Schwer wird leicht was  –  Deutsche Meisterschaft im 24 h-Lauf, Reichenbach 2015

Es ist dunkel, es regnet und ich laufe. Mein Körper wehrt sich seit Stunden dagegen, will endlich aufhören. Es gibt nur eine Instanz, die das verhindert: Mein Wille weiterzumachen. Und ich frage mich, wie er das schafft, weil mir jegliche Lust dazu fehlt, weitere, lange Stunden Schritt an Schritt zu reihen. Sehnsüchte irrlichtern durch meine Gedanken. Je drängender und einfacher das Verlangen, umso weniger kann ich es verwirklichen. „Stehen bleiben“ führt die Hitliste an und „Trocken sein“ gehört auf jeden Fall zu den „Top Five“. Es ist dunkel, es regnet und ich laufe dennoch weiter. Wieso? Weil ich es will …

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Unvorstellbar

„24 Stunden am Stück laufen? Unvorstellbar!“ – Die Worte kommen aus dem Mund meines Masseurs, den ich mit „Ausdauerkunststückchen“ so schnell nicht schocken kann. Er gerbt mir seit Jahren das Fell und in dieser Zeit „sammelte ich Marathons und Ultras wie andere Briefmarken“ (Wortwahl eines Zeitungsredakteurs). Selbst Erzählungen von „überlebten“ 100 km-Läufen steckt der Mann mit den kräftigen Händen weg wie nix. Verdammt weit, 100 Kilometer, klar. Aber was soll’s. Läuft man halt bei A los und kommt irgendwann bei B an. Aber einen ganzen Tag und damit notgedrungen auch eine Nacht lang laufen? „Unvorstellbar!“ Zum Abschied wünscht er mir gutes Gelingen und es klingt, als sähen wir uns heute das letzte Mal …

Warum gerade jetzt ein 24 h-Lauf?

Läufer haben Träume, Ultraläufer ultralange bis ultralängste Träume. Wer schon in der Altersklasse M60 um Ehren ringt, dem bleiben vermutlich nicht mehr allzu viele Jahre, um die „superdicken Brocken“ anzugehen. Zumindest dann nicht, wenn er die jeweilige Strecke zur Gänze laufend absolvieren will, was ich im Grundsatz immer von mir fordere. Die längste und vermutlich härteste Bewährungsprobe, der ich mich noch stellen möchte, stellt der „Spartathlon“ in Griechenland dar. Ein absoluter Klassiker und so etwas wie die inoffizielle Weltmeisterschaft der Ultraläufer: 246 km im September von Athen nach Sparta, dabei insgesamt 3.000 Höhenmeter überwinden, diverse Unbilden mediterraner Witterung ertragen und ein in jeder Hinsicht striktes Reglement einhalten. Zur Lösung dieser herkulischen Aufgabe werden den Läufern lediglich 36 Stunden zugestanden. Danach gilt unwiderruflich: Zielschluss. Nicht zuletzt hierin liegt der Grund für die hohe Rate des Scheiterns, die bei etwa 50 Prozent der Teilnehmer liegen soll.

Die Startplätze sind begehrt, jedoch beschränkt (390). Außerdem leuchtet ein, dass der Veranstalter nur Teilnehmer zulässt, deren Leistungsniveau ein erfolgreiches Finish möglich erscheinen lässt. Als ich meine Saison 2015 und die Spartathlon-Teilnahme 2016 plante war die Qualifikationsnorm bereits sehr hart: 100 km-Lauf unter 10:30 Stunden laufen oder mindestens 180 km in einem 24 h-Lauf erbringen. Zwei Qualifikationschancen baute ich in meine Planung 2015 ein, den Hunderter „WHEW100“ in Wuppertal Anfang Mai und ebendiesen 24 h-Lauf in Reichenbach. Wobei ich den Hunderter ohne Regeneration laufen musste und dennoch mit rund 10:08 h sehr deutlich die Norm erfüllte. Nur leider die „alte“ Norm, die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gültig war. Die Neufassung verlangt nun einen Hunderter unter 10 Stunden. Meiner Zeit vom „WHEW100“ sieht man an, dass ich die 10 h-Grenze knacken wollte, mangels Regeneration (zwei Marathons am Wochenende vorher) jedoch scheiterte.

Keine Panik! 180 km in 24 Stunden – diese Latte wurde nicht höher gelegt – traue ich mir auch noch in M60 zu. Also fleißig weiter trainiert und … nach einem Hinweis eines anderen Läufers endlich mal wieder selbst die Quali-Vorschriften gelesen. Ergebnis: Ich bin bereits qualifiziert für 2016! Die Neufassung lässt auch Teilnehmer zu, die die Norm innerhalb der letzten drei Jahre nachweisen können. Und als neue Quali-Distanz wurden 100 Meilen aufgenommen. Mit meiner Zeit bei den „100 Meilen Berlin (Mauerweglauf)“ von 2014 gelte ich sogar als direkt* qualifiziert, ohne mich dem Losverfahren unterziehen zu müssen.

*) Direkt qualifiziert ist, wer die Norm um 20 Prozent übererfüllt. Norm 100 Meilen: 22:30 h. Minus 20 %: 18:00 h; Meine Zeit in Berlin: 17:18:55 h.

Warum ich nun trotzdem in Reichenbach einen Tag lang Runden drehe? – Kneifen gilt nicht. Erstens. Zweitens möchte ich wenigstens einen Wettkampf in diesem Jahr vorweisen können, der mit deutlich über 100 km fordert. Mir dabei demonstrieren, dass ich solchen Distanzen weiterhin gewachsen bin. Und der wichtigste Grund: Nach sieben Jahren 24 h-Abstinenz juckt es mich einfach zu beweisen, dass ich in meiner Altersklasse noch „oben“ mitmischen kann.

Wie weit kann man in 24 Stunden laufen?

Um 90, 100, 150 oder noch mehr Kilometer in 24 Stunden zu sammeln muss ein Mensch körperlich und mental fraglos gut „ausgestattet“ sein. Er braucht einen robusten Körper, der tausende Trainingskilometer wegstecken und nach jeder Einheit rasch regenerieren kann. Rein körperliche Voraussetzungen für das ultralange Laufen stellen allerdings nicht mehr dar, als eben das: Voraussetzungen. Wirklich lange Strecken läuft man mehr mit dem Kopf als mit den Beinen. Leidensfähigkeit und unbeugsamer Wille sind entscheidende Voraussetzungen, um nicht irgendwann während der langen Zeit abzubrechen. Mit diesen Eigenschaften bringen es Spitzenläufer in 24 Stunden auf deutlich über 200 Kilometer. Bei den Männern steht der Weltrekord auf 303 km, bei den Frauen auf 255. Der bisher beste deutsche Läufer sammelte 276 km, die beste deutsche Läuferin 243.

Bei vielen Sportarten oder Laufdisziplinen gibt es so etwas wie die magische Grenze. Man kennt die 8 Meter beim Weitsprung, 6 m beim Stabhochsprung, 10 Sekunden im 100 m-Sprint, unter 3 Stunden für einen Marathon und andere mehr. Beim 24 h-Lauf träumen die Läufer von 200 Kilometern.

Wie weit kann  Udo  laufen?

Vor sieben Jahren wagte ich mich das bisher erste und einzige Mal an einen 24 h-Lauf. Beseelt von grenzenloser Naivität und der Absicht genau das zu finden: Meine Grenzen. Ich werde den Augenblick nie vergessen, als ich, mit nichts als meiner Sporttasche – eine zweckentfremdete Tennistasche! – und einem Regenschirm bewaffnet, am Ort des Geschehens auflief. Eingeschüchtert vom unten beschriebenen Heerlager („Kasten Stundenläufe und ihre Regeln“) bat ich bei einem Laufbekannten um „Asyl“. Es erwies sich als überflüssig, aber seine Ehefrau, zugleich sein Coach, versprach meine Habseligkeiten bei einsetzendem Regen in Sicherheit zu bringen. Was mir unter widrigen Umständen tatsächlich widerfahren wäre, will ich mir lieber nicht ausmalen … Tatsächlich gelang es mir als Newcomer 219,273 km weit zu laufen, den 4. Platz in der Gesamtwertung der Deutschen Meisterschaft und den Seniorentitel M55 zu erringen. Einfach so.

Meine Ziele für Reichenbach

24 h-Läufer – und ich mache da keine Ausnahme – träumen von der magischen 200 Kilometermarke. Obwohl meine Vorbereitung unter zu kurzem „Anlauf“ litt (maximales Wochenpensum 140 km, gewünscht hätte ich mir ca. 180 km), traue ich mir zu diese Latte zu überspringen. Abgesehen vom „suboptimalen“ Trainingsaufbau werden mir kürzlich begangene Trainingsfehler zu schaffen machen. In der Summe bescherten sie mir (vermutlich) einen Zustand unvollständiger Regeneration.

Hauptziel also 200 km weit laufen, mindestens jedoch die Norm für den Spartathlon erfüllen, auch wenn das nicht mehr erforderlich ist. Darüber hinaus möchte ich eine gute Platzierung im Gesamtklassement der Deutschen Meisterschaft einfahren und in meiner Altersklasse M60 um den Titel eines Deutschen Meisters kämpfen.

Mit Platzierungen ist das so eine Sache: Sie hängen immer auch von der läuferischen Potenz im Starterfeld ab. Diesmal werden sich 127 Männer platzieren, vor sieben Jahren in Berlin waren es nur 77! Die Altersklasse M60 umfasste damals 7 Männer, heute sage und schreibe 18!! Nun ist Masse nicht gleich beste Klasse, doch als Fingerzeig taugt die hohe Beteiligung allemal. Also mal sehen, was geht …

Nicht mehr lang …

Insbesondere in der zurückliegenden Woche war ich ständig angespannt und gereizt. Dieses Gefühl auf ein „Examen“ zuzusteuern beherrschte mich zuletzt vor den „100 Meilen Berlin“ im letzten Jahr. Aber nicht in diesem Ausmaß! Diesmal habe ich richtig, richtig Schiss vor meinem Saisonhöhepunkt. Vermutlich, weil ich mir unterstelle meinen Körper weder ausreichend vorbereitet, noch bestmöglich regeneriert an den Start zu bringen.

Etwa seit 8:30 Uhr halten wir – Ines und ich – uns im Stadion auf, suchten einen Platz für den Campingtisch und arrangierten die vier wasserdichten Kunststoffboxen mit meinen Utensilien. Den langen, flachen Behälter mit der wichtigsten Ausrüstung – Wechselklamotten, Handtücher, usw. – platzierte ich auf dem Tisch, ebenso die beiden kleinen Boxen mit meiner Verpflegung. 50 (!) Beutel Energiegel in der einen, weich gekochte Kartoffeln und Salz zum Dippen in der anderen. Der Campingstuhl bleibt verpackt unterm Tisch, damit er nicht nass wird, falls es regnet. Und es wird regnen! Daran lässt der Wetterbericht seit Tagen keinen Zweifel aufkommen. „Ergiebige Schauer“ soll es geben, was auch immer das in „Zentimeter Wassersäule pro Quadratzentimeter und Zeiteinheit“ ausgedrückt heißen mag.

Wie man sieht, bin ich dieses Mal besser vorbereitet, habe jedes Wetter – von Schneefall einmal abgesehen – einkalkuliert. Keine Spur jenes burschikosen Wird-Schon-Schiefgehens mehr, das meiner 24h-Premiere vor sieben Jahren eigen war. Heute weiß ich, was auf mich zukommen kann und welche von den vielen möglichen Konsequenzen definitiv eintreten werden. Auch deshalb war ich im Vorfeld so nervös. Einen Tag komplett mit Laufen zu verbringen tut – pardon! – „schweineweh“. Im Wettkampf irgendwann und danach sowieso. Die Empfindung von Schmerz auf längsten Strecken mag im Erleben anderer nicht so deutlich zu Tage treten. Bei mir ist es regelmäßig so und ich kenne den Grund dafür. Ich war schon immer fähig mich für ein Ausdauerziel bis zur völligen Erschöpfung zu verausgaben. Das bedeutet im Klartext: Wenn es nötig ist, gehe ich an meine Grenzen, wenn das nicht reicht überschreite ich sie. Natürlich hoffe ich, dass es in Reichenbach nicht dazu kommen wird …

Die Ultrafamilie

Das bisschen Aktivität zur Einrichtung meines „Claims“ am Rande der Startbahn hat ein wenig Dampf aus dem Kessel entweichen lassen. Wäre es nicht so, würde ich mich Gesprächen so gut es geht verweigern. Doch heute habe ich schon welche hinter mir und lasse weitere zu. Horst traf ich bei der Startnummernausgabe und sprach ihn an. Das wollte ich seit Jahren schon, mit dem großen, inzwischen uralten Mann des Ultra- und Marathonlaufs sprechen. Horst Preisler – er wird in wenigen Wochen 80 Jahre alt – war sehr lange jener Mensch auf der Welt mit den meisten Marathons und Ultras. Wie viele es inzwischen sind, weiß er nicht mehr und ich gewinne den sicheren Eindruck, dass es ihn auch von Rennen zu Rennen weniger interessiert. Ich hatte Horst in den letzten Jahren vermisst, mich schon gefragt, ob er seine Laufbahn beendete. Heute bekomme ich die Erklärung: Laufen darf er nicht mehr, er wird also versuchen 24 Stunden gehend zu verbringen. Und die Abstände zwischen seinen Wettkämpfen sind viel länger geworden. Ines und ich wünschen ihm von Herzen Glück für den langen Tag … (Mehr zu Horst Preisler und zum „Marathonsammeln“ allgemein siehe Kasten.)

