Nur vier Komma acht Kilometer?   –   Silvesterlauf Willmatshofen 2015

Für Läufer aus meiner Region lohnt durchaus ein Blick auf die Landkarte, um das Dörfchen Willmatshofen, ein paar Kilometer südwestlich von Augsburg, zu lokalisieren. Wegen des Silvesterlaufes natürlich, mehr noch angesichts der Lage des wunderhübsch in die hügelige Landschaft eingebetteten Weilers. Regional – und wohl nur regional – kennt man die Gegend als „Erholungslandschaft Stauden“ oder „Naturpark Augsburg Westliche Wälder“. Tal reiht sich an Tal, Hügel an Hügel, meistenteils bewaldet, wo nicht von Wiesen und Feldern unterbrochen. Die Landschaft entbehrt des Schroffen, kennt keine dramatischen Höhenunterschiede, höchstens fünfzig, auch mal sechzig Höhenmeter, trennen oben und unten.

Zitierte ich die hübsche Lage des Örtchens Willmatshofen? Nimm es als Grundsatzerklärung aus meiner Erinnerung an frühere, strahlend blaue Silvesterläufe (siehe Bild nebenan). Nach Wochen unvermutet warmen, mehrheitlich sonnigen Wetters hierzulande hat sich ausgerechnet der Silvestertag ein hässlich graues und ziemlich nasses Büßerkleid übergestreift.

Es soll Läufer geben, die für nur vier Komma acht Kilometer nicht einmal die Mühe des Laufschuhbindens in Kauf nähmen. Offen gestanden zähle ich unverletzt und in Normalform auch zu dieser Fraktion. Aber nicht aus elitärer Überheblichkeit. Meine Trainings erfordern nun mal weitaus längere Strecken. Und heute nur vier Komma acht Kilometer? Lohnt das überhaupt den Aufwand? 20 Minuten Anfahrt, Anmeldung, einreihen ins Teilnehmerfeld, verschwitzt wieder heimfahren … Außerdem: Wir wollen als Trio Seite an Seite laufen, was zumindest für zwei von dreien bedeutet sich nicht verausgaben zu können. Um was also geht es, hier und heute?

Das Rudel – Frauchen Ines, Herrchen Udo und Vierbeiner Roxi – wird sich auf die schönste, Läufern vorstellbare Weise vom Jahr 2015 verabschieden: Laufend! Zum Jahresausklang die Beine vertreten, dabei schwitzen, sich anstrengen, Spaß haben. Mehr steckt nicht dahinter und deshalb spielt die Streckenlänge eine höchst untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist einen geeigneten Rahmen zu finden, der es uns erlaubt „Born-to-be-wild-Roxi“ mitzunehmen und am Dorfende von der Leine zu lassen. Bis dahin wird sie, wie vielfach erlebt, ihre gute Erziehung durch Selbststrangulation an der Leine ersetzen …

Noch dreißig Minuten bis zum Start. Ein paar Kilometer mehr möchten Ines und ich heute schon „abarbeiten“, also laufen wir uns vorher an den Hängen oberhalb des Dörfchens warm (siehe Sonnenscheinfoto von 2013). Kann nicht schaden an diesem verregneten, nasskalten Silvestertag. Kann auch im Hinblick auf Roxis Seelenfrieden nicht schaden. Nach Anmeldung und Kontakt zu anderen Gestalten in Laufbekleidung, weiß sie längst, was wir im Schilde führen! Nun schnüffelt sie geschäftig vor ihrem bergauf schnaufenden Restrudel herum, mal hierhin, dann dorthin, setzt ein paar „Markierungen“ und hat nach kurzer Zeit ihre Aufgeregtheit infolge Wettkampf-Witterung verloren.

Allerdings nur bis wir uns zwanzig Einlaufminuten später zur 113 Köpfe zählenden Läuferschar im Startraum gesellen. Am Ende des Feldes und direkt neben einer sechsbeinigen Laufpaarung: Sie plus Hund. Kurz beschnüffeln sich die Hunde und verbal natürlich auch die dazugehörigen Frauchen. Derweil erfülle ich Doku-Pflichten, schleiche mit der Digicam ein wenig ums Teilnehmerfeld herum. Muss sein, auch wenn ich keinen Zweifel hege, dass mein Entfernen vom Rudel Roxi noch nervöser macht als ohnehin schon.

