainingskilometern zerstreute ihre Bedenken.

*) Zitat aus Wikipedia: „Unter Canophobie oder Kynophobie (…) versteht man die Angst vor Hunden. Die Angst vor Hunden könnte … von der Urangst des Menschen vor wilden Tieren … entstanden sein. In der Regel haben jedoch Menschen mit Canophobie traumatische Erfahrungen mit Hunden gemacht.“

Auf die räumlich übersichtlichen Anfangskilometer am östlichen Ausläufer des Strombergs folgt nun ein denkbar unübersichtliches Hin und Her, Rauf und Runter, Links und Rechts. Wege, die überwiegend fragmentarische, episodenhafte Erinnerungen hinterlassen, eine chronologisch korrekte Berichterstattung deshalb ausschließen. Zumal auch einige Abschnitte doppelt oder dreifach zu passieren sind, teilweise sogar in wechselnder Richtung. In grober Näherung liefert mein mentales Navigationssystem meist korrekte Daten über die jeweiligen Koordinaten im „Stromberg-Universum“. Manchmal müsste ich aber auch nach der Sonne Ausschau halten, die bemooste Seite der Bäume finden oder andere pfadfinderische Richtungsindizien bemühen, wollte ich meine Orientierung wiedergewinnen. Nötig ist das aber nicht. Kein einziges Mal besteht die Gefahr des Verlaufens. Garanten dafür: Klare Wegweisung mit Pfeilen, nach jedem (!) Kilometer eine Tafel und ein Heer von Streckenposten. Wahrscheinlich harrt gar nicht mal die gefühlte Million Streckenposten zur Absicherung in den Wäldern aus. Wahrscheinlich lächelt uns mehrmals dasselbe Konterfei an und sie kommen mit rund tausend dienstbaren Geistern aus …

Ich bestehe lediglich auf Einhaltung von Paragraph eins meiner läuferischen Grundgesetze: Alles laufen, keinen Meter gehen. Egal, wie hart es auch werden sollte! Ansonsten überlasse ich mich völlig dem Diktat meines Körpers, versuche keinen Einfluss auf das Tempo zu nehmen. Konkret bedeutet dieses Vorgehen dreierlei: Nicht ständig in mich reinhorchen, keine Blicke zur Uhr und mehrmalige mentale Selbstkonditionierung im Hinblick auf die zu erwartende, grottenschlechte Laufzeit. Mal ganz ehrlich: Ich bin ehrgeizig. Oh ja, sehr sogar! Derzeit geht es jedoch um nichts anderes, als möglichst rasch den erlittenen Trainingsrückstand wettzumachen. Um das zu schaffen, ist mir nur noch wenig heilig. Respekt heischende Ergebnisse in Vorbereitungswettkämpfen gehören einstweilen und definitiv nicht dazu.

Sonne! Wärme! Hurra! Endlich! Zum Schluss des Bewerbs wird das Quecksilber auf die für dieses Frühjahr sagenhafte Marke von 26°C geklettert sein. Streckenposten sorgen sich um unser Wohlergehen. Wie gewohnt mehr um Roxi, die Schwarzfellige mit der hängenden Zunge, als um mich. Aber auch mir schallt mehrfach ein „Alles in Ordnung mit dir?“ entgegen. Zwei-, dreimal betreiben Helfer auch „Fremdjammern“ in Sachen Hitze. Jeder diesbezüglichen Bemerkung setze ich eine Liebeserklärung entgegen und lasse eine unverhohlene Drohung folgen: Ich liebe Sonne und Wärme! Nasskalt war’s lange genug! Jeden, der sich offen zu Kälte und bedecktem Himmel bekennt - und sei’s auch nur, um unbedrängter wettlaufen zu können - würge ich so lange, bis der Tod eintritt …