Der alte Mann und der Marathon

Derzeit stagniert das Marathonkonto von Horst Preisler wohl irgendwo vor 1.900 Marathons und Ultras. Eine unfassbare Lebenslaufleistung, selbst für einen Menschen wie Horst Preisler, der schon seit über 40 Jahren Marathon läuft. Zwei Deutsche und ein Finne haben ihn gemäß einer Statistik aus Japan von 2014 zwischenzeitlich überholt. Bei den Deutschen handelt es sich zum einen um die legendäre Sigrid Eichner (Jahrgang 1940). Der fleißigste Sammler mit aktuell bereits über 2.300 Marathons heißt Christian Hottas, Jahrgang 1956.

Allerdings gebe ich unumwunden zu, der Sammelleidenschaft von Christian Hottas etwas distanziert gegenüberzustehen. Kurz ausgeholt: Ein Lauf gilt gemäß Zählordnung des „100 Marathon Clubs“ (und weltweit ähnlicher Vereinigungen) als „zählbar“, wenn er mindestens 42,195 km Distanz besitzt, öffentlich ausgeschrieben wurde und wenigstens drei Teilnehmer am Start stehen. Christian Hottas absolviert häufig drei Marathons pro Woche, eine Laufdichte, die Marathon- und Ultrakalender selten offerieren. Bei günstiger räumlicher und zeitlicher Konstellation sind drei Marathons ausnahmsweise möglich. Immerhin gibt es den „Triple Marathon“ und Hannes Kranixfeld, der verrückte Steiermärker Ultraläufer, brachte vor ein paar Wochen das Kunststück fertig drei Marathons in drei Ländern und drei Tagen zu finishen: Abends/nachts den Marathon in Biel (Schweiz), am nächsten Morgen den Liechtenstein Bergmarathon und zum sonntäglichen Abschluss den Donautal Marathon in Tuttlingen.

Doch wie gelingt es jemandem regelmäßig drei Marathons pro Woche zu laufen? – Hottas veranstaltet die Marathons selbst, bei sich in Hamburg („Teichwiesen Marathon“). Wenn sich zwei Begleiter für einen Termin anmelden, dann geht’s los. Hat schon mal jemand diese mehr als 100 Marathons pro Jahr in einem Veranstaltungskalender entdeckt? Diese offensichtlich auf das Rekordstreben eines Einzelnen zugeschnittene Marathonmassenproduktion empfinde ich als fragwürdig. Übrigens ohne dem Athleten selbst die Anerkennung für seine unglaubliche Ausdauer zu versagen.

Horst Preisler sammelte seine Läufe in über 70 Ländern. Auch das ist eine kaum fassbare Zahl, die mir Respekt abnötigt. Und in diesen Tagen? Ines fragt ihn, wer seine Reisen (er nutzt die Bahn) organisiert. Worauf ich die wohl überraschendste Antwort zu hören bekomme, denn das erledigt er nach wie vor selbst und fügt hinzu: „So lange ich noch zum Start und wieder heim finde, bin ich nicht dement …“ Es klingt nach Ironie, wird aber mit gewichtigem Ernst ausgesprochen. Was mich angeht, so wünsche ich Horst Preisler vor allem zweierlei: Mögen ihm Demenz und anderes Siechtum Zeit Lebens erspart bleiben. Und bei der Siegerehrung, als ich ihn mühsam und mit Handreichung aufs Siegerpodest klettern sehe, raune ich Ines zu: „Ich wünsche ihm, dass er eines fernen Tages auf der Laufstrecke tot umfällt! Denn so wünscht er wahrscheinlich selbst abzutreten!“

Mehrmals bekomme ich Lob von „Fans“ und „heimlichen Lesern“ für unsere Internetseite. Als Feedback steht mir oft nur die Statistik der Klicks zur Verfügung, deshalb bin ich dankbar für diesen Zuspruch. Meine (über-) langen Laufberichte beanspruchen den Leser in ähnlicher Weise, wie mich der zugrunde liegende Lauf. Zu hören, dass meine Art der Darstellung von manchen geschätzt wird, ist deshalb von Zeit zu Zeit wichtig (auch wenn ich die Texte hauptsächlich für mich selbst verfasse).

Auch Mike Hausdorf, einer meiner rechten Nachbarn heute, gehört dazu. Zusätzlich bedankt er sich bei Ines, die ihn im letzten Jahr beim Mauerweglauf in Berlin oft anfeuerte. Wäre „Claqueur bei Laufveranstaltungen“ ein gut bezahlter Job, wir bräuchten Dank Ines bis Sankt Nimmerlein keinen Blick mehr auf unser Girokonto werfen … Mit Mike zu reden beruhigt meine Nerven weiter. Der Berliner ist mit seiner Schwester Sandra angereist, die ihn in den nächsten 24 Stunden (ohne Pause!!) versorgen wird. Man braucht nur einen Blick in ihr prallvolles Partyzelt zu werfen, dann weiß man, wie akribisch sich die beiden – nicht zuletzt auch seine Schwester Sandra – auf diesen Tag vorbereitet haben. Mikes erster 24h-Lauf übrigens, was einen naturgemäß mit Unsicherheit randvoll füllt. Sollte ich mich umziehen müssen, dann bietet Mike mir einen Stuhl im dreiseitig wind- und regengeschützten Zelt an.

Dies ist eine Meisterschaft und deshalb laufen wir letztlich alle um die Wette. Jeder weiß und akzeptiert das. Der Wettkampfgedanke verstellt einem aber nicht den Blick auf den Nebenmann. Für den erhofft man einen genauso erträglichen Lauf, wie für sich selbst. Wohl und Wehe der anderen „Verrückten“ besitzt im Ultralauf – zumindest im richtig langen Ultralauf – einen hohen Stellenwert.

Der sympathische Sachse links von mir – mein Namensgedächtnis ist löchriger als der sprichwörtliche Schweizer Käse – verzichtete auch auf ein Zelt. Ein klares Indiz für seine Absicht keine Minute an Ruhepausen zu verschenken. Wie ich wird er ohne durchgehende Betreuung auskommen, hat sein „Überlebenspaket 24h-Lauf“ gleichfalls auf und unterm Klapptisch sorgsam geordnet.

Den unmittelbar rechts von mir „zeltlos“ hausenden Karl Graf kannte ich bisher auch noch nicht, meine aber ihm schon häufiger bei „Ultra Crazy Runs“ begegnet zu sein. Er hat seine Frau verpflichtet den „Rock double around the clock job“ zu erledigen. Sie wird mir, so viel sei vorweg genommen, zu vorgerückter Stunde und ungeschützt den Wetterkapriolen ausgesetzt, ziemlich leid tun. Jedenfalls so lange bis ich über den gewissen Punkt hinaus bin, hinter dem das Interesse am Schicksal anderer unausweichlich auf molekulare Größe schrumpft …

Die Truppe der „LG Nord-Ultrateam Berlin“, einer der erfolgreichsten Ultravereine in Deutschland, reiste gar als Großfamilie mit vier Laufdamen, 12 Laufherren und vier (?) Betreuern an. Ihre verbundenen Clan-Zelte „verbrauchen“ mehr als zehn Meter Streckenrand. Die starke Grit Seidel ist unter ihnen, mit der ich letztes Jahr etliche Kilometer des Mauerweglaufes gemeinsam erleben durfte. Am Ende wird sie knapp über die 200 km-Marke hüpfen und Gesamtplatz zwei bei den Frauen belegen.

So könnte man nun weiter das Who is Who der Ultrafamilie – etwa 160 EinzelläuferInnen – durchhecheln und noch einige der üblichen „Verdächtigen“ dingfest machen. Doch für mehr Gespräche ist keine Zeit, denn zum Start fehlen nur noch fünf Minuten.

Stundenläufe und ihre Regeln

Vielen Menschen, sogar Läufern, ist der Austragungsmodus von Stundenläufen fremd. Deshalb an dieser Stelle ein wenig Regelkunde – so weit sie vom Gängigen des Laufsports abweicht –, angereichert mit „Stimmungskolorit“, der sich aus diesen Besonderheiten ergibt. Bei Stundenläufen ist die Zeitdauer fixiert und nicht die Strecke. Deshalb findet der Wettkampf auf einer relativ kurzen Rundstrecke statt, ein, zwei, selten mehr Kilometer. Hier in Reichenbach im Vogtland (Sachsen) beträgt die Rundenlänge 1,19919 km. Während der vorgegebenen Zeit – meist 6, 12 oder 24 Stunden – versuchen die Teilnehmer so viele Runden wie möglich zu absolvieren. Wenn die Zeit um ist – Bekanntgabe mittels Schuss oder über Lautsprecher – , verharrt der Läufer an seiner augenblicklichen Position oder markiert diese entsprechend der örtlichen Vorgabe (kleines Holzstück mit Startnummer in Reichenbach). Die Reststrecke nach vollendeter, letzter Runde wird abgemessen und zum Produkt aus Streckenlänge mal Rundenzahl addiert.

Unterbrechungen des Wettkampfs sind beliebig oft und lange erlaubt. Deshalb gleicht der Start-/Zielbereich umso mehr einem Heerlager je länger ein Stundenlauf dauert. Im Bereich der Verpflegungszone, also dem Bereich in dem die Teilnehmer essen und trinken dürfen, entstehen Zeltstädte, stehen Wohnmobile, Partyzelte, Klapptische samt der dazu gehörigen Sitzgelegenheiten und unzählige Behältnisse, aus denen sich die Läufer versorgen – oder versorgen lassen. Viele reisen mit Betreuern an, manche mit einem ganzen Stab von Helfern oder der Familie. Das rund ums ultralange Laufen entstehende „Lagerleben“ lässt sich noch am ehesten mit jenem von Dauercampern vergleichen: Man kennt sich, schätzt sich und wen man nicht kennt, den lernt man früher oder später kennen. Unter Ultraläufern herrscht ohnehin eine entspannte, familiäre Atmosphäre. Elitäre Attitüden bilden die selten bis gar nicht beobachtete Ausnahme.

Die Botschaft von mir an mich

Zum letzten Mal gehe ich im Kopf meine Vorbereitung durch. Zwar ließe sich jedes Versäumnis binnen Rundenfrist korrigieren. Aber jede unnötige Unterbrechung kostet Distanz und mit der knausere ich anfangs gewaltig. Also: Verpflegung vorbereitet, Ausrüstung in den Kisten nach Wahrscheinlichkeit des Zugriffs geordnet, mit Ines alles abgesprochen? Passt. Was sagt die Blase? Vor zehn Minuten entleert, also Funkstille. Wahrscheinlich war’s eine Dummheit. Nein, ganz sicher war’s eine Dummheit: Schlürfte in der letzten Stunde noch zwei Becher Kaffee und der wird mich ganz sicher irgendwann zur Toilette dirigieren. Manchmal muss man abwägen und etwas tun, was im Prinzip falsch ist, weil es das Wohlbefinden steigert. Wettkämpfe wie dieser werden im Kopf entschieden und zwei Becher Kaffee tun meinem Kopf enorm gut …

Abschließende „Anzugskontrolle“ (so der Fachbegriff, als ich noch Uniform trug): Schuhe geschnürt, Doppelknoten, Kompressionsstulpen sitzen, Hose nicht zu weit in den Schritt gezogen (wer will sich schon einen Wolf laufen?), Startnummer mit Transponder sitzt korrekt (sonst klappt die Rundenzählung nicht). Alles okay.

Ich umarme Ines und raune ihr zu: „Jetzt gibt es kein Zurück mehr!“ Eigentlich gilt das schon seit die Saisonplanung steht, doch das Empfinden unerbittlicher Endgültigkeit überwältigt mich just in diesem Moment. Natürlich weiß ich, was Ines antworten wird: „Du schaffst das! Viel Glück!“, um es mit fünf Worten zusammenzufassen. Weniger was sie sagt brauche ich, als die Art wie sie es sagt, mit Entschiedenheit und festem Glauben in ihrer Stimme. Brauche ihre Umarmung, den Kuss und am meisten wahrscheinlich dieses zuversichtliche „Ich-bin-einhundert-Prozent-sicher-Strahlen“ in ihrem Gesicht. Dann löse ich mich und trotte hinters Starttor.

Wie immer, wenn Ultraweiten gelaufen werden, steht man am Start fröhlich und gelöst beisammen. Entspannt bin ich auch. Wer sich jedoch auf die Suche nach meiner Fröhlichkeit begäbe, hätte einen weiten Weg vor sich. Völlig normal für mich. Und ob die anderen wirklich so locker drauf sind, wie es den Anschein hat – wer weiß? Das Gros der Menge hält Abstand zur Startlinie, nur ein paar Nasen halten sich weiter vorne auf. Auch das normal für Ultras. Was sind schon ein paar Meter angesichts der Distanzen, die wir hinter uns bringen? Außerdem demonstriert solches Verhalten den Respekt vor den wirklich Schnellen unter uns, denen man gerne den Vortritt lässt.

Einem spontanen Impuls gehorchend entschließe ich mich zu einer „Demonstration“, die niemand mitbekommt und, falls doch, kaum richtig zu deuten weiß. Im Übrigen gilt sie allein mir selbst! Ich stelle mich nach vorne in die Nähe der Startlinie und beende damit die indifferente Haltung der letzten Tage, das unablässige Schaukeln zwischen Wenn-das-mal-gut-geht und Ich-schaffe-das. Klebe mir ein unsichtbares Banner auf die Stirn mit der Aufschrift: Auch mit über 60 bin ich noch einer der Leistungsfähigsten hier. Wenn es mir gelingt, die gespeicherte Leistung abzurufen, laufe ich unter die ersten zehn Prozent der Finisher. Und genau das werde ich gleich tun! Weil ich es will und weil ich es kann!