Und dann geht’s auch schon los: Vor uns liegen die letzten vier Komma acht Laufkilometer des Jahres. Im Schweinsgalopp strebt das Feld davon und die ausrastende Roxi will hinterher. Da das nicht geht, müht sie sich nach Kräften Frauchen den Arm aus dem Schultergelenk zur reißen. Kenne ich, haben wir schon öfter auf diese Weise exerziert, Roxi und ich. Auf vier Marathon- und Ultrastrecken begleitete sie mich in diesem Jahr. Damit kein Zweifel aufkommt: Das ließe ich bleiben, wäre es mir nicht ein ausgesprochenes Vergnügen mit diesem Hund zu laufen – von der Startphase abgesehen. Die ist alles andere als spaßig. Rasch biete ich der sichtlich überforderten und genervten Ines an die stranguliert röchelnde Bestie zu bändigen. Ein paar harsche Rucker an der Leine, begleitet von „bösartigem“ Knurren meinerseits (bitte wörtlich nehmen!), dann kommen wir klar. Zwar hecheln, röcheln und traben wir nach diesem Dressurakt bereits mit Abstand hinter dem Feld her, doch wenigstens bekommt Ines nun die Chance ihren Laufrhythmus zu finden.

Was mich betrifft, so bleibe ich trotz Roxis Ausrasten innerlich „cool“. Mein „bösartiges“ Knurren ist bühnenreifes Theater, eine – da sie offenbar hilft – gelungene Parodie hündischer Kommunikation. In dieser von Kampfhormonen provozierten Situation eine der wenigen Möglichkeiten zum Bewusstsein meines Hundes durchzudringen … Hin und wieder Rucken, dann und wann Knurren. Schließlich, in Höhe der letzten Häuser des Dorfes, befehle ich „Sitz!“ und befreie Roxi von der Leine. Zunächst zwinge ich sie noch einige Meter an meiner Seite zu tippeln, bis sie nach „Lauf!“ mit ein paar irrwitzigen Sprints ihre Hormonlage wieder normalisieren darf.

Während wir im Talgrund Anschluss an das Teilnehmerfeld gewinnen, trabt Ines ziemlich „unentspannt“ neben mir her. Sorgt sich, Roxi könnte anderen Läufern zwischen die Beine geraten. Das halte ich angesichts der Handvoll Läufer am Schwanz des Feldes zwar für ausgeschlossen, hole unseren Vierbeiner kurz vorm Abzweig in den Wald dennoch an meine Seite. Roxi mit maximalem und Ines mit gar keinem ergäbe nur statistisch betrachtet fünfzig Prozent Spaß für beide. Und wer möchte schon mit einer gestressten Ines Silvester feiern?

Zwischen Bäumen steigt der Weg an, zugleich geht den ersten, offenbar untrainierten Mitläufern und -läuferinnen die Puste aus. Eigentlich war abgemacht, dass Ines das Tempo ihrer Tagesform (Tageslust?) entsprechend vorgibt. Doch mit Roxi am Fuß gewinne ich automatisch ein wenig Vorsprung. Lösung des „Problems“: „Roxi lauf!“ Seite an Seite in mäßiger Steigung joggend verfolgen wir Roxis von häufigen Kehrtwendungen geprägten „Wettkampf“: Vorstoß ins Ungewisse, Erinnerung ans lahm hinterher tippelnde „Restrudel“, Rückkehr bis auf Erkennungsabstand, erneuter Vorstoß in Richtung Ziel … Auf diese unstete Weise habe ich mit Roxi schon erfolgreich viele Strecken und bis zu 70 herrliche Ultrakilometer am Stück bewältigt. Eingedenk dieser Erfahrungen und ihrer Gehorsamkeit vertraue ich ihr ohne jeden Vorbehalt. Aber natürlich nicht blind. Zu ihrer und der Sicherheit anderer behalte ich sie ständig im Auge. Inmitten oder auch nur am Rand „menschlicher Zivilisation“ entstehen immer wieder Situationen, denen sie allein auf sich und ihre Instinkte gestellt nicht gewachsen wäre. Mit Roxi zu joggen heißt stets einen Teil der Aufmerksamkeit für sie abzuzweigen. Das ist der Preis, den ich für ihre relative Freiheit unterwegs bezahle. Gern bezahle übrigens, denn Läufe mit Roxi gehören zu den wundervollsten, an die ich mich erinnere. Außerdem ist die „laufende Hundeführerschaft“ inzwischen vollautomatisiert und schmälert meinen Spaß nicht im Mindesten.