In zwei Jahren Abwesenheit nichts vergessen! Peu à peu frische ich alle berauschenden Ansichten wieder auf, weiß oft schon kurz zuvor, was für ein Anblick mich hinter einer Kurve oder am Waldsaum erwarten wird. Sogar einige reizvolle Stellen mitten im Wald haben sich mir unauslöschlich eingeprägt. Etwa die kleine Lichtung, auf der unerwartet ein paar Quadratmeter verdorrter Schilfgräser das Sonnenlicht einfangen. Eindeutig in einer Weise, die mir den naturverliebten Kopf verdrehen soll. Oder die Gruppe beidseits des Weges ins Himmelblau aufragender Buchen, ein hohes, schlankes Tor bildend und mich mit frischem Hellgrün willkommen heißend. En passant zitiert mein Gedächtnis sogar Attraktionen, die heute fehlen: Die große Kolonie Bärlauch meine ich zwar zu lokalisieren. Infolge Wachstumsverzögerung fehlt ihr diesmal jedoch das Grandiose, jene abertausend kleinen, weißen Blüten, die einen an den von Sternen übersäten Nachthimmel erinnern.

Auch wenn ich nicht ständig lauere, habe ich doch dann und wann die Signale meines Körpers zur Kenntnis zu nehmen. Und die befeuern meine gute Laune, weil mir weder die wachsende Zahl an Kilometern, noch jene der Höhenmeter ernsthaft zuzusetzen scheint. Nicht nach 15, 20, auch nicht nach 30 Kilometern. Luftschlösser baue ich trotzdem keine. Es wird irgendwann hart werden, obwohl ich sicher sehr langsam (will gar nicht wissen, wie langsam) unterwegs bin. Die Koalition aus rasch ansteigender Temperatur und sengender Sonne soll mich jedenfalls nicht zusätzlich bremsen. Darum kippe ich an jedem der wirklich zahlreichen Verpflegungsstände Unmengen Flüssigkeit in mich rein. So viel mein Magen bewältigen kann und mehr als sonst üblich. Mit Wasser verdünntes Apfelschorle und Cola, beides der enthaltenen Kohlenhydrate wegen. Vorwegnahme: Meine Taktik wird zu hundert Prozent aufgehen. Ich erinnere mich an keinen Lauf unter ähnlichen Sonnen- und Temperaturbedingungen, nach dem ich so wenig Durst verspürt hätte.

Was den Stromberg Extrem-Lauf zum einzigartigen Edelstein in meiner Sammlung von Naturläufen bestimmt, ist der überraschende Wechsel zwischen Wald und Weinbau. Binnen weniger Meter schreitest du vom Schatten ins Licht, tauschst Wildwuchs gegen Rebenkulturen. Auf einmal gibt es die grüne Wand ringsumher nicht mehr und dein Blick verliert sich in flirrender Ferne. Erst wohltuend grünes Durcheinander und nun die regelmäßige Textur akkurat gepflanzter Reben. Aufrecht angetreten wie römische Legionäre erobern und bewachen sie die Hänge, um sie nie wieder dem einst hier wuchernden germanischem Urwald zu überlassen.

„Jetzt gemütlich bergab bis ins Tal!“ Zum zweiten Mal laufen Roxi und ich auf den Streckenposten zu und diesmal schickt er uns nach links auf einen asphaltierten, stetig abwärts führenden Weg. Alsbald bleibt der Wald zurück, macht Getreidefeldern Platz. Sonntägliche Ausflügler begegnen uns. Irgendwo rechts, für uns unsichtbar hinter Bäumen, gibt es einen Weiher oder See. Das weiß ich von Karten, auf denen ich vorab nach Möglichkeiten suchte, Fräulein Schwarzfell eine Abkühlung zu verschaffen*. Kurz bin ich versucht einen Abstecher über einen (wahrscheinlichen) Zubringerweg zu wagen, werde jedoch von einer Traube Menschen (Badegäste? Spaziergänger?) abgeschreckt. Also wird das Hundebad irgendwo anders stattfinden.

*) Sengende Sonne heizt Roxi unaufhaltsam auf, bis ihr die hechelnde Zunge irgendwann nicht mehr ausreichend Kühlung verschaffen kann. Dann tippelt sie voraus und verkriecht sich für Sekunden unter schattig kühlen Büschen oder Blattwerk von Bäumen. Beim Laufen kam es bisher nie so weit, weil ich den Effekt nach diversen Bergwanderungen kannte und jeweils vorsorgte.