Von hässlichen Frauen und schönen Mädchen

Beifall verabschiedet uns aus dem Tribünenbereich. Täusche ich mich oder klingt der ehrfurchtsvoll? Nach: Unfassbar, was die vorhaben. Wahrscheinlich hört es sich so an, weil dem Ziel einen Tag lang zu laufen selbst in der Vorstellung von uns Protagonisten die Aura des Grenzwertigen anhaftet. Zumindest jetzt, mit 0 Runden und 0 km auf dem Konto. Lächelnd vorbei an Ines, Nordkurve der Tartanbahn, entgegen der normalen Richtung bei Bahnwettkämpfen, dann an der Stirnseite des Umkleide- /Dusch- /Technikgebäudes das Stadion verlassen (Streckenplan hier klicken). Unmittelbar hinter diesem Stadiontor steht die Anzeigeeinheit, auf der Ladefläche eines Kombis, vor Regen mit Planen geschützt. Sofort nach links, dem Gehweg rund ums Stadion folgen und eine erste Garstigkeit überwinden. Nicht weit und nicht hoch, vielleicht anderthalb Höhenmeter, höchstens zwei. Doch Rundenläufern ist die „exponentielle Wachstumsrate“ von Steigungen nicht fremd. Je länger der Wettkampf, desto „Puh!“.

Wir folgen dem Außenrund des Stadions bis zu der mit kleinformatigen Platten ausgelegten Fläche zwischen Tribüne und dem viereckigen Wasserturm. Die Bezeichnung Turm führt deine Vorstellung allerdings in die Irre. Der Klotz gleicht eher einem Hochhaus, gelb gestrichen, mit veritabler viereckiger Grundfläche. Oh mein Gott! Es geht bergab, vielleicht 30 Meter weit. Natürlich nicht tief runter. Wieder nur anderthalb, zwei (mehr?) Meter, doch jetzt schon zum zweiten Mal.

Die Rechnung kann ich sogar im Kopf aufmachen: Angenommen jede Runde fordert insgesamt 4 Höhenmeter An- und Abstieg. Ich will 200 km weit laufen, was mehr als 160 Runden erfordert. 160 x 4 m ergibt 640 Höhenmeter. Kein Grund zur Panik, aber ein erster „Hund“ und „viele Hunde sind“ ja bekanntlich „des Hasen Tod“.

Der Kurs folgt dem Geviert des kleinen Stadtparks rund um den Wasserturm. Unter Bäumen im rechten Winkel weg vom Stadion, nach etwa 70 Metern neuerlich rechts und … Boaah, was für eine gefährliche Ecke! Ein Loch im Asphalt lädt zum Umknicken ein und der Absatz auf den Bürgersteig zum Stolpern. Mit kleinem Stoßgebet stimme ich die Dämonen der Nacht schon mal gnädig. Bitte, bitte keine „Tiefflüge“ im Dunkeln! Hundert Meter geradeaus, den Eingang des Wasserturms passierend. Davor plätschert die Fontäne eines kleinen Springbrunnens.

Zuletzt mit „Boaah!“ Numero 2 vom Bürgersteig auf die Stadionzufahrt. Was den Füßen auf den nächsten hundert Metern an holprigem, hundertfach geflicktem Asphaltacker angeboten wird, ist schon ein bisschen abenteuerlich. Die Zufahrt mündet in die Stadionstraße, gottlob mit besserer Oberfläche. In diesem Bereich sind Hin- und Rückweg nur durch ein paar Meter und eine lockere Baumreihe getrennt.

Jetzt zurück ins Stadion, auf der anderen Stirnseite des Umkleide-/ Dusch-/ Technikgebäudes. Auch auf diesem Stück werde ich mir in 24 Stunden nicht eine Unachtsamkeit leisten können. Pylone markieren vier Gefahrenstellen, um die man keinen großen Haken schlagen kann. Dafür ist der Zuweg in diesem Bereich zu schmal. An der Gebäudestirnseite finde ich das offizielle Läuferbuffet. An diesem vorbei und auf die Tartanbahn. Durch die Südkurve, zuletzt auf die Zielgerade und zum zweiten Mal über die Startlinie. Auf ein Neues!

Verglichen mit dem Kurs meines ersten 24h-Laufs, damals in Berlin Weißensee, empfinde ich diese Runde ein bisschen als Zumutung: Wellig und voller Risiken. Seit 28 Jahren gibt es diesen ältesten 24h-Lauf in Deutschland. Nach so langer Zeit möchte man die Runde um den Wasserturm gerne als „Grande Dame“ der Stundenlaufstrecken hochleben lassen. Von wegen „Grande Dame“: Für einen Tag werde ich nun das (bisher) „hässlichste Weib“ dieser Gattung unter die Füße nehmen. Dagegen begegneten mir die anderen Strecken – Troisdorf, Berlin-Weißensee, Weißenstadt, Schwäbisch Gmünd, Stuttgart-Fellbach, Salzburg, Fürth – allesamt als hübsche, junge Mädchen …

Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen

24 Stunden am Stück zu laufen setzt einen kontinuierlich mit „Kraftstoff“ versorgten, dabei stets „funktionstüchtigen“ Körper voraus. Den Wasserhaushalt zu stabilisieren hat oberste Priorität. Und damit die Ausdauer nicht versiegt, MUSS ein Läufer Kohlenhydrate zuführen. MUSS nicht kann. „Leibeigene“ Kohlenhydrate, wie brutal ein Ultra auch immer trainiert haben mag, gehen irgendwann zur Neige. Beim vergleichsweise schnell laufenden Marathoni geschieht das jenseits der 30 km-Marke. Beim Ultra … na ja, besser du probierst es nicht aus!

Also von Beginn an (!) Wasser und Kohlenhydrate fortlaufend zuführen. Soweit klar. Aber wie? Oder genauer: Was, wann und wie oft? Daran scheiden sich die Ultrageister. Von 100 Ultras verfolgen 100 verschiedene Verpflegungstaktiken. Der eine schwört auf dies, der nächste auf jenes. Faktum: Alle 100 haben recht! Wer, was, in welcher Menge und Zusammensetzung verträgt, lässt sich nicht verallgemeinern. Grundsätze behalten Geltung, mehr aber auch nicht.

Meine Versorgungstaktik – sozusagen ein Destillat aus bisher 154 Langdistanzwettkämpfen – sieht so aus: Wasser plus zuckersüßes Energiegel und fertig. Da krampft bestimmt der ein oder andere Lesermagen, beim Gedanken an Unmengen von Gel in 24 Stunden. Hilft aber nix. Mir jedenfalls nicht. Ich muss extrem viel trinken, weil es kaum einen Läufer gibt, der so viel schwitzt wie ich. Da bleibt wenig Magenvolumen, um ihn mit lange dort verweilenden Bananen, Broten, Nudeln oder Ähnlichem zusätzlich zu belasten. Zudem hielte mich die Aufnahme fester Nahrung einfach zu lange auf. Also Energiegel. Ich vertrage Gel in „rauen“ Mengen, was ich letztes Jahr zufällig beim „Mozart100 km-Lauf“ in Salzburg herausfand (siehe Laufbericht zu meiner damaligen Notsituation). Heute warten 50 Gelbeutel darauf vernascht zu werden. 50 x ca. 65 kcal = 3.250 kcal, das doppelte meines so genannten Grundumsatzes. Also ausreichend Kalorien für zwei Tage totaler Trägheit. Faulheit kann ich mir aber in den nächsten Stunden nicht leisten, wenn ich die 200 Kilometer schaffen will, wobei mein Stoffwechsel – grob überschlagen – 16.000 kcal zusätzlich verbrennen wird.

Die Vorstellung von 24 Stunden mit ausschließlichem Gelaroma in der Mundhöhle veranlasste mich über „Beigaben“ nachzusinnen, eine geschmackliche Alternative, notwendigerweise nicht süß. Einfache Lösungen sind meistens die besten, also kam mir die gute, alte Kartoffel in den Sinn, gekocht, dazu Salz zum Dippen. Will mir ab und an ein Stück davon einwerfen, um Süße und Gelgeschmack zu neutralisieren. Die Idee brachte ich dieses Jahr aus Südafrika mit, vom „Two Oceans Ultramarathon“.

Aller Anfang ist leicht

Kreisen in Reichenbach, menschliche Satelliten im Orbit. Es gehört zur Eigenheit von Satelliten ihre Bahn mit exakter Regelmäßigkeit zu beschreiben, räumlich und zeitlich fixiert. Meine Umlaufparameter lege ich selbst fest und kontrolliere deren Einhaltung fortlaufend. Für den Anfang verlange ich ein Tempo von 6 min/km von mir, in der Hoffnung es 12 Stunden durchzuhalten. Auf die 1,11919 km lange Runde umgerechnet ergibt das für einen Orbit 7:11 min. Da Versorgung, Toilette und wer weiß was sonst die Pace verschlechtern, sollte ich etwa alle 7 Minuten eine Runde beenden. So praktiziere ich es seit über einer Stunde, blieb mehrmals sogar ein paar Sekunden unterm veranschlagten Tempo.

Dokumentieren in Wort und Bild

Meine Wettkämpfe in Wort und Bild zu dokumentieren empfinde ich als Pflicht. Wie bereits angedeutet, vor allem mir selbst gegenüber. Bilder aus dem Wettkampf heraus schieße ich diesmal auf den ersten Runden, dann lasse ich die Kamera in meiner Box. Erst auf einer nächtlichen Runde, werde ich sie noch einmal hervorholen, um ein paar Eindrücke in der Dunkelheit festzuhalten. Alle anderen Bilder, insbesondere jene, auf denen ich zu sehen bin, hat Ines geschossen.

Es fällt mir leicht in diesem Tempo zu laufen, was aber nichts heißt. Gar nichts. Es ist lediglich ein Anfang und der ist bei Stundenläufen immer leicht. Immer leicht und oft schön. Schön isser heute nicht. Gar nicht. Der erste Schauer ging über uns nieder und ließ mich zum verhassten Basecap greifen. Darin sehe ich aus wie „Karl Napp in der Lederhose“. Oder wie Gerhard Polt, der bayerische Komiker, es ausdrücken würde: „I schau aus wia Oarsch!“ Aber was soll ich machen: So bleibt wenigstens die Brille trocken. Und Ines muss meinen Anblick nicht ertragen, sie hat sich nach den Auftaktrunden wie abgesprochen aus dem Staub gemacht.

5 Runden, 10, 15 und irgendwann spüre ich, dass ich laufe. Ein schleichender Übergang. Lange war das Tempo selbstverständlich, vollautomatisch, kaum wahrnehmbar. Jetzt spüre ich die fließende Energie, muss auch bereits ein bisschen für Tempokonstanz sorgen. Nur wenig, erwähnenswert auch nur, weil ich noch 22 Stunden so oder so ähnlich weiter machen will. Dafür wächst mein Kilometerkonto stetig, mit geplanter Rate. Anderthalb Minuten vor der vollen zweiten Stunde verbuche ich 20 Kilometer.

24 Stunden läufst du mit dem Kopf – meine Tempoplanung

Unbestritten garantiert gleichmäßiges Tempo vom ersten bis zum letzten Schritt den wirtschaftlichsten Kräfteeinsatz. Insofern bedeutet mein forscher Beginn mit angepeilten 6 min/km ein frühes Verschleudern von Energieressourcen, denn diese Pace halte ich nie und nimmer durch. Das hieße 240 Kilometer in der Endabrechnung und meinen Aufstieg in die deutsche Spitze der Ultraläufer. Also reine Utopie.

Dass ich dennoch so flott anlaufe, ist ausschließlich psychologisch motiviert. Eine Kriegslist mit Ansage, übrigens eine Wiederholung meiner Tempotaktik vor 7 Jahren. Zwischenziel sind 120 Kilometer nach 12 Stunden. Nach der Halbzeit blieben mir dann weitere 12 Stunden, um „lächerliche“ 80 Kilometer einzusammeln. Beruhigend viel Zeit. Um diese Zeitreserve in der zweiten Wettkampfhälfte und meine von ihr mutmaßlich stabilisierte mentale Befindlichkeit geht es.

24 Stunden sind „irre“ lang. Um nicht „irre“ zu werden, an sich selbst, an der Aufgabe, an den Umständen, an noch so vielen laufend zu verbringenden Stunden, sollen Mut und Stimmung nie unter den Level „Ich schaffe das“ fallen. Damals in Berlin hatte ich zur Halbzeit etwa 119 km geschafft, was mich die ganze Nacht bei Laune hielt. Ausdauer in den Beinen ist notwendige Voraussetzung, 24 Stunden tatsächlich laufend zu überstehen entscheidet jedoch alleine der Kopf!

Ein wertvoller Moment

Momentaufnahme des Satelliten im Raum-Zeit-Kontinuum des 24 h-Laufs:

Zeitpunkt: ca. 13:15 Uhr (mitteleuropäische Sommerzeit)

Ort: Reichenbach im Vogtland, außerhalb des Stadions, kurz nach Rundenanzeige, Anstieg gerade bewältigt

Bisherige Umläufe: ca. 27

Kilometer: ca. 32

Und urplötzlich wächst Ines vor mir aus dem Boden. In Laufklamotten. Lacht mich an (tut gut), fragt wie’s geht (sage: „Geht so!“), verabschiedet sich zu ihrem langen Lauf (weiß Bescheid, war so abgesprochen, wird drunten im Göltzschtal laufen), wünscht mir alles Gute (kommt von Herzen, tut deshalb auch gut), dreht sich im Davongehen noch einmal winkend um (würde mich mindestens wärmen, tät ich grad frieren) …

Ich fordere ein „musikalisches Emissionsschutzgesetz für Stundenläufer“!