Ines holt Roxi an den Fuß. Einen Moment früher als ich hat sie am Streckenrand einen Mann mit Hund entdeckt. Mit Hund an der Leine! So seltsam das klingen mag: Angesichts angeleinter Hunde – gleich, ob beim Joggen oder Gassigehen – schrillen bei uns die Alarmglocken, freilaufenden begegnen wir dagegen tiefenentspannt. Häufig ist „Leinenführung im Gelände“ ein Indiz für unzureichende Erziehung oder schlechtes Sozialverhalten eines Hundes. Auf jeden Fall erfordert eine Hund-an-der-Leine-Begegnung auf Nummer sicher zu gehen. Um Roxi zu schützen und aus Rücksicht auf den anderen Hundeführer.

Abzweig links und sofort geht’s wieder hinab. Man kann in „nur vier Komma acht Kilometer“ ganz sicher mehr Höhenmeter reinpacken als diese harmlos profilierte Silvesterstrecke fordert. Born-to-be-wild auf vier Pfoten hat längst die Talsohle erreicht, da Ines und ich noch auf halber Höhe das Gefälle für mehr Tempo nutzen. Unten angekommen neuerlich nach links, was dem aufmerksamen Leser signalisiert, dass wir bald wieder den Wald verlassen werden – nach einer S-Kurve und weiteren etwa fünf Minuten Waldlauf …

Unterdessen haben wir unser Tempo noch einmal forciert und – ich muss es endlich loswerden – es fühlt sich gut an! Das Tempo an sich, mehr noch die Tatsache, dass heute nichts zwickt. Nach dem Ermüdungsbruch vom Juni und dem Neubeginn Anfang Oktober mute ich meinem Körper von Woche zu Woche mehr zu. Der zeigt sich launisch. Heute ist er offensichtlich in Silvester-Feierlaune und deshalb bin ich mit sehr viel Freude unterwegs auf diesen nur vier Komma acht Kilometern … Aber natürlich auch, weil der wichtigste Mensch in meinem Leben an meiner Seite rennt. Was für ein Privileg Laufleidenschaft als eheliches Laufduo ausleben zu dürfen! Ohne Unterlass folgen zwei Augenpaare der laufverrückten Roxi, die uns zuweilen ein Stück auf- sich aber nicht einholen lässt. Rechtzeitig, mit keckem Impuls wendet sie sich ab und prescht neuerlich in Richtung Ziel davon. Wie um uns zu necken: Ich könnte viel schneller, aber ihr seid ja soooo lahm …

Einige Kontrahenten mussten uns zwischenzeitlich passieren lassen. Wir gewinnen den Waldrand und biegen auf den parallel zum Tal verlaufenden Feldweg ein, der uns zum Dorf zurückbringen wird. Ein paar flotte Minuten noch, dann passieren wir den Abzweig von vorhin, schließen also die Schleife. Auf dem letzten Kilometer zum Ziel traben die Füße auf bekanntem Untergrund. Kurzer Stopp vorm Dorfrand: Roxi muss wieder an die Leine und trabt fortan neben Ines her; vollkommen entspannt übrigens, ohne jedes Gezerre, als wollte sie sich von ihrem unbotmäßigen Startgehabe demonstrativ distanzieren.

Ein paar Zaungäste klatschen Beifall. Weniger als sonst, was wohl dem bescheidenen Wetter geschuldet ist. Den letzten Hügel vorm Ziel bewältigen wir alle drei noch relativ leichtfüßig. Plötzlich Bellen, Knurren und Zähnefletschen von links außen. Es gilt Roxi, die den Randalierer im Schutze des Rudels wie gewohnt ignoriert. Die letzten Meter abwärts in Richtung Zielkanal: Ich lasse Ines und Roxi den Vortritt – nicht nur aus Höflichkeit, auch, weil ich ein Zielfoto von beiden schießen möchte …

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Wieder daheim hocken wir gut gelaunt bei Cappuccino und Kuchen. In Gedanken kehre ich mehrmals zurück nach Willmatshofen und sehe uns laufen. Nur vier Komma acht Kilometer? Selbst auf dieser kurzen Strecke war alles inklusive, was meine Leidenschaft für den Laufsport einst entfachte. Essen und Trinken fühlen sich jetzt gut an, Sitzen dürfen auch und selbst die warme Dusche vorhin empfand ich als außerordentliches Vergnügen. Kennst du das? Nichts davon ist ungewöhnlich, alles alltäglich. Und doch vermag ich diese Selbstverständlichkeiten nach vollbrachter Laufleistung ungleich intensiver zu genießen – auch nach nur vier Komma acht Kilometern!

 

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