Ein paar Minuten später biegen wir auf einen Radweg ein und werden just in Höhe der Kilometertafel „30“ von Radlern überholt. Nicht irgendwelche Radler. Alle sind mit einer Startnummer dekoriert und später erzählt jemand, dass zeitgleich in Stuttgart-Stammheim eine Radveranstaltung stattfand. Kein Radrennen, dafür sind die Pedaleure viel zu entspannt und langsam unterwegs. „Roxi an die Seite!“ Unser Kommando mit Fernwirkung, wenn Roxi am rechten Wegrand bleiben soll, verhindert, dass wir den Drahteseln ins Gehege kommen.

Schritte hinter mir, laaaangsam näher kommend. Nach gut und gerne einem Kilometer meine ich die regelmäßigen Atemzüge meines Häschers dicht am Ohr zu vernehmen und fürchte um die Unversehrtheit meiner Hacken. Nur ein Bild, mit dem meine Fantasie mich narrt und es hat auch nur für Sekunden Bestand. Bis wir eine kleine Brücke überqueren und ich Roxi zum Bach hinunter schicke: „Roxi Wasser!“ Sie schlabbert ein bisschen vom kühlen Nass, guckt mich dann erwartungsvoll an: „Lass uns spielen!“ heißt das und: „Wirf Stöckchen oder Steine, damit ich im Bach hin und her fetzen kann!“ Offensichtlich ist sie weit von Überhitzung entfernt, sie gäbe sich sonst nicht so unternehmungslustig und verschaffte sich selbst Erleichterung. Also weiter, einstweilen hügelan, zwischen bestellten aber noch erdbraunen Feldern. Aus dem Verfolger wurde infolge kurzer Schlabberpause ein Verfolgter. Roxi jagt dem Enteilenden hinterher und beschert mir einen jener Stoßseufzer, die mein Bedauern ausdrücken nicht auch über solche Ausdauer und Leichtigkeit zu verfügen …

Die Gebäude des Weinguts ducken sich malerisch vor der dahinter aufragenden, mit Weinstöcken bepflanzten Flanke des Strombergs. Schon vor zwei Jahren nötigte mich dieser Anblick zu Dauerfeuer mit der Kamera. Die in der Nähe des Hofes ausgesäten, quietschgelb blühenden Rapsfelder verstärken diesmal den Drang. Die Szene kommt mir vor wie ein Gemälde, das den Maler in all den Monaten unfertig anmutete, dem er deshalb den Firnis verweigerte. Nun steht es wieder auf seiner Staffelei und erhält mit beherzten Pinselstrichen von Hellbraun bis Grellgelb den endgültigen Ausdruck.

Fordernder aufwärts jetzt, einer anfeuernden Dame entgegen. Handelt es sich bei ihr um denselben weiblichen Claqueur und Streckenposten wie seinerzeit? Roxi zaubert auch in ihr Gesicht ein entzücktes Lächeln. Obschon einigermaßen atemlos, bedanke ich mich für ihre Unterstützung. Ab hier noch fordernder aufwärts, dem oberen Rand des Weinbaus folgend. Zwei gehende Kontrahenten in Blickweite vor mir. Ich bin Mitläufern ungemein dankbar, wenn sie dem Impuls zu gehen nachgeben. Dadurch stärken sie meine Psyche just in solchen Augenblicken, da die Physis schwächelt. Einen der beiden holen wir ein, alsbald Roxi, um einiges später auch ich.