Lachende Gesichter und zum Zwecke der Kurzweil geführte Gespräche untermalen die ersten Stunden. Überholer und Überholte geben sich samt und sonders der Fröhlichkeit hin. Alle sind gut drauf, bis auf einen … Dessen Identität lasse ich aus Gründen der Diskretion mal im Dunkeln. Aber sonst herrscht eitel Sonnenschein. Wie? Nein, die Sonne scheint gerade nicht, doch ein-, zweimal spitzte sie kurz durch die Wolken und nährte Wetteroptimismus. Ich frage mich, wie lange es wohl dauern wird, bis munteres Geplauder versiegt. Wann es wohl so weit sein wird, dass auch das letzte Konterfei zur undurchdringlichen Maske gefriert. Irgendwann treibt die Härte der Übung jeden in sein Schneckenhaus, würgt die Empfänglichkeit für äußere Reize immer weiter ab.

Gegenwärtig dominieren allerdings noch die Extrovertierten das Rund. Vor allem einer, dem ich mal ein Schild mit Aufschrift „Hofnarr der LG Nord-Ultrateam Berlin“ um den Hals hänge. Er singt. Rein stimmlich gar nicht mal so übel, nur inhaltlich zum Grausen. Wiegt umso schwerer, da er andere ansteckt, die in seine grässlichen Librettos einfallen. Oh mein Gott! Wiegt noch schwerer, da schon der stetig wiederkehrende Aufenthalt im Stadion musikalische Dünnhäutigkeit verursacht. Was da aus den Lautsprechern schallt – beinahe ausschließlich Marke „Griechischer Wein“ oder „Bett im Kornfeld“ – betrachte ich als böswillige Diensterschwernis. Und nun auch noch dieser Sängerknabe. Bleibt nur die Hoffnung auf den Faktor Ermüdung. Zu nicht ferner Stunde wird er seine Stimmbänder abschalten und die frei werdende Energie in die Beine lenken. Bis dahin geht er mir massiv auf den Wecker. Ich fordere ein „musikalisches Emissionsschutzgesetz für Stundenläufer“!

Als gäb’s kein morgen …

Vorhin, vier Stunden nach Beginn, freute ich mich über 40 Kilometer und gerade setzte ich einen Haken hinter Marathondistanz. Nicht mal 4:15 h für den Marathon. Das ist verdammt schnell. Auch deshalb stelle ich von Zeit zu Zeit meine Tempotaktik in Frage. Mit denselben Überlegungen wie in den letzten Tagen vorm Wettkampf und stets mit demselben Ergebnis.

Ich begehe einen Fehler und ich weiß das! Vor sieben Jahren war ich sieben Jahre jünger, besser austrainiert, bis in die Haarspitzen regeneriert und die Strecke war bretteben. Was habe ich in die andere Waagschale zu legen? Einen Körper, der von sieben Jahren Ultraerfahrung für überlange Laufaufgaben konditioniert wurde. Mehr nicht. 120 km in 12 Stunden sind reine Illusion. Eine, die mich aufreiben wird. Welche Konsequenz leite ich daraus ab? Tempo halten, weiter machen wie gehabt, als gäb’s kein morgen …

Wahrnehmungsstörungen

Die „Rundenzählmaschine“ verrichtet ihre Arbeit beim Verlassen des Stadions. Vier Antennen, rechts vor der Wand und dreifach über den Köpfen, richten sich auf den in der vorderen Startnummer eingearbeiteten Chip. Ein leises „Mööp“ quittiert die Erfassung. Was mich angeht, ausnahmslos ohne Beanstandung. Zehn Meter rennt man auf die Anzeige zu, sieht die eigene Startnummer (119 = Udo Pitsch) am oberen Rand eingeblendet und mit jedem Nachfolgenden um eine Zeile nach unten auswandern. Bei anderen leidet die Technik unter Wahrnehmungsstörungen. Im gesamten Verlauf des Wettkampfs beobachte ich Szenen des Protests und anschließender Korrektur. Tatsächlich wird die Anlage vom Veranstalter volle 24 Stunden überwacht. Anscheinend sind deren Aussetzer und die Notwendigkeit korrigierend einzugreifen bekannt.

Mein Biomechanismus leidet gleichfalls unter Wahrnehmungsstörungen. Stundenlang renne ich an der Anzeige vorbei und überprüfe lediglich, ob die meine Startnummer einblendet, als Nachweis eines gezählten Umlaufs. Meistens freue ich mich noch über die neuerlich gewachsene Kilometersumme. Die ebenfalls angezeigten Runden interessieren mich nicht (Um des Lesers Spannung ein wenig zu steigern: Sie interessieren mich noch nicht!).

Die vierte von vier bereitgestellten Informationen entgeht mir völlig. Dabei würde sie mir das Satellitendasein gewaltig erleichtern. Dort steht nämlich die Rundenzeit. Vergehen zwei Stunden, drei oder gar vier, bis ich das endlich mitkriege? Bis dahin merke ich mir die Durchgangszeit in Höhe des Starttores vor der Tribüne und verwickele mich eine Runde später in eine Subtraktion. Blöd nur, wenn dem Einprägen der Durchgangszeit viele kleine Begebenheiten folgen, die den Uhrzeitspeicher überschreiben … Jedenfalls feiere ich die Entdeckung der offiziellen Rundenzeit ähnlich überschwänglich, wie einst der Mensch die Erfindung des Rades.

Mein Beitrag zur urologischen Forschung

Wie lange ertragen Läufer eine drückende Blase? Hypothese: Allgemeinverbindlich nicht zu bestimmen. Individuelle Leidensfähigkeit entscheidet. Bereits eine halbe Stunde nach dem Start war klar, dass die zwei kurz zuvor genossenen Becher Kaffee auf „Auslass“ bestehen werden. Handeln wider besseres Wissen steht bei mir unter Strafe. Verhängte Sühne: 30 Runden Selbstgeißelung mit drückend voller Blase. Seit zwei, drei Stunden vollziehe ich die „urologische Bastonade“ und denke Blödsinn wie den: ‚Vielleicht diffundiert das Wasser durch die Blasenwände und wird auf diese Weise weniger!?’ Spät dann, sehr spät, lässt der Bewährungsausschuss – bestehend aus mir, Ich und meiner Angst vor Inkontinenz – Gnade vor Recht ergehen und erlaubt einen Toilettenbesuch.

Die Reichenbacher Seenplatte

Die Schauer nerven. Nass wäre ich sowieso, egal, ob von innen oder außen. Auch die Beschädigung meiner Menschenwürde durch Aufsetzen des vermaledeiten Basecaps verschmerze ich mit links. Wirklich Manschetten habe ich vor nassen Füßen. Nasse Füße quellen und passen nicht mehr in die bis dahin perfekte Arbeitsgemeinschaft „Fuß-Strumpf-Schuh“. Nasse Strümpfe scheuern Blasen.

Bislang waren die Schauer zu kurz oder zu wenig ergiebig, als dass ich wirklich nasse Füße beklagen müsste. Permanente Gefahr geht allerdings von der Innenbahn im Stadion aus. Infolge kläglich versagender Drainage bilden sich Pfützen und wer trockene Füße behalten möchte trabt auf Bahn 2. Große Bedeutung messe ich dem nicht bei, aber ungeschrieben soll es auch nicht bleiben: Bahn zwei ist etwa 7 m länger als Bahn 1. Wie war das noch gleich: Viele Hunde sind des Hasen Tod.

Ein noch größeres Risiko für nasse Füße lauert auf den hundert Metern zigfach geflickten „Asphaltackers“ beim Rückweg vom Wasserturm ins Stadion: Bereits nach dem ersten Guss erstreckt sich hier die „Reichenbacher Seenplatte“. Zwei Optionen: Außenrum (näher am Stadion) und damit weiter. Oder mittendurch und von Asphaltinsel zu Asphaltinsel steppen. Letztere Übung erfordert allerdings volle Konzentration.

Zur Beruhigung des mitfiebernden Lesers: Für den Fall, dass alle Dämme brechen, warten drei paar Strümpfe und zwei Paar trockene Schuhe in den Boxen auf ihren Einsatz. Den will ich selbstverständlich vermeiden, weil Umziehen unnötig Zeit kostet.

Schwer wird leicht was*

*) Das Originalzitat „Schwer ist leicht was“ stammt von Karl Valentin, dem 1948 verstorbenen, bayerischen Komiker

16 Uhr: 60 km gelaufen und 6 Stunden um, exakt im Plan. ‚Immerhin ein Viertel’ denke ich und: ‚Das ist doch schon mal was!’ Ist es auch, aber anders als ich denke: Pure Schönfärberei, ähnlich vermessen als klopfte sich ein Marathonnovize nach 10 km selbst auf die Schulter: „Mensch das ist doch schon was!“ – Auch mein Ernährungskonzept scheint bestens aufzugehen. Alle vier bis fünf Runden ein Gel. Das schnappe ich mir im Vorbeilaufen am Tisch und konsumiere es in der Bewegung. Dann raus aus dem Stadion. Zwischen Wasserturm und Haupttribüne spreche ich dem Angebot der Reichenbacher Wasserwerke (?) zu und spüle die Süße mit einem ersten Becher Flüssigkeit runter. Weiter um den Turm, zurück zum Stadion und dort an der offiziellen Tränke einen weiteren Becher grabschen und möglichst in einem Schluck austrinken. Alles ohne Temporeduzierung. Irgendwann werde ich Laufen und Ernähren nicht mehr zeitgleich koordinieren können und gewarnt sein: Du bist jetzt müde, also pass auf!

Manchmal greife ich nach einem Stück Kartoffel, dippe kurz ins Salz, gönne mir den Kartoffelgeschmack im Mund. Mein Magen scheint diese Mischung aus Astronauten- und archaisch-bäuerlicher Nahrung zu goutieren. Jedenfalls sendet er keine Signale von Völlegefühl oder Unwohlsein. Also weiter so.

Bezogen auf einen Tag Laufen vollzieht sich die Katastrophe vergleichsweise „blitzartig“ binnen drei, vier Runden, irgendwo zwischen Kilometer 60 und 70. Aber immer noch so langsam, dass ich alle Phasen von „Irritation“ bis „Panik“ voll auskosten darf. Die Beine jammern, nicht spezifisch, einfach in jeder Sektion. Und Schwäche greift um sich. Widerliche, unvorhergesehene, alles in Frage stellende Schwäche. Ich erhöhe meinen Einsatz, mobilisiere mehr Willenskraft und werde doch langsamer. Im Schnitt 10 Sekunden pro Runde.

Natürlich weiß der rational kalkulierende Teil in mir, was sich da gerade vollzieht: Das Resultat von sechs Stunden physischen Raubbaus, die Schlussphase läuferischen Suizids. Dem körperlichen folgt mentaler Kontrollverlust. Fühlt sich an, als hätte ich zu nahe am Abgrund gestanden, wäre ausgerutscht und stürzte nun in einen gähnend dunklen, nicht enden wollenden Abgrund. Ich falle … und falle … und falle. Dunkle Dämonen balgen sich mit nüchtern kalkulierenden Impulsen. ‚Noch mehr als 17 Stunden! Wie soll das gehen?‘ – ‚Das packst du nicht!‘ – ‚Langsamer laufen. So weiterlaufen. Abwarten. Hoffen, dass es besser wird!‘ – ‚Aussichtlos! Ich überstehe nicht mal die Nacht!‘ – ‚Oh Mann ist das schwer! Jeder Schritt kostet Überwindung. Verdammt! Verdammt! Verdammt!‘ – ‚Muss versuchen diesen niedrigeren Energielevel zu stabilisieren, irgendwie!‘ ...

Körperlich halte ich Spur – einstweilen wenigstens. Doch mental verliere ich immer mehr den Boden unter den Füßen, finde keinen Halt. Aller Mut verpufft, sprüht rasch verglühende Funken. Schritte, Handhabungen geschehen automatisch, stehen aber unter Vorbehalt eines baldigen Endes. Das dunkelste aller Dunkel füllt mich aus, hochkonzentrierte Hoffnungslosigkeit, der ultimative Läufer-Albtraum. So sieht die Hölle wirklich aus! Nicht heiß, keine Brandwunden schlagend, einfach nur Halt-, Licht- und Hoffnungslosigkeit.

Der mentale Absturz geht erst in einen (kontrollierten?) Sinkflug über, als ich mich zum Aufgeben auffordere: „Du kannst das nicht schaffen! Nicht noch 17 Stunden! Nicht, wenn es jetzt schon so weh tut! Also gib auf! Das bedeutet nicht den Schwanz einzuklemmen. Es ist ein Akt der Vernunft. Man wird dich in dieser Haltung bestätigen und dein Verhalten als vorbildlich werten. Du hast 154 mal bewiesen, was für ein harter Knochen du bist. Also sei vernünftig und hör auf! Oder willst du weitere 17 Stunden in DIESER Weise leiden?‘

Natürlich denke ich das alles nicht klar ausformuliert und auch nicht im Zusammenhang. Manches denke ich auch gar nicht, empfinde es nur, oder sehe es bildhaft vor Augen. Etwa, wie ich mit hängendem Kopf die Richt … äh … Wettkampfstätte verlasse. Aber ich lasse die Konsequenz als Alternative zu: Aufhören! In die Pension fahren, schlafen legen. Spüre die Sehnsucht nach der Dusche und einem weichen Bett, nach Ruhe, Schlaf, nicht mehr hier sein müssen.

Was hat der Fahrplan der Bahn mit einem 24 h-Lauf zu tun?