Sicher war das nicht der wirkliche Beweggrund den Wirtschaftsweg hier oben so flach und gut auszubauen. Im Resultat schufen die Baumeister jedoch ein paar hundert Meter herrlichen Panoramaweg. Links neben mir, steil abfallend, die Geometrie der Reben, darunter, am Fuß des Hanges ein Dorf, hinter diesem weitere, bewaldete Buckel. Ein Rückblick fängt erst Teile des Herweges ein, streift schlussendlich über den im Dunst des späten Vormittags unscharfen Horizont. Doch warum in die Ferne schweifen, wenn das Hübsche liegt so nah? Weshalb in aller Welt macht sich ein Weinbauer die Mühe dunkelviolett blühende Lilien in der Falllinie eines steilen Hanges und parallel zu einer Rebenformation zu pflanzen? Ein bezaubernder Anblick, der mich Sekunden verharren lässt. Doch genügt sich das Blumenbeet als Blickfang selbst? Verfolgt der Urheber des Schönen keine weiteren Absichten damit? Etwa diejenige, bestimmte Insekten anzulocken, Nützlinge, die zugleich dem ungestörten Wachstum der Weinstöcke dienen? Vielleicht solche, die Rebläuse fressen und damit den Einsatz der chemischen Keule minimieren? Stehe ich folglich am oberen Rand eines Bio-Weinberges? Doch falls solche Gründe eine Rolle spielen sollten, wieso wiederholt sich die lila Pflanzung nirgendwo?

Ende des Panoramawegs. Der nächste superfreundliche Streckenposten schickt uns im spitzen Winkel nach rechts oben. Wer Roxi beobachtet, könnte den Eindruck gewinnen, dass sie sich tatsächlich am ausgestreckten Arm des Mannes orientiert. Vermutlich folgt sie einfach ihrer Nase und damit den Ausdünstungen der Läufer vor mir. Was wiederum die Überlegung nahe legt, dass alle Läufer den gleichen Geruch nach mühevoller Anstrengung verströmen …

Das war’s noch nicht in Sachen Besichtigung hiesiger Winzeraktivitäten. Nur wenige Schritte Waldintermezzo später nehmen wir die Fortsetzung des Rebenanbaus in einer Einbuchtung des Strombergs in Augenschein. S-förmig und mit wechselndem Gefälle verlieren wir zwischen den Rebkulturen an Höhe. Unterdessen summiert sich die schattenlose Wegstrecke bereits auf etwa sechs Kilometer und deutlich mehr als 20°C treiben mir den Schweiß aus allen Poren. Ich sorge mich aber eher um Roxi. „High Noon“ ist erreicht, höchster Sonnenstand, der das schwarze Fell meiner Begleiterin erbarmungslos aufheizt. Schwitzen kann Roxi nicht, nur ihre Zunge raushängen lassen und hecheln. Ich hoffe weiter unten einen Bach zu finden. Baden, Duschen oder sonstwie das Fell einnässen ist jetzt beschlossene Sache!

Keine drei Minuten nach dieser Überlegung, auf halber Höhe des Hangs und im tiefsten Einschnitt, höre ich Wasser rauschen. Wo die Quelle entspringt, ist nicht ersichtlich, woher das Rauschen dringt gleichfalls nicht. Ein Teil des Segens ergießt sich jedoch in einen randvollen, steinernen Trog. Genau das, was wir jetzt brauchen. „Roxi hopp!“ Mit einem gewaltigen Satz springt Roxi auf den schmalen Rand, wo sie sich natürlich nicht halten könnte. Ich helfe heimtückisch schubsend ein bisschen nach und schon steht sie bis zum halben Bauch im Wasser. Um den Rest - Rücken, Nacken, Kopf - zu tränken, schaufele ich mit beiden Händen Wasser auf meinen Hund. So sehr die 50 Prozent Golden Retriever in Roxi Gewässer lieben, so sehr hasst sie Fluten, die von oben auf sie geschöpft oder gespritzt werden. Auch jetzt begegnet sie meinen Bemühungen mit Unbehagen, duldet aber die Prozedur, als räumte sie ein: „Fühlt sich zwar widerlich an, ich weiß aber, dass es nötig ist!“

Dem Spektakulären gilt ungeteilte Aufmerksamkeit. Das birgt die Gefahr einer Verzerrung der Wirklichkeit. Wie einen der allabendliche Wust schlechter Nachrichten glauben machen könnte, die menschliche Existenz bestünde großenteils aus Katastrophen, Not, Elend, Krieg und Verbrechen. Dergleichen verstellt den Blick auf wichtige Tendenzen, die uns zum Vor- oder Nachteil gereichen, verhindert damit eine wenigstens in Teilen objektive Sicht der Dinge. Dasselbe - im übertragenen Sinne - droht dem Leser dieses Laufberichts, wenn ich die gehäuften Schilderungen sonnig warmer An- und Weitsichten nicht schleunigst relativiere. Tatsächlich durchstreifen die Extremlauf-Teilnehmer auf fast drei Vierteln (!) der Route den bewaldeten Teil des Strombergs! Das mag „Sonnenflüchter“ und Wärmeanfällige unter künftigen Stromberg-Läufern beruhigen.

Im Wald laufen ist angenehm, hält Wind ab, spendet Schatten, beruhigt oder regt an, je nach Tagesform des Gemüts, liefert fortlaufend schöne Bilder. Aber Wald ist nun einmal vor allem eins: Eine Ansammlung von Bäumen in jedem Stadium des Wachstums. Und unsere Altvorderen haben uns leider ein sehr begrenztes Vokabular zur Beschreibung der vielen Kilometer Grün ringsum hinterlassen. Ein Baum, zwei Bäume, … , viele Bäume. Ja auch Lichtungen, Durchblicke, die Diversität des Baumbestands, Schattenspiele, bisweilen scheue Fauna im Dickicht, Vogelstimmen über dem Kopf und so weiter und so fort. Schon der Versuch nur einen Teil der angenehmen Waldkilometer in Worte zu fassen würde ausufern und dich vermutlich langweilen. Vorschlag zur Güte: Lehn dich einfach eine Weile zurück, schließe die Augen, bemühe deine Vorstellungskraft und genieße den grünen Frieden in dir …

Ein Ultra wäre kein Ultra, wenn sich nicht nach einiger Zeit Beschwerden einstellten. Das Erstaunliche an diesem Vorgang ist für mich die Inkonsequenz und Unberechenbarkeit die mein Körper in dieser Hinsicht an den Tag legt. Vorige Woche im Schaichtal setzten mir Schmerzen in der wegen Untrainiertheit überforderten Hüft- und Pomuskulatur zu. Im Verlauf der Trainingswoche verabschiedeten sich die orthopädischen Nörgler nach und nach - von einem enervierenden Ziehen quer durch die linke Pobacke bis in den hinteren Oberschenkel einmal abgesehen. Angesichts gehäufter Anstiege geht meine Logik heute mindestens von einer Fortsetzung, wenn nicht gar Eskalation dieser Gemeinheit aus. So viel zur Theorie und nun rein in die Praxis: Rund um die bewegte Körpermitte und runter in die Beine herrscht an diesem Tag Friede, Freude, Eierkuchen. Vielen, lieben Dank Körper!

Dafür sind auf dem Stromberg die Füße dran. An den (relativ) neuen Schuhen liegt es nicht, dass mich bereits nach kaum mehr als 20 Kilometern Fußsohlen und Zehengelenke martern. Um nicht dem Stromberg die Schuld zuzuweisen: Mir fehlt die Gewöhnung an schlechte Wegstrecken! Doch keinen falschen Eindruck mitnehmen: Sicher zwei Drittel des Kurses nutzen ausnehmend gute Untergründe. Was mir zu schaffen macht, sind jene Passagen (ca. ein Drittel) auf denen sich immer wieder Kanten und Spitzen groben Schotters durch die Sohlen meiner Schuhe drücken. Den Vogel schießt ein gottlob nur etwa 200 Meter langes Teilstück ab, vor dessen Zustand sogar eine Tafel warnt: „Achtung unebene Strecke“. Angesichts kinderfaustgroßer Brocken ist „uneben“ die Untertreibung des Tages. Das Scheußlichste daran: Dieser Abschnitt ist dreimal zu durchlaufen, zweimal ab- und einmal aufwärts.