Beinahe vollständige Ich-Zentrierung. Wenig, was mich von außen erreicht. Kurz nach 17 Uhr, der Stadionsprecher verkündet den Zwischenstand nach sieben Stunden. Sechsmal zuvor war ich außer Hörweite, wenn meine Altersklasse an der Reihe war, meinte lediglich mal meinen Namen gehört zu haben. War mir „wurscht“, weil frühe Platzierungen in so einem Lauf weniger Aussagekraft besitzen als der Fahrplan der Bahn an einem Streiktag. Aber jetzt höre ich mit. Erwarte nichts und kriege auch nichts. Gerade mal Dritter oder so. Wie gesagt: In der Sache bedeutungslos, denn abgerechnet wird zum Schluss. Doch vielleicht hätte die Altersklassenführung ein paar der klaffenden Risse meines Egos wieder gekittet. Stattdessen empfinde ich die Ansage als weiteren massiven Tritt in meinen müden Hintern …

Aufgeben wäre wie Sterben

Plötzlich ist sie wieder da, steht hinter unserem Versorgungstisch und fotografiert: Ines! Emotional gespalten trabe ich ihr entgegen: Einerseits brauche ich Ines genau jetzt dringender als alles andere in diesem Universum, zugleich wünsche ich sie weit weg. Gleich werden meine Worte dieses erwartungsfroh optimistische Lächeln ausradieren. Sie wird mir verbal die Hand reichen und ich werde sie runterziehen in das mich umgebende Dunkel … Ein paar Sätze nur, aber zum Bersten gefüllt mit Not und Frust der letzten Stunden.

Wieder allein auf der Runde. Ich hab sie erschreckt, ganz sicher hab ich das. Das Wort „Aufgeben“ hat sie aus meinem Mund noch nie gehört. Schon diese Randtatsache zeigt, wie nahe ich diesmal dran bin. Nur einmal bisher, mitten in der Nacht, bei den 100 km rund um Ulm, als mich nach Marathondistanz eine unerklärliche Schwäche heimsuchte, dachte ich daran bei 50 km aufzuhören. Stand es aber durch und feierte Wiederauferstehung, gleichermaßen rätselhaft übrigens, wie die voraufgegangene Agonie. „Ich überlege aufzuhören!“ sagte ich zu Ines. Es ausgesprochen zu haben erschreckt mich noch mehr als immer wieder daran zu denken. Was heißt das denn? Okay, der Marathon zählt, wenn ich mich ordnungsgemäß abmelde. Aber sonst? Ein halbes Jahr Mühen, insbesondere seit der letzten Aprilwoche, insgesamt 15 Vorbereitungswettkämpfe, das fortwährende Sich-Antreiben, Selbstkasteiung, Selbstbeschränkung, Kürzung des Familienlebens auf ein gerade noch vertretbares Maß, Ines‘ Opfer und Verzicht, alle Hoffnungen, alles, alles umsonst. Verloren.

Was bliebe: Jeder der 15 Wettkämpfe war ein Wert an sich. Viele haben mir Spaß gemacht, alle mich bereichert. Also nicht alles für die Katz‘. Aber „Aufgeben“ käme einer fürchterlichen Niederlage gleich. Höchststrafe. Damit habe ich keine Erfahrung. Dämpfer, Rückschläge, dergleichen kenne ich. Aber keine wirkliche Niederlage. Das will ich einfach nicht … Aufgeben wäre wie Sterben. Weiterlaufen auch, nur viel langsamer …

Freundschaftsdienst

Die Botschaft meines Körpers scheint nach wie vor eindeutig: Weitermachen aussichtlos! Aber vor dem Aufhören habe ich Angst. Ich stecke in der Klemme zwischen Nicht-Können und Nicht-Wollen. Jede Runde zieht den Schraubstock fester an und ich warte auf … ja worauf eigentlich? Dass es aufhört, dass es sich entscheidet, dass ein Wunder geschieht – was weiß ich. Statt eines Wunders widerfährt mir eine Erscheinung: Sybille und Dennis, das Crazy-Ultra-Paar, Freunde aus Augsburg. Letztes Wochenende rannten sie beim „Zugspitz Ultra“ noch 90 km** im Schneetreiben rund um das Wettersteinmassiv. „Wo kommt ihr denn her?“ blaffe ich ihnen völlig entgeistert entgegen …

**) Der Zugspitz Ultratrail umfasst eigentlich 100 km, musste allerdings wegen zu hoher Neuschneedecke in diesem Jahr gekürzt werden, um die Läufer nicht zu gefährden.

Anderthalb Runden vergehen, bis ich sie am Versorgungstisch mit Ines wiedertreffe. Ein bisschen schäme ich mich sogar, weil sie zu den engsten Lauffreunden zählen, die wir haben. Mag nicht, dass mich Freunde so mutlos erleben, so hinfällig. Drei, vier Runden lang versuchen sie ihr Bestes, um mich aufzumuntern. Und ich sauge jedes Wort und jede Geste auf wie ein trockener Schwamm. Ihr letzter Satz, Sybille spricht ihn aus, dann müssen die beiden wieder weg: „Wir glauben an dich!“ Ehrliche Überzeugung und Forderung zugleich. Doch was hilft’s, wenn ich selbst nicht an mich glaube? Aber wer weiß? Vielleicht waren sie just im richtigen Moment an der Strecke. Vielleicht wenden ihr unerschütterlicher Glauben samt Peinlichkeit meines mutlosen Auftritts etwas zum Besseren.

Im Niemandsland

Ines hat mir den Rücken gestärkt (niemand sonst hat damit so viel Erfolg wie sie) und sich bis auf weiteres verabschiedet. Genau so will ich es. Was ich von anderen Menschen an Zuspruch und mentaler Hilfe empfangen kann, habe ich bekommen. Einstweilen weitermachen. Ich niste mich ein im Niemandsland „entschiedener Unentschiedenheit“. Sammele Runden unter Vorbehalt, etwa so: Das ist so verflucht anstrengend. Ständig muss ich mir die Peitsche geben. Ein bisschen bei jedem Schritt. Muss den nächsten Meter nicht rechtfertigen aber durchsetzen. Doch was soll’s: Aufgeben kann ich immer noch.

Kontrolle von Lauftempo und Kilometerzuwachs habe ich seit dem „Crash“ fast vollständig aufgegeben. Vor allem weil mich ein paar unvorsichtig abgelesene Rundenzeiten zusätzlich deprimierten. Checke ausschließlich, ob die „119“ nach jeder Runde in der Anzeige erscheint.

Traben so gut ich kann, Gel, Wasser, ab und zu eine Kartoffel. Wieder mal Regen, wie oft denn noch? Sch … Basecap aufziehen, dem Mistwetter trotzen, fluchen. Ab und zu stehen bleiben und mit dem Handtuch den Kopf trocken wischen. Schuhe, Strümpfe, Füße wieder feucht. Feucht oder schon nass? Ach egal, lauf weiter. Regen hört auf, Basecap ab, Kopf abtrocknen, Brille trocken wischen. Zum Loslaufen zwingen und weiter traben, so gut ich kann. Dann friere ich in nassen Klamotten und ziehe mir eine dünne Laufjacke drüber. Gel, Wasser und noch mal Wasser und laufen, immer und immer weiter laufen, 19 Uhr, 19:30 Uhr, 20 Uhr …

Gewässerkunde

„ES“ stabilisiert sich in dieser Zeit. Auf niedrigerem Niveau, aber immerhin. Weiterhin mündet jeder Gedanke an verbleibende 14 Stunden Lauftortur in einen See aus Verzagtheit. Nur noch ein See, vorhin war’s ein Ozean. Aufgeben? Die Option ist da, aber nur noch schemenhaft blass, weit entfernt von einem Entschluss. Der Satellit empfängt wieder mehr Signale von der Bodenstation und den anderen Raumfahrzeugen. Auch die Stadionbeschallung, zwischenzeitlich völlig ausgeblendet, nervt nun wieder. Plötzlich ein aktueller Song aus dem Lautsprecher. Das ist, als hängte jemand in der Alten Pinakothek in München einen farbenfroh abstrakten Miró zwischen die altbackenen Schinken von Rembrandt bis Tintoretto. Umso erfreulicher die Ankündigung des Stadionsprechers uns nun mit „junger Musik“ zu unterhalten. Mit meiner Bemerkung „Gerade noch rechtzeitig, sonst wäre ich da rauf marschiert und hätte ihn umgebracht!“ ernte ich einen Lacher bei Karls nun dauerhaft frierender Frau.

Gegen 20:30 Uhr ist Ines wieder da. Ich bitte sie auf den Wasserturm zu steigen und ein paar Bilder von oben zu schießen, so lange es noch hell ist. Was könnte meine teilweise „Genesung“ besser dokumentieren als der Wunsch nach Fotos?

Ohne Erläuterung deponiert Ines mein Handy in der Kunststoffkiste. Braucht sie nicht erklären, verstehe ich auch so. Gleich wird Ines sich zur Nacht verabschieden und ich werde sie gehen lassen. Das würde ich nicht tun, wenn ich nicht bereits jetzt wieder entschlossen wäre diese „Sache“ hier zu Ende zu bringen. Irgendwie, und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben vollbringe. Das Handy kann nicht schaden. Ich könnte hinschlagen und mich so schwer verletzen, dass an Weiterlaufen nicht zu denken wäre. Und ihr gibt es Sicherheit, dass ich sie zu Hilfe rufen kann, wenn Not an ihrem Mann ist. Gute Wünsche voller Wärme für die Nacht und dann ist sie weg …

Phoenix in der Asche (Noch'n verdrehtes Zitat? Ja und? Mir doch egal!)

Wetterleuchten im Nordwesten versprach das Ende der elenden Schauer, also habe ich mich vorhin, mit Ines’ Hilfe, obenrum neu eingekleidet. Wieso ich zur Nacht untenrum auf eine Trockenlegung verzichtete (vier Unterhosen und zwei Kurztights flehen verzweifelt um Verwendung), wird auf ewig ein Geheimnis bleiben, vor allem auch für mich selbst. An den Armen entschied ich mich für Armlinge statt eines Langarm-Shirts. Die waren zwar schwieriger anzulegen, sind dafür rasch runtergestreift, wenn’s mir zu warm wird.

Ich mache einen gewissen Frieden mit der Situation, höre auf über Wohl und Wehe nachzudenken. Runden will ich drehen, muss ich drehen. Bündele meine Geisteskraft auf dieses Ziel. Dass es mir schwer fällt zu laufen, ein noch akzeptables Tempo zu halten, dass jeder Meter einem Akt meines Willens entspringt, hat sich nicht geändert und das wird es auch nicht mehr. Ich leide, körperlich und psychisch. Ist so, ohne Übertreibung. Physisch eine andere Art Leiden, als es von einer schwärenden Wunde ausginge. Und auch mental anders als es Trauer oder Verlust vermöchten. Spezielles Leiden. Laufleiden. Das kann ich, habe es oft trainiert. Auch stundenlang. Aber nun nagt es schon fünf Stunden an mir und die will ich um weitere 12 vermehren. Unvorstellbar? Ja, stimmt, das merke ich, wenn mir „Jetzt-noch-x-Stunden-Formulierungen“ in Sinn kommen, die ich darum sofort abwürge.

Läuferisches Sein oder Nichtsein muss ich mit mir allein ausmachen, bin dabei aber nicht allein. 170 weitere Rundendreher versuchen seit bald einem halben Tag ihr Bestes. Die Tunnelwände wurden wieder durchlässiger, Wahrnehmungen dringen vermehrt wieder durch. Sehe, wie sich Müdigkeit auf manchen Gesichtern abzeichnet, oder von Anstrengung gebeugte Körper. Horst Preisler geht noch immer, geknickt und das ist wörtlich gemeint. Sorgen muss man sich allerdings nicht um ihn, so geht er schon seit Stunden. Und so sah ich ihn vor Jahren schon einmal einen Marathon finishen, damals noch laufend.

22 Uhr, Halbzeit. Gut 111 Kilometer habe ich mir jetzt erlaufen und versuche eine Abschätzung meiner Chancen auf den (Alb-) Traumwert 200. Bleiben 89 Kilometer und 12 Stunden. Machbar? Wenn ich weiterlaufe, mich dazu zwinge und nicht irgendwann körperlich das Ende kommt, dann sicher. Doch kann ich das? „Nur noch 89 in 12“ klingt ermutigend, entschieden aber ist nichts. Abgerechnet wird zum Schluss!

Die Verlesung der „Halbzeitergebnisse“ hat begonnen. Dauert immer ewig, biis dihi laaangsaaame, saalbuungsvoolle Stimme (mittlerweile hörbar erschöpft) sämtliche Staffel-, Gesamt- und Altersklassenwerte, Weiblein wie Männlein, vorgetragen hat. Kurz bevor M60 an die Reihe kommt, trabe ich gerade übers Pflaster zwischen Haupttribüne und Wasserturm, wäre Sekunden später unter Parkbäumen außer Hörweite. Warum bleibe ich ausgerechnet jetzt stehen, lehne mich über die Brüstung einer Absperrung und lausche? Lausche nicht nur, verschwende überdies bald eine Minute? He Udo! Du erwartest doch nicht ernsthaft eine positive Veränderung der Platzierung? Doch dann höre ich genau das: Platz 1 Altersklasse M60: Udo Pitsch. Mit Betonung durch den Vortragenden, der das nicht erwartet hat. Dann versorgt er die Zuhörer noch mit ein paar Fakten (?), Ansichten (?) zu meinem Verein, die ich allerdings nicht verstehen kann (Was weiß der Sachse von der TG Viktoria Augsburg?).