Alsbald schon steht fest, dass mein Laufbericht auf jeden Fall das folgende, mit außerordentlichem Lob gefüllte Kapitel enthalten wird. Ein Entschluss, der sich von Streckenposten zu Streckenposten, von Verpflegungsstand zu Verpflegungstand immer mehr zementiert! Die vielköpfige Helfertruppe versorgt Roxi und mich in jeder Hinsicht vorbildlich. Überaus freundliche Ansprache, zuvorkommende Behandlung, Sorgfalt, Kümmern, Nachfragen, klare Hinweise und jede Menge Ansporn sind Trumpf. An allen (!) Tränken bietet man auch Roxi Wasser an. Wasser, das sie nur leider meist verschmäht. Jedes Mal fühle ich mich verpflichtet ihr „unhöfliches“ Verhalten ins rechte Licht zu rücken. Dass sie ihren Durst kurz zuvor bereits aus Pfützen oder einem Rinnsal stillte. Zuweilen schildere ich auch Roxis Hoffnung, es könnte ein Keks vom Läuferbuffet oder eines der von Herrchen mitgeführten Leckerlis für sie abfallen. Futterhoffnungen, die sie Wasser sofort auf einen hinteren Rang ihrer hündischen Ernährungshitliste kicken lässt.

Kilometer 42, irgendwo im Wald. Ich bin müde und treibe mich mit jedem Schritt tiefer in die Erschöpfung. Dieser Prozess vollzieht sich ebenso schleichend, wie ich heute unterwegs bin, allerdings unaufhaltsam. Immerhin empfinde ich meinen heutigen Zustand nach Marathondistanz als weit weniger hinfällig und von Schmerzen beherrscht als vor Wochenfrist im Schaichtal. Und das, obwohl ich nun schon mehr als tausend Höhenmeter in den Knochen habe. Diese erfreuliche Tatsache macht mir Mut, den Trainingsrückstand in absehbarer Zeit ausgleichen zu können. Außerdem konserviert sie meine gute Laune, macht es mir auf diese Weise leicht die wachsende Pein auf dem Schlussabschnitt zu ertragen. Kann ich gut gebrauchen, wo doch die um Erlösung bettelnden Füße sich anfühlen, wie auf einem Amboss mit dem Schmiedehammer malträtiert. Verglichen damit bringt der Chor der restlichen Beschwerden nicht mehr als ein beleidigtes Brummen zu Stande.

Die laaaange Gerade im Wald, Kilometer 45 und folgende, arbeite ich an diesem Tag zum zweiten Mal ab. Ein paar Kilometer kühler Wald, mehr oder weniger ohne Höhendifferenz. Dann erwarten mich noch einmal drei, vier Minuten mäßige, zu diesem Zeitpunkt jedoch grenzwertige Steigung und zum Abschluss eine Spitzkehre. Hinter der geht’s mit Macht bergab. Schub, den ich jetzt dringend brauche. Seit kurzem macht mein Körper mir unmissverständlich klar, was heute noch geht und was nicht mehr. Die Schwäche übermannte mich binnen ein, zwei Kilometern. Goldrichtig war die Taktik meinen Beinen das Tempo zu überlassen, auch wenn mir das eine Laufzeit von mehr als sechs Stunden bescheren wird. Wäre ich auch nur minimal flotter unterwegs gewesen, schmorte ich jetzt in der Hölle!

Kilometer 49, 50: Mein Magen sendet merkwürdige Signale. Über mehr als fünf Stunden goutierte er Unmengen von Flüssigkeit. Deshalb verstehe ich diesen Anflug von Übelkeit als eine Körperreaktion auf Überforderung. Mir wurde schon mehrfach übel, bis hin zum Erbrechen, wenn mein Tempo in der Endphase mehr Energie anforderte, als die fast leeren Akkus pro Zeiteinheit liefern konnten. Auf eine „Zwangsentleerung“ kann ich so kurz vorm Ziel gut verzichten. Also runter mit dem Tempo! Tippeln am Waldrand signalisiert: Gar nicht mehr gar so weit! Bist bald im Ziel! Der Blick über sonnenverwöhnte Wiesen lindert die Schwäche. Kämpfen, Aushalten, Widerstehen. Nicht angenehm aber schlicht „normal“. Ist schließlich ein Ultralauf und du gibst, was du hast. Der letzte Verpflegungsstand kommt in Sicht. Mit Apfelschorle spüle ich die leicht lösliche Süße eines angebotenen Traubenzuckerstückchens in den Magen. Vielleicht zündet es noch eine kleine Energierakete!? Und so kurz vorm Finale werde ich mich mit einer minimalen Menge Traubenzucker kaum noch abschießen können*.

*) Manche Ausdauersportler reagieren fatal auf den Genuss von Traubenzucker: Er treibt für kurze Zeit ihren Zuckerspiegel in die Höhe. Danach fällt er so tief, dass vielfach gar nichts mehr geht. Aus diesem Grund empfehle ich Traubenzucker allenfalls kurz vor Schluss und als letztes Mittel angesichts versiegender Kräfte.

Hinter der Tränke verlassen wir den Wald und haben nun den letzten, zugleich einen der schönsten Streckenabschnitte vor uns. Im schmalen Talgrund und mit sanftem Gefälle streben wir dem Ziel in Ochsenbach zu. Zu meiner Rechten lockt frisches Grün bewaldeter Stromberg-Höhen. Auf der gegenüberliegenden Seite buhlen abwechselnd Felder, Wiesen und Weinstöcke um die Gunst der Hügel. Kühe weiden auf den saftigen Talwiesen. Ein paar meiner müden Schritte weiter gelten mir Pusteblumen als sicheres Indiz, dass der Frühling rund um Ochsenbach schon ein, zwei Wochen weiter ist als zuhause. Den stückweit voraus, rechts und links des staubigen Weges, in Sicht kommenden gelben Teppich aus Butterblumen nehme ich dankbar als Lohn so weit gelaufen zu sein. Und über allem wölbt sich die von keinem Wölkchen getrübte, herrlich azurblaue Himmelskuppel. Fantastisch! Jeder Schritt kostet Überwindung, weil er weh tut und irrwitze Mengen Kraft absaugt. Aber das ist nicht im Mindesten von Bedeutung. Was wirklich zählt, ist das Erlebnis, die intensive Empfindung zu leben. Läuferglück satt, erdient mit großer Anstrengung …

Eine Linkskurve und nun bergan. Tatsächlich schon der Schlussanstieg hoch ins Dorf? Damit habe ich noch gar nicht gerechnet. Doch halt! An diesem Idyll komme ich nicht vorbei. Bilder für meine Kamera: Zwischen verschwenderisch blühenden Obstbäumen grasen Pferde, ein Schimmel und zwei Braune. Da muss der Herr Streckenposten noch ein paar Augenblicke Geduld aufbringen. Roxi auch, aber die ist solchen Kummer gewöhnt. „Letzte Meter Anstieg, oben dann links, ist nicht mehr weit!“ baut mich der letzte von tausend Streckenposten noch einmal auf. Artig bedanke ich mich für die gute Tat, auch wenn die nun gar nicht mehr nötig gewesen wäre. Kann man totale Schwäche, ziemliche Schmerzen und Wellen des Glücks zu gleicher Zeit empfinden? Kann man sich tonnenschwer kraftlos fühlen und zugleich fliegen? Ich kann’s und ich genieße es auf den letzten Metern der Dorfstraße von Ochsenbach. Vor mir tönt bereits die Stimme des Moderators aus Lautsprechern. Ich hole Roxi dicht an meine Seite. Nichts, was mir nun wichtiger wäre, als gemeinsam mit Roxi über die Ziellinie zu laufen. Der Sprecher heißt mich namentlich willkommen und vergisst auch nicht die - so wörtlich - treue Begleiterin neben mir zu erwähnen. Nach 6:14:04 h überschreiten zwei Füße und vier Pfoten den Zielstrich des Stromberg Extrem-Laufs.

 

Fazit zum Wettkampf

Siehe meine sehr positive Wertung am Ende des Laufberichtes von 2014. Dem ist nichts hinzuzufügen. Oder vielleicht doch? Dass ich dieses Mal alle Helfer als noch freundlicher und zuvorkommender empfand als letztes Mal. Ganz großes Lob! Weiter so!

 


Quellennachweis Bilder:

Die beiden Abbildungen im Text mit Rahmen stellte freundlicherweise der TV Ochsenbach 1908 e.V. zur Verfügung.
Übrige Fotos: Udo Pitsch

 

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