Es dämmert bereits gewaltig zur Nacht, doch wer genau hinsieht, mich mit Argusaugen mustert, der wird sehen, wie der Phoenix … Nein, nicht sich aus der Asche erhebt. Wie sollte er das durchhalten, so lange vor Schluss und reichlich „derrangiert“. Aber immerhin bewegt er wieder die Flügel, schlägt kräftig damit, schüttelt die Asche ab. Vielleicht, in ein paar Stunden, wär doch möglich, wenn es wieder hell wird, …

„Die lange Nacht von Reichenbach“

Seit Stunden beschwört der Sprecher „die lange Nacht von Reichenbach“. Weshalb er eine dergestalt nach „Drohung“ und „Wehe dir!“ klingende Formel mehrfach wiederholt, erschließt sich mir nicht. Dient das der Legendenbildung oder nach 28 Jahren des Bestehens der Legendenpflege? Haben es die Reichenbacher nötig vermittels solcher Mätzchen ihren Lauf aufzuwerten? Sollte ihnen in all der Zeit entgangen sein, dass der Pflege der Psyche (durch Unterlassen solchen Drohgeredes oder erträglicher musikalischer Untermalung) ähnliche Bedeutung zukommt, wie dem üppigen Buffet mit Getränken und Essen am Stadioneingang?

Warum verweist er nicht auf die Tatsachen? Dies wird eine der kürzesten Nächte des Jahres werden: Erst gegen 22:30 Uhr, an vielen Stellen noch später, bin ich auf künstliche Beleuchtung angewiesen. Und um vier Uhr morgens, wird bereits wieder genug Tageslicht von Osten her den Weg beleuchten. Also maximal fünfeinhalb Stunden Lichtlosigkeit. Warum hält er sich nicht an diese erfreuliche Tatsache. Stattdessen zitiert er „die lange Nacht von Reichenbach“ und bringt das Herz der 24 h-Eleven ins Rutschen. Manch eins fängt erst die Hose auf. Jedenfalls würde ich schwören herzförmig ausgebeulte Lauftights gesehen zu haben.

Es wurde Licht (oder auch nicht)

Am Spätnachmittag rückte das „Technische Hilfswerk Reichenbach“ an, um vier Lampeninstallationen vorzunehmen. Zwei riesige Ballons, auf nach mehreren Seiten hin abgespannten Masten, die nun wie helle Minisonnen im Stadion glühen (leider bleibt die Innenbahn der Südkurve im Dunkeln, was sich noch als höchst unangenehm herausstellen soll). Die beiden gefährlichsten Ecken des Kurses – Betreten und Verlassen des Bürgersteigs vorm Wasserturm – werden von zwei Strahlern taghell ausgeleuchtet. Sehr beruhigend! Den Rest des Kurses bedient die Reichenbacher Straßenbeleuchtung, das – in gebotener Klarheit gesagt, denn hier geht es um die Gesundheit der Läufer – allerdings mehr schlecht als recht. Trübe gelbbraune Funzeln erinnern mehr an romantische Darstellungen städtischer Nacht in Werken Spitzwegs, als dass sie ihrem Auftrag „unfallfreie Wegweisung für Passanten“ gerecht werden könnten.

Stockblind überbrücken die Läufer die 70 m unter den Bäumen des Wasserturmparks. Dort schalteten sich die Funzeln kurz ein, um wenig später und endgültig wieder zu verlöschen. Interessiert hat das anscheinend niemanden. Natürlich ist um diese Zeit kein Techniker der Stadt mehr in der Lage so einen Defekt zu reparieren. Doch warum wurde nicht wenigstens versucht auf andere Weise dort Licht ins Dunkel zu bringen?

Noch ärgerlicher machen mich allerdings die 100 Meter miserabel ausgeleuchteten „Asphaltackers“, wo jeder Schritt der letzte sein kann, wenn du ihn zufällig und unmittelbar vor eine markante Unebenheit setzt und anschließend den Fuß nicht hoch genug hebst. Unwahrscheinlich? Ja, mag sein, ist anscheinend auch nicht vorgekommen. Nicht unwahrscheinlich und mir natürlich passiert: Patsch! Mitten rein in die Reichenbacher Seenplatte! Pfütze im Dunkeln, Schritt ins Ungewisse, linker Fuß nass. Fortan mache ich einen weiten Bogen ums Seenland, bewege mich in Sicherheit, verschwende aber natürlich Zeit damit. Prädikat für Sicherheit in Reichenbach: Macht es nächstes Mal besser!

Die Chance

23:10 Uhr: Zum zweiten Mal steuere ich das Bord mit den Zwischenergebnissen an. Will wissen, wie sich meine Altersklassenplatzierung entwickelt. Vorhin, nach 22 Uhr, nach dem überraschenden Vorstoß auf Platz eins, kehrte ich erstmals hier ein. Knapp zwei Kilometer betrug der Vorsprung auf meine Verfolger. Jetzt sind es etwa vier Kilometer, was nur bedeuten kann, dass sie in der vergangenen Stunde häufiger pausierten oder längere Abschnitte gehend verbrachten. Die sich aufdrängende Schlussfolgerung könnte unzweideutiger nicht sein: Wenn ich es schaffe durchzulaufen, dann habe ich eine gute Chance auf den Altersklassensieg. Aber eben auch nur dann.

Die „Chance“ hilft, macht das Rundendrehen etwas leichter. Im beinahe erloschenen Kamin „Wettkampf“ züngelt wieder die Flamme „Kampfgeist“. Wieder einmal erlebe ich am/im eigenen Leib die Bedeutung des Geistes für Erfolge auf langen Ultrastrecken: Der „starke“ Körper alleine nützt dem Ultra gar nichts. Er braucht nie versiegende Willenskraft und Motive, die ihn durchhalten lassen. Vor langer Zeit postulierte ich für mich das „Primat des Geistes“ auf längsten Strecken. Und von Wettkampf zu Wettkampf wuchs die Überzeugung, dass es sich hier um eine allgemeingültige Regel handelt. Wer in der Vorbereitung nicht mehrfach an seine Grenzen geht, um sein Durchhaltevermögen zu schulen, hat wenig Chancen, wenn’s drauf ankommt …

Kurz nach 24 Uhr: Mein Vorsprung ist noch etwas gewachsen, jetzt auf etwa fünf Kilometer. Schlussfolgerung: Die beiden Verfolger (sie tauschen manchmal die Plätze) tun mir nicht den erhofften Gefallen sich ein paar Stunden auszuruhen …

Mit der Gesamtsituation unzufrieden …

… ist mein Magen. Einige Zeit schon, mal mehr, mal weniger. Völlegefühl vor allem. Anscheinend nehme ich heute jede Misere mit. Also keine Kartoffeln mehr, denn die bringen am wenigsten und belasten am meisten. Die Aussicht auf Gel plus Wasser plus nix ist hässlich, aber alternativlos. Fortan, nicht bis in alle Ewigkeit aber gefühlt bis kurz davor, derselbe Rhythmus:

  1. Gelrunde: Gel am Tisch nehmen, weitergehen, schlucken, wieder antraben, bis unter den Wasserturm traben, dort einen Becher Wasser gehend trinken, wieder antraben, weiter bis zum Stadioneingang, dort einen zweiten Becher Wasser gehend trinken, wieder antraben …
  2. Wasserrunde: Umlauf vollenden, am Büffet einen dritten Becher Wasser gehend trinken, wieder antraben …
  3. Zwei „Leerrunden“: Nichts essen oder trinken, dann wieder:
  4. Neue Gelrunde …

Später, mit noch reichlich Gel im Vorrat und spärlich Kraft in den Beinen, werde ich eine der beiden „Leerrunden“ weglassen. Dem aufmerksamen Leser dürfte nicht entgangen sein, dass Udo nun beim Gelbeutellutschen und Wasserschlürfen geht. Ich weiß beim besten Willen nicht seit wann. Ziemlich lange jedenfalls schon. Wahrscheinlich seit meiner Depri-Phase.

Durch die Nacht

Trotz Wetterleuchten und Sonnenuntergang erfüllt sich die Hoffnung auf Trockenheit nicht. Zwischen zwölf und eins öffnet der Himmel einmal mehr seine Schleusen. Wie mich das ankotzt! (Bitte entschuldige den Ausdruck, doch „Authentizität“ verlangt ihn.) Basecap auf, zuweilen am Tisch nach dem Handtuch greifen, abtrocknen und auf das Ende des Schauers hoffen. Marika Heinlein (die spätere Drittplatzierte) kommt mir in den Sinn. Noch vor meinem Einbruch war ich Zeuge eines Wortwechsels zwischen ihr und einer anderen Läuferin. „Mir graut vor der Nacht!“ äußerte Marika mit Blick in den zu dieser Zeit munter sprudelnden Regenvorhang. „Nachts soll es trocken bleiben. Bedeckt aber kein Regen meldete der Wetterbericht!“ machte ihr die Frau neben ihr Hoffnung. Wie es scheint, hält Petrus nicht viel von Wettervorhersagen …

Die Idee lässt sich nur noch so lange zurückdrängen bis das Tröpfeln aufhört: Ein, zwei Runden die Digicam mitnehmen und ein paar Nachtaufnahmen schießen. Ich bin dankbar für das erwachende Interesse an Fotos. Vor allem anderen ist es Ausdruck wiedererstarkter körperlicher und mentaler Stabilität. Also Fotos: Mein Zwischenstand von über 130 km auf dem Rundenmonitor – Sie und er, gehend, Hand in Hand, eng aneinander geschmiegt. – Einer, gleichfalls gehend, der den Schirm gar nicht mehr zuklappen mag. – Diverse andere Szenen, leider alle unscharf. Die kleine Digicam ist mit der Tiefe der Nacht und des Raumes sichtlich überfordert …

1 Uhr: ‚Noch neun Stunden und höchstens drei, bis es hell wird’ Beim Gedanken „noch neun“ krampft es zwar ein wenig in der Herzgegend, doch Hoffnungslosigkeit und Depression überfallen mich nicht mehr. Mit gefühlt konstantem Tempo drehe ich meine Runden. Rundenzeiten kontrolliere ich nicht. Was hätte ich davon? Sollte ich objektiv langsamer werden, ich müsste es ohnehin geschehen lassen. Mehr Energieeinsatz als augenblicklich geht nicht. Die Folge wäre ein weiterer Einbruch und der Mausetod meiner Ziele.

Nächtliche Sintflut

Wieder beginnt es zu regnen. Erst leicht, dann stärker. Wie oft denn noch. Ich fasse es nicht. Wo kommt nur das viele Wasser her. Im Nu stellt sich wieder die Empfindung feuchter Strümpfe ein. Bislang konnte ich die zeitraubende Schuh-Strumpf-Wechsel-Prozedur vermeiden. Es regnet anhaltend, Runde um Runde. Ich fluche stumm vor mich hin. Vielleicht auch halblaut, weiß es nicht. Ist mir auch egal. Ein Schatten unter anderen Schatten. Sie huschen durchs Dunkel, zeigen Umrisse vor grellem Scheinwerferlicht, beugen sich unter ergiebigem Guss, nehmen nur zeitweise Gestalt und Farbe an …

So wie der: Tippelt ein paar Meter neben mir her. Nörgelt, jammert, schimpft. Leise. Kann nichts mehr essen und trinken. Hat sich anscheinend den Magen verdorben. Spürt wie langsam die Kraft versiegt. Ich schweige. Was sollte ich ihm auch sagen? Aber ich bleibe diese paar Schritte auf seiner Höhe und höre ihm zu. Wahrscheinlich ist es genau das, was er jetzt braucht: Einen der zuhört.

Wasser und kein Ende. So lange hat es nicht mal tagsüber am Stück geregnet. Land unter auf der Reichenbacher Seenplatte. Von überall her rinnt es zusammen. Nicht platschenden Fußes kann der Asphaltacker nur noch in weitem Rechtsbogen passiert werden. Und die Innenbahn im Stadion taugt jetzt allenfalls noch als Kinderplanschbecken. Ich habe dieses Mistwetter satt, so endgültig und aus tiefstem Herzen satt. Ohnmächtigen Zorn setzte ich den Elementen entgegen, aber nur in sehr schwacher Form. Brauche meine Kraft für anderes.

Dann hört es auf. Endgültig für diesen Wettkampf, aber das weiß ich natürlich nicht. Basecap runter, Rübe und Hals abtrocknen, weiter. Schuhe und Strümpfe? Nicht richtig nass aber auch nicht trocken. Weiß nicht, abwarten.

Der Sängerknabe Teil 2

Der sangesfrohe Ultramann aus Berlin gibt mir Rätsel auf. Nach Stunden verschwand er aus dem Orbit, atmosphärisch durchaus ein Gewinn. Später sah ich ihn aus Richtung Duschen/Umkleiden/Massage (?) in Richtung Marketenderladen LG Nord-Ultrateam Berlin hinken. Offensichtlicht lädiert, eventuell frisch geduscht, zumindest neu eingekleidet. Lange Lauftight in hochmodischem Schweinchenrosa. Nett. Aha! dachte ich bei mir, der Arme musste also verletzungsbedingt aufgeben.

Mitnichten: Zu vorgerückter, noch heller Stunde sammelte er wieder Runden, allerdings hinkend, weil die verletzte Extremität kein Laufen mehr erlaubte. Dabei hatte er gehende Begleitung, die sich von besagtem Barden zu immer neuen gesanglichen Gräueltaten anstiften ließ. Sollte mich also jemand fragen, was mir bei den 24 Stunden von Reichenbach am meisten zusetzte, so werde ich nicht zögern den Mann in Schweinchenrosa anzuprangern.

Auf einmal löste er sich in Luft auf. Puff. Weg. Entführung? Attentat? Amoklauf eines Hörgeschädigten? Oh, wie schön ist Panama! Konnte mein „ohrales“ Glück kaum fassen. Vor allem, als dann zur Nacht auch noch die volkstümelnden Hossa-Heißa-schwarz-Braun-ist-die-Haselnuss-siebzehn-Jahr-blondes-Haar-Breitseiten aus den Stadionlautsprechern unterblieben. Was für eine wohltuende Stille …Und nun ist er wieder da. Hinkt Runden, singt. Nein grölt. Wenn einer nächtens singt und keiner will es hören, dann nenn ich das „Grölen“. Empfinde ich alleine so?

Wir treffen uns kurz hinter der Rundenzählung. Mein Versorgungstisch-Nachbar zur Linken, der Sachse hier aus der Nähe. „Wie viele Runden hast du?“ will er wissen. „153 km oder so.“ Ich antwortete diffus, weil ich mehr auf die Zählung achtete, nur grob auf erkämpfte Kilometer und auf Runden schon gar nicht. „Echt? Ich auch.“ Für eine Weile teilen wir eine zufällige Gemeinsamkeit. Es fänden sich sicher tausend ähnlich bedeutsame Übereinstimmungen, wie „beide männlich, deutsche Staatsbürger, usw.“. Und doch empfinden wir die Tatsache uns mit identischem Kilometerkonto am selben Ort, im selben Augenblick, unter denselben misslichen Bedingungen zu treffen als verbindend. Ich spüre es und ich spüre, dass er es auch spürt. Ein schöner Moment mitten im Unschönen. Wir schweigen und laufen gemeinsam weiter …

… laufen bis uns der Pinkhosenträger lauthals seine gute Laune aufnötigt. An den genauen Wortlaut, mit dem mein Laufgenosse den Liedbeitrag bewertet, erinnere ich mich nicht. Kurz und vernichtend war’s, etwas wie: „Schlimm oder?“ Aha! Also empfinde ich nicht alleine so! „Geht gar nicht! Ich laufe am Limit“ entgegne ich. „Da hat man keine Lust zum Singen und noch weniger anderen dabei zuzuhören!“ Was mich jedoch am meisten in Harnisch bringt setze ich als Schlussformel hinzu: „Außerdem schlafen in den Wohnungen am Rand der Laufstrecke Menschen. Die haben ein Recht auf ihre Nachtruhe und der rennt wie ein Besoffener grölend im Kreis rum!“

Denke was Gutes, dann schaffst du was Gutes

In größeren Abständen überschlage ich meine Chance auf die 200 km. Dazu verwende ich dasselbe „Verfahren“, wie vor sieben Jahren in Berlin. Ich errechne wie langsam ich laufen dürfte, um es gerade noch zu schaffen. Die erste Kalkulation ergibt 7,3 km/h und ich hoffe, dass dieser Wert nun von Mal zu Mal schrumpfen wird. Bis ich irgendwann gemütlich gehen dürfte – rein hypothetisch gesprochen – und stünde am Ende immer noch mit beiden Füßen jenseits der 200 km-Marke. Die Rechenkunststückchen fabriziert kein Kontrollfreak. Ich hoffe einfach, dass mich der ständig kleiner werdende Tempowert anspornt. Nicht mal ein Trick. Denke was Gutes, dann schaffst du was Gutes.

Noch verfüge ich über einen komfortablen Zeitpuffer, um das Weitenziel zu realisieren. Und wie entwickelt sich der Kilometerpuffer zu meinen Verfolgern? – Mehrmals bleibt es bei fünf Kilometern, als es wieder hell wird, trennen uns beruhigende sechs Kilometer …

Der neue Tag bricht an

Ich schlappe gerade vorm Wasserturm vorbei und erreiche unfallfreien, einigermaßen trockenen Fußes den Asphaltacker, als mein Blick sich in den Himmel richtet. Dämmerung! Jetzt schon? Um halb vier? Nach einer weiteren Runde unterstützt bereits fahles Licht des anbrechenden Tages die künstliche Beleuchtung. Und nach der nächsten Runde könnten sie meinetwegen die Lampen ausschalten. Um vier ist es vollständig hell. Noch sechs Stunden, drei Viertel der unerbittlichen Schlacht sind geschlagen.

Ich versuche mir die „Restaufgabe“ so simpel und „easy“ darzustellen wie möglich. Denke ‚Nur noch ein 6 h-Lauf’ und lausche auf das Echo. Es kommt aber keins, zumindest kein positives. Sechs Stunden sind nun mal verflucht lange auf wehen, erschöpften Beinen. Was hilft ist die Tatsache just zu diesem Zeitpunkt 158 km auf dem Zähler zu haben. Jetzt also nur noch ein Marathon. Meine es so, wie ich es denke: NUR noch. Und dafür habe ich knapp sechs Stunden Zeit. Ein Marathon in sechs Stunden? Sieben Kilometer pro Stunde. Das klingt doch fantastisch!

Ein paar Nachteulen harrten für ihre Rundendreher wachend an der Strecke aus. Mikes Schwester Sandra gehört dazu, die (erbarmungswürdig frierende) Frau von Karl Graf und ein paar andere, die ich nicht kenne. Eine brachte sich immer wieder in Erinnerung, versuchte uns Läufer (vor allem natürlich den Mann ihres Herzens) mit Motivationsplakaten zu erfreuen. Fünf, sechs, sieben Plakate wechselnder Aufschrift. Meist Ausdruck höchster Wertschätzung unseres Tuns, augenzwinkernd, um den Ernst der Sache ein wenig zu relativieren. Was da geschrieben stand, habe ich vergessen. Dann und wann bedankte ich mich mit einem hoch gereckten Daumen oder wenigstens einem Lächeln. Den Inhalt ihres letzten Plakats werde ich nicht vergessen: „Die Sonne kommt!“ steht da und für Analphabeten fügte sie ein lustig lachendes, mit Strahlen umkränztes Sonnengesicht hinzu.

„Schön! Bald kommt die Sonne raus!“ Ich glaube es war Mikes Schwester, die sich und mich mit der Aussicht auf baldige Wärme aufmuntern wollte. Ich bin gerade mal wieder dabei mich mit dem Handtuch trocken zu legen und stöhne nur: „Ach, das ist mir so was von egal!“ Stimmt und stimmt nicht. Stimmt, weil wir doch alle letztlich nur eins herbeisehnen, den finalen Schritt und Ruhe. Stimmt nicht, weil die Aussicht auf Sonnenschein nach dem vielen Regen und der Dunkelheit meine Stimmung weiter hebt. Beweis: Als die Sonne um Viertel nach fünf zwischen zwei Häusern aufgeht, halte ich den wunderbaren Augenblick auf einem Foto fest.

Leiden bis zum Ende

Ausbleibender Regen und aufblühender Tag ziehen zwei schmerzhafte Dornen aus meinem Fleisch. Einige andere, mörderdicke stecken dafür umso tiefer drin. Es wird nicht leichter, ist wegen besserer äußerer Bedingungen nur erträglicher. Ich quäle mich und weiß schon jetzt, dass ich mich nie vorher mit solcher Brutalität schinden musste. Das geht so tief rein, tut so widerlich weh, seit elend langer Zeit und ich muss es weitere vier Stunden ertragen. Mein Vorsprung auf die Verfolger beträgt noch immer sechs Kilometer. Die Chance zu gewinnen ist riesengroß – nur Durchhalten muss ich.

Manchmal habe ich das Gefühl als schnürten Gummibänder meine Beine ein. Mein Schritt hat sich auf Tippellänge verkürzt. Bin einfach hundemüde und ausgelaugt. Die Boxenstopps häufen sich. Objektiv betrachtet sind die Gründe dafür an den Haaren herbeigezogen. Meist nehme ich ein Handtuch, um mir den Schweiß abzuwischen, was ich ausgeruht ganz sicher unterließe. Die Gehstrecken zum Gelverzehr und Wassertrinken ziehen sich in die Länge. Die könnte ich verkürzen, brächte ich noch genug Willenskraft dazu auf. In der Summe werde ich um einiges langsamer. Doch dem Kräfteverfall unterliegen auch meine Jäger, hoffe ich jedenfalls.

Marscherleichterung

6 Uhr morgens, 171,x km gelaufen. Vier Stunden Zeit für nicht mal 29 Kilometer. 200 km zum Greifen nah. Ein paar Minuten später bestätigen die jüngsten Zwischenergebnisse meine Vermutung: Weiterhin 6 km Vorsprung, also sind meine beiden Verfolger genauso erschöpft wie ich. Den Chancen zum Trotz: Alles in mir wehrt sich dagegen zu laufen, Schritt um Schritt vorwärts zu traben, ziellos, nur dem Ablauf einer Zeitspanne verpflichtet. Wieso versiegt sie nicht, diese Quelle masochistisch anmutender Leidensfähigkeit? Ist es tatsächlich das: Masochismus? Sicher nicht. Es fehlt die „Lust“. Da ist keine Spur von Lust, kein Funken Freude Schmerz zu empfinden und Entbehrungen zu ertragen. Es ist pures Wollen und reines Nicht-Wollen: Ich will nicht aufhören. Ich will nicht aufgeben. Ich will nicht verlieren. Ich will gewinnen. Ich will die Oberhand behalten.

Ich laufe seit Stunden an der physischen Grenze. Mindestens. Wahrscheinlich längst dahinter und damit mit erhöhtem Verletzungsrisiko. Ich bin mir bewusst, dass die nächsten Tage höllisch wehtun werden, dass das Leiden nicht in vier Stunden endet. Und doch treibe ich mich vorwärts. Täte ich es nicht, träte zum körperlichen morgen auch noch das psychische Elend: Ich hätte aufgegeben, die Niederlage akzeptiert. Und das geht gar nicht. NEIN! NEIN! NEIN! Stehen bleiben ist keine Alternative.

Gibt es vielleicht eine dritte Option, gut drei Stunden vor Schluss, mit sechs Kilometer Vorsprung? Einen Kompromiss zwischen unrühmlichem Aus und schier unerträglicher Qual? Was, wenn ich so weitermache und plötzlich nicht mehr kann? In den letzten zwei, drei Stunden haben sich meine Rundenzeiten noch einmal merklich erhöht. Der Akku ist fast leer. Weiß nicht, wer mir so was eingibt, doch plötzlich habe ich Frage und Antwort wie in Stein gemeißelt vor Augen: Was ist dir wichtiger, 200 km oder der Altersklassensieg?

Die Frage ist so formuliert als lägen nicht beide Ziele auf demselben Weg und schlössen sich gegenseitig aus. Suggestiver Trick meines gepeinigten Geistes? Zwangsläufig antworte ich, was meine Schwäche hören will: Das ist eine Deutsche Meisterschaft, also Altersklasse gewinnen! Und so rede ich mir in der Folge ein, dass ich langsamer traben muss, um das Ziel AK-Sieg nicht zu gefährden. Objektiv falsch oder richtig? Vielleicht beruht der Entschluss auch auf einem Hauch Intuition. Kann sein. Vieles spricht jedoch für Selbstbetrug, um die Tortur ein wenig zu lindern. Wie dem auch sei: Der Paradigmenwechsel ist vollzogen. Nun gilt mir der Altersklassensieg als wichtigstes Ziel.

Selbsttäuschung mit Lücken

8 Uhr, noch zwei Stunden. Viel geht nicht mehr. Seit es wieder hell wurde, denke ich ständig an Ines. Ich begleite sie im Schlaf des anbrechenden Morgens, höre ihren Wecker klingeln, sehe sie beim Gassi mit Roxi, dann um sieben am Frühstückstisch Platz nehmen. Wann wird sie hier sein? Halbe Stunde Frühstück, Packen, Zimmer räumen, abrechnen, zehn Minuten Fahrzeit, Parkplatz suchen … Frühestens gegen 8 Uhr, hoffentlich später. Die Nacht hat mich gezeichnet. Das weiß ich auch ohne Blick in den Spiegel. Dazu jetzt diese unüberwindliche Schwäche. Das soll sie nicht länger als unbedingt nötig mitansehen müssen …

Wir treffen uns in Höhe unserer Claims, der Sachse und ich. Zum ersten Mal seit unseres nächtlichen Tête-à-tête bei Kilometer 150 nehme ich ihn bewusst wahr. Reden kurz über unsere Kilometerkonten. Etwa 185 km müssen derzeit für mich zu Buche stehen. Erkläre kurz, dass ich das 200 km-Ziel aufgegeben habe, das Tempo einfach nicht mehr halten kann. Benutze auch die clever klingende Formel vom „Verwalten meines Vorsprungs in der Alterklasse“, die ich mir selbst in den Runden zuvor immer wieder einbläute. Er will die 200 km. „Wenn du noch laufen kannst, dann wirst du sie auch erreichen!“ sporne ich ihn an. Ohne es zu merken unterstelle ich mir selbst genau das nicht mehr zu können: Laufen, jedenfalls nicht ausreichend schnell …

Die vorletzte Zwischenwertung, Stand 8 Uhr, lässt mich so was von frohlocken: Sage und schreibe 9,5 km Vorsprung vor dem Zweiten. Fast zehn Kilometer holt niemand in zwei Stunden auf. Schon gar nicht auf erschöpften Beinen, die 22 Stunden Kreise drehten. Wenn ich es schaffe mich weitere zwei Stunden auf den Beinen zu halten und irgendwie vorwärts bewege, dann habe ich das Ding im Sack!!! Übrigens weiß ich seit einiger Zeit, wer meine Konkurrenten sind. Erst identifizierte ich den einen an seiner Startnummer und als sie die Plätze tauschten den anderen. Gründe dafür? Weiß nicht. Neugier vielleicht oder eine Vorahnung, dass ich es nochmal brauchen könnte.

Ein paarmal, wenn ich Zeitvorrat und Reststrecke bis 200 km in Beziehung setze, bin ich nahe dran die Selbsttäuschung als solche zu entlarven. Noch 15 km und zwei Stunden Zeit: Selbst in meiner augenblicklichen Verfassung keine Unmöglichkeit. Aber in dieser Klarheit lasse ich den Gedanken nicht zu. Er blitzt kurz auf und wird verdrängt. Stattdessen nehme ich das Ausufern notwendiger Geh- und Stehpausen zum Versorgen hin. Inzwischen komme ich an meinem Tisch kaum noch vorbei. Gründe zum Stehenbleiben gibt es objektiv nur selten. Subjektiv reichlich, denn ich blase sie mir auf, wie bunte Luftballons.

Gegen 8:20 Uhr steht Ines unvermittelt vor mir und ich freue mich wie ein Schneekönig. Längst kennt sie den Zwischenstand und mein 200 km-Verzicht ist rasch erklärt. Nun überließe ich mich grenzenloser Euphorie, hätte mein Geist sich nicht längst emotional aufgerieben. Den sicheren (AK-)Sieg und Ines vor Augen! Alles ist gut, oder wird es zumindest in anderthalb Stunden sein. Ein paar „Fotoanweisungen“ für Ines und weiterzuckeln …

Geknickt aber nicht gebrochen

Ines‘ Fotos zeigen und erklären manches, was ich im Sturm der dramatischen letzten Stunde nicht wahrnehme oder nicht verstehe. Da ist zum Beispiel dieser Rechtsdrall, definitv keine Folge von Schwäche oder Schwindel, der mich dann und wann unsichere Schritte setzen lässt. Die Fotos enthüllen eine leicht nach rechts geknickte Laufhaltung. Die ist mir heute ebenso wenig bewusst, wie vor sieben Jahren. Damals verbrachte ich die Schlussstunde mit etwas nach vorne gebeugtem Oberkörper. Udo geknickt aber nicht gebrochen. Ein Sinnbild für diesen Wettkampf.

Gegen 9:10 Uhr steuere ich den Aushang der letzten Zwischenwertung an und traue meinen Augen nicht: Mein stolzer Vorsprung schmolz binnen einer Stunde auf 6 km zusammen. Wie kann das sein? Panik erfasst mich nicht, denn selbst sechs Kilometer kann er nicht mehr aufholen. Nicht in einer Stunde. Aber ich bin alarmiert. Das hatte ich mir fein ausgemalt, mit zehn Kilometer Vorsprung einen glasklaren Sieg einzufahren. Und jetzt das. Wie hat er das gemacht? Hat sich die „171“ geschont, um mich kurz vor Schluss abzufangen? So unklug ist niemand, zumal ihm klar sein muss, dass das nicht klappen kann. Dennoch muss er mit einer vergleichsweise „irren“ Endbeschleunigung unterwegs sein …

Hätte ich jetzt Ines‘ Foto der Anzeige mit meiner Runde gegen halb neun vor Augen, so wüsste ich, wieso mich die „171“ mindestens zweimal überrunden konnte. Für diese Runde attestiert mir die Zeitmessung unglaubliche 15:08 min! Eine Viertelstunde für einen Umlauf. Keine Ahnung wofür ich so viel Zeit verschwendete …

Ich habe noch einmal Tempo aufgenommen und halte Ausschau nach der „171“. Es ist mir egal, dass meine Knochen ein wildes Protestgeschrei anstimmen. Ich kürze die Versorgungspausen auf ein Minimum, verzichte auf jeden unnötigen Aufenthalt. Die verbleibende Dreiviertelstunde halte ich diese Verschärfung zweifellos durch. Kurz darauf, hinter dem offiziellen Buffet, am Beginn der Tartanbahn sehe ich ihn dann vor mir. Wahrscheinlich hat er mir gerade eben wieder eine Runde abgenommen. Ich hefte mich an die Fersen der „171“, obwohl er ein höllisches Tempo vorlegt. Wenigstens bis zur Anzeige will ich dranbleiben, um zu sehen, wie groß mein Vorsprung noch ist. Dreihundert Meter Tartanbahn, die mir noch einmal alles abverlangen. Dann erscheint er in der Anzeige, meine Zeile direkt darüber. Alles gut: Beruhigende vier Runden (4,8 km) trennen uns immer noch! Ich falle in mein vorheriges Tempo zurück und lasse ihn ziehen …

Parforceritt

Was dann, gegen 9:36 Uhr, vor der Rundenanzeige seinen Anfang nimmt, hätte ich so krass niemals für möglich gehalten. Nichtsahnend und im Vorbeilaufen studiere ich die für Startnummer „119“ eingeblendete Zeile. Erreichte Kilometer : 196,8. Mehrfach wiederholter ungläubiger Blick zur Uhr: Keine vollen drei Runden mehr bis 200 und noch 24 Minuten??? Binnen weniger Schritte krempelt mich das völlig um. Wie eine Explosion in Zeitlupe, ein Schalter der mit gewisser Verzögerung aber dann entschlossen umgelegt wird: ‚Das kann ich noch schaffen, wenn ich … Nein: Das schaffe ich!‘

Ich beschleunige meine Schritte so gut es geht. Das Erstaunliche daran: Es geht tatsächlich! Ich setze alles auf eine Karte und wette gegen meinen Magen. Wollte nicht ständig lamentieren und klagen, doch wirklich aufgeräumt fühlte der sich seit der erwähnten „Unpässlichkeit“ nicht mehr an. In den letzten Stunden meckerte er mehr denn je. Wenn mich das gesteigerte Tempo in die Übelkeit treibt und ich mich erbrechen muss, dann war’s das. Wäre nicht der erste Wettkampf, in dem mir dergleichen zustößt.

Nichts dergleichen passiert auf der nächsten Runde. Ines informiere ich per Zuruf über meine Absicht, die einschließt nun nicht mehr stehenzubleiben. Kein Gel mehr (1 von 50 ist noch übrig), kein Wasser, kein Abtrocknen, nur laufen. Laufen, das ich als rennen empfinde. 198 km … Unfassbar nach fast 24 Stunden. Woher kommt die Kraft? Vorhin fühlten sich meine Beine noch an wie tonnenschwere Pfeiler.

Wieder traue ich meinen Augen nicht: Mein Lauffreund Reno und seine Frau Petra!?? Die beiden fuhren tatsächlich von Weiden bis hierher, um Ines und mich zu treffen. Hammer! Großes aber kurzes Hallo, erst muss ich das hier zu Ende bringen …

Natürlich pfeife ich aus dem letzten Loch. Empfinde aber keinen Schmerz. Es ist wie ein Rausch. Vielleicht ist es eine Art Rausch. Bestimmt ist es das: Ich hole mir diesen verdammten Titel und die 200 km als Draufgabe. Das ist nun sicher. Ich schaffe das. So lange gelitten. Scheißegal, denn nun kriege ich alles, was ich wollte. Ich trete das Gaspedal noch weiter durch. Die letzten beiden, von Ines im Foto festgehaltenen Rundenzeiten, entsprechen meiner Wahrnehmung: 7:18 min für die vorletzte und 7:06 min für die letzte volle Runde. Physisch eigentlich eine Unmöglichkeit …

199,2 km … Nur noch 800 m und 9 min Zeit dafür. Nicht mal mehr eine volle Runde. Ich möchte schreien vor Glück, habe aber keine Luft dafür. Los weiter, nicht langsamer, bring’s zu Ende!! Wenn ich die Tartanbahn wieder betrete ist es geschafft! Dort angekommen folgt Sicherheitsdenken: Wer weiß, ob sich nicht irgendwo ein Fehler eingeschlichen hat. Die Anzeige ist nur vorläufig. Also weiter. Noch vier Minuten, die mich mit jedem Meter weiter auf die sichere Seite bringen.

Vor der Haupttribüne drückt mir jemand ein Holzklötzchen mit aufgemalter „119“ in die Hand. Ich verschließe es fest in meiner Faust und zische der Rundenzählung entgegen … … … Anzeige meiner Träume: 200,4 km!! Jubelnd reiße ich die Arme empor laufe aber weiter … Fix und fertig jetzt, langsamer, aber laufen, laufen ... Ein paar hundert Meter noch. Als ich aufs Pflaster zwischen Wasserturm und Stadion einbiege, höre ich den Countdown. Ein paar gesprochene Ziffern, die mir das Paradies auf Erden versprechen. … 5-4-3-2-1-Ende. Stehen und ein Jubelschrei. Erlöst. Endlich erlöst.

Dank an den Rivalen

Mein hartnäckigster Verfolger kommt zufällig kurz hinter mir zum Stehen, lässt sein Klötzchen fallen und wirft sich ins nahe Gras. Ich entdecke den Treppenaufgang zum Wasserturm und setze mich erst einmal auf die Stufen. Was für ein Gefühl. Völlig ausgelaugt aber glücklich bis ins allerletzte Atom. Geschafft! Ich hab es tatsächlich geschafft! Ich spreche meinen Rivalen an und bedanke mich bei ihm: „Hab 200 km gerade so gepackt, aber nur, weil du mich in der letzten Stunde noch einmal gefordert hast!“

Minutenlang bleibe ich allein, unfähig aufzustehen. Ines wird mit Reno und seiner Frau im Stadion warten. Dann kommt sie doch mit Roxi um die Ecke, sucht mich. Glückwünsche an einen Sitzenden. Dem wird nun flugs speiübel. Ines hilft mir aufzustehen. Ein paar Meter weiter, im Gras, erledige ich diese letzte, anscheinend unumgängliche Aufgabe. Bei diesem 24 h-Lauf lasse ich nichts aus …

 

Fazit zum Wettkampf

Der Wettkampfverlauf stellte die Wertigkeit meiner Ziele regelrecht auf den Kopf. Im Grunde meines Herzens war ich nie ein Wettkämpfer und werde auch nie einer sein. Das tut der Freude über eine gute Platzierung natürlich keinen Abbruch. Grundsätzlich setze ich mir jedoch für einen Wettkampf ein Zeit- oder Weitenziel, an dem ich mich messe. Beim Sasisonhöhepunkt, wie jetzt beim 24 h-Lauf oder letztes Jahr bei den 100 Meilen Berlin, suche ich auch nach meinen Grenzen. Wichtigste Marke für Reichenbach waren demnach die 200 km, zweitrangig der Altersklassensieg und dahinter die Platzierung im Gesamtklassement. Eine Deutsche Meisterschaft rückt diese Ziele in ihrer Bedeutung für mich enger zusammen. So ist es nicht verwunderlich, dass ich in der Situation extremer körperlicher und mentaler Bedrängnis glaubte das Hauptziel zu Gunsten des AK-Sieges opfern zu müssen.

Dass ich dann doch alle Ziele realisieren konnte, vor allem die dramatische Entwicklung in der Schlussphase, zeigt einmal mehr, dass man ein Ziel erst dann aufgeben sollte, wenn einen die Umstände dazu zwingen. Dass in unserem Körper Reserven schlummern, zu denen wir normalerweise keinen Zugang besitzen, die erst nach einer Initialzündung, wodurch auch immer, freigegeben werden.

In Reichenbach habe ich meine körperlichen Grenzen überschritten. Nicht, was die Ausdauer angeht, jedoch hinsichtlich der orthopädischen Robustheit. Drei Tage nach dem Lauf, als ich mich bereits kurz vor Wiederaufnahme leichten Trainings wähnte, entzündeten sich spontan, ohne jede zusätzliche Belastung, unverständlicherweise sogar über Nacht, meine Adduktoren. Rechts massiv, links unangenehm. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Laufberichtes ist an Laufen bis auf weiteres nicht zu denken. Ich werde Geduld aufbringen, wusste schließlich, worauf ich mich einlasse. Und außerdem gibt es nichts im Läuferleben umsonst ...

Mein Ergebnis bei der Deutschen Meisterschaft im 24 Stundenlauf:

200,7202 km, 9. Platz gesamt, Platz 1 in AK M60 und damit Deutscher Seniorenmeister im 24 h-Lauf

 

Fazit zur Veranstaltung

Was die reibungslose Durchführung und Versorgung der Teilnehmer/Betreuer angeht, muss man den Reichenbachern Bestnoten ausstellen. Da fehlte es an nichts. Alle Helfer stellten sich mit Freude und Eifer in den Dienst der Sache.

Die Strecke hat „Haken und Ösen“. Sie ist nicht flach. Zwei minimale Anstiege summieren sich durch zigfache Wiederholung und kosten Kraft. Zeit kosten überdies die vielen scharfen Ecken, die es zu laufen gilt. Abschnittsweise miserabler Asphalt und einige Kanten fordern 24 Stunden volle Konzentration. Insbesondere im Dunkeln, mangels guter Ausleuchtung. Bei Regen bilden sich auf der Innenbahn im Stadion und auf dem schlechten Asphalt enorme Pfützen.

In Punkto Sicherheit weist die Veranstaltung Mängel auf: Die Ausleuchtung der Strecke ist verbesserungsbedürftig. Schlechte Sicht überall da, wo man sich auf die Straßenbeleuchtung beschränkt. Gar keine Sicht an der Ostseite des Wasserturms wegen ausgefallener Beleuchtung. Keine Wahrnehmung von Pfützen, Löchern und Kanten auf dem „Asphaltacker“, bei der Rückkehr vom Wasserturm Richtung Stadion.

Feedback vom Veranstalter

Nach Veröffentlichung des Laufberichtes ließ ich den Organisatoren meine Wahrnehmung der Veranstaltung samt Anregungen auch per E-Mail zugehen. Sie wurden prompt wahrgenommen, was keineswegs selbstverständlich ist und hervorgehoben werden sollte.

Anlässlich der Antwort erfuhr ich, dass die von mir beobachteten Schwierigkeiten mit der Rundenerfassung in den meisten Fällen auf Verschulden der Läufer zurückzuführen war. Entweder hatten sie die vordere Startnummer mit dem Chip nicht auf der Brust angebracht, zur Seite gedreht oder gar mit Nadeln den Chip durchstochen. Man hat sich aus diesen Gründen bereits entschlossen ab dem kommenden Jahr beide Startnummern mit einem Chip zu versehen.

 